Heft 57 | Juni 2013 | www.perspektive21.de
Brandenburgische Hefte für Wissenschaft und Politik
MAGAZIN A. Thorsten Jobs Eigenständige Persönlichkeiten DAS STRASSENSCHILD Robert Dambon über Robert Havemann Ein deutsches Leben
SCHWERPUNKT
WACHSAM BLEIBEN
Klaus Ness Wegschauen war gestern! Dietmar Woidke Das volle Programm
Wie der Kampf gegen Rechtsextremismus gelingen kann
Winfriede Schreiber Und sie nutzen jede Gelegenheit Eva Högl Wir müssen wachsam bleiben Gordian Meyer-Plath Rechtsextremismus als Berufung Ronny Blaschke Angriff von Rechtaussen Dirk Wilking Lebenswert und widerstandsfähig Lars Krumrey Totgeglaubte leben länger?
Eine persรถnliche Bestandsaufnahme
20 Jahre nach der friedlichen Revolution von 1989: Wie viel Einheit haben wir erreicht? Welchen Aufbruch braucht Deutschland jetzt?
224 Seiten, gebunden
| Hoffmann und Campe | Das will ich lesen
VORWORT
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aren Polizei, Verfassungsschutz und Politik in Deutschland lange Zeit auf dem rechten Auge blind? Diese Frage wird seit dem Bekanntwerden der terroristischen NSU-Morde berechtigterweise diskutiert. Deutschland ist 1945 durch die Alliierten vom Nationalsozialismus befreit worden. Rechtsextremistische Bestrebungen im danach lange Jahre geteilten Deutschland wurden von der Politik und auch den Medien oftmals bagatellisiert oder auch schlicht ignoriert. Das erklärt sich in der westdeutschen Gesellschaft zum einen durch die Situation des Kalten Krieges und den Terrorismus der RAF, in der die Sicherheitsbehörden darauf gepolt waren, den Feind vor allem links zu verorten. Es erklärt sich aber auch dadurch, dass von der Politik ein außenpolitischer Imageschaden befürchtet wurde, wenn in Deutschland erneut starke rechtsextremistische Tendenzen registriert und öffentlich thematisiert werden müssen. Nach der deutschen Vereinigung hat der Rechtsextremismus allerdings eine neue Qualität gewonnen, die sich in weit mehr als 100 politischen Morden durch Rechtsextremisten seit 1990 dokumentiert. Die NSU-Morde sind dabei nur die Spitze eines Eisbergs, dessen Existenz lange Zeit verdrängt oder als ein „vorübergehendes Phänomen“ der Transformation der ostdeutschen Gesellschaft banalisiert wurde. Auch in Brandenburg hat es in den neunziger Jahren diese Banalisierung und Bagatellisierung gegeben. Seitdem hat sich hier jedoch einiges getan. Das Handlungskonzept „Tolerantes Brandenburg“ der Landesregierung hat dazu erheblich beigetragen. Wir wollen mit dieser Ausgabe der Perspektive 21 einen kleinen Beitrag dazu leisten, dass diese positive Entwicklung weitergeht. Insbesondere freuen wir uns, dass Winfriede Schreiber, die scheidende Chefin des Brandenburger Verfassungsschutzes, in diesem Heft mit einem sehr informativen Beitrag vertreten ist. Frau Schreiber hat dem Brandenburger Verfassungsschutz in den letzten Jahren eine klare Orientierung im Kampf gegen den Rechtsextremismus gegeben. Der Kampf gegen Rechtsextremismus, Rassismus und Ausländerfeindlichkeit wird auch in Brandenburg noch einen sehr langen Atem brauchen. Und er wird noch mehr Menschen brauchen wie Frau Schreiber. Klaus Ness
INHALT
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Eigenständige Persönlichkeiten Sollen Kinderrechte ins Grundgesetz? von A. Thorsten Jobs
DAS STRASSENSCHILD 13
Ein deutsches Leben Robert Dambon über Robert Havemann
SCHWERPUNKT WACHSAM BLEIBEN | WIE DER KAMPF GEGEN RECHTSEXTREMISMUS GELINGEN KANN
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Wegschauen war gestern! Fünf Thesen zum Umgang mit dem Rechtsextremismus in Brandenburg von Klaus Ness
47 Rechtsextremismus als Berufung
Sozio-ökonomische Profile brandenburgischer Rechtsextremisten von Gordian Meyer-Plath 57
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Das volle Programm Staatliches Handeln gegen Rechtsextremismus zwischen Prävention und Repression von Dietmar Woidke Und sie nutzen jede Gelegenheit Wie sich die Neonationalsozialisten organisatorisch und strategisch modernisieren von Winfriede Schreiber
39 Wir müssen wachsam bleiben
Über die Erkenntnisse des NSU-Untersuchungsausschusses, Staatsversagen und die Unterschiede zwischen Wolfgang Schäuble und Otto Schily sprach Thomas Kralinski mit Eva Högl
Angriff von Rechtaussen Wie rechtsextreme Fans das Stadion als Präsentationsfläche nutzen von Ronny Blaschke
65 Lebenswert und widerstandsfähig
Wie kommunale Handlungsstrategien gegen Rechtsextremismus erfolgreich sein können von Dirk Wilking 73
Totgeglaubte leben länger? Die „Reichsbürger“ werden auch in Brandenburg zunehmend aktiv von Lars Krumrey
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A. THORSTEN JOBS | EIGENSTÄNDIGE PERSÖNLICHKEITEN
Eigenständige Persönlichkeiten Sollen Kinderrechte ins Grundgesetz? Von A. Thorsten Jobs as Grundgesetz hat keine Kinder“, formulierte der Journalist Heribert Prantl kürzlich in der Süddeutschen Zeitung. Er spricht damit die Tatsache an, dass Kinder im Text des Grundgesetzes nicht ausdrücklich als Rechtssubjekte mit eigenen Rechten genannt sind. Auch fehlt eine ausdrückliche Regelung einer staatlichen Schutz- und Förderpflicht gegenüber Kindern. Allein im Zusammenhang mit Elternrechten werden Kinder genannt. Dies hat im Kern einen historischen Grund. Der Verfassungsgeber des Grundgesetzes formulierte 1949 die Eltern-Kind-Beziehung aus den Erfahrungen der nationalsozialistischen Herrschaft. Er stärkte damals zu Recht die Eltern. Er wandte sich gegen die „Wegnahme“ der Kinder von ihren Eltern zum Zwecke einer staatlichen Zwangserziehung, wie sie im totalitären Staat üblich war (Staatsjugend, Zwangsinternate) und bei der an die Stelle des erzieherischen Einflusses der Eltern die staatliche Gemeinschaftserziehung getreten war. Art. 6 Abs. 2 des Grundgesetzes (GG) hebt daher den Vorrang der Eltern hervor. Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht.
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Die gesellschaftlichen Verhältnisse sind andere Dabei können die Eltern grundsätzlich frei von staatlichem Einfluss nach eigenen Vorstellungen darüber entscheiden, wie sie ihrer Elternverantwortung zum Wohl des Kindes gerecht werden wollen. Dem Staat wird nur das Amt auferlegt, über die Pflege und Erziehung der Kinder durch die Eltern zu wachen. Diese Freiheit der Erziehung vor staatlichem Einfluss macht es aber heute nötig zu diskutieren, ob es an der Zeit ist, in der Verfassung zum Ausdruck zu bringen, dass Kinder Rechtspersönlichkeiten mit eigenen vom Grundgesetz geschützten Rechten sind.
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MAGAZIN
Die gesellschaftlichen Verhältnisse und Vorstellungen haben sich verändert. Kinder selbst werden innerhalb und außerhalb der Familie stärker als eigenständige Personen mit Bedürfnissen, individuellen Interessen und Rechten angesehen. Kinder sind nicht mehr nur Objekt der elterlichen Rechtsausübung und Erziehung. Sie haben als eigenständige Personen das Recht auf Achtung ihrer Würde, wie es zum Beispiel Art. 27 der Verfassung des Landes Brandenburg formuliert. Vor diesem Hintergrund wird aktuell die rechts- und gesellschaftspolitische Debatte geführt, ob Kinderrechte explizit ins Grundgesetz aufgenommen werden sollen. Der Bundesrat hat in einer Entschließung vom 25. November 2011 die Bundesregierung aufgefordert, einen Gesetzesentwurf zur Änderung des Grundgesetzes vorzulegen, in dem Grundrechte der Kinder, insbesondere deren besonderer Schutz durch Staat und Gesellschaft vor Gewalt, Vernachlässigung und Ausbeutung sowie das Recht der Kinder auf altersgemäße Anhörung in allen sie betreffenden Gerichtsund Verwaltungsverfahren ausdrücklich normiert werden. Auch die derzeitigen Oppositionsfraktionen im Bundestag haben Vorstöße unternommen, die Kinderrechte zu stärken. Im Jahr 2012 haben Bündnis 90/Die Grünen und die Linke Gesetzesentwürfe zur ausdrücklichen Verankerung von Kinderrechten im Grundgesetz eingebracht. Auch in ihrem Bundestagswahlprogramm 2013 haben die Grünen erklärt, Rechte von Kindern und Jugendlichen ausdrücklich ins Grundgesetz aufnehmen zu wollen. Die SPD hat sich in ihrem Regierungsprogramm 2013-2017 ebenfalls dafür ausgesprochen, die Kinderrechte im Grundgesetz zu verankern und die SPD-Bundestagsfraktion hat dazu am 23. April 2013 einen entsprechenden Gesetzesentwurf ins Parlament eingebracht.
Sollen die Gerichte mehr Einfluss nehmen? Angesichts dieser politischen Initiativen stellt sich die Frage, ob es rechtspolitisch richtig ist, unsere Verfassung als rechtliche Grundordnung unseres Gemeinwesens zu ändern und Kinderrechte explizit in sie aufzunehmen. Selbstverständlich ist dies nicht. Es ist zu bedenken, dass im Allgemeinen eine vermehrte verfassungsrechtliche Festschreibung von subjektiven Rechten und politischen Zielsetzungen den Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers beschränkt. Die Bewältigung anstehender Probleme und Gesetzesvorhaben ist in erster Linie Sache des Gesetzgebers. Diesem ordnet die Verfassung vornehmlich die Aufgabe zu, gegebenenfalls erforderliche Innovationen mit politischer Gestaltungskraft innerhalb des verfassungsrechtlichen Rahmens zu entwickeln und durchzusetzen. Neue verfassungsrechtliche Festschreibungen
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von Rechten und Zielsetzungen haben in der Regel auch zur Folge, dass letztlich weniger der Gesetzgeber den politischen Kurs bestimmt, sondern die Gerichte mehr Einfluss auf die Politik nehmen können, weil sie zu prüfen haben, ob der Gesetzgeber die verfassungsrechtlichen Vorgaben einhält. Bevor man die Änderung des Grundgesetzes erwägt, tut man gut daran, sich der bestehenden verfassungsrechtlichen Rechtslage zu vergewissern. Die Grundrechte des Grundgesetzes stehen grundsätzlich auch den Kindern, das heißt Personen die noch nicht 18 Jahre alt sind, zu. Grundrechtsberechtigt sind insbesondere alle natürlichen Personen unabhängig von ihrem Alter. So schützt die Verfassung zum Beispiel die Würde aller Menschen, nicht nur der Erwachsenen. Sie schützt die körperliche Unversehrtheit sowie die freie Entfaltung der Persönlichkeit von Kindern. Sie schützt die Meinungs- und Pressefreiheit, weshalb Schüler auch eine unzensierte Schülerzeitung herausgeben dürfen. Das Bundesverfassungsgericht hat in einer Entscheidung aus dem Jahr 1968 im Wege der Auslegung des Grundgesetzes geklärt, dass das Kind als Grundrechtsträger selbst Anspruch auf den Schutz des Staates hat.
Im Mittelpunkt steht das Wohl des Kindes Das Kind ist ein Wesen mit eigener Menschenwürde und dem eigenen Recht auf Entfaltung seiner Persönlichkeit. In einer Grundsatzentscheidung aus dem Jahr 2008 hat das Verfassungsgericht hergeleitet, dass ein Recht des Kindes auf Pflege und Erziehung durch seine Eltern aus Art. 6 Abs. 2 GG folgt. Dabei hat es ausgeführt, dass das Kind nicht Gegenstand elterlicher Rechtsausübung ist. Es ist Rechtssubjekt und Grundrechtsträger, dem die Eltern schulden, ihr Handeln an seinem Wohl auszurichten. Zusammenfassend kann daher festgehalten werden, dass im Wege der richterlichen Interpretation gewisse Rechte des Kindes aus der Verfassung abgeleitet werden, der Text des Grundgesetzes jedoch Kinder nicht als Rechtssubjekte nennt und Rechte der Kinder nicht ausdrücklich normiert. Trotz dieser von der Rechtsprechung entwickelten Rechte empfiehlt es sich, unsere Verfassung mit Rechten für Kinder auszustatten und so ihre Rechtsstellung im Grundgesetz ausdrücklich zu verankern. Wichtig ist dies deshalb, wie die ehemalige Verfassungsrichterin Christine Hohmann-Dennhardt kürzlich in einem Fachjournal (FPR 2012,185) betonte, weil es an der Zeit ist, durch Aufnahme solcher Kinderrechte ins Grundgesetz klarzustellen, dass Kinder Rechtspersönlichkeiten mit eigenen von der Verfassung geschützten Rechten sind. Das insbesondere vom Bundestagsabge-
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ordneten Norbert Geis (CSU) vorgebrachte Argument, Kinderrechte seien bereits in der Verfassung enthalten, berücksichtigt zum einen nicht, dass eine ausdrückliche Verankerung von Kinderrechten im Grundgesetz den Kindern als Rechtsinhaber und den Rechtsanwendern die Durchsetzung solcher subjektiver Rechte erleichtern würde. Man muss nicht die Rechtsprechung des Verfassungsgerichts kennen, um zu wissen, dass Kinder Rechte haben, die ihnen die Verfassung garantiert und schützt. Hinzu kommt, dass auch die vorgeschlagenen staatlichen Schutz- und Förderpflichten, wonach die staatliche Gemeinschaft die Rechte des Kindes achtet, schützt und fördert sowie der Auftrag, für kindgerechte Lebensbedingungen Sorge zu tragen, bislang nicht im Grundgesetz enthalten sind. Die Rechtslage würde also verändert.
Keine kleinen Erwachsenen Zu beachten ist auch, dass Kinder Menschen in einer besonderen Lebensphase sind, die besondere Rechte brauchen. Kinder sind keine „kleinen Erwachsenen“. Sie sind einerseits zu respektierende Menschen wie alle anderen, andererseits aber während ihres Heranwachsens auf Hilfe und Unterstützung durch andere angewiesen, von denen es entscheidend abhängt, wie sie sich entwickeln und sich in ihren Fähigkeiten und Begabungen entfalten können. Gerade deshalb sind sie darauf angewiesen, durch Eltern und Staat Schutz und Förderung zur Entfaltung der Persönlichkeit zu erhalten. Diese Besonderheit sollte das Grundgesetz ausdrücklich mit eigenen von der Verfassung geschützten Kinderrechten Rechnung tragen. Gegen die Verankerung von Kinderrechten in das Grundgesetz wird teilweise eingewandt, dass damit lediglich Symbolpolitik betrieben werde. Es reicht natürlich nicht aus, Rechte nur zu formulieren; sie müssen auch eingelöst werden. Allein die Verankerung von Kinderrechten im Grundgesetz würde in Staat und Gesellschaft nicht auf „einen Schlag“ für kindgerechte Lebensbedingungen sorgen und Rechte der Kinder gewährleisten. Wenn man aber die subjektiven Rechte der Kinder mit einem objektiven Schutzund Förderungsauftrag im Sinne einer Staatszielbestimmung verbindet, wonach die staatliche Gemeinschaft die Rechte des Kindes schützt und für kindgerechte Lebensbedingungen Sorge trägt, hat die Verfassung die Kraft, staatliches Handeln im Interesse der Kinder zu verbessern. Gesetzgebung und – nach Maßgabe von Gesetz und Recht – auch die Verwaltung und Rechtsprechung wären verpflichtet, den in der Staatszielbestimmung enthaltenen Auftrag umzusetzen und bei Kinder betreffenden oder sich auf sie auswirkenden Entscheidungen die Rechte der Kinder zu schüt-
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zen und zu fördern. Sie müssten Sorge für kindgerechte Lebensbedingungen tragen. So würden sich nach Maßgabe des Gesetzes beispielsweise die Rechtsstellung von Kitas in bestimmten Baugebieten planungsrechtlich verbessern und ihre Zulassung durch eine Baugenehmigung erleichtert werden. Befürwortet man ganz generell, Kinderrechte und eine Kinder betreffende Staatszielbestimmung ins Grundgesetz aufzunehmen, stellt sich die Frage nach dem „Wie“. Eine Analyse der genannten Gesetzesentwürfe der Bundestagsfraktionen zeigt, dass diese abgesehen von Formulierungsdetails inhaltlich relativ nahe beieinander liegen. Sie regeln im Wesentlichen Rechte der Kinder auf Förderung der Entwicklung, Entfaltung der Persönlichkeit, gewaltfreie Erziehung und enthalten Staatszielbestimmungen bzw. Schutzaufträge zu Gunsten der Lebensbedingungen der Kinder. Exemplarisch sei hier die Formulierung der SPD-Bundestagsfraktion wiedergegeben, die vorschlägt, Art. 6 GG um folgenden Absatz zu ergänzen: „Jedes Kind hat ein Recht auf Entwicklung und Entfaltung seiner Persönlichkeit, auf gewaltfreie Erziehung und den besonderen Schutz vor Gewalt, Vernachlässigung und Ausbeutung. Jedes Kind hat das Recht auf Beteiligung in allen Angelegenheiten, die es betreffen. Seine Meinung ist entsprechend seinem Alter und seiner Entwicklung in angemessener Weise zu berücksichtigen. Die staatliche Gemeinschaft achtet, schützt und fördert die Rechte des Kindes und trägt Sorge für kindgerechte Lebensbedingungen.“
Eine Verpflichtung für die Eltern und den Staat Dieser Textentwurf greift in Satz 1 und 4 einen Vorschlag der ehemaligen Bundesjustizministerin Brigitte Zypries auf und hat Artikel 25 der Bremer Landesverfassung zum Vorbild. Satz 2 und 3 des Entwurfs regeln die Berücksichtigung des Kindeswillens in allen das Kind betreffenden Angelegenheiten. Sie greifen die Vorgabe des Artikels 12 der Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen auf und sollen sicherstellen, dass das Kind in allen Angelegenheiten, die es betreffen, zu beteiligen und die Meinung des Kindes in einer seinem Alter und seiner Entwicklung entsprechenden Weise zu beachten ist. Die Beteiligung der Kinder ist ein Mittel zur Identifizierung der Kinderinteressen und eine Verpflichtung der Eltern und des Staates. Sie wird zur Folge haben, dass dem Kind Gelegenheit gegeben werden muss, in allen das Kind berührenden Gerichts- oder Verwaltungsverfahren entweder unmittelbar oder durch einen Vertreter oder eine geeignete Stelle (zum Beispiel Verfahrensbeistand in Kindschaftssachen) gehört zu werden.
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Die Unterstützung des Anliegens, die Rechte der Kinder zu stärken, und dieses auch in der Verfassung zum Ausdruck zu bringen, ist in den vergangenen Jahren parteiübergreifend gewachsen. Eine solche Änderung des Grundgesetzes bedarf der Zustimmung von zwei Dritteln der Mitglieder des Bundestages und zwei Dritteln der Stimmen des Bundesrates. Diese Hürde kann nur genommen werden, wenn es künftig gelingt, hierzu zwischen den wesentlichen politischen Akteuren einen Konsens herbeizuführen. Es ist an der Zeit, Kinderrechte im Grundgesetz aufzunehmen, auch um zu verdeutlichen, dass Kinder Rechtspersönlichkeiten mit eigenen von der Verfassung geschützten Rechten sind.|
DR. A. THORSTEN JOBS
ist Richter am Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg.
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DAS STRASSENSCHILD
Robert Havemann 1910-1982
Ein deutsches Leben Von Robert Dambon as macht ein demokratisches Vorbild aus? Sicherlich ist es der persönliche Einsatz für Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Wer also unter Einsatz seines Lebens Widerstand gegen den menschenverachtenden Nationalismus leistete, verdient ehrfürchtigen Respekt und Hochachtung. Vielleicht ist es aber genauso beeindruckend, wenn Menschen bereit sind, in Anbetracht fataler Entwicklungen ihre eigenen Überzeugungen zu überdenken, Irrtümer einzusehen und auch gegen Widerstände für Veränderungen einzutreten. Der 1910 in München geborene Robert Havemann ist in beiden Sichtweisen ein demokratisches Vorbild. Schon 1932 tritt der begabte Naturwissenschaftler der Widerstandsgruppe „Neu-Beginnen“ aus oppositionellen KPD- und SPD-Mitgliedern bei. Diese wird allerdings 1935 entdeckt und Robert Havemann entgeht nur knapp der Verhaftung durch die Gestapo. Er bleibt ein überzeugter Gegner des Nationalsozialismus und wird 1943 Mitbegründer der Widerstandsgruppe „Europäische Union“. Schon der Name der Gruppe kündigt von Havemanns Idealen, der in einem geeinten, sozialistischen aber auch freiheitlichen Europa die Grundlage für dauerhaften Frieden sieht. Es gelingt den Nazigegnern, Juden vor der Deportation zu retten und subversive Verbindungen aufzubauen. Nach kurzer Zeit fliegt die Arbeit der „Europäischen Union“ auf und die Gestapo verhaftet die meisten Mitglieder. Robert Havemann wird vom Volksgerichtshof zum Tode verurteilt. Nur dank seiner „kriegswichtigen“ Forschungsarbeiten bleibt er am Leben. Bis zur Befreiung durch die Rote Armee am 27. April 1945 sitzt er in einer Todeszelle des Zuchthauses Brandenburg. Trotz seiner Nähe zur KPD bzw. SED bezieht Havemann zunächst keine eindeutige Stellung, kritisiert sogar die sowjetische Planwirtschaft. Dennoch stimmt er einer Zusammenarbeit mit dem sowjetischen Geheimdienst zu. Die von ihm gelieferten unbrauchbaren Informationen führen zur Einstellung des Kontaktes. 1950 übt Havemann Kritik an der Entwicklung der amerikanischen Wasserstoffbombe, was ihm die Leitung der Kaiser-Wilhelm-Institute kostete. Er zieht in die DDR um, wird Direktor des Physikalisch-Chemischen Instituts der Humboldt-Universität Berlin und tritt der SED bei. Neben zahlreichen politischen Funktionen beteiligt er sich aktiv an einer Kampagnen gegen christliche Studenten, setzt sie unter Druck und
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Robert Havemann 1910-1982
exmatrikuliert sie. 1953 lässt er sich von der Stasi anwerben und denunziert „politisch unzuverlässige“ Kollegen. Die Geheimrede Chruschtschows auf dem XX. Parteitag der KPdSU 1956 und das Bekanntwerden stalinistischen Verbrechen erschüttert ihn. Er beginnt sich mit seiner eigenen Verantwortung im DDR-System auseinanderzusetzen. Er entwickelt sich fortan zu einem der größten und gefährlichsten Kritiker des SED-Regimes. Er befürwortet den Aufstand in Ungarn und kritisiert in zahlreichen Veröffentlichungen und Vorträgen den ideologischen Dogmatismus und die politische Erstarrung. Bis zu seinem Tod untersteht er ab 1964 permanent der Überwachung durch die Staatssicherheit. Er wird aus der Partei ausgeschlossen, verliert seine Anstellung an der Humboldt-Universität und wird aus der Deutschen Akademie der Wissenschaften ausgeschlossen. Trotz Veröffentlichungs- und Berufsverbots meldet sich Robert Havemann über westdeutsche Medien zu Wort. Um Havemann bildet sich ein Kreis von DDR-Kritikern, darunter Wolf Biermann. Als Havemann gegen dessen Ausbürgerung protestiert, wird er und seine Familie bis 1979 unter Hausarrest im märkischen Grünheide gestellt. Nach seinem Arrest engagiert er sich für die polnische Solidarność und unterzeichnet den „Berliner Appell“ „Frieden schaffen ohne Waffen“ von Rainer Eppelmann mit. Er stirbt am 9. April 1982 in seinem Grünheider Haus. Damit endet das Wirken Robert Havemanns jedoch nicht. Sein Begräbnis wird zur politischen Demonstration. Sein Haus wird 1989 zum Gründungsort des „Neuen Forums“. Gerade einmal 60 Kilometer entfernt im brandenburgischen Schwante gründet sich einige Tage später die SDP. Das SED-Regime überlebt Havemann nur wenige Jahre. Robert Havemann hat die Schrecken des Nationalsozialismus erlebt und mit aller Kraft bekämpft. Dafür zeichnete die israelische Gedenkstätte Yad Vashem Robert Havemann und andere Mitglieder der Gruppe „Europäische Union“ mit dem Ehrentitel „Gerechte unter den Völkern“ aus. In der Hoffnung auf ein antifaschistisches und einiges Europa unterstützte er zunächst die Politik der SED. Er erkannte jedoch, dass es „ohne Demokratie kein Sozialismus, ohne Sozialismus keine Demokratie“ geben kann. | ROBERT DAMBON
ist Historiker und Referent der SPD-Landtagsfraktion Brandenburg.
Mit dieser Rubrik stellen wir eine Person vor, deren Lebensleistung größere Beachtung verdient. Zum Beispiel in Gestalt von Straßen- oder Schulnamen.
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SCHWERPUNKT | WACHSAM BLEIBEN
WEGSCHAUEN WAR GESTERN! Fünf Thesen zum Umgang mit dem Rechtsextremismus in Brandenburg — Von Klaus Ness er Potsdamer Politikwissenschaftler Heinz Kleger nannte Brandenburg in den neunziger Jahren ein „kompromittiertes Land“. Eine etwas feinere Umschreibung dafür, dass Brandenburg – wie die anderen ostdeutschen Bundesländer – den Ruf hatte, eine Hochburg des Rechtsextremismus zu sein. Das hat sich mittlerweile deutlich geändert. In fünf Thesen will ich erläutern, wie Brandenburg zu diesem Ruf gekommen ist und was notwendig war, damit Brandenburg heute kein „kompromittiertes Land“ mehr ist, sondern mittlerweile für andere Bundesländer ein Vorbild bei der Bekämpfung des Rechtsextremismus geworden ist.
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Das Brandenburg der neunziger Jahre war – wie alle anderen neuen Bundesländer – eine Transformationsgesellschaft. Der Weg von einer staatssozialistischen Gesellschaft in eine Marktwirtschaft und Demokratie bedeutete radikale Veränderungen in den Strukturen der Gesellschaft und der
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Ökonomie, die das Leben der Menschen in Ostdeutschland durcheinanderwirbelte. Das führte zu Verunsicherungen und massiven Ängsten. Von diesen Verunsicherungen waren nicht nur jeder einzelne Bürger, sondern auch die staatlichen Institutionen und die in ihnen agierenden Personen, wie etwa die Polizei und das Schulsystem, erfasst. Keine Einzelfälle Das massive Aufbrechen rechtsextremer Gewalt wurde durch die negativen Begleiterscheinungen der Transformation verstärkt und begünstigt. Gesellschaft und Politik waren davon überrascht und suchten nach Erklärungen, die zwar keine Lösung des Problems, aber eine kurzfristige „Entlastung“ im Umgang mit dem Problem versprachen. Dazu einige Beispiele für klassische Erklärungsmuster aus den frühen neunziger Jahren. Die Verbrechen und Morde durch Rechtsextremisten wurden als „Einzelfälle und vorübergehendes Phänomen“ verharmlost.
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Rechtsextremen Gewalttätern wurden – oftmals unbewusst – unter Verweis auf die hohe Arbeitslosigkeit und vermeintliche „Perspektivlosigkeit“ eine Rechtfertigung und Entschuldigung für ihr unentschuldbares Verhalten angeboten. Das Auftreten des organisierten Rechtsextremismus in Ostdeutschland wurde als durch „West-Kader“ gesteuert erklärt. Menschen, die in ihren Heimatorten ein aktives Engagement von Politik und Zivilgesellschaft einforderten, wurden nicht selten als „Nestbeschmutzer“ empfunden, die den Ruf ihrer Heimat als Tourismusregion oder Wirtschaftsstandort gefährdeten. Nachdem sich in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre die staatlichen Institutionen stabilisiert hatten, wurde die Bekämpfung des Rechtsextremismus von Staat und Gesellschaft immer noch vorrangig als eine Aufgabe der Repressionsinstanzen (Polizei, Justiz, Verfassungsschutz) und bestenfalls noch der Schule und Jugendarbeit verstanden. Das brachte zwar Fortschritte, basierte aber immer noch auf der falschen Annahme, dass Rechtsextremismus, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit vorübergehende Phänomene seien, die am Rand der Gesellschaft stattfinden. Erst zum Ende des Jahrzehnts begann eine in Brandenburg bis etwa 2005 anhaltende politische Auseinandersetzung darüber, ob die ostdeutsche – und
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speziell die brandenburgische Gesellschaft – nicht doch ein tiefergehendes Problem hat. Und dass zur Lösung des Problems neue Ansätze – insbesondere auch durch die Mobilisierung der Zivilgesellschaft – gebraucht werden, um die Demokratie und ihre Werte zu verteidigen und zu stärken. Auslöser der Debatte war ein Interview des damaligen Brandenburger Ministerpräsidenten Manfred Stolpe in der Wochenzeitung Die Zeit, in dem er – als erster ostdeutscher Politiker – bekannte, das Problem des Rechtsextremismus unterschätzt zu haben und einen offensiveren Umgang mit diesem Problem ankündigte. Dieses mutige, weil sehr selbstkritische Interview, blieb nicht ohne Folgen: In Brandenburg wurde 1998 das integrierte Handlungskonzept „Tolerantes Brandenburg“ der Landesregierung entwickelt und ein zivilgesellschaftliches „Aktionsbündnis gegen Gewalt, Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit“ initiiert. Ein neuer Ansatz Dieser neue Ansatz ging davon aus, dass Rechtsextremismus nicht alleine nur mit staatlicher Repression bekämpft werden kann, sondern es einer starken und selbstbewussten Zivilgesellschaft bedarf, die die Demokratie und ihre Werte aktiv vertritt und verteidigt. Das Neue war also: Widerspruch und Widerstand gegen Rechtsextremismus und
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Rassismus wurde also durch die Politik nicht mehr nur geduldet, sondern aktiv befördert und sogar von der Bevölkerung eingefordert. Die politische Auseinandersetzung um diesen neuen Ansatz entzweite über lange Zeit auch die Regierungspartner SPD und CDU, die ab 1999 eine Koalition in Brandenburg bildeten. Die SPD in der Regierung hielt an diesem Ansatz fest, insbesondere aber CDUInnenminister Jörg Schönbohm hatte in seinen ersten Brandenburger Regierungsjahren damit größere Probleme und setze zunächst alleine auf staatliche Repression. Als im Jahre 2000 Bundeskanzler Gerhard Schröder nach mehreren mörderischen rechtsextremistischen Anschlägen auch in Westdeutschland zum „Aufstand der Anständigen“ aufrief und in vielen Städten Hunderttausende Menschen Lichterketten gegen Rechtsextremismus veranstalteten, machte Schönbohm sich sogar öffentlich darüber lustig, dass Rechtsextremismus mit Kerzen nicht bekämpft werden könne.
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Die Zivilgesellschaft steht auf Hinter dieser Haltung offenbarte sich aber nicht nur eine einseitig staatsfixierte Sicht auf die Problematik Rechtsextremismus, sondern auch eine zutiefst von den westdeutschen Problemen der siebziger und achtziger Jahre geprägte
Haltung. Jörg Schönbohm war politisch im Kalten Krieg und in der Auseinandersetzung mit dem RAF-Terrorismus groß geworden. Die Gefahr kam für ihn, die CDU, aber auch für viele Menschen in den Sicherheitsapparaten immer ausschließlich von links. Durch die Aufarbeitung der NSU-Morde ist ins öffentliche Bewusstsein gedrungen, dass diese am Beispiel Schönbohms geschilderte Prägung auch bei den Sicherheitsbehörden, insbesondere bei den Verfassungsschutzämtern, eine entscheidende Ursache für die Unterschätzung der Gefährlichkeit rechtsextremer Gewalt war. Ein entscheidender Katalysator für die Änderung der Haltung auch von Jörg Schönbohm und ein Durchbruch für die Mobilisierung der Brandenburger Zivilgesellschaft war in Brandenburg in den Jahren 2005 und 2006 die Auseinandersetzung um die Nazi-Demonstrationen in Halbe. In und um Halbe, einem kleinen Ort südlich von Berlin im Landkreis Dahme-Spreewald, fand im April 1945 eine der letzten großen Schlachten statt. Dabei verloren 30.000 deutsche und 20.000 russische Soldaten sowie etwa 10.000 Zivilisten sinnlos ihr Leben, weil die im Berliner Führerbunker sitzenden Nazigrößen in einem längst verloren Krieg immer noch vom Endsieg phantasierten und möglichst viele Menschen in ihren eigenen Untergang mitziehen wollten.
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SCHWERPUNKT | WACHSAM BLEIBEN
Seit Mitte der neunziger Jahre hatten Nazis aus ganz Deutschland und Europa versucht, den dortigen Waldfriedhof zu ihrem Wallfahrtsort aufzubauen. Gestört wurden sie dabei nur durch kleinere lokale Gegenaktionen, die wenig Widerhall in der Bevölkerung fanden. Der bedeutendere Wallfahrtsort für die Nazis war aber das bayrische Wunsiedel, der Geburtsort von Rudolf Hess. Als in Wunsiedel Nazi-Demonstrationen rechtlich und durch stärker werdenden zivilgesellschaftlichen Widerstand unmöglich wurden, fand jedoch eine stärkere Orientierung der Nazis auf Halbe statt. Als dies in Brandenburg immer bewusster wurde, konzentrierte sich das mittlerweile gut arbeitende „Aktionsbündnis gegen Gewalt, Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit“ darauf, diesen Ort wieder zu einem Ort der Demokraten zu machen. Ein neues Staatsziel Das führte dazu, dass 2005 die nach Halbe auf den Bahnhofsvorplatz angereisten 1.500 Nazis von 2.000 Demokraten an ihrem Heldengedenkmarsch durch eine Blockade gehindert wurden. Die Polizei musste die Blockierer gewähren lassen und die Nazis am Abmarsch hindern. Die Erfahrung, dass eine angemeldete Demonstration von Nazis in einem solchen Ort verhindert werden kann, wenn Tausende von Demonstran-
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ten diesen Ort für die Demokratie in Besitz nehmen, wurde zu einem Durchbruch für das Konzept der Mobilisierung der Zivilgesellschaft gegen Rechtsextremismus. Als im Folgejahr 2006 mehr als 7.000 Demonstranten in Halbe einen „Tag der Demokratie“ begangen und so einen angekündigten Großaufmarsch der Nazis verhinderten, war selbst Jörg Schönbohm unter den Demonstranten. Und die Nazis gaben ihren Versuch auf, Halbe zu ihrem Wallfahrtsort zu machen. Seitdem gibt es in Brandenburg an jedem Ort breit getragene Widerstandsaktionen unterschiedlichster Art, wenn Nazis versuchen, den öffentlichen Raum für sich zu gewinnen. Aus dem jahrelangen und anhaltenden Widerstand, der gemeinsam von Zivilgesellschaft und Politik getragen wurde, entstand im Jahr 2012 die Idee, dem Eintreten gegen Fremdenfeindlichkeit und Rassismus mit einer Staatszielbestimmung Verfassungsrang zu geben. Mittlerweile ist im Brandenburger Landtag in erster Lesung ein von vier der fünf Brandenburger Landtagsfraktionen getragener Gesetzesentwurf behandelt worden, um in die Verfassung folgenden Satz aufzunehmen: „Das Land schützt das friedliche Zusammenleben der Menschen und tritt der Verbreitung rassistischen und fremdenfeindlichen Gedankenguts entgegen.“ Ein bedeutender
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KLAUS NESS | WEGSCHAUEN WAR GESTERN!
Schritt zur Unterstützung des gewachsenen bürgerschaftlichen Engagements und eine sehr gute Voraussetzung, dass die Zeit des Ignorierens und Wegsehens in Brandenburg wirklich dauerhaft der Vergangenheit angehört. | KLAUS NESS
ist Generalsekretär der Brandenburger SPD und Abgeordneter des Brandenburger Landtags.
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DIETMAR WOIDKE | DAS VOLLE PROGRAMM
DAS VOLLE PROGRAMM Staatliches Handeln gegen Rechtsextremismus zwischen Prävention und Repression — Von Dietmar Woidke
n den letzten 20 Jahren hat sich die Form der Auseinandersetzung mit dem Rechtsextremismus in Brandenburg grundlegend gewandelt (vgl. dazu den Beitrag von Klaus Ness in diesem Heft). In der Landespolitik hat nach anfänglichen Unsicherheiten vor geraumer Zeit ein Umdenken stattgefunden. Polizei, Justiz und Verfassungsschutz haben sich auf die Herausforderung von rechts eingestellt und gehen professionell und mit großer Entschlossenheit gegen rechtsextreme Bestrebungen, Aktivitäten und Organisationen vor. Der entscheidende Unterschied zu den neunziger Jahren scheint mir allerdings im Beitrag der Zivilgesellschaft zu liegen. Als die Landesregierung 1998 richtigerweise auf vorherige Defizite mit der Entwicklung des Handlungskonzepts „Tolerantes Brandenburg“ reagierte, galt dies manchen Beobachtern seinerzeit noch als eine Art „Kopfgeburt“ aus Potsdamer Amtsstuben, als typisch exekutive Politik „von oben“. Diese Kritik war auch nicht ganz falsch. Sie verfehlte aber trotzdem den entscheidenden Punkt: Denn es gab
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damals die zahlreichen Initiativen, Bündnisse und Vereinigungen an der „Basis“, die sich gegen Neonazis, Ausländerfeindlichkeit und rechte Gewalt engagierten, noch gar nicht, sie waren erst dabei, sich zu finden. Und gleichwohl war es damals für die Landespolitik höchste Zeit zu handeln. 15 Jahre Tolerantes Brandenburg Vor kurzem hat das „Tolerante Brandenburg“ nun seinen 15. Geburtstag gefeiert. Und man kann mit Händen greifen, wie viel sich in diesen Jahren getan hat. Es war in den neunziger Jahren keineswegs selbstverständlich, dass rechtsextremen Aktivitäten vor Ort durch engagierte Bürger oder Kommunalpolitiker mit entsprechenden Protestaktionen entgegengetreten wurde. Es gab teilweise eine Haltung des Wegsehens, des Abwartens, des Ignorierens. Und es gab auch bei jenen, die sich engagieren wollten, viel Unsicherheit, wie und mit welchen Mitteln dem rechten Spuk vor Ort am besten entgegenzutreten sei. Es gab sehr wenige, die diesen Anfängen des gesellschaftli-
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SCHWERPUNKT | WACHSAM BLEIBEN
chen Engagements mit Informationen und Beratung zur Seite standen. Es war auch eine Zeit, in der Kommunalpolitiker fürchteten, dass ihr Ort als „Neonazi-Hochburg“ dastehen könnte, wenn man durch Gegenproteste auf die lokale rechte Szene aufmerksam macht. So tat man vielfach lieber nichts. Die Einsicht, dass es sich tatsächlich genau umgekehrt verhält, dass der Ruf einer Gemeinde durch Wegsehen und Nichtstun ruiniert wird, hat sich in Brandenburg erst allmählich durchgesetzt. Mutige Kommunalpolitiker wie etwa der langjährige Rheinsberger Bürgermeister Manfred Richter haben hier Pionierarbeit geleistet und anderen den Weg freigemacht. Bürger gehen auf die Straße Heute ist die Situation in Brandenburg eine völlig andere: Fast überall, wo sich rechtsextreme Aktivitäten zeigen, gibt es Bürger, Initiativen und Vereine, die diesen entgegentreten. Dazu bedarf es nicht mehr des Appells „von oben“ – sondern es passiert von ganz allein. Auch heute noch gibt es einzelne Gemeinden, in denen dieses klare Bekenntnis gegen rechts nicht so deutlich ausfällt, wie es erforderlich wäre. Aber während dies in den neunziger Jahren ein verbreitetes Problem war, handelt es sich heute um Ausnahmen, die unter dem sehr kritischen Blick der Politik
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und Öffentlichkeit auch als solche gesehen werden. Steter Tropfen wird auch in diesen Fällen den Stein höhlen. Für Rechtsextremisten ist Brandenburg in den letzten Jahren ein schwieriges Pflaster geworden. Den entscheidenden Beitrag dazu hat das Engagement der Zivilgesellschaft geleistet. Der Umgang mit dem Problem hat sich geändert. Und Brandenburg ist dadurch ein besseres Land geworden. Dies lässt sich an vielen Beispielen zeigen: Zwei Wahlperioden lang war die rechtsextreme DVU im Landtag vertreten. 2009 verfehlte sie den Wiedereinzug deutlich. Seit der „Fusion“ mit der NPD hat sie sich praktisch rückstandsfrei aufgelöst. Sie hat die NPD nicht stärken können. Das sehen die Nationaldemokraten mittlerweile genauso: Auf ihrem letzten Parteitag beschloss die NPD die Streichung des Anhängsels „Die Volksunion“ in ihrem Parteinamen. Die DVU ist damit auch symbolisch Geschichte. NPD verliert Mitglieder Auch die NPD selbst kriegt zwischen Elbe und Oder kaum ein Bein auf den Boden. Sie ist in Brandenburg vergleichsweise schwach aufgestellt. Seit 2010 verliert die Rechtspartei in Brandenburg Mitglieder und verfügt derzeit noch über etwa 320 Aktive. Viele ihrer angeblichen Ortsverbände sind in Wahrheit virtuelle Internet-Konstrukte. Ihre relative Schwäche
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zwischen ihren langjährigen Hochburgen in Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen ist der Partei mittlerweile selbst etwas peinlich. Dieser Umstand anhaltender Schwäche ist umso bemerkenswerter, als die NPD die alten Bundesländer als Aktionsfeld fast vollständig geräumt hat und alle Kapazitäten auf Ostdeutschland konzentriert. Zu einer groß aufgezogenen Kundgebung am 15. September 2012 in Potsdam konnte die NPD Brandenburg keine 100 Teilnehmer mobilisieren – und die Hälfte davon kam auch noch aus Berlin. Das beabsichtigte Signal der Stärke in der alten Preußenmetropole fiel entsprechend kläglich aus. Gegendemonstrationen verhinderten den geplanten Marsch durch die Stadt; am Ende zogen die Rechtsextremen unverrichteter Dinge wieder ab. Auf wirksamen Widerstand trifft in Brandenburg auch die Szene der so genannten „Freien Kräfte“. Ich habe 2011 die „Freien Kräfte Teltow-Fläming“ und 2012 den „Widerstand Südbrandenburg“ („Spreelichter“) verboten. Derzeit sind noch sieben neo-nationalsozialistische Gruppierungen in Brandenburg aktiv. Auf erhebliche Probleme stößt in Brandenburg auch die rechtsextreme Musikszene. Zwar gibt es hier vergleichsweise viele Bands (2012: 24), sie finden allerdings bislang kaum Auftrittsmöglichkeiten, so dass sie häufig in benachbarte Bundesländer ausweichen. Von neun
Konzerten der rechten Szene im Jahr 2012 wurden drei von der Polizei aufgelöst; vier weitere konnten im Vorfeld verhindert werden. Beispiele wie diese zeigen, dass den Aktions- und Entfaltungsmöglichkeiten der rechtsextremen Szene in Brandenburg mittlerweile durch politische Rahmenbedingungen, staatliches Handeln und zivilgesellschaftliches Engagement sehr enge Grenzen gesetzt werden. Brandenburg ist für Neonazis aller Schattierungen ein schwieriges Pflaster geworden. Die Szene bleibt stabil Alle diese Entwicklungen stehen eindeutig auf der Habenseite der gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Rechtsextremismus in Brandenburg. Aber dies ist nur die eine Seite der Medaille. Andere Entwicklungen innerhalb der rechten Szene geben keinerlei Anlass zur Entwarnung. Es sind vor allem zwei Gründe, die diese Einschätzung aktuell rechtfertigen. Zum einen ist das rechtsextreme Personenpotenzial in Brandenburg insgesamt relativ stabil. Nennenswerte Rückgänge sind seit einigen Jahren im Grunde nicht festzustellen. Innerhalb dieses Potenzials gibt es zwar bemerkenswerte Verschiebungen: Während die NPD verliert, steigt die Zahl der harten Neonazis seit 2007 kontinuierlich an. Nach einem langjährigen Rückgang seit
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der Jahrtausendwende sinkt auch die Zahl der unorganisierten gewaltbereiten Rechten aktuell nur noch ganz leicht. Das gesamte rechtsextremistische Personalpotenzial betrug im Jahr 2012 rund 1.140. Im Vorjahr waren es 1.150 Aktivisten, 2010 rund 1.170. Zwar lässt sich die Einschätzung vertreten, dass die rechte Szene in Brandenburg seit etwa dem Jahr 2000 langjährig an Aktiven und Mitgliedern verloren hat. Derzeit aber ist festzustellen, dass dieser Rückgang fast zum Stillstand gekommen ist. Bei allen Verschiebungen innerhalb des Potenzials: Die rechtsextreme Szene in Brandenburg ist derzeit insgesamt stabil. Ob dies so bleibt, werden erst die nächsten Jahre zeigen. Zahl der Straftaten steigt Es handelt sich dabei auch keinesfalls um den in einer Demokratie vielleicht hinzunehmenden Rest von notorisch Unbelehrbaren und ideologisch Verirrten. Das wäre eine unverantwortliche Bagatellisierung der Szene. Man darf nämlich dabei nicht vergessen, dass das entsprechende Personenpotenzial auch in den neunziger Jahren lange Zeit zwar etwas, aber nicht wirklich wesentlich über den heutigen Zahlen gelegen hat. Dies ist der erste Grund, warum die Herausforderung von Rechts auf der Agenda von Politik und Gesellschaft in Brandenburg bleiben muss.
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Der zweite Grund dafür ist, dass die von Rechtsextremen begangenen Straftaten in Brandenburg zuletzt deutlich gestiegen sind. Politisch rechts motivierte Straftaten haben 2012 um fast 19 Prozent zugenommen. Auch wenn es sich dabei in der Mehrzahl um Propagandadelikte handelt, kann dieser Umstand keinesfalls beruhigen. Denn auch die rechten Gewaltstraftaten in Brandenburg sind 2012 deutlich gestiegen von 36 auf 58. Zuvor waren die rechten Gewaltstraftaten seit 2007 stets zurückgegangen. Der Anstieg der Übergriffe ist nicht unerheblich. Ob es sich dabei um einen Trend handelt, lässt sich noch nicht sagen. Man muss auch sicherlich berücksichtigen, dass die Zahl der rechten Gewaltstraftaten sich unter dem Wert der Jahre 2001 bis 2010 bewegt. Dennoch: Ein deutliches Ansteigen entsprechender Straftaten nach zuletzt mehrjährigen Rückgängen ist ein beunruhigendes Signal. Was an einem Tag passiert Dafür sprechen nicht allein die nüchternen Zahlen der Statistik. Wie äußern sich rechtsextreme Aktivitäten in Brandenburg ganz konkret im Jahr 2013? Ich will dies anhand von polizeilichen Meldungen vom 8. und 9. Mai dieses Jahres illustrieren. Am 8. Mai marschieren in Kloster Lehnin etwa 30 Personen mit Fackeln
DIETMAR WOIDKE | DAS VOLLE PROGRAMM
und Bannern durch den Ort und skandieren „Nationaler Sozialismus jetzt!“ und „8. Mai – Lüge der Befreiung“. Am gleichen Tag forderte ein „Reichsbürger“ in einem an den Bürgermeister der Stadt adressierten Brief die „Übernahme der Stadt Eberswalde in Volkes Hand“. In Oranienburg zeigten anlässlich eines Fußballspiels Heimfans ein Plakat mit der Aufschrift „Gas geben Sachsenhausen“. Auf dem Weg der Potsdamer Gästefans zum Bahnhof skandiert ein 39-Jähriger aus einem Wohnhaus den Hitlergruß. An einer Kundgebung der „Freien Kräfte Königs Wusterhausen“ nehmen etwa 60 Personen teil. Motto: „Kein Grund zum feiern: Massenmord ist keine Befreiung“. Am 9. Mai kommt es in Panketal zu einem Vorfall, bei dem eine Gruppe von etwa 10 Jugendlichen mehrfach „Sieg Heil“ skandiert. In Potsdam fährt eine Gruppe männlicher Personen mit Fahrrädern über die Brandenburger Strasse und ruft abwechselnd „Sieg“ und „Heil“. Am Luisenplatz stimmen sie beim Erkennen von Ausländern volksverhetzende Lieder wie „Setzt die Affen in ein Boot, zünd es an und lass es los“. Zudem riefen sie sich zu: „Wie hoch wächst das Gras?“, woraufhin der Hitlergruss gezeigt und geantwortet wurde: „So hoch wächst das Gras!“. In Groß Lindow bauten mehrere Personen fünf Zelte unter einer Brücke auf und hissten die Reichskriegsflagge. Acht Personen hatten sich
Hakenkreuze auf den Oberkörper gemalt. Im Potsdamer Neuen Garten wurde von rund 25 Personen „Sieg Heil“ und „Kanaken raus“ skandiert. Ebenfalls in der Landeshauptstadt wurde in einem Wohngebiet „Holocaust – alles Lüge“ und „Heil dem Vaterland“ gerufen. Das alles sind Streiflichter aus nur zwei Tagen. Wir brauchen den Verfassungsschutz Gegen die andauernde Herausforderung der Demokratie durch den Rechtsextremismus können wir nur mit abgestimmten Konzepten vorgehen. Mit Prävention und Repression gleichermaßen. Wir brauchen selbstverständlich auch in Zukunft dafür eine leistungsfähige Polizei. Wir brauchen einen starken polizeilichen Staatsschutz. Die Grundlage für das Handeln der Polizei zur Bekämpfung der politisch rechts motivierten Kriminalität ist das „Handlungskonzept Politisch motivierte Kriminalität“, mit dem seit Jahren eine einheitliche Strategie festgeschrieben wird. Sie setzt auf einen hohen Verfolgungsdruck, eine nachhaltige Strafverfolgung, die Unterbindung extremistischer Aktionen und die Nutzung des Instruments des Verbots von Vereinigungen. Das Ergebnis ist ein anhaltend hoher und erfolgreicher Druck der Sicherheitsbehörden. Nach meiner Auffassung benötigen wir auch weiterhin den Verfassungs-
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schutz. Dies gilt trotz der Fehler, die der Verfassungsschutzverbund – aber nicht er allein! - im Zusammenhang mit der rechten Terrorzelle NSU begangen hat. Die von manchen geforderte Abschaffung des Verfassungsschutzes würde die Wehrhaftigkeit der Demokratie gegen den rechten Extremismus schwächen. Das sollte die letzte Konsequenz sein, die wir aus dem NSU-Debakel ziehen. Repression wirkt Die repressive Komponente der Bekämpfung des Rechtsextremismus zeigt in Brandenburg Wirkung. Aber sie hat natürlich ihre Grenzen. Mit administrativen Maßnahmen allein lassen sich gesellschaftliche Herausforderungen selbstverständlich nicht „lösen“. Das spricht nicht gegen Maßnahmen der Repression – wie etwa Vereinsverbote – wohl aber dagegen, ihre Wirksamkeit an unrealistischen Maßstäben zu messen. Umgekehrt kann das Problem auch nicht allein der Zivilgesellschaft und ihrem Engagement überlassen werden. Wo es um gefährliche Straftaten und ihre Aufklärung geht, da findet dieses Engagement ebenfalls seine Grenzen. Da helfen nur Polizei und Justiz. Insofern bleibt die enge Abstimmung und Verzahnung aller repressiven und präventiven Maßnahmen auch in Zukunft erforderlich. Die Wirksamkeit aller Bausteine dieser Gesamtstrategie
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muss dabei aber immer wieder neu überprüft werden angesichts einer rechten Szene, die in Bewegung geraten ist und sich gegenwärtig auch in Brandenburg neu sortiert. Folgende Tendenzen gehören dazu: Die NPD verliert an Bindekraft. Die Szene differenziert sich aus. Unkonventionelle Aktionsformen nehmen zu. Großdemonstrationen dagegen scheinen wegen des erfolgreichen Widerstandes der Zivilgesellschaft an Attraktivität zu verlieren. Die rechte Szene geht daher vermehrt zu Kleinaktionen („Wandermahnwachen“) und Aktionsformen ähnlich den „Unsterblichen“ über. Es entstehen neue, web-basierte Gruppierungen wie etwa die sogenannten „Identitären“. Keine Abstriche Besonders aufmerksam beobachtet werden müssen Mischszenen, in denen sich etwa Rocker, Kampfsportler, Rechte und sonstige Aktive überlappen. Hierfür bestehen insbesondere in Südbrandenburg Anhaltspunkte. Auch die zunehmenden Reichsbürger-Aktivitäten, die die Legitimität der demokratischen Ordnung untergraben sollen, erfordern eine angemessene Reaktion. Es bleibt auch abzuwarten, wie die rechte Szene auf den hohen Druck durch staatliche Repressivmaßnahmen reagiert. Es ist nicht auszuschließen, dass es zu einer noch konspirativeren Vorgehensweise bei der
DIETMAR WOIDKE | DAS VOLLE PROGRAMM
szeneinternen Kommunikation und in Teilen auch zu weiteren Radikalisierungsprozessen kommen kann. Ich gehe deshalb davon aus, dass wir auch weiterhin in Brandenburg alle erfolgversprechenden Maßnahmen und Konzepte zur Bekämpfung des Rechtsextremismus zum Einsatz bringen müssen. Sowohl repressiv als auch präventiv – eben: das volle Programm. Es wäre ein Fehler, daran Abstriche zuzulassen. Das könnte sich später bitter rächen. | DR. DIETMAR WOIDKE
ist Innenminister des Landes Brandenburg.
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WINFRIEDE SCHREIBER | UND SIE NUTZEN JEDE GELEGENHEIT
UND SIE NUTZEN JEDE GELEGENHEIT Wie sich die Neonationalsozialisten organisatorisch und strategisch modernisieren — Von Winfriede Schreiber1 hne zu dramatisieren lässt sich konstatieren, dass der Rechtsextremismus in vielen ländlichen Regionen Deutschlands eine politisch und sozial nicht zu ignorierende Rolle spielt. Das trifft in Brandenburg besonders auf die südlichen Teile des Landes zu. Von einer „hegemonialen Dominanz“ im Sinne einer „kulturellen Hegemonie“ sind Rechtsextremisten in Brandenburg jedoch weit entfernt. Die Arbeit von Polizei und Verfassungsschutz sowie die im Handlungskonzept „Tolerantes Brandenburg“ festgelegte institutionalisierte Beratung durch die regionalen Mobilen Beratungsteams bieten Landkreisen, Kommunen und Verbänden eine verlässliche Basis für kommunale Strategien und Maßnahmen gegen den Rechtsextremismus vor Ort. Allerdings bereitet die Strömung der Neonationalsozialisten seit einigen Jahren Sorge – nicht nur in Branden-
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Die Autorin dankt Michael Hüllen und Heiko Homburg für wertvolle Anregungen zu diesem Beitrag
burg. Nach Einschätzung des Verfassungsschutzes befindet sich diese Strömung des Rechtsextremismus in Brandenburg und vielen anderen Regionen Deutschlands im Aufwind. In Brandenburg stieg die Gesamtzahl der Neonationalsozialisten im Zeitraum 2007 bis 2012 um 190 Personen auf 430 Personen an. Seit Beginn der entsprechenden Statistik für das Land Brandenburg im Jahr 1993 war die Zahl der Neonationalsozialisten noch nie so hoch. Beunruhigende Entwicklung Wissenschaft, Verfassungsschutz und Polizei sehen viele Hinweise, dass sich der Rechtsextremismus organisatorischstrategisch „modernisiert“ hat. Daran hat die neonationalsozialistische Strömung einen großen Anteil. Dieser Beitrag will zunächst die tiefer gehenden Gründe für diese beunruhigende Entwicklung herausarbeiten. Danach soll die organisatorisch-strategische Modernisierung des
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Organisierte und unorganisierte Neonationalsozialisten in Brandenburg 410
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1997 1998 1999 2000 2003 2004 2006 2007 2008 2009 2010
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2011
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Quelle: Verfassungsschutz des Landes Brandenburg
Rechtsextremismus exemplarisch am Beispiel der „Widerstandsbewegung in Südbrandenburg“ nachvollzogen werden. Die im Jahr 2012 vom Innenminister des Landes Brandenburg verbotene Gruppierung hat in den letzten Jahren den Rechtsextremismus im südlichen Brandenburg entscheidend mitgeprägt. Ein entscheidender Schub Drei Entwicklungen haben dazu geführt, das von einer Modernisierung des Rechtsextremismus in einem organisatorischstrategischen Sinne gesprochen werden kann: die Entfaltung eines Zusammengehörigkeitsgefühls im Rechtsextremis-
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mus, die Herausbildung einer kollektiven Identität und die Informationstechnik, die dem Rechtsextremismus einen weiteren entscheidenden Schub gegeben hat. Der zeitgenössische deutsche Rechtsextremismus richtet sich gegen soziale und ökonomische Wandlungsprozesse, die in den letzten zwei Jahrzehnten weltweit in Erscheinung getreten sind. Rechtsextremisten in Brandenburg bilden dabei keine Ausnahme; wie alle deutschen Rechtsextremisten lehnen sie diese Entwicklung ab. Der Kampf gegen die Verursacher (aus der Sicht von Rechtsextremisten: Kapitalismus und die parlamentarische Demokratie) und
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um vermeintliche Lösungen (Immigranten nach Hause schicken) bildet – trotz aller vorhandenen Differenzen zwischen den einzelnen Strömungen – das einigende Thema im Rechtsextremismus. Dadurch ist, anders als die Jahrzehnte zuvor, ein Zusammengehörigkeitsgefühl in der rechtsextremistischen Szene entstanden. Im Gegensatz zu anderen Strömungen im Rechtsextremismus ist der Neonationalsozialismus allerdings im Vorteil: Diese Strömung verkörpert den Kampf gegen Ausländer und die parlamentarische Demokratie am kompromisslosesten. Neonationalsozialisten verzeichnen daher seit einigen Jahren kontinuierlichen Zulauf. In Brandenburg kommt noch ein weiterer Faktor hinzu: Die schon seit einigen Jahren anhaltende Schwäche der NPD. Sie bekommt im Land Brandenburg seit vielen Jahren kaum einen Fuß auf den Boden. Erfolgreiche Vernetzung Gleichzeitig hat sich in den letzten zwei Jahrzehnten im Rechtsextremismus eine kollektive Identität herausgebildet. Die neonationalsozialistische Strömung steht an der Spitze dieser Entwicklung. Bestandteile dieser rechtsextremistischen Identität sind eine eigene Bewegungsgeschichte, eigene Sprachcodes, netzwerkartige Organisationsformen und die Orientierung an jugendkulturellen Praktiken und Stilen:
> Die Szene lebt von der Vorstellung einer vermeintlich einheitlich verlaufenden geschichtlichen und kulturellen Entwicklung der Deutschen bis 1945. Neonationalsozialisten haben diese Fiktion in ihre Bewegungsgeschichte integriert und vermitteln sie auf politischen Schulungen. Sie sehen sich als Nachfolger der in den germanischen und keltischen Mythen beschriebenen Helden und interpretieren die Heldenerzählungen des Nationalsozialismus (wie zum Beispiel den „Marsch der NSDAP auf die Feldherrenhalle“ im Jahr 1923) und des Zweiten Weltkriegs (wie etwa den vermeintlich heldenhaften Soldatentod für das Vaterland) als Bestandteil der deutschen Kultur. Zudem orientiert sich diese Strömung zunehmend auch an den „Helden“ der eigenen Bewegung, wie etwa dem 1991 verstorbenen westdeutschen Neonationalsozialisten Michael Kühnen. > Ein wichtiger Teil dieser kollektiven rechtsextremistischen Identität sind eigene Sprachcodes, mit denen man an die Öffentlichkeit tritt. Die rechtsextremistische Vision eines „sterbenden deutschen Volkes“ (Volkstod) gehört ebenso dazu wie der Begriff der „Volksgemeinschaft“, der die als „undeutsch“ empfundene Gesellschaft ersetzen soll. > Rechtsextremisten integrieren verstärkt jugendkulturelle Praktiken
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Aspekte der organisatorisch-strategischen Modernisierung des Rechtsextremismus
Intensive Nutzung der Informationstechnik
Zusammengehörigkeitsgefühl
Kollektive Identität
und Stile in ihre Bewegung, um Jugendliche besser beeinflussen zu können. Rechtsextremisten setzen unmittelbar am Alltag, an der Lebenswelt von Jugendlichen an. Rockund neuerdings sogar Pop-Musik sind zu wichtigen Trägern ideologischer Botschaften geworden. Die Verfassungsschutzbehörden gehen davon aus, dass die Kombination von Freizeit- und Unterhaltungswert mit politischen Inhalten, die um einen fremdenfeindlichen Kern oder die Verherrlichung, zumindest die Verharmlosung des Nationalsozialismus kreisen, zu einem Kennzeichen des zeitgenössischen Rechtsextremismus
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> > > >
Bewegungsgeschichte Vernetzung Sprachcodes Jugendkulturelle Praktiken und Stile
geworden ist. Diese Verbindung wird heute von Verfassungsschützern als „Erlebniswelt Rechtsextremismus“ bezeichnet. > Außerdem vernetzt sich die Szene seit einigen Jahren erfolgreich. All diese Aspekte führen in verstärktem Maße dazu, dass diese Strömung des Rechtsextremismus verstärkt als Gegenkultur mit einer eigenen Identität wahrgenommen wird. Auf den Süden Brandenburgs trifft die Charakterisierung der Szene als Gegenkultur besonders zu. Nach den Verboten mehrerer neonationalsozialistischer Gruppierungen Mitte der neunziger Jahre des vorigen
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Jahrhunderts und den Verboten und Selbstauflösungen Mitte des letzten Jahrzehnts bilden neonationalsozialistische Netzwerke mittlerweile die strukturelle Basis des Rechtsextremismus in dieser Region. Das enorme Potenzial der Informationstechnik sowie die Vielfalt der Möglichkeiten im Internet hat diese Entwicklung in den letzen Jahren noch beschleunigt. Insbesondere die neonationalsozialistische Strömung im Rechtsextremismus nutzt heutzutage alle vorhandenen IT-technischen Möglichkeiten sowohl zur eigenen Vernetzung als auch zur bewussten Einflussnahme. Neonationalsozialisten haben die Informationstechnik und das Internet entdeckt, weil sie damit ihre gruppen- oder netzwerkinterne Kommunikation festigen können. Zugleich können sie im Netz ihre menschenverachtenden Botschaften besser tarnen und leichter nach außen vermitteln. Hier treffen sie auf Jugendliche, für die das Internet in erster Linie Unterhaltung bietet. Aber Jugendliche suchen im Internet auch nach Vorbildern, verschaffen sich Informationen, bilden ihre Meinung heraus und nutzen soziale Netzwerke als Ersatz für die zwischenmenschliche Kommunikation. An dieser Stelle setzen Neonationalsozialisten an und betreiben Agenda-Setting. Als sogenannte „Social Publisher“ im Netz plat-
zieren sie ihre Agitationsschwerpunkte über ihre eigenen Kommunikationskanäle in der Öffentlichkeit. Was passiert in Südbrandenburg? Die organisatorisch-strategische „Modernisierung“ des Rechtsextremismus ließ sich in den vergangenen Jahren besonders im Süden Brandenburgs beobachten. Am Beispiel der Gruppierung „Widerstandsbewegung in Südbrandenburg“ und ihres Umfeldes lassen sich die einzelnen Aspekte dieser „Modernisierung“ sogar konkret nachvollziehen. Diese Gruppierung hat in den letzten Jahren die rechtsextremistische Propaganda ihrer Gesinnungsgenossen in ganz Deutschland entscheidend mitgeprägt. Mit permanenten, gefühlsbetonten und unverkennbar völkischen Inszenierungen versuchte sie die internetaffinen Jugendlichen besonders in ihren Bann zu ziehen und entsprechenden politischen Einfluss auszuüben. Die „Widerstandsbewegung in Südbrandenburg“ existiert allerdings nicht mehr. Sie wurde am 19. Juni 2012 vom Innenminister samt ihres Internet-Portals „spreelichter.info“ verboten. Entstanden ist die „Widerstandsbewegung“ nach den öffentlich proklamierten Selbstauflösungen der Kameradschaften „Gesinnungsgemeinschaft Süd-Ost Brandenburg“, „Sturm Cottbus“ und „Lausitzer Front Guben“ im Jahr
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2006 und firmierte zunächst unter den Namen „Netzwerk Freie Kräfte“ und „Nationale Sozialisten in Südbrandenburg“. Es handelte sich um ein Netzwerk lokaler Kleingruppen (Zellen) aus Lübben, Lübbenau, Senftenberg, Spremberg, Vetschau und Cottbus sowie Einzelpersonen, beispielsweise aus Guben und Lauchhammer. Verbindungen bestanden auch nach Potsdam. Kern des Netzwerks waren die Zellen in Lübbenau und Lübben. Einige Personen dieser Führungsclique waren durch ihre früheren Mitgliedschaften in der NPD gut vernetzt mit ehemaligen neonationalsozialistischen Kadern, die in den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts ihren Weg in die rechtsextremistische Partei fanden. Gegensatz zur NPD Allerdings stand die Führungsclique des Netzwerkes der NPD in den letzten Jahren distanziert gegenüber. Man verstand sich eher als Ideen- und Taktgeber sowie Elite der neonationalsozialistischen Bewegung. Trotz dieser elitären Anwandlungen war die Führungsclique des Netzwerks im örtlichen Umfeld der Kernzellen in Lübben und Lübbenau gut vernetzt. Es entstanden stabile soziale Beziehungen – Geburtstage und andere Ereignisse wurden gemeinsam begangen. Gleichzeitig wurde die Vernetzung mit den Heranwachsenden, die der
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rechtsextremistischen Szene in der Region aufgeschlossen gegenüberstanden, betrieben. Dazu dienten beispielsweise Hallenfußball- und Pokerturniere. Darüber hinaus unterhielt die Führungsclique des Netzwerks enge Kontakte zu Gesinnungsgenossen im Bundesland Sachsen. Neben den sozialen Beziehungen hielten gemeinsame politische Ideen (spezielle Kampagnen wie „Volkstod“ und „Die Unsterblichen“), Aktionen (Kult um Rudolf Heß und Horst Wessel, Heldengedenkfeiern, Sonnenwendfeiern, Demonstrationen, Flashmobs) HassmusikKonzerte, Lesezirkel zur Vermittlung nationalsozialistischer Ideologie sowie taktische Schulungen (Informationstechnik, Umgang mit der Polizei) das Netzwerk zusammen. Ideologisch war es orientiert an der völkischen Bewegung des 19. Jahrhunderts und dem Nationalsozialismus. Die Protagonisten des Netzwerks sahen sich in einem fundamentalen Gegensatz zur Demokratie. Vernetzung im Internet Die „Widerstandsbewegung in Südbrandenburg“ hat vor allem von der rasanten Entwicklung der Informationstechnologie profitiert und eine Infrastruktur aufgebaut, auf die standortunabhängig zugegriffen werden konnte. Diese Kerninfrastruktur war das technische Rückgrat des Netzwerks. Zusätzlich waren
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entsprechende Internetdienste (FreeMail-Dienste) eingebunden. In einer Cloud-Storage-Umgebung lagerten das Archiv und die aktuellen Dokumente des Netzwerks. Die zugangsberechtigten Eliten des Netzwerks konnten sich in abgeschirmten Räumen austauschen und ihre Vorhaben planen. Die Kommunikationsplattformen und die Cloud-Storage-Umgebung dienten zugleich als Unterstützung für die Produktion der Websites „spreelichter.info“, „sfb-infos.nw.am“, weiterer Web-Seiten sowie neuer Web-Projekte, wie beispielsweise der Internetseite „cb-infos.net“ der Zelle Cottbus. Über im osteuropäischen Ausland ansässige Freemail-Server konnten die Führungsclique und weitere berechtigte Aktivisten ebenfalls unbeobachtet über die Websites eingehende Nachrichten kontrollieren und bequem im „Back-Office“ beantworten. Zugleich hatte man zwölf Internet-Domains angemeldet, die zum Teil auch für andere Zellen interessant waren (zum Beispiel die Domain „wirwollenleben.info“ für die Kampagne „Wir wollen leben“ der „Nationalen Sozialisten Senftenberg“). Damit hatte man ein wirkungsvolles Steuerungsinstrument für die Organisation der Außenkommunikation des Netzwerks in der Hand. Entscheidend wahrgenommen wurde die „Widerstandsbewegung“ durch ihr Hauptprojekt, das Internetportal „spreelichter.info“. Hier präsentierte sie sich
als virtuelle Gemeinschaft mit dem Ziel, ihr Geflecht und ihren Einfluss beständig zu vergrößern. Schon früh hatten die Führungsfiguren des Netzwerks Erfahrungen mit Web-Projekten gesammelt (Internetseiten des Kreisverbandes Spreewald, Bewegung Neue Ordnung, Gesinnungsgemeinschaft Süd-Ost Brandenburg, lausitz-infos.net, demo-lausitz.info). Information als Einstieg Eindeutiger Schwerpunkt der Website war die Information. Um möglichst viele Personen zu erreichen, wurde – eingebettet in eine ansprechende Optik – eine beträchtliche Bandbreite an Themen präsentiert. Berichtet wurde zum demografischen Wandel, zur Landflucht, zur Arbeitslosigkeit, zur Zuwanderungspolitik, zur Kriminalität, zur Informationszugangspolitik sowie zu internationalen Kriegs- und Konflikteinsätzen und zur arabischen Rebellion. Die Berichterstattung war tendenziös. Für jedes gesellschaftliche Problem wurden Demokratie und Pluralismus verantwortlich gemacht. Die „Widerstandsbewegung“ versuchte so, sich als Sprachrohr der Bürger (vor allem der Jugendlichen) in der Lausitz zu inszenieren. Es sollten Gefühle der Verbundenheit und Zusammengehörigkeit produziert werden („Wir gemeinsam gegen das Establishment da oben“). In den persönlichen Kontakten
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und Gesprächen mit sympathisierenden Jugendlichen vor Ort konnten die einzelnen Zellen des Netzwerks sich immer wieder auf die Internetseite beziehen oder auf sie verweisen. Keine Demokraten – na und? Die Widerstandsbewegung in Südbrandenburg nutzte jede Gelegenheit, ihre Sprachcodes in der Öffentlichkeit zu vermitteln. Parolen wie „Volkstod“, „Die Demokraten bringen uns den Volkstod“ oder „Wir wollen leben“ und „Werde unsterblich“ sollten der Vision der „Widerstandsbewegung“ vom „sterbenden deutschen Volk“ nachhaltig Ausdruck verleihen – vor allem bei Jugendlichen und Heranwachsenden. Die Parole „Wir sind keine Demokraten. Na und?“ war gegen die pluralistische Demokratie gerichtet. Nicht nur die Internetseite „spreelichter.info“ wurde zur Verbreitung solcher Sprachcodes genutzt; die Gruppierung produzierte auch unzählige Aufkleber mit den entsprechenden Parolen. Auch andere Möglichkeiten, Sprachcodes zu verbreiten, wurden gesucht: In der rbb-Sendung „Vor Ort“ ergriff einer der Protagonisten des Netzwerks die Gelegenheit und kritisierte, die Politik tue nichts gegen das angebliche „Sterben des Volkes“. Auch „Spiegel-TV“ gab man nach dem Verbot der Gruppierung bereitwillig Auskunft über eigenen Ansichten.
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Ergänzend bot die „Widerstandsbewegung“ auf der Website „spreelichter.info“ Beiträge an, die völkisch-nationalistische Inhalte hatten, germanische Mythologie vermittelten oder „heldische“ Menschen der deutschen Geschichte portraitierten. Dazu gehörte auch der vor 20 Jahren verstorbene westdeutsche Neonationalsozialist Michael Kühnen. Den Konsumenten der Website sollten die Beiträge zum „Germanentum“ oder Kurz-Portraits von Goethe, Gutenberg oder Dürer vermitteln, dass es einen „heroisch“ geprägten deutschen „Volks-Charakter“ gäbe. So versuchte man die jugendliche Klientel an völkisch-nationalistische Ideologie heranzuführen. Die „Widerstandsbewegung“ ließ keinen Zweifel daran, dass sie sich in der Tradition der „guten“ Deutschen sah. Auch Kühnen wurde zum Held und damit Bestandteil der eigenen Bewegungsgeschichte stilisiert. Einheit von Bewußtsein und Tat Mit multimedialen Internetkampagnen wollte die „Widerstandsbewegung“ die Attraktivität ihres Internetangebotes für Jugendliche und Heranwachsende erhöhen. Dazu wurden Video-Clips und Audio-Files mit rechtsextremistischen Botschaften für die Internetseite „spreelichter.info“ produziert. Über eigens eigerichtete Kanäle wurden die Kampagnen-Clips auch auf den beliebten Video-
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plattformen YouTube, Vimeo und blib.tv veröffentlicht. Zugleich wurden sie über die Foto-Plattform Flickr sowie den Kurznachrichtendienst Twitter verbreitet. Sie erreichten damit in kürzester Zeit eine maximale Streuung. Die von den Internetkampagnen ausgehenden Imagebotschaften sollten die „Widerstandsbewegung“ in einem jugendkulturellen Sinne modern, dynamisch und unangepasst darstellen. Teilweise stilisierte man sich als Stadtguerilla. Die Kampagnen zielten klar auf das Aktionspotenzial von Jugendlichen und sprachen ein speziell jugendliches politisches Gefühl an: die strikte Einheit von politischem Bewusstsein und der Tat (im Sinne einer anti-bürgerlichen Haltung). Hinter dem aktionistischen Charakter der Videos und ihrem geschickten Bildschnitt blitzte die eigentliche Botschaft oft nur subtil auf: In einer der ersten Kampagnen ging es um Geschichtsrevisionismus, um das Verharmlosen der Ursachen, des Ausmaßes und der Besonderheiten der NS-Verbrechen. Mit den völkischen Kampagnen „Volkstod“ und „Werde unsterblich“ sowie der Kampfsportkampagne „Komm zu den Anderen und stell’ dich dem Kampf!“ versuchte die „Widerstandsbewegung in Südbrandenburg“, eine längerfristige Werbung für eine völkische Ordnung und rassische Prinzipien einzuleiten. Der Slogan der Volkstod-Kampagne „Die Demokraten bringen uns den
Volkstod“ spiegelte dabei die identitäre Gesellschaftsauffassung der Gruppierung wider. Der demokratische Pluralismus sollte als Herrschaftsprinzip einer Minderheit über den „Volkswillen“ diffamiert werden. Die völkischen Kampagnen der „Widerstandsbewegung“ überraschten zudem durch ihre auf das Internet abgestimmte Symbolik und Dramaturgie: Inszenierungen mittels Fackeln, weißen Masken und „Sensenmann-Symbolik“ sowie Grenzüberschreitungen (gezieltes Stören von Veranstaltungen, unangemeldete nächtliche Demonstrationen) wurden von der Führungsclique der „Widerstandsbewegung“ in bis dato im deutschen Rechtsextremismus noch nicht gesehene Videoclips umgesetzt. Brücke zur Alltagswelt Zugleich schlug die „Widerstandsbewegung“ im Rahmen dieser Kampagnen eine Brücke zwischen Rechtsextremismus und der popkulturellen Alltagswelt von Jugendlichen und Heranwachsenden, denn die Videos waren zum Teil mit Musik bekannter Hollywood-Filme oder Songs deutscher Popbands unterlegt. In der rechtsextremistischen Szene sind diese außergewöhnlichen Angebote dankbar aufgegriffen und weiterverbreitet worden. Auf diese Weise erzielte die “Widerstandsbewegung“ über ihre eigenen Kommunikationskanäle so viel
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Aufmerksamkeit für ihre völkischen und antidemokratischen Anliegen, dass sie mit ihren Kampagnen für einige Wochen selbst zum Thema in regionalen und überregionalen Medien wurden. Das Verbot der Gruppierung hat diese Dynamik wirkungsvoll unterbrochen. Hoher Aufwand, mäßiger Erfolg In der neonationalsozialistischen Strömung hat sich – wie im gesamten Rechtsextremismus – in den letzten eineinhalb Jahrzehnten ein Zusammengehörigkeitsgefühl und eine gemeinsame Identität entwickelt, die in die Öffentlichkeit drängt. Das Internet in Verbindung mit multimedialen Angeboten ist eine der wenigen Möglichkeiten für sendungsbewusste Neonationalsozialisten, ihrer Propaganda Aufmerksamkeit zu verschaffen und damit – wie im Fall der „Widerstandsbewegung in Südbrandenburg“ – Teil der Medienagenda zu werden. Deshalb kämpfen Neonationalsozialisten zum Teil mit hohem technischen Aufwand um die Aufmerksamkeit und Gunst von Jugendlichen und Heranwachsenden. Nach wie vor gelingt ihnen das nur mit mäßigem Erfolg. Dennoch müssen mit Blick auf die Wirkung solcher Kampagnen Zivilgesellschaft, Wissenschaft, Jugendschützer, Verfassungsschutz und Polizei weiterhin besonders wachsam sein. Das Land Brandenburg tut gut daran, auch in Zukunft Rechts-
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extremisten offensiv zu begegnen. Dazu gehört, die erfolgreiche Verbotspraxis der letzten 20 Jahre gegen neonationalsozialistische Zusammenschlüsse konsequent fortzusetzen und über die Strategien des Rechtsextremismus aufklären. Mit unserer starken Zivilgesellschaft und den scharfen Instrumenten der freiheitlichen demokratischen Grundordnung verfügen wir über bewährte Mittel, um die Auseinandersetzung mit dem Rechtsextremismus erfolgreich zu führen. | WINFRIEDE SCHREIBER
war von 2005 bis 2013 Leiterin des Brandenburger Verfassungsschutzes.
EVA HÖGL | WIR MÜSSEN WACHSAM BLEIBEN
WIR MÜSSEN WACHSAM BLEIBEN Über die Erkenntnisse des NSU-Untersuchungsausschusses, Staatsversagen und die Unterschiede zwischen Wolfgang Schäuble und Otto Schily sprach Thomas Kralinski mit Eva Högl
PERSPEKTIVE21: Zwischen 2000 und 2006 hat das Trio des Nationalsozialistischen Untergrunds zehn Menschen ermordet. Haben Sie diese Morde damals registriert? EVA HÖGL: Nein, nicht wirklich. Ich habe von dieser Mordserie damals gehört, aber nur schwache Erinnerungen daran. Im Grunde habe ich mich erst im November 2011 wirklich damit auseinandergesetzt als das NSU-Trio in Eisenach aufflog. Wie schnell war Ihnen klar, dass wir es hier auch mit massivem Staatsversagen zu tun haben und man das Ganze genauer unter die Lupe nehmen muss? Das war sofort klar. Wenn es eine Serie mit zehn ermordeten Personen gab, 15 Banküberfälle und zwei Sprengstoffanschläge, dann ist klar, dass da was schiefgelaufen sein muss, sonst passiert so etwas ja nicht.
Der daraufhin eingesetzte Untersuchungsausschuss wurde von allen Fraktionen gemeinsam getragen. Ist es im Laufe der Zeit bei der Zusammenarbeit über die Fraktionen hinweg geblieben? Ja, die ganzen anderthalb Jahre lang. Wir haben alle Beschlüsse einstimmig getroffen – und zwar nicht auf dem Niveau des kleinsten gemeinsamen Nenners. Wir schreiben jetzt gemeinsam den Abschlussbericht und gehen dabei sehr respektvoll mit den unterschiedlichen Meinungen der Fraktionen um. Von Anfang an sollte die Sachaufklärung im Vordergrund stehen. Das ist uns gelungen, auch wenn es natürlich in den Fraktionen unterschiedliche Bewertungen gibt. Welche Erkenntnisse werden denn gemeinsam getragen? Zwei Dinge haben wir in den vergangenen anderthalb Jahren herausarbeiten können. Zum einen: Über einen Zeit-
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raum von 15 Jahren – wenn man die Entstehung der Zwickauer Terrorzelle hinzuzählt, sind es fast 20 Jahre – ist der Rechtsextremismus flächendeckend verharmlost worden, und zwar sowohl bei der Suche nach dem Terrortrio, bei den Mordermittlungen und bei den Ermittlungen zu den Sprengstoffanschlägen. Er wurde nicht als Gefahr für unsere Demokratie gesehen. Die zweite ist eine sehr bittere Erkenntnis: Die Tatsache, dass neun der zehn Mordopfer als auch die Opfer der Sprengstoffanschläge einen Migrationshintergrund hatten, hat die Untersuchungen von Polizei, Verfassungsschutz, Justiz und politisch Verantwortlichen in die falsche Richtung gelenkt. Die Opfer sind in ein kriminelles Milieu gesteckt worden. Was heißt das? Es zeigt, dass unsere Vorurteile sehr ausgeprägt sind. Da sind die Sicherheitsbehörden sicher nur ein Spiegelbild unserer Gesellschaft. Ein ermordeter Mann mit türkischem Migrationshintergrund, der einen Imbiss betreibt, wird von uns automatisch in ein kriminelles Umfeld gesteckt und hat etwas mit PKK, Drogen, Rotlicht oder sonst was zu tun. Das zu sehen, war erschreckend, denn es war von Hamburg bis München, von Rostock bis Köln überall das Gleiche. Wie konnte es zu einer solchen kollektiven Verharmlosung kommen?
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Das hat mich am meisten fassungslos gemacht. Ursprünglich hatte ich gedacht, es gäbe wahrscheinlich einen Fehlerherd, bei dem am Anfang der Mordkette etwas schiefgelaufen ist. Aber das war nicht so. Wir haben diese kollektive Verharmlosung überall gefunden. Den Föderalismus ausgenutzt Woran liegt das? Zum einen wurde der Rechtsextremismus einfach nicht als Gefahr gesehen. In manchen Behörden wurde stärker in Richtung Linksextremismus geschaut. Nach dem 11. September 2001 kam ein Fokus auf islamistischen Terror hinzu. Sicherlich gab es auch Erkenntnisse, dass sich die rechtsextreme Szene zunehmend radikalisiert und zu Gewalt bereit ist. Aber dieses Wissen hatte keine Konsequenzen, die Erkenntnisse wurden nicht als bedrohlich angesehen. Angesichts der kollektiven Verharmlosung, auch angesichts der vielen geschredderten Akten, sprechen manche von einem „tiefen Staat“, einem Staat im Staate. Ist da was dran? Das haben wir sehr sorgfältig untersucht, dazu aber keinen einzigen Beleg gefunden. Entscheidend ist die Frage, wer hat was gewusst. Über die Zeit waren die unterschiedlichsten Stellen beteiligt: die Polizei in Hamburg, der Verfassungsschutz in Brandenburg oder
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Nordrhein-Westfalen, das Bundeskriminalamt, die Behörden in Bayern usw. Man kann sich gar nicht vorstellen, wie man das hätte organisieren sollen, dass eine solche Mordserie gedeckt wird. Ganz ehrlich: Es wäre ja viel einfacher, wenn wir sagen könnten, da waren zehn oder 20 Rechtsextreme an folgenden Stellen und die haben die Mordserie gedeckt. Das, was wir rausgefunden haben, ist viel schwieriger zu bewältigen, weil es tief in unsere Gesellschaft dringt. Welche Konsequenzen müssen gezogen werden? Zunächst brauchen wir eine Reform der Sicherheitsbehörden. Ihre Kompetenzen und ihre Zusammenarbeit muss auf neue Füße gestellt werden, die Zusammenarbeit der Bundesländer muss besser werden. Im Grunde hat das Terrortrio den Föderalismus ausgenutzt. Wichtiger aber ist mir, dass nicht nur die Strukturen verändert werden, sondern die Haltung der Leute, die darin arbeiten. Also ein Mentalitätswandel? Ja, und zwar auch der Zivilgesellschaft. So etwas kann nur passieren, wenn Leute bestimmte Bilder im Kopf haben und das ist in den Sicherheitsbehörden nicht anders als in unserer Gesellschaft. In den Behörden herrschen keine anderen Vorurteile als bei jedem von uns. Ich will Verbände, Vereine und Organisationen,
die sich gegen Rechtsextremismus engagieren, besser finanzieren und nicht kriminalisieren. Die „Extremismusklausel“ als Fördervoraussetzung, die das Bundesjugendministerium eingeführt hat, gehört abgeschafft. Muss nicht auch die Ausbildung in den Sicherheitsbehörden verändert werden? Auf jeden Fall. Wir müssen mehr schulen beim Umgang mit Menschen mit Migrationshintergrund, dies gilt insbesondere für die Kommunikation mit Opfern von Straftaten und ihren Angehörigen. Außerdem müssen unsere Behörden bunter und vielfältiger werden – wie unsere Gesellschaft es auch ist. Was wir brauchen ist eine Stärkung der interkulturellen Kompetenz in unseren Sicherheitsbehörden. Jeden Tag Zeitung lesen Helmut Schmidt soll mal gesagt haben, er brauche keinen Verfassungsschutz, er lese jeden Tag Zeitung. Hat er Recht? Leider ja, in vielen Fällen. Es ist leider so, dass viele, die sich in unserer Gesellschaft gegen Rechtsextremismus engagieren und zum Beispiel auch Straftaten dokumentieren, die rechtsextreme Szene viel besser kennen als die Behörden. Ich will den Verfassungsschutz erhalten, aber er muss besser werden. Und zum Beispiel umfassende Kenntnis davon haben, was in der Szene los ist.
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Aber brauchen wir dazu 16 Verfassungsschutzämter oder wäre nicht vielleicht ein Verfassungsschutz besser? Nein, Zentralismus wäre nicht besser. Ich bin Bundespolitikerin und könnte gut sagen: alles nach Berlin, dann wird alles gut. So ist es aber nicht. Ich finde, dass es in Brandenburg einen Verfassungsschutz geben sollte, der die Brandenburger Verhältnisse gut kennt. Der vor Ort ist, ansprechbar für Initiativen oder Kommunen. Ich will die parlamentarische Kontrolle intensivieren und das allein macht die Zusammenlegung von Ämtern schwierig. Wieso? Ich will eine klare Zuordnung. Dietmar Woidke soll als Brandenburger Innenminister dafür verantwortlich sein, was im Brandenburger Verfassungsschutz passiert und dafür auch vor dem Landtag in Potsdam geradestehen. Und genau so muss das auch in Berlin sein. Dort muss der Innensenator verantwortlich dafür sein, was in Berlin passiert. Wenn man die beiden Ämter zusammenlegen würde, gäbe es keine klare Verantwortung mehr, jeder würde auf den anderen zeigen. Das lehne ich ab. Die Bundesländer und mit ihnen die Landtage müssen im Boot bleiben. Ist nicht ein Teil des Problems, dass die Verfassungsschutzämter meist im Verborgenen arbeiten? Ja, sie müssen besser kommunizieren.
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Ich finde sehr vorbildlich, wie das in Brandenburg mit der bisherigen Verfassungsschutzchefin Winfriede Schreiber gemacht wurde. Der Verfassungsschutz muss sichtbar sein. Im Berliner Abgeordnetenhaus gibt es einen öffentlich tagenden Ausschuss, der sich mit Verfassungsschutzfragen befasst. Dort wird die politische Agenda besprochen, was den Verfassungsschutz beschäftigt, wo er sich stärker engagieren sollte, wo erhöhte Aufmerksamkeit oder Entspannung angesagt ist. So etwas kann man natürlich im Parlament diskutieren – der Verfassungsschutz muss raus aus der dunklen, leicht anrüchigen Ecke. Er ist eine Institution unserer Demokratie und die soll auch offensiv für unsere Demokratie werben. V-Männer besser überwachen Diskutiert wurde im Zuge der Aufklärung auch die Rolle von V-Männern. Brauchen wir die noch? Ja, wir brauchen sie. Vollkommen klar: das sind keine netten Menschen. Wenn es gute Quellen sind, sind das fest in der rechtsextremen Szene verankerte Leute. Ich habe viel darüber nachgedacht, ob es dazu Alternativen gibt. Weil rund um die V-Männer viel zu klären und zu verändern ist. Aber verdeckte Ermittler… also Beamte, die in die Szene gehen … wären keine Alternative. Das dauert Jahre, bis man die legendiert hat, bis
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man denen ein zweites oder drittes Leben verschafft. Das ist unglaublich schwierig für die betroffenen Personen, im großen Stil ist das nicht zu machen. Wir brauchen weiterhin V-Personen, aber wir müssen die Regeln rund um Auswahl, Führung, Bezahlung und Kontrolle ändern. Ich finde, die G 10-Kommissionen in den Landtagen und im Bund, also quasi-richterliche Gremien, sollten in die Entscheidung, welche Person V-Mann wird, angeworben und geführt wird, einbezogen werden. Wird es bei den Fragen zum Verfassungsschutz und den V-Männern in Zukunft ein einheitliches Vorgehen geben? Es sieht leider nicht so aus. Die jüngste Innenministerkonferenz hat gezeigt, wie schwierig das ist. Da ging es um eine gemeinsame Datei, wo alle Informationen eingespeist werden sollen. Da bekommen wir nun immerhin gemeinsame Standards. Das ist sinnvoll und hilfreich, aber ansonsten zeichnet sich ab, dass es große Eitelkeiten zwischen den Behörden gibt, die nicht allzu viel preisgeben wollen. Eigentlich müsste die Lehre aus dieser schrecklichen NSU-Mordserie sein, dass wir eine bessere und stärkere Zusammenarbeit brauchen und Eitelkeiten sowohl von Bundes- als auch von Landesbehörden hintangestellt gehören. Es ist also nicht so sehr ein Streitpunkt zwischen Rot und Schwarz als zwischen
verschiedenen Behörden und Ländern? Im Prinzip ja. Die Innenminister sind sehr darauf aus, Regeln und Standards selbst zu treffen. Hinzu kommen noch Unterschiede im Detail zwischen Rot und Schwarz. Die SPD setzt mehr auf parlamentarische Kontrolle, auf Offenheit und Aktivierung der Zivilgesellschaft. Mehr als nur drei Leute Im Untersuchungsausschuss gibt es eine Liste mit 129 Unterstützern des NSU. Bisher war immer nur von acht oder neun Leuten die Rede. War das Netzwerk des NSU vielleicht doch größer als wir dachten? Man darf diese Liste nicht überbewerten. Da stehen alle Personen drauf, die auch nur theoretisch eventuell mit dem Trio Kontakt gehabt haben könnten. Und wir haben im Ausschuss natürlich auch nach Verbindungen gesucht, um uns ein möglichst breites Gesamtbild zu verschaffen. Ich gehe auch felsenfest davon aus, dass wir es mit einem Netzwerk zu tun haben, das aus mehr als drei Leuten bestand. Aber die Frage, ob hier tatsächlich Unterstützungshandlungen nachgewiesen werden können, ist eine, die der Generalbundesanwalt und in der Folge die Gerichte zu entscheiden haben. Sind denn Verbindungen zwischen der NPD und dem NSU offensichtlich geworden?
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Nicht in dem Sinne, dass man sagen könnte, der NSU war der bewaffnete Arm der NPD. Aber im Umfeld des NSU gab es zum Beispiel Personen, wie Ralf Wohlleben, der ein hoher NPD-Funktionär war. Wir haben es mit ein und derselben Szene zu tun. Aber es gibt eben auch Rechtsextremisten, denen die NPD zu „lasch“ ist, die in gewaltbereite Kameradschaften gehen. Können die Erkenntnisse des Untersuchungsausschusses dazu beitragen, dass das NPD-Verbotsverfahren aussichtsreicher wird? Nein. Die drei NSU-Terroristen waren nicht in der NPD. Wir trennen im Ausschuss die Themen NPD und NSU strikt. Das NPD-Verbot muss unabhängig vom NSU vorangebracht werden. Die dazu nötige Stoffsammlung ist vorhanden. Das Warum bleibt offen In München findet derzeit unter großer medialer Beobachtung der NSU-Prozess statt. Kann ein solches Gerichtsverfahren die Hintergründe der Taten überhaupt wirklich aufklären? Nein, der Prozess wird überfrachtet. Ich warne davor, zu viele Erwartungen, Wünsche und Hoffnungen in diesen Prozess zu packen. Es geht um die Strafbarkeit, es geht darum, individuelle Schuld nachzuweisen. Das Gericht hat nicht die Aufgabe, alle Zusammenhänge, insbe-
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sondere die Einzelheiten des Behördenversagens bei der Suche nach dem Trio oder bei den Ermittlungen zur Mordserie, zu klären und alle offenen Fragen zu beantworten. Welche sind das? Für die Angehörigen der Opfer wie Enver Simsek, der im September 2000 in Nürnberg ermordet wurde, wäre es gut zu erfahren, warum er ermordet wurde. Das weiß ich auch von den Angehörigen und Kollegen der ermordeten Polizistin Michelle Kiesewetter. Solange nicht klar ist, warum die einzelnen Personen zu Opfern wurden, wird ein Mordfall immer offen bleiben – selbst wenn man die Täter kennt und sie verurteilt sind. Gab es im Laufe der Vernehmungen des NSU-Untersuchungsausschusses einen Schlüsselmoment? In fast jeder Sitzung haben wir Szenen erlebt, die uns sprach- oder fassungslos gemacht haben. Am wütendsten war ich, als der Innen-Staatssekretär Fritsche im Ausschuss war. Er hat zuerst in einem quälend langen Vortrag versucht zu erklären, welches Risiko der Ausschuss für die öffentliche Sicherheit der Bundesrepublik darstellt. Das hat uns über alle Fraktionen hinweg empört. Unmöglich fand ich auch den Auftritt von Wolfgang Schäuble, der dem Thema gegenüber vollkommen ignorant und arrogant war. Er hatte weder die Mordopfer noch die
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Zeitpunkte der Morde präsent und uns signalisiert, dass er jeden Tag Europa rettet und es eine Unverschämtheit sei, ihn als ehemaligen Innenminister zu befragen. Uneinsichtig und bockig Wer war der beeindruckendste Zeuge? Für mich war das Otto Schily. Als Sozialdemokratin war das natürlich einer der „schwersten“ Zeugen für mich. Er hatte schon lange vor seiner Befragung eine umfassende Mitverantwortung eingeräumt. Man merkte ihm an, wie weh es ihm tat, dass in seiner Amtszeit als Innenminister sieben Menschen auf diese Weise ermordet wurden und zwei Sprengstoffanschläge stattfanden. Aber auch ihm konnten wir den Vorwurf nicht ersparen, dass er sich für die Mordserie nicht ausreichend interessiert hat. Daneben gab es aber auch eine ganze Reihe von Zeugen wie ganz normale Polizeibeamte, Staatsanwälte oder Verfassungsschützer, die immer wieder für eine Überraschung sorgten. Welche? Fast alle haben ihr Handeln verteidigt. Es gab nur wenige Zeugen, die deutlich gemacht haben, dass ihr Handeln im Nachhinein nicht optimal war. Die meisten waren der Auffassung, dass nie Fehler passiert seien und wenn ja, dann woanders. Ich habe in meiner Befragung
immer versucht, dass die Zeugen mit dem Blick von heute auf ihre Arbeit von gestern schauen und nach Verbesserungsmöglichkeiten suchen. Das ist leider nur in wenigen Fällen gelungen. Die Zeugen waren überwiegend recht uneinsichtig, manche gar bockig. Hat sich dennoch in den Behörden etwas verändert? Ehrlich gesagt, viel zu wenig. Die Polizei arbeitet an der Verbesserung der Ausbildung, es gibt jetzt eine Debatte um die Reform des Verfassungsschutzes. Aber ganz generell hat die Bekämpfung des Rechtsextremismus zu wenig Aufmerksamkeit. Es gibt zu wenig flächendeckenden Widerstand gegen rechtsextreme Aktionen. Unsere Gesellschaft muss aufmerksamer werden. Der größte Triumph des Terrortrios und die größte Niederlage für uns wäre, wenn sich nichts ändert und wir zur Tagesordnung übergehen würden. Angela Merkel hatte den Opfern versprochen, dass alles aufgeklärt wird – unabhängig vom Ansehen der Personen oder des Amtes. Ist das gelungen? Nein, die Bundeskanzlerin hat überhaupt nichts getan, dieses Versprechen einzulösen. Die Justizministerin hat nichts auf den Weg gebracht zur Bekämpfung des Rechtsextremismus. Der Verteidigungsminister hat sich geweigert, die Bundeswehrakten von Uwe
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Mundlos dem Untersuchungsausschuss zu übergeben, erst nachdem wir richtig Spektakel gemacht haben, sind einige Unterlagen gekommen. Und der Innenminister hat einen Aktenvernichtungsstopp erst angeordnet, als es zu spät war. Die Bundeskanzlerin hatte zwar etwas versprochen, das Kabinett hat es aber nicht sonderlich ernst genommen. Ist der NSU jetzt ein abgeschlossenes Kapitel oder müssen wir damit rechnen, dass Personen in ähnlichen Strukturen noch einmal ihr Unwesen treiben können? Von den 266 untergetauchten Rechtsextremisten sind nicht alle Taten politisch motiviert, gleichwohl gab es schon Fälle von Körperverletzung oder Sprengstoffdelikte. Deswegen bin ich beunruhigt. Ob so etwas wie die NSUMordserie wieder passieren kann? Ich hoffe es nicht. Aber wer kann das ausschließen? Niemand. Beunruhigt hat mich, dass es in den Haftanstalten ein Netzwerk rechtsextremer Inhaftierter gibt. Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt waren ja auch dabei, mit inhaftierten Rechtsextremisten Kontakt zu halten. Ich frage mich: Warum wird das nicht besser beobachtet, warum wird nicht strenger kontrolliert, warum wird nicht in Richtung Aussteigerprogramme mit denen gearbeitet? Es gibt noch viele offene Fragen, die uns beunruhigen sollten. Wir müssen alle wachsam bleiben.|
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ist Obfrau der SPD im NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestages.
GORDIAN MEYER-PLATH | RECHTSEXTREMISMUS ALS BERUFUNG
RECHTSEXTREMISMUS ALS BERUFUNG Sozio-ökonomische Profile brandenburgischer Rechtsextremisten — Von Gordian Meyer-Plath
ann man vom Rechtsextremismus leben? Das ist die Kernfrage dieses Beitrages. In Brandenburg können das nur sehr wenige Rechtsextremisten. Dann stellt sich jedoch die Frage: Wovon leben diese Rechtsextremisten und woher kommt das Geld für Aktivitäten? Und wenn wir diese Möglichkeiten kennen, welche Ansätze zur Bekämpfung des Rechtsextremismus ergeben sich daraus? Rechtsextremisten sind mitten unter uns – gerade im Erwerbsleben. Aber es ist wichtig zu betonen: Sie sind nur soziologisch in der Mitte der Gesellschaft, nicht politisch. Politisch stehen sie weit außerhalb, sie sind nicht Teil unserer freien Gesellschaft. Nur ganz selten gibt es Fälle, wo Rechtsextremisten auch soziologisch außerhalb der Gesellschaft stehen. Ein Beispiel dafür ist das Abtauchen in die Illegalität. Bis zur Aufdeckung des „Nationalsozialistischen Untergrunds“ hätten wir das kaum für möglich gehalten.
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Aber dennoch: Die Mehrheit der Rechtsextremisten lebt offen unter uns und verdient irgendwie im Schweiße ihres Angesichts ihr Brot – wenn sie denn arbeiten. Da gibt es die verschiedensten Berufe, manche sind auch Sozialleistungsempfänger. Zwar verfügen wir über kein Zahlenmaterial, das alle Rechtsextremisten nach Berufen klassifizieren könnte, die Angaben in diesem Text basieren aber auf hinreichend belegten Einzelbeispielen, die es wert sind, erwähnt zu werden. Kaum noch NS-Erbschaften Noch in den neunziger Jahren spielten Geldspritzen aus NS-Nachlässen in Brandenburg eine wichtige Rolle. So verstarb ein Schwesternpaar in Süddeutschland, das bis zum Tod ein ungebrochenes Verhältnis zum Nationalsozialismus hatte. Das Paar vermachte der Szene einen nicht unerheblichen Immobilienund Bargeldbesitz. Doch das ist Vergan-
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genheit. Darauf kann sich die Szene heute nicht mehr verlassen. Also muss man arbeiten oder sonst wie zu Geld kommen. An dieser Stelle bietet sich ein zweiter Blick zurück an. Früher wollten Rechtsextremisten gerne zur Bundeswehr oder zur Polizei. Sie suchten so einen Kompromiss mit dem eigentlich verhassten Staat und hofften, auf diese Weise beispielsweise den Kommunismus bekämpfen zu können. Außerdem bedienten waffentragende staatliche Einrichtungen rechtsextremistische Grundbedürfnisse. Auch das hat sich geändert. Rechtsextremisten lehnen die Bundeswehr heutzutage aus verschiedenen Gründen ab. Ihnen fehlt das Element des Führens von Eroberungskriegen. Und mit friedenssichernden sowie humanitären Einsätzen können Rechtsextremisten schon gar nichts anfangen. Mit der Polizei verhält es sich ähnlich. Sie ist einer der wichtigsten Faktoren in der Bekämpfung des Rechtsextremismus. Und wenn sich doch mal ein Rechtsextremist zur Polizei oder Bundeswehr verirrt, wird er recht zügig identifiziert. Blutspenden zum Gelderwerb Heute sind die meisten Rechtsextremisten, die in Lohn und Brot stehen, in Handwerksbetrieben, in der Gastronomie, in Dienstleistungsunternehmen
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oder in Pflegeberufen tätig. Für Brandenburg ist das nicht überraschend, schließlich ist das Land von kleinen und mittelständischen Unternehmen geprägt. In solchen Unternehmen kennt jeder jeden. Darin liegt zugleich ein Vorteil. Dieser ist – provokant formuliert – der böse Chef: Er ist ein natürlicher Verbündeter der Zivilgesellschaft. Extremisten in der Belegschaft können ihm das Geschäft verderben. Also kann er sagen: „Du bist mein bester Dreher, du bist mein bester Koch und ich möchte ungern auf dich verzichten. Aber was ich hier mitbekomme, kann ich mit Blick auf meine Kunden und auf meine Belegschaft nicht tolerieren. Entscheide dich.“ Vor diese Entscheidung gestellt, denken viele Rechtsextremisten schon darüber nach, wie es weitergehen soll. An seinem Broterwerb hängt schließlich nicht selten eine kleine Familie. Dieses Prinzip funktioniert in der Regel und ist ein wichtiger Faktor, den sich Sicherheitsbehörden und Zivilgesellschaft zu eigen machen können. Natürlich gibt es auch Rechtsextremisten, die standhaft bleiben und versuchen, einen neuen Job zu finden. So weit geht bei einigen in der Tat der Fanatismus. Wir kennen Fälle, wo Extremisten in den Kalender gucken und sagen: „Oh Samstag ist Demo in Dessau, Dortmund oder Dresden. Das ist ein weiter Weg und kostet Geld. Ich habe keines. Also muss ich Blut spenden.“ Damit einher
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geht oftmals die Überhöhung des eigenen Tuns. Rechtsextremisten, gerade Neonazis, bemühen in ihrer Ideologie gerne Blutbezüge und reden von „Blut und Boden“ oder „Blut und Ehre“. Im vorliegenden Fall spenden sie selbstaufopfernd ihr Blut für ihre Bewegung. Ein Leben für die Szene Damit wären wir beim ersten Zwischenfazit: Brandenburgische Rechtsextremisten sind in der Regel „arme Schlucker“, die mehr oder weniger gute Jobs haben und von diesen Jobs eben das Geld in Form von Mitgliedsbeiträgen, Spenden, Soli-Obolussen und ähnlichem für die Szene abzweigen müssen. Während in Sachsen einige von der Szene (Versandhäuser, NPD, etc.) direkt leben können, sind ihre Kameraden in Brandenburg gezwungen, eher für die Szene zu leben. Manch einer ist selbständig, beispielsweise als Tätowierer. Selbstverständlich soll das Tätowiergewerbe nicht unter Generalverdacht gestellt werden, aber es gibt genügend Fälle, in denen sich Rechtsextremisten so zumindest ein Zubrot verdienen. Oft sind Szeneangehörige die Kunden. Nun könnte man vermuten, der rechtsextremistische Geldkreislauf bleibt in sich geschlossen und der eine verpasst dem anderen geschmacklose und zum Teil strafbare Tätowierungen. Dabei bleibt es aber nicht immer. Schließlich tätowieren
Rechtsextremisten auch über ihr Milieu hinaus. Was da für eine Verbindung entstehen kann, sehen wir insbesondere an den Bezügen ins Rockermilieu. Rocker sind zahlungskräftig. Und aus solchen Geschäftsbeziehungen entstehen Netzwerke. Ein Tätowierer aus dem rechtsextremistischen Milieu kommt weit rum, lernt viele andere Rechtsextremisten aber eben auch andere subkulturelle Milieus wie Rocker kennen. Wenn der Bock zum Gärtner wird Wenn Rechtsextremisten nicht Polizist oder Soldat werden können, aber trotzdem eine Tätigkeit anstreben, die mit Uniform und autoritären Exekutivfantasien verbunden ist, dann bietet sich natürlich das Bewachungsgewerbe an. Da gibt es ein größer werdendes Dunkelfeld, auch wenn dieses Thema gerade in einem anderen Extremismuszusammenhang Schlagzeilen produziert hat. So hat ein islamistischer Gefährder kürzlich eine nicht unwichtige Liegenschaft in Brandenburg mit bewacht. Davon losgelöst beobachten wir Szenarien mit Ordnern in Fußballstadien. Dort sollen sie eigentlich die teilweise rechtsextremistisch motivierten Hooligans im Auge haben. Stattdessen brüllen sie selber die schlimmsten Parolen und pöbeln Gäste sowie Fans an, besonders solche mit Migrationshintergrund. Auch bei Volksfesten laufen Ordner auf, die
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selbst der rechtsextremistischen Szene entstammen und noch immer mit ihr verbunden sind. Wenn dann die Gemeinde X ein Volksfest veranstaltet, kann ein Ordner auch ein neonationalsozialistischer „Unsterblicher“ sein. Der nutzt dann die Gelegenheit, schleust die „Unsterblichen“ mit ihren Utensilien rein und gibt ihnen Zeit, ihren Auftritt samt Video-Dreh abzuziehen. So wird der Bock zum Gärtner. Schlaflos kann einen der Gedanke machen, wenn solche Ordner sogar als Bewacher von Asylbewerberheimen eingesetzt werden könnten. Beim Umgang mit jungen Leuten Gerade in Brandenburg ist ein durchaus höheres Bildungsniveau bei Rechtsextremisten festzustellen. An diesem Punkt rückt insbesondere die IT-Branche ins Bild. Wir haben Rechtsextremisten mit guten IT-Kenntnissen. Solche Experten sind auf dem Arbeitsmarkt derzeit sehr gefragt. In solchen Jobs lernen sie nicht nur weiter hinzu, sondern nutzen möglicherweise auch die IT-Infrastruktur ihres Arbeitgebers für ihre Aktivitäten. Das ist ein Bereich, wo Firmen sehr aufpassen müssen. Ein weiteres Beispiel wird vielen jungen Eltern erst einmal warm ums Herz werden lassen: der männliche Erzieher. Der ist Gold wert und in Deutschland – leider – noch zu selten anzutreffen. Ebenso gibt es Rechtsextremisten, die
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die Ausbildung zum Lehrer nicht schaffen, aber die zum Erzieher schon. Dort können sie ziemlich unterschwellig ihr Weltbild an die fast Wehrlosen weitergeben. Dass sich solche Berufe in der Szene etablieren können, stellt eine ernsthafte Gefahr dar, zumal sich Rechtsextremisten durchaus Gedanken darüber machen, wie sie in der Gesellschaft wirken und gleichzeitig ihren Lebensunterhalt bestreiten können.Ein anderes Beispiel ist ein von Rechtsextremisten betriebener Reiterhof. Solch ein Reiterhof kann Ferien für die Szene anbieten und der Kreislauf innerhalb der Szene wäre wieder geschlossen. Er kann aber ebenso unverfängliche Ferienangebote für junge Menschen im Angebot haben und – das wissen wir in einem konkreten Fall – den Spaß mit den Pferden dazu nutzen, gleich Rassezucht und Eugenik mit zu thematisieren. Sehnsucht nach eigener Scholle All diese Beispiele sind Einzelfälle. Brandenburg ist nicht voller brauner Reiterhöfe, kaum ein Tätowierer ist Rechtsextremist und unsere männlichen Erzieher sind keine Neonationalsozialisten. Ich will lediglich andeuten, dass Rechtsextremisten bestimmte berufliche Präferenzen haben, dabei kreativ sein können und wie alle anderen zusehen müssen, wie sie ihren Lebensunterhalt bestreiten.
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Damit wären wir an einem Punkt, der vielen Rechtsextremisten förmlich im Blut steckt und an dem Brandenburg viel „zu bieten“ hat: Die Sehnsucht nach der eigenen Scholle, nach dem Bewirtschaften des eigenen Bodens, um mit der Kraft des eigenen Blutes der Erde die Rohstoffe abzuringen. Wie mancher Linksextremist träumt auch ein Rechtsextremist vom autarken Leben jenseits der globalisierten Umwelt mit ihren Kiwis aus Neuseeland. Manch einer kann ihn verwirklichen. Ein ehemaliger NPD-Vorsitzender hier im Land ist BioBauer. Damit stellt sich das nächste Problem: Wenn so ein Bauer erfolgreich ist, gewinnt er Einfluss im Dorf und die Dorfgemeinschaft wird sich fragen, wie mit ihm umzugehen ist. Erst recht dann, wenn er seine Mitarbeiter aus der Szene rekrutiert. Das ist in Brandenburg zwar noch kein Problem, woanders aber schon, weil der Drang, in diesem Bereich zu arbeiten, bei Rechtsextremisten immanent ist. Eine weitere, wenn auch nicht so große Verdienstmöglichkeit findet sich für Anbieter heidnischer Hochzeiten, das so genannte „Eheleiten“. Die Anbieter sollen hier nicht unter Generalverdacht gestellt werden. Jeder soll seine Ehe schließen, wie er das für richtig hält. Wir wissen aber, dass bei vielen Neo-Nationalsozialisten, gerade bei der verbotenen „Heimattreuen Deutschen Jugend“, so etwas gang und gäbe ist beziehungs-
weise war. Wir kennen Rechtsextremisten, die genau diese Nische suchen und ihr Angebot nicht unbedingt nur an Rechtsextremisten richten. Öffnen sie ihren Kundenkreis, gewinnen sie Einflussmöglichkeiten außerhalb der Szene und können für die Szene selbst werben. Das Geld ist knapp Aus all diesen Beispielen lässt sich zeigen, dass sich Rechtsextremisten oft genau überlegen, womit sie ihren Lebensunterhalt hauptsächlich bestreiten und gleichzeitig nach Möglichkeiten suchen, ihre extremistische Botschaft an den Mann, die Frau und vielleicht sogar an die Kinder zu bringen. Gleichwohl ist in der rechtsextremistischen Szene in Brandenburg das Geld knapp. Im Unterschied zu Sachsen reicht es nicht, um politische Arbeit zu organisieren, so dass Mittel selber generiert werden müssen. Dafür gibt es die verschiedensten Möglichkeiten. Eine ist das Konzert- oder Partywesen, wobei dieses auf deutlich niedrigerem Niveau als in Sachsen angesiedelt ist. Solche Veranstaltungen ereignen sich oft auch im Zusammenhang mit Vereinsverboten von neonationalsozialistischen Personenzusammenschlüssen. Die Szene benötigt dann Geld für Anwälte. Dem dienen solche Partys und Konzerte. All dies geschieht auf relativ geringem Niveau, doch „Kleinvieh macht auch Mist“.
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In anderen Fällen dient dieses Geld der Finanzierung einer lokalen Szene oder soll in eine Immobilie – häufig einer Datsche – fließen. Wenn eine Szene erst einmal über eine Liegenschaft für Veranstaltungen verfügt, kann sie weitere Einnahmen erzielen und ihrer Klientel etwas bieten, wozu dann Schulungen und die Rekrutierung neuer Anhänger zählen. Musik und Merchandising Ebenso werden gelegentlich „Solidaritäts-“Tonträger wie „Lieder-Abend in Brandenburg“ produziert. Dazu hieß es im mittlerweile verbotenen Thiazi-Forum: „Unterstützt mit dem Kauf dieses Tonträgers den politischen Kampf des Nationalen Widerstands.“ In anderen Fällen fließen die Einnahmen beispielsweise einem inhaftierten Kameraden oder einem unter staatlichem Druck stehenden Personenzusammenschluss zu. Solche Soli-Veranstaltungen werden auch für die nach wie vor gering frequentierte Liegenschaft in Biesenthal genutzt. Dort kommt es ebenso zu Arbeitseinsätzen, um diese Liegenschaft auszubauen und in Stand zu halten. Rechtsextremisten werden regelmäßig dazu verpflichtet, auch wenn das Engagement schwankt. Merchandising ist ein anderer Weg, mit verhältnismäßig wenig Aufwand viel zu erzielen. Dazu zählen beispielsweise T-Shirts, bedruckt mit dem Namen einer
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Kameradschaft oder einem Szene-Spruch. Beim inzwischen verbotenem „Widerstand Südbrandenburg“ lautete der Spruch „Leben heißt Kampf“ samt Boxhandschuh-Motiv. Vertrieben wurde es bei Kampfsportveranstaltungen: Ein weiteres T-Shirt war mit „Wählst du noch oder kämpfst du schon?“ versehen – ein Spruch der in der Szene gegen die NPD zielte. Mit solchen Dingen lässt sich Geld erwirtschaften und gleichzeitig Ideologie transportieren. Ein weiteres Instrument Geld zu generieren, ist „Flattr“ – ein Social-Payment-Service mit Sitz im schwedischen Malmö. Dahinter steht die Idee, Internetseiten mit Geld zu belohnen, wenn sie einem gefallen. Will ich eine Seite belohnen, muss ich bei „Flattr“ ein Konto eröffnen und eine monatliche Geldsumme dort einzahlen. Ebenso muss die zu belohnende Internetseite dort registriert sein. Zur Belohnung klicke ich einfach auf den „Flattr“-Button der entsprechenden Internetseite. Und am Ende des Monats wird das eingezahlte Geld gleichmäßig nach Anzahl meiner Belohnungs-Klicks verteilt. Klicke ich nur eine Seite an, bekommt die eben alles. Klicke ich 100 Seiten an, bekommt jede einen hundertsten Teil meiner monatlichen Belohnung. Dieses Instrument wird auch von Rechtsextremisten genutzt. So war beispielsweise die Seite „Spreelichter“ der inzwischen verbotenen Organisation „Widerstand Südbrandenburg“ bei
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Flattr registriert und hatte auch Zahlungen erhalten. In welcher Höhe ist jedoch nicht bekannt. Spagat zwischen Szene und Fans Hie und da gibt es in der Szene den einen oder anderen Musikmacher, der ansatzweise davon leben kann. Der Liedermacher Frank Rennicke, ehemaliger NPD-Kandidat für das Amt des Bundespräsidenten, oder Michael Regener, Sänger der Band „Die Lunikoff Verschwörung“ könnten dazu zählen. Leider fehlen uns für Brandenburg Zahlen über Umsätze in der rechtsextremistischen Hass-Musik-Szene, wie sie teilweise für Sachsen vorliegen. Aber einige wenige können von ihrer rechtsextremistischen Musik tatsächlich leben. Für die meisten brandenburgischen Bands, selbst die musikalisch etwas versierteren wie „Preussenstolz“, bleibt es ein Zubrot. Vielleicht bekommen „Preussenstolz“ 200 Euro für einen Auftritt. Und diese Summe muss noch unter den Bandmitgliedern aufgeteilt werden. Eventuell erhalten sie zusätzlich einen SpritkostenZuschuss und können auch ein paar ihrer Tonträger vor Ort verkaufen. Das Problem für die brandenburgischen Bands – wenn sie denn überhaupt in Brandenburg auftreten – ist, dass diese Konzerte meistens relativ klein sind. Da kommen keine tausend Leute, eher maximal 150. Und von den Tonträgern lässt
sich auch nicht leben, meistens sind es kleine Auflagen, die zunächst vorfinanziert werden müssen. Wenn so ein Tonträger eine Auflage von 1.000 Stück erreicht, wäre das schon viel. Insofern kann man sich damit maximal ein Zubrot verdienen. Will eine Band erfolgreich sein, muss sie raus aus ihrem angestammten Milieu. Und sie muss versuchen, ihren rechtsextremistischen Fanstamm zu halten und gleichzeitig neue Fans hinzugewinnen. Ein solches Beispiel sind vielleicht „Kategorie C“. Der Band ist völlig bewusst, dass sie nach wie vor Kultstatus unter Rechtsextremisten genießt. Sie hat aber ebenso Fans außerhalb der Szene. „Kategorie C“ zählt zu den Gruppen, die schon eher von ihrer Musik leben könnten. Diesen Spagat zwischen der eigenen Szene und Fans von außen schaffen die meisten jedoch nicht. Die frühen „Böhsen Onkelz“ oder eben „Kategorie C“ sind eine Ausnahme. Die Polizei geht rigoros vor Hinzu kommt, dass in Brandenburg das Konzertwesen fast zum Erliegen gekommen ist. Wenn sie stattfinden, sind die Besucherzahlen recht niedrig. Großereignisse wie vor ein paar Jahren in Brandenburg an der Havel sind die absolute Ausnahme. Das ist eine entscheidende Leistung unserer Polizei. Sie geht rigoros gegen Konzerte vor, so dass poten-
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zielle Veranstalter abgeschreckt werden und damit rechnen müsse, dass ihr Konzert erst gar nicht anfängt oder mittendrin aufgelöst wird. Trotzdem bleiben Konzerte – auch wenn sie klein sein mögen – eine wichtige Finanzquelle. Im Jahr 2011 nutzten die „Jungen Nationaldemokraten“ in Oranienburg das „Juz“ für insgesamt acht Konzerte mit jeweils 40 bis 80 Besuchern. Bands traten ohne Gage auf und es wurde Eintritt erhoben. So floss ein wenig Geld in die lokale Szenekasse, welches in die Szenearbeit investiert wurde. Seit Ende 2011 können die „Jungen Nationaldemokraten“ die Einrichtung nicht mehr nutzen. Große Geldflüsse gibt es nicht Ebenso ist der brandenburgische SzeneVersandhandel nicht mit dem in Sachsen vergleichbar. Vereinzelt können Rechtsextremisten in Brandenburg von ihrem Versandhandel leben, jedoch werden keine Gewinne wie auf dem Niveau in Sachsen erzielt, wo ein paralleles Wirtschaftsimperium mit Brennstoffhandel und anderen Dingen entstanden ist. Hinzu kommt, dass ein Szene-Händler unter Beobachtung der Szene selbst steht. Wer mit und durch die Szene Geld verdient, muss ständig demonstrieren, dass seine Einnahmen auch wieder der Szene zugutekommen. Zusammenfassend können wir festhalten, dass der Rechtsextremismus in
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Brandenburg nicht wohlhabend ist. Große Geldflüsse gibt es nicht. Brandenburger Rechtsextremisten sind daher auf Pragmatismus und Einfallsreichtum angewiesen, um aus wenig einigermaßen viel zu machen, was ihnen in mancher Hinsicht auch gelingt. Besonders die brandenburgische Szene der Neo-Nationalsozialisten ist ein Motor und Ideengeber für die bundesweite Szene. Sie hat vorgemacht, wie besonders über das Internet mit wenig finanziellen Mitteln Ideologie modern und schnell verbreitet werden kann – all dies verbunden mit einer großen Bereitschaft zur Selbstausbeutung. Sie sind bereit, einen Großteil ihrer Freizeit, ihres Einkommens bis hin zur Blutspende für die Szene einzusetzen. Der Arbeitsplatz entscheidet! Ihr Arbeitsplatz, wo sie sich hauptsächlich verdingen müssen, ist eine Einflussmöglichkeit für unsere Zivilgesellschaft und Sicherheitsbehörden. Denn dort haben Rechtsextremisten eine Schwachstelle. Ihr Erwerbsleben entscheidet mit darüber, ob sie eine gesicherte bürgerliche Existenz führen wollen oder ob sie sich für einen anderen Weg entscheiden. Bei bestimmten Berufen, müssen wir sehr genau hingucken. Damit meine ich insbesondere diejenigen, die an der Nahtstelle zu Rockern bestehen: Bewachungsgewerbe und Tätowierer. Eine
GORDIAN MEYER-PLATH | RECHTSEXTREMISMUS ALS BERUFUNG
weitere Herausforderung für die Sicherheitsbehörden sind Immobilien, denn diese sind immer auch Rückzugsorte für die Szene und damit ein Nährboden für Ideologietransfer und Gelderwerb. | GORDIAN MEYER-PLATH
ist Präsident des sächsischen Verfassungsschutzes.
Der Beitrag basiert auf einem Vortrag, der anlässlich einer Tagung des Brandenburger und Sächsischen Verfassungsschutzes zu „Verfassungsfeinden und das Kapital“ gehalten wurde.
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RONNY BLASCHKE | ANGRIFF VON RECHTAUSSEN
ANGRIFF VON RECHTAUSSEN Wie rechtsextreme Fans das Stadion als Präsentationsfläche nutzen — Von Ronny Blaschke s war ein kalter Tag im Januar, als die Aachen Ultras noch einmal ihre Stimmen erhoben. Sie schwenkten ihre Fahnen, sie sangen, protestierten und feierten, obwohl es keinen Grund zum Feiern gab. Für die Aachen Ultras war jenes Pokalspiel bei Viktoria Köln Strafe und Erleichterung zugleich. Nach dem Abpfiff beendeten sie ihre aktive Unterstützung der Alemannia, einem hoffnungslos verschuldeten Drittliga-Verein. Die Fans wollten nicht mehr ins Stadion gehen, Fußball war für sie zu gefährlich geworden. „Es wurde immer schwerer, sich in der Stadt frei zu bewegen. Auf dem Weg zur Uni oder zur Arbeit, die Drohungen und Angriffe häuften sich, der private Raum hat keinen Schutz mehr geboten“, sagt Simon, er gehört zu den Aachen Ultras, seinen wahren Namen möchte er nicht nennen. „Irgendwann haben wir keine Möglichkeit mehr gesehen, um uns im Stadion gegen Diskriminierung zu positionieren.“ Simon ist Mitte zwanzig, wie die gesamte Gruppe interessiert er sich für
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Fußball – und für Politik. Die Aachen Ultras setzen sich für eine kreative Fankultur ein, für sie ist auch die Würde des sportlichen Rivalen unantastbar. Die Gruppe sammelt Spenden für Flüchtlinge und hilft Obdachlosen, organisiert Debatten über Homophobie oder Sexismus. Angriff von den eigenen Fans Zu viel des Politischen, schimpfen ihre Gegner. Ihre Gegner aus demselben Verein. Simon berichtet: „Wir wurden gegen Aue von vermummten Fans im eigenen Block angegriffen. In Saarbrücken haben sie auf Leute eingetreten, die schon am Boden lagen. Auf einer Raststätte in Pforzheim haben sie ein Auto von uns verfolgt, in dem Leute saßen, die noch nicht mal volljährig waren. Einen Spruch haben wir immer wieder zu hören bekommen: Fußball ist Fußball und Politik ist Politik. Ein unsinniger Versuch, sich seiner gesellschaftlichen Verantwortung zu entzie-
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hen. Dieser Spruch offenbart eine unausgesprochene Toleranz mit Neonazis.“ Die Region Aachen gilt als eine Hochburg der Rechtsextremen, das Netzwerk aus Neonazis, Hooligans und Rockern ist eng geknüpft. Auch die Aachen Ultras haben sich nach ihrer Gründung 1999 nicht von dieser Allianz distanziert. Erst mit neuem Zulauf setzte sich eine differenzierte Selbstbetrachtung durch, Fraktionen bildeten sich heraus. Sie stritten um die Melodien der Gesänge, das Erscheinungsbild der Choreografien und: die politische Ausrichtung. 2010 verließen einige Mitglieder die Gruppe und gründeten die Karlsbande. Offiziell unpolitisch, aber offen für Neonazis und Schläger, sagt Simon: „Die Lage eskalierte, es gab Hetzjagden gegen uns, rassistische und antisemitische Rufe. Der Einsatzleiter der Polizei sagte, er habe so etwas in 25 Jahren noch nicht erlebt. Es ging soweit, dass Leute im eigenen Hausflur attackiert wurden. Wir haben auf Unterstützung gewartet, aus der Fanszene oder dem Fanprojekt – leider vergeblich.“ Auf Dauer zu übermächtig Zum Kreis der Aachen Ultras gehören etwa 100 Fans. Die „unpolitischen“ Ultras der Karlsbande zählen 300 Sympathisanten, mit dabei: die Hooligangruppen „Westwall Aachen“ und „Alemannia Supporters“; der stadtbe-
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kannte NPD-Funktionär Sascha Wagner und frühere Mitglieder der verbotenen Kameradschaft Aachener Land. Ihr Ziel: die National befreite Kurve. Diese gewaltbereite Allianz erschien den studentisch geprägten Aachen Ultras auf Dauer zu übermächtig zu sein. „Bei den Nazis haben bestimmt die Sektkorken geknallt, als wir uns aus dem Stadion zurückgezogen haben“, sagt Simon. „Doch wir haben uns nicht aufgelöst. Unsere Liebe zum Verein ist erkaltet. Aber wir haben viel Resonanz aus ganz Deutschland erhalten, wir wollen nun auf anderen Wegen weitermachen.“ Kein Einzelfall Politik, Zivilgesellschaft und Medien positionieren sich gegen Rechtsextremismus, debattieren über die Terroristen des Nationalsozialistischen Untergrunds NSU und ein mögliches Verbotsverfahren der NPD. Trotz dieser Öffentlichkeit sieht eine junge Fußballgruppe nur einen Ausweg: den Rückzug. Ein Einzelfall, möchte man meinen, ein lokales Phänomen? Keineswegs. Beispiel Rostock: Die Gruppe „Unique Rebels“ sprach sich für eine kreative Unterstützung ihrer Mannschaft aus, ohne Herabwürdigung der gegnerischen Anhänger. Vielen Fans des FC Hansa erschien diese Haltung zu „links“ zu sein. Sie duldeten keine „politischen“ Äußerungen, und zwangen die „Unique Rebels“ Anfang 2011 zur Auflösung. Auch
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in anderen Städten wurden Gruppen kritisiert, sie bezeichnen sich nicht immer als links, aber als antirassistisch. Gruppen in Dresden, Duisburg oder Düsseldorf, in Essen, Leipzig oder Braunschweig. Die Liebe zum Verein „Es ist ein großer Fehler, Gruppen wie die Aachen Ultras als Linksextremisten abzustempeln“, sagt Jonas Gabler, Politikwissenschaftler aus Berlin, Autor von zwei Büchern über die Ultra-Kultur und Mitarbeiter der Universität Hannover. „Wir haben es hier mit einer Gruppe zu tun, deren Anliegen es ist, im Stadion die EU-Antidiskriminierungsnorm durchzusetzen. Das sind junge engagierte Menschen, die sich gegen Rassismus, gegen Diskriminierung engagieren, und die diesen gesellschaftlichen Anspruch auch aufs Stadion übertragen.“ Die Ultras sind die Meinungsführer in den Kurven, eine Bewegung, die in den neunziger Jahre aus Italien nach Deutschland kam. Dutzende Gruppen bildeten sich, ihr Antrieb: die Liebe zum Verein. Als Ausdruck von Patriotismus, Zusammenhalt, Treue. Nun, nach fast zwanzig Jahren, gibt eine neue Generation den Ton an. Und so verändern sich Strukturen und Debatten der Ultras, sagt Gerd Dembowski, Sozialwissenschaftler und Fanforscher seit fast zwanzig Jahren: „Aachen ist die Spitze einer Bewegung. In mehr als zehn Sta-
dien gibt es Ausdifferenzierungsprozesse, wo Leute sagen: Wir wollen diesen unpolitischen Konsens nicht mehr tragen, wir wollen offensiv etwas unternehmen gegen Homophobie, gegen alle Formen von Diskriminierung.“ Politisch oder unpolitisch? Ein Bekenntnis zum Antirassismus oder der Fokus auf Fußball? Der Wandel der Ultra-Bewegung fällt in eine Zeit, in der öffentlich ganz andere Themen diskutiert werden: Gewalt und Pyrotechnik. Laut Polizeistatistik ist es wahrscheinlicher, beim Münchner Oktoberfest durch einen Angriff verletzt zu werden als in einem Fußballstadion. Ultras wurden dennoch pauschal als Randalierer bezeichnet. Dieser Populismus haucht einer Subkultur neues Leben ein, die ausschließlich an Gewalt interessiert war: die Hooligans, die rebellische Fußballelite aus den achtziger und frühen neunziger Jahren. Hooligans drohen mit Gewalt 1998 hatten deutsche Schläger während der WM in Frankreich den Polizisten Daniel Nivel fast zu Tode geprügelt. Seitdem zogen sich viele Hooligans zurück, andere verlegten ihre Kämpfe. Ganz verschwunden waren die Hooligans nie, sagt Gerd Dembowski. „Die Hooligans hatten immer eine Art subtiles Gewaltmonopol. Sie tauchen bei großen Derbys auf oder bei ganz persön-
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lichen Feindschaften immer wieder.“ Beispiel Kaiserslautern. Ältere Hooligans der Rotfront legten jungen Ultras des FCK ein Verbot auf: Die Ultras dürfen sich nicht antirassistisch positionieren, auch ihre Fanfreundschaft zu den linken Anhängern des FC Metz müsse im Stadion ruhen. Ansonsten drohe Gewalt. Die Einschüchterung ging so weit, dass die meisten Ultras Aufklärungsabenden zum Thema Rechtsextremismus fernblieben. Nicht nur für die Hooligans in Kaiserslautern zählt das Gesetz des Stärkeren. Brachiale Männlichkeit, Überlegenheitsdenken, Gewaltverherrlichung. Ein Gemisch, das anschlussfähig ist für Neonazismus und Jugendliche verunsichern kann. Ein Schlag ins Gesicht Einer, der das genau beurteilen kann, ist Thilo Danielsmeyer, seit mehr als zwanzig Jahren Mitarbeiter im Fanprojekt Dortmund. Während des ChampionsLeague-Spiels in Donezk Mitte Februar wurde Danielsmeyer von Rechtsextremen überfallen: „Ich habe sofort einen Schlag ins Gesicht bekommen und war erst mal konsterniert. Während auf mich eingeschlagen wurde, kamen Rufe wie: ,Wir sind Dortmund und Ihr nicht‘, ‚Ihr Schweine wollt uns hier raus haben‘ und ‚Dortmund bleibt rechts‘. Und ich habe das Glück gehabt, dass jemand aus der Szene meine Stimme kannte und
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mich mit Gewalt da rausgeholt hat. Und dann ist mir erst klar geworden, dass ich in dem Moment quasi fürs System gestanden habe.“ Neonazis gibt es überall In Dortmund leben viele Autonome Nationalisten, organisiert in losen Strukturen, unauffällig, meist gewaltbereit. Dieser Einfluss ist auch im Umfeld der Borussia zu spüren. So bekundeten Fans auf einem Transparent ihre Solidarität zum „Nationalen Widerstand Dortmund“, die neonazistische Gruppierung war zuvor verboten worden. In keiner Stadt Nordrhein-Westfalens werden so viele rechtsextrem motivierte Straftaten gemeldet wie in Dortmund. Die Grenzen zwischen Neonazis, Kampfsportlern und Ultras verschwimmen, vor allem in den Fan-Gruppierungen „Desperados“ und „Northside“. Viele von ihnen schauen zur dreißig Jahre alten Borussenfront und ihrem Kopf Siegfried Borchardt auf, bekannt als SSSiggi. Zuletzt sind Kleidungsstücke der Borussenfront wieder häufiger gesichtet worden, doch erst nach dem Angriff auf den Sozialarbeiter Thilo Danielsmeyer in Donezk begann eine breite Debatte über Rechtsextremismus. Doch wie lange hält diese Debatte an? Antirassistische Ultras der Gruppe „The Unity“ werden in Dortmund bedroht. Kein Einzelfall: In 16 Fanszenen der drei Profi-
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ligen gibt es Überschneidungen zwischen gewaltbereiten Fans und Rechtsextremen, so die Zentrale Informationsstelle Sporteinsätze. „Trotzdem beschäftigen wir uns zu stark mit den 50 bis 150 Neonazis, die es vermutlich in jedem Stadion gibt“, sagt der Sozialwissenschaftler Gerd Dembowski. „Wir müssen vor allem auf jene Fans schauen, die sich nicht als Rassisten oder Neonazis bezeichnen würden, aber die immer wieder eine Rolle dabei spielen, neue 50 bis 150 Neonazis zu ermöglichen.“ Nicht erst Hitlergruß oder Hakenkreuz offenbaren rechtsextreme Einstellungen. Dembowski lenkt den Blick auf die Langzeitstudie zur Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit: Darin hat der Bielefelder Gewaltforscher Wilhelm Heitmeyer nachgewiesen, dass Abwertungsmuster wie Rassismus, Homophobie, Sexismus tief in der Gesellschaft verankert sind. So vertreten fast fünfzig Prozent der Bevölkerung die Meinung, dass in Deutschland zu viele Ausländer leben. Für den Politikwissenschaftler Jonas Gabler wirkt das Stadion wie eine Art Lupe, unter der sich Ressentiments verdichtet entladen können: „Die Historie des Fußballs ist seit hundert Jahren männlich geprägt, auch daraus resultiert hierarchisches Empfinden und FreundFeind-Denken. Menschen, die nicht dieser Mehrheitsnorm entsprechen, werden von Fans schnell abgewertet.“
Den Begriff „Unterwanderung“ hält Jonas Gabler für missverständlich, er würde eine Strategie von außen vermuten lassen. Vielmehr können Rituale und Normen des Fußballs Menschenfeindlichkeit bei Jugendlichen schüren, durch Nationalismus und Überlegenheitsdenken. Nicht nur in der Anonymität des Stadions, sondern im Umfeld: in Zügen, Kneipen, Internetforen. Doch dieser langsame Prozess ist für Politik, Funktionäre und Medien schwer zu begreifen. Schließlich gibt es selten Fernsehbilder wie zum Beispiel von pyrotechnischen Gegenständen zu sehen. Druck auf Politik und Verbände Die wiederkehrende Mediendebatte erzeugt einen Handlungsdruck auf Politik und Verbände. Eine Konsequenz: Im neu aufgelegten Sicherheitskonzept der Deutschen Fußball-Liga DFL fand das Thema Rechtsextremismus nur am Rande Erwähnung. „Dabei sind die Stadien sicher“, sagt Gabler. „Wenn ich so ein Papier auflege und suggeriere, das ist ein unsicherer Ort, dann schrecke ich auch Leute ab. Auch Minderheiten, die diskriminierendem Verhalten ausgesetzt werden können. Ein fatales Signal, das die DFL damals unter dem Druck auch der Innenpolitik ausgesendet hat.“ Die Ultras haben im Herbst 2012 bundesweit Proteste gegen die Kriminalisierung ihrer Kultur organisiert. Auch
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über alte Rivalitäten hinweg. In diesem Bündnis durften Gruppen mitmischen, deren Entwicklung ins rechte Spektrum tendiert, zum Beispiel die Karlsbande aus Aachen. Gerd Dembowski glaubt, dass durch diesen Schulterschluss die antirassistischen Gruppen auf noch mehr Widerstand stoßen können, vor allem auf den Widerstand der erstarkenden Hooligans: „Dann hat man keine Zeit mehr, um diesen kleinen Kampf gegen Diskriminierung im Alltag durchzusetzen, weil das große Thema ein anderes ist. Dann kommen Neonazis wieder auf dieses politische Trittbrett, dass sie sagen können: Wir engagieren uns ja gesellschaftlich.“ Fußball als Bühne Im Fußball ist eine Atmosphäre entstanden, die Dembowski als Moralpanik bezeichnet. Und die will sich die NPD zu Nutze machen. Oft ist Fußball für die rechtsextreme Partei eine Bühne, auf der sie leicht Propaganda verbreiten kann. Gegen Polizei im Stadion – damit gegen den Staat. Für heimische Talente – also gegen Migranten. Gegen Kommerz – gegen Globalisierung. Immer wieder nutzen Parteikader Schlagworte, die zum Vokabular des Fußballs gehören: Kampfkraft, Ehre, Heimat. Die NPD in Thüringen wandte sich im Februar mit einem Schreiben an die Fanklubs von Rot-Weiß Erfurt und
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Carl Zeiss Jena. Der Titel des Papiers: „Sport frei! Politik raus aus dem Stadion – Für eine lebendige, selbstständige und vielfältige Fankultur im Fußball“. Die Vereine distanzierten sich, doch bei vielen Unbeteiligten dürfte ein negativer Eindruck haften bleiben. Das Beispiel verdeutlicht, wie machtlos sich Klubs und Verbände fühlen. Das gilt auch für den Deutschen Fußball-Bund. „Bei der Aufarbeitung haben wir als DFB zunächst keine aktive Rolle im Sinne von Sanktionen“, sagt dessen Präsidenten Wolfgang Niersbach. „Wir können als Verband nur unsere Grundhaltung deutlich machen. Dass wir nicht nur über die Satzung, sondern aus voller Überzeugung gegen jede Bewegung nach rechts sind, dass dieser DFB offen sein soll für alle.“ Was der DFB tut Wolfgang Niersbach sitzt in der Bibliothek der DFB-Zentrale, auf dem Konferenztisch liegen Zeitungsartikel, Vereinssatzungen, Sportgerichtsurteile. Er spricht langsam, auch über seine Familiengeschichte. Sein Vater war bis 1949 in britischer Gefangenschaft, danach haben sie bis zu seinem Tod nie ausführlich über den Krieg gesprochen. Heute bedauert Wolfgang Niersbach, nicht intensiver gefragt zu haben. 1976 war Niersbach zum ersten Mal in Auschwitz, er hatte als Journalist von
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der Eishockey-Weltmeisterschaft in Polen berichtet. Auch nach Israel ist er immer wieder geflogen, zuletzt im Dezember mit Nachwuchsspielern des DFB. Vor allem ihr Besuch in der Gedenkstätte Yad Vashem wird ihm in Erinnerung bleiben. Lokale Partner gesucht Unter seinem Vorgänger Theo Zwanziger hat der DFB viele Kampagnen angestoßen. Fans und Medien fragten sich, ob Niersbach diesen Kurs fortführen würde. Der 62-Jährige pflegt seine Kontakte zu den Spitzenvereinen. Kritische Aktivisten sagen hingegen, ihr Dialog mit dem DFB sei unter Niersbach eingeschlafen. Der Sozialwissenschaftler Gerd Dembowski ist Mitglied einer Kompetenzgruppe an der Universität Hannover, auch er berät den DFB und sagt: „Der DFB hat keinen Antidiskriminierungs-Beauftragten und keinen Gleichstellungs-Beauftragten. Jeder große Betrieb leistet sich einen Gleichstellungs-Beauftragten. So etwas einzusetzen, wäre meiner Meinung nach ein großer Schritt. Es sollten Ansprechpartner auch in Landes- und Regionalverbänden geschaffen werden.“ Wolfgang Niersbach sagt, die Strukturen des DFB seien ausreichend: Im Hintergrund arbeiten Wissenschaftler, Experten und Fanbetreuer an Konzepten, zum Beispiel an einem Leitfaden für
das Coming-out schwuler Profispieler. Niersbach rückt die Prävention in den Vordergrund: die Vergabe des JuliusHirsch-Preises an antirassistische Initiativen und die finanzielle Unterstützung der fünfzig Fanprojekte. Sozialarbeiter nutzen seit mehr als drei Jahrzehnten das Medium Fußball, um Fans für Jugendhilfe zu gewinnen. In der Hoffnung, dass rechte Einstellungen gar nicht erst entstehen. Der angestrebte Jahresetat eines Projekts liegt bei 180.000 Euro, für drei Sozialarbeiter und eine Verwaltungskraft. Diesen Mindeststandard weisen aber nur fünf von fünfzig Fanprojekten auf. Michael Gabriel, Leiter der Koordinationsstelle Fanprojekte in Frankfurt, der KOS, betont, dass die öffentliche Erwartungshaltung an die Sozialarbeiter stetig wächst: „Uns sind in den letzten anderthalb Jahren 25 Leute weggebrochen, aufgrund von Krankheit, aber auch, weil sie sich für andere Stellen beworben haben. Viele Kollegen in den Fanprojekten, aber auch bei den Fanbeauftragten, werden von Rechtsextremen angegriffen.“ Fans werden selbst aktiv Die Sozialarbeiter klären auf: über Codierungen, Internethetze, Kleidermarken oder über die rechte Fußballband Kategorie C. Und sie leisten Akzeptierende Sozialarbeit: Integration statt
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Ausgrenzung – auch von Jugendlichen mit einem diffusen rechten Weltbild. Das Niveau in den Fan-Betreuungen der Vereine ist unterschiedlich, sagt Philipp Markhardt, Sprecher des bundesweiten Bündnisses ProFans: „Es reicht ganz einfach nicht, wenn ein Verein sagt: Wir positionieren uns gegen Rechtsextremismus, oder noch besser gegen Extremismus jeder Art. Das ist ja diese typische Aussage, wenn man es allen recht machen möchte. Ich kenne keinen einzigen Verein, der in Absprache mit den Fans konsequent einen Kurs gegen Rassismus fährt.“ Ohne Unterstützung ihrer Vereine nehmen es kritische Fans meist selbst in die Hand. Sie gründen Initiativen, suchen externe Experten, knüpfen Netzwerke. Zum Beispiel die Löwenfans gegen Rechts in München, die Schalker Fan-Initiative in Gelsenkirchen oder die Ultras des SV Werder Bremen. Neonazis suchen neue Wege Rechtsextreme haben ihre Bewegung immer wieder modernisiert. Nach dem Verbot der Freiheitlichen Deutschen Arbeiterpartei, der FAP, schlossen sich viele Mitglieder Mitte der neunziger Jahre militanten Kameradschaften an, heute sind die unauffälligen Autonomen Nationalisten prägend. Neonazis haben mehrfach neue Wege gesucht und gefunden. Rechtsextreme werden weiter
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ihren öffentlichen Raum zur Präsentation beanspruchen. Das Umfeld des Fußballs wird dabei eine Rolle spielen. | RONNY BLASCHKE
ist freier Journalist aus Berlin. 2011 erschien sein Buch „Angriff von rechtsaussen. Wie Neonazis den Fußball missbrauchen“.
DIRK WILKING | LEBENSWERT UND WIDERSTANDSFÄHIG
LEBENSWERT UND WIDERSTANDSFÄHIG Wie kommunale Handlungsstrategien gegen Rechtsextremismus erfolgreich sein können — Von Dirk Wilking echtsextremismus ist nicht allein durch Verwaltungshandeln bekämpfbar, weder durch ein Parteienverbot noch durch Einschränkungen der Bürgerrechte für Nazis. Verwaltung kann und soll helfen, aber es muss eine politische Bewegung dazu kommen, die demokratische Alternativen attraktiver macht als die dumpfen Ideologien der Rechtsextremisten. Eine Weltanschauung kann man nicht abstellen. Und so gibt es die rechtsextremen Weltbilder fast genauso lange wie die Sozialdemokratie. Die Etiketten haben sich geändert, auch die Flaschen – aber der bittere Wein ist immer derselbe geblieben. Wer etwas tun will, sollte es also ohne die Illusion tun, Rechtsextremismus abschaffen zu können. Wenn es darum geht vor Ort etwas gegen Rechtsextremismus zu tun, sollte man eine Handlungsstrategie nur verfolgen, wenn langfristige Konzepte benötigt werden. Das bedeutet, es sollten Teilnehmer vorhanden sein, die nicht
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nur wegen der Bewältigung eines aktuellen Ereignisses zusammenkommen. Es muss auch nicht immer „gegen Rechtsextremismus“ gehen – vor allem sollte es nie gegen Menschen gehen. Ein gut funktionierendes Gemeinwesen ist deshalb die beste Versicherung gegen Rechtsextremismus. Wie sieht es vor Ort aus? Zunächst einmal gibt es keine Universalrezepte gegen Rechtsextremismus auf kommunaler Ebene. Der Begriff „Handlungsstrategie“ geht davon aus, dass es sich nicht um punktuelle Symbolhandlungen handelt. Als erstes hängt es davon ab, wie die politischen Bedingungen vor Ort sind: Gibt es eine plurale politische Kultur, kann man über gemeinsame Aktivitäten nachdenken. Gibt es sie nicht (wie zum Beispiel in stark polarisierten Kommunen) wäre es eher sinnvoll, eine Parteiaktion in Betracht zu ziehen, die dann auf Kreisebene unter-
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stützt werden kann. Soll ein kommunales Konzept entstehen, wäre dann zu entscheiden, wie intensiv man seine Kräfte einbinden will. Es ist zu entscheiden, ob man kurz-, mittel- oder langfristig agieren möchte. Kurzfristige Aktionen sind zumeist Reaktionen auf rechtsextreme Handlungen (wie Aufmärsche, „Mahnwachen“, Konzerte etc.) und sind damit abhängig von den Rechtsextremisten selbst. Der Erfolg kurzfristiger Reaktionen hängt davon ab, ob es vor Ort ein Mobilisierungspotenzial für eine Gegenveranstaltung gibt. Wenn das nicht der Fall ist, sollte man versuchen, mit den Behörden zu vereinbaren, wie man die Veranstaltung der Rechtsextremen „unschädlich“ machen kann – entweder, indem sie nicht stattfindet (durch Nutzung des Versammlungs- und Ordnungsrechts u. a.) oder zumindest keine Wirkung in der Bevölkerung entfalten kann. „Strategisch“ daran ist, dass es ein gut eingespieltes und abgestimmtes lokales Verfahren auf kommunaler Ebene eine zwingende Voraussetzung für erfolgreiches Handeln ist. Mittelfristige Aktivitäten beziehen sich zumeist auf größere Demonstrationen, Erwerb von Immobilien durch Rechtsextremisten oder den Aufbau von Organisationsstrukturen. Hierzu bedarf es eines Netzwerkes von Akteuren aus Politik und Verwaltung. Hier sind auch Kooperationen und Beratung auf überre-
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gionaler Ebene durch das Mobile Beratungsteam und das „Aktionsbündnis Brandenburg gegen Gewalt, Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit“ sinnvoll. Langfristige Aktivitäten sind in Brandenburg fast immer eher zufällig aus einer Kette von kurz- und mittelfristigen Aktivitäten entstanden. Hier geht es dann nicht mehr nur um Reaktionen auf Rechtsextremisten, sondern auch um die Gestaltung des politischen Klimas, die Formulierung von Defiziten des demokratischen Zusammenlebens und der Zivilisierung von Konflikten in der Kommune. Zwischen diesen Strategien gibt es viele Grautöne. Was „besser“ oder „schlechter“ ist, hängt stets vom politischen Klima vor Ort ab. Volksfront oder Strategie? Es scheint eine unreflektiert überkommene Vorstellung zu sein, dass „gegen Nazis“ automatisch eine Volksfront der Demokraten entstehen müsse. Das passiert jedoch eher selten. In der Regel scheitert es daran, dass die lokalen Akteure sich gerne als „in der ersten Reihe“ befindlich definieren um dort ihr Macherprofil zu schärfen. Das schreckt politische Konkurrenten ab. Wo also ausgesprochen oder unausgesprochen Kämpfe in der politischen Hierarchie mit Arbeit gegen Rechtsextremismus verknüpft werden, gelingt es kaum, einen
DIRK WILKING | LEBENSWERT UND WIDERSTANDSFÄHIG
breiten Konsens herzustellen. Eine gemeinsame Form des Widerstandes findet man dann nicht – im Gegenteil: Wer von einem CDU-Ortsverein erwartet, dass er sich an einer Blockade beteiligt, will die CDU wohl eher vorführen als beteiligen. Wie man einen Ort gewinnt Also ehrlich sein: Will ich konservative Milieus erreichen? Wenn nein, dann brauche ich sie auch nicht einzubeziehen. Wenn ja: Dann brauchen diese Kräfte auch eine angemessene Form der Aktivität. In der Praxis hat sich bewährt, für die willigen Gruppen jeweils ein spezifisches Aktionsangebot zu gestalten. Senioren gehen im Winter ungern in einen Wasserwerfereinsatz der Polizei bei einer Blockade. Aber wenn es eine Lesung zum Thema in einer Buchhandlung innerhalb eines Gesamtkonzeptes gibt, mobilisiert man auch diese Gruppe. Elitäre Demagogie, die zwischen „Bockwurstfest“ und „echtem Kampf“ unterscheidet, sollte man auch als solche bezeichnen. Angemessene Konzepte zeichnen sich dadurch aus, dass sie sich auf das Wirkungsfeld beziehen und nicht auf die Stilisierung von Personen und Gruppen. Es macht einen wesentlichen Unterschied, ob ich in einer größeren Stadt initiativ werde oder in einem Dorf. Wird ein Dorf – mangels Masse – von auswär-
tigen, städtischen Aktivisten mit besten Absichten besucht, kann dort schnell ein Abwehrreflex erfolgen, wenn man sich „überrollt“ und nicht einbezogen fühlt. Es ist in solchen Fällen schon vorgekommen, dass sich die Dorfbevölkerung klammheimlich eher mit den Rechtsextremisten solidarisierte, weil die nicht bevormundend und besserwisserisch erscheinen. Um solchen unerwünschten Effekten vorzubeugen ist es nötig, die lokalen Kommunikationsmuster zu kennen und zu berücksichtigen, und nicht einfach etwas aus dem Methodenkoffer zu ziehen. Es geht schließlich nicht (nur) darum, die physische Erscheinung von ein paar Rechtsextremisten in der Region einzudämmen – viel wichtiger ist es, deren Wirkung auf ihre Zielgruppen zu unterbinden. Wie lässt sich also eine lokale Handlungsstrategie aufbauen? Quer und bunt Die Startphase trägt entscheidend zu Erfolg oder Misserfolg einer Strategie bei. Die formierende Gruppe hat eine eigene Dynamik, und so würde eine Zusammensetzung aus Fraktionsvorsitzenden, Bürgermeister und Dezernenten einen anderen Drall geben, als eine Kombination aus Landtagsabgeordneten, Pfarrer, Theaterintendanten und Studierenden. Auch hier gilt: Es kommt auf die Situation vor Ort an, und auf die definierten Ziele. Die erste Variante
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würde recht erfolgreich bei verwaltungsorientierten Problemen sein, aber weniger Wirkung im Gemeinwesen erreichen, im zweiten Fall ist es tendenziell umgekehrt. Es geht also weniger um etwas Absolutes, sondern um die Zielbeschreibung. Für die sollte man sich ausreichend Zeit nehmen. Hier kann die Unterstützung des „Aktionsbündnisses gegen Gewalt, Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit“ schnell und unbürokratisch abgerufen werden. In der Praxis hat sich eines jedenfalls immer herausgestellt: Gruppen, die sich wegen ihrer Zuständigkeit zusammengefunden haben, waren deutlich instabiler, als Gruppen von Willigen, die aus privatem Antrieb dabei sind. Gruppen, die aus mehreren Aktivisten mit großem Ego bestehen, lösen sich bald zerrüttet auf, oder es überlebt nur eine Person, die alle anderen Mitglieder beherrscht. Quer zu den Hierarchien und bunt gemischt funktioniert am Ende meistens am besten. Lagebild ist Voraussetzung Rechtsextremismus ist bekanntlich ein organisatorisches und ideologisches Netzwerk aus Parteien, Kameradschaften und lokalen Wirkungsgruppen. Dieses Netzwerk ist nicht homogen, aber durchaus zu gemeinsamem Handeln mit Rollenaufteilungen fähig. Wenn die NPD demonstriert, ist das für die SPD kompa-
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tibel, weil es sich um Parteienstrukturen handelt, die bekannt sind. Schwieriger ist der Umgang mir Flashmobs der Autonomen Nationalisten. Hier werden Botschaften gesendet, die sich den etablierten Kommunikationsmustern von Parteien entziehen. Auch regionale Kameradschaften sind nicht leicht zu erkennen und ihre Wirkung entsprechend schwer einzuschränken. Sie agieren zum Teil konspirativ, sind „Veteranen“ der Szene, schon Jahre nicht mehr öffentlich aktiv und im Establishment angekommen. Ähnlich schwierig sind Aktivitäten von sich als „Bürgerinitiativen“ darstellenden Gruppen wie etwa dem „Deutschen Polizei HilfsWerk“ (DPHW), die sich als Bürgerwehr aufspielen und einen praktischen Ersatzstaat anbieten. Das Themenspektrum rechtsextremer Bürgerinitiativen ist so vielfältig, wie es schwierige Problemlagen gibt. Es reicht von Kanalanschlussgebühren bis zu Problemen der illegalen Kleingartenbebauung. Wie immer gilt, dass denen nicht das Thema wichtig ist, sondern die finale Forderung: „Das System muss weg!“ – dies ist immer das Ergebnis aller vermeintlich sachlichen Argumentationen. Darauf kann man sich immer verlassen. Um eine Strategie zu entwickeln bedarf es deshalb zuerst einer Situationsbeschreibung. Kommunal sollte man sich – bevor man zur Handlung übergeht – Gedanken darüber machen, woher man
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die Informationen zur rechtsextremen Szene seiner Region bezieht. Im ungünstigsten Fall sind es ausschließlich Presseberichte, die dann häufig zu aktionistischer Hektik führen. Besser für eine Strategieentwicklung ist es, sich ein zuverlässiges, kontinuierliches Lagebild zu organisieren. Neben der Polizeiwache ist das der Verfassungsschutzbericht, Anfragen an das Mobile Beratungsteam und Presseartikel. Die Jungen kennen sich aus Die zuverlässigste Quelle sind aber lokale Akteure selbst. In der Regel können Jugendsozialarbeiter, Jusos, Falken, andere Jugendgruppen sowie Gemeindeverwaltungen hervorragende Beschreibungen liefern, wenn sie in einem geschützten Raum unter Wahrung ihrer Anonymität ihre Kenntnisse der lokalen Gegebenheiten kommunizieren. Nach unserer Erfahrung kann eine Gruppe 17-18-Jähriger in drei Stunden ein außerordentlich präzises Bild des Rechtsextremismus in ihrer Kommune geben. Auf Basis solcher (durchaus nicht wissenschaftlichen) Situationsbeschreibungen, die in regelmäßigen Abständen wiederholt werden sollten, lassen sich die Wirkungsabsichten der Rechtsextremen gut abschätzen und entsprechende Gegenstrategien entwickeln. Es ist wenig hilfreich, wenn in einer Kommune bekannt ist, dass es eine klei-
ne Gruppe gibt, die sich als „die Guten“ definiert – und die „anderen“ als passive Versager. Eine Strategie gegen Rechtsextremismus sollte durchaus bewusst beinhalten, dass es mehrere Wege gibt, an sein Ziel zu kommen. In einer Großstadt kann es beispielsweise durchaus sinnvoll sein, dass sich Bündnisse aus bestimmten Eliten bilden, die das Engagement gegen Rechtsextremismus strukturieren. Hier sollte aber im Vordergrund stehen, dass der Weg für weitere Akteure frei gemacht wird, das heißt das Bündnis versteht sich als Medium einer breiteren Öffentlichkeit und nicht als Elite im Kampf gegen Rechtsextremismus. Es werde immer eher kleinere Gruppen sein, die die Initiative für lokale Konzepte entwickeln. Auf Schwächen reagieren Ziel sollte dabei aber sein, dass man die „Mitte der Gesellschaft“ erreicht, das heißt jene Menschen, die sich die Rechtsextremen als Zielgruppe ausgewählt haben. Das sind in der Regel auch geografisch benennbare Gebiete. In den größeren Städten sind das Plattenbausiedlungen oder eingemeindete Dörfer. Im ländlichen Raum sind es häufig Dörfer, die außerhalb des Speckgürtels liegen, wo die Menschen sich abgekoppelt fühlen (oder es gar sind). Es sind Gruppen, bei denen die SPD schwierige Kommunikationsbedingungen hat – und
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diese Schwierigkeit nutzen die Rechtsextremen bewusst aus. Eine Strategie kann und sollte deshalb auch beinhalten, nicht nur gegen Rechtsextremismus zu sein, sondern sich diesen Bevölkerungsgruppen zuzuwenden, sie stärker in Diskussions- und Entscheidungsprozesse einzubinden. Wir (die Demokraten) sollten uns eingestehen, wo wir Schwächen haben: Durch die Eingemeindungen von Dörfern ist in den Städten keine bewusste Dorfpolitik entwickelt worden, für die Plattenbausiedlungen haben die Parteien in der Regel kein plausibles Kommunikationskonzept und in den Randregionen gibt es kaum funktionierende Strukturen der demokratischen Parteien außerhalb der Städte. Eine Strategie sollte diese Schwächen benennen und konzeptionell darauf reagieren. Solidarität mit Angegriffenen Sollte es zu gewalttätigen Übergriffen von Rechtsextremen kommen, gehört die unbedingte Solidarität mit den Überfallenen. Das klingt selbstverständlich, ist aber in der Praxis schwer. Die meisten Angegriffenen sind nicht etwa Ausländer, sondern Menschen am untersten Rand der Gesellschaft. Da wir Opfer gerne als „gute Menschen“ darstellen möchten, eignet sich diese Gruppe vermeintlich nicht für öffentliche Solidarisierung. Aber es wäre wichtig, eine politisch mo-
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tivierte Gewalttat immer als Verbrechen zu kennzeichnen, das sich gegen die Menschenwürde richtet. In Brandenburg ist der beste Weg, direkt Kontakt mit dem Verein „Opferperspektive“ aufzunehmen, die in solchen außerordentlichen Situationen schnelle und unbürokratische Unterstützung geben können. Jugendliche einbinden Deutlich unterschätzt wird gelegentlich die Wirkung von Angriffen der Rechtsextremisten auf Parteibüros. Häufig werden diese Angriffe nicht öffentlich gemacht, um den Rechtsextremisten keine „Erfolgsmeldung“ zu gönnen. Kommunale Solidarität bleibt häufiger aus, weil es einen politischen Gegner getroffen hat und im schlimmsten Fall wird kommuniziert, das die Partei ja selbst schuld sei, wenn sie sich so weit gegen Rechtsextremisten aus dem Fenster lehne. Der Angriff auf Parteibüros ist aber eine der direktesten Attacken auf die Demokratie, weil dadurch ein kommunales Angstklima geschaffen werden soll. Menschen sollen davon abgehalten werden, sich öffentlich politisch zu engagieren. Wo es zu solchen Angriffen kommt, sollte die Reaktion schnell und unmissverständlich kommen: Neben der Polizei sollten sich alle demokratischen Parteien – egal in welcher politischen Kontroverse sie sich gerade befinden – mit den Angegrif-
DIRK WILKING | LEBENSWERT UND WIDERSTANDSFÄHIG
fenen solidarisieren. Opfer von solchen Angriffen sind in der Vergangenheit praktisch alle demokratischen Parteien im Land geworden. Die Erfahrung zeigt, dass engagierte Menschen sich keiner besonderen Gefahr aussetzen. Rechtsextremisten wollen in der Regel für ihre Ideologie werben und solange sich der zivilgesellschaftliche Widerstand dagegen auf die Kommunikationsstruktur und die Meinungsbildung richtet, ist die Situation recht kalkulierbar. Das gilt nicht immer, wenn es sich um Jugendliche handelt. Jusos oder Falken sind einer höheren Gefahr ausgesetzt. Das hat nicht unbedingt etwas mit deren Verhalten zu tun, sondern damit, dass sie häufiger in demselben Milieu wie die jungen Rechtsextremisten verkehren (Schule, Ausbildung, Freizeit). Dort eskalieren Situationen zwangsläufig schneller. Diesem erhöhten Risiko sollte man sich bewusst sein, wenn man Jugendliche in sein Konzept einbindet. Alle mitnehmen Wenn das Engagement sich direkt gegen Personen aus der rechtsextremen Szene wendet – Abgeordnete, Szeneläden, Kneipen etc. – steigt das Risiko. Je stärker konkret benennbare Personen und ihr privates Lebensumfeld in den Fokus geraten, desto höher ist das Risiko gewalttätiger Eskalation. Der Eingriff in die biografi-
schen Zusammenhänge wird immer mit gesteigertem aggressiven Verhalten beantwortet. Morddrohungen und andere Angst machende Äußerungen kommen in Brandenburg recht selten vor. Am häufigsten werden sie von so genannten „Reichsbürgern“ geäußert, die nicht immer als Rechtsextremisten zu bezeichnen sind, sondern sich häufig aus privaten Motiven (Bankrott, geistige Verwirrung u. ä.) entschieden haben, ihrem Dasein die höheren Weihen einer „Reichregierung“ zuzueignen. In diesem Zusammenhang werden dann „Todesurteile“ eines „Reichsgerichts“ verschickt. Rechtsterroristische Gefahren sind – trotz der derzeitigen NSUDiskussion – in Brandenburg derzeit nicht erkennbar. Gleichwohl werden zum Beispiel SPD-Mitglieder durch Rechtsextreme im lokalen Umfeld durchaus bepöbelt oder bedroht und in seltenen Fällen auch geschlagen. Zivilgesellschaftlichen Aktivitäten wird oft angehängt, dass sie eher symbolisch und wenig kämpferisch gegen Rechtsextreme vorgehen. Das mag stimmen oder nicht, aber der Erfolg ist eben nicht messbar in den Metern, die eine Demonstration der NPD vorwärts kommt, sondern in der Wirkungslosigkeit dieser Partei in den Kommunen. Nach unseren Erfahrungen sind Kommunen mit funktionierenden Konzepten erfolgreich, weil sie das gesamte Ge-
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meinwesen stimulieren, sich zu positionieren, ihre eigenen lokalen Themen demokratisch zu verhandeln und sich so gut vernetzt haben, dass sie Veränderungen in ihrer Gemeinschaft sehr schnell wahrnehmen und darauf reagieren. Wo der Ansatz ist, dass politische Aktionen weit über das „Gegen“ den Rechtsextremismus hinaus geht und kulturelle, jugendpolitische, wirtschaftliche und bildungspolitische Maßnahmen mit einbezogen werden, entwickelt sich eine standfeste politische Konfliktstruktur, die offen mit ihren Problemen umgeht. Und das macht eine Kommune am Ende lebenswert und widerstandsfähiger. | DIRK WILKING
ist Geschäftsführer des Brandenburgischen Instituts für Gemeinwesensberatung – demos. Deren Mobile Beratungsteams (MBT) beraten im Rahmen des Handlungskonzeptes Tolerantes Brandenburg (www.tolerantes.brandenburg.de) seit 1998 Kommunen, Initiativen und Einzelpersonen mit dem Ziel, rechtsextreme Entwicklungen und Übergriffe abzuwehren bzw. zu verhindern. Sie sind erreichbar unter www.gemeinwesenberatung-demos.de.
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LARS KRUMREY | TOTGEGLAUBTE LEBEN LÄNGER?
TOTGEGLAUBTE LEBEN LÄNGER? Die „Reichsbürger“ werden auch in Brandenburg zunehmend aktiv — Von Lars Krumrey echtsextreme Bewegung bombardiert Verwaltungen mit Drohungen“, „Alternativwährung wirbt für rechtsesotherischen Reichsbürgerverein“, oder auch „Durchs wilde Absurdistan“ – so lauteten Überschriften von Medienberichten über zunehmende Aktivitäten der “Reichsbürger-Bewegung“ auch in Brandenburg. Die selbsternannten „Reichsbürger“, „Selbstverwalter“ oder auch „Reichsregierungen“ sind Anhänger mehrerer kleiner sektenartiger Gruppierungen, die sich im rechtsextremen Umfeld tummeln. Sie sprechen der Bundesrepublik Deutschland die völkerrechtliche Souveränität ab und vertreten die Theorie, dass das Deutsche Reich fortexistiere. Auch in Brandenburg verzeichnet die „Bewegung“ Zulauf.
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Eine heterogene Bewegung Bei den „Reichsbürgern“ handelt es sich um Anhänger einer sehr heterogenen Bewegung, die aus Einzelpersonen, aber auch Personenzusammenschlüssen und
Vereinigungen wie beispielsweise der „Kommissarischen Reichsregierung“ oder der „Exilregierung Deutsches Reich“ bestehen. Sie alle eint das Ziel, unter Zuhilfenahme von kruden Argumentationsmustern den Rechtsstaat in Frage zu stellen und durch provokatives Auftreten staatliches Handeln zu blockieren. „Nicht immer sind die Anhänger Rechtsextremisten. Trotz allem versuchen viele Akteure, einen gesellschaftlichen Resonanzboden für rechtsextremistisches Gedankengut zu bedienen […] und sind teilweise tief in der rechtsextremistischen Szene verankert“, heißt es im Brandenburger Verfassungsschutzbericht aus dem Jahr 2012.“ Auch deshalb wird häufig gegenüber Ämtern, Behörden oder auch in Gerichtsverfahren versucht, mit pseudowissenschaftlichen Gutachten und abenteuerlichen Verschwörungstheorien den Holocaust zu leugnen und die „Fremdherrschaft“ der Bundesrepublik zu beweisen. Die ersten „Reichsregierungen“ haben sich bereits in den achtziger Jahren
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in der alten Bundesrepublik gegründet. Hatte die Reichsbürgerbewegung für die deutsche Neonazi-Szene bisher kaum Bedeutung, so fällt sie seit einiger Zeit durch ihre Aktivitäten vor allem bei Brandenburger Behörden und auch an Schulen zunehmend auf. Der Staat wird ignoriert Eben mit dem Verweis auf die Fortexistenz des Deutschen Reiches lehnen die „Reichsbürger“ und „Selbstverwalter“ die Zahlung von Steuern, Bußgeldern oder Verwaltungsgebühren ab. Dass es dabei nicht immer bei vermeintlich ungefährlichen, weil verbalen, Aktivitäten bleibt, zeigt ein Vorfall aus dem November letzten Jahres im sächsischen Ort Bärwalde nahe Dresden, an dem auch Brandenburger Reichsbürger beteiligt waren. Bei dem Versuch, Schulden eines Anhängers der Reichsbürgerbewegung einzutreiben, wurde ein Gerichtsvollzieher von vermeintlichen „Polizisten“ mit Hinweis auf seine ihrer Ansicht nach fehlende Legitimation für die Beitreibung „verhaftet“. Diese Polizisten waren jedoch beileibe keine Hoheitsbeamten, sondern vielmehr Angehörige des „Deutschen Polizeihilfs Werks“ (DPHW), einer Nebenorganisation der Reichsbürgerbewegung. Die Befreiung des Gerichtsvollziehers mussten dann tatsächlich von echten Polizisten durchgesetzt werden.
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Nicht immer so spektakulär, aber dafür umso nervenaufreibender ist das tagtägliche Traktat der „Reichsbürger“ vornehmlich gegen Kommunalverwaltungen. Unzählige Behörden müssen sich beispielsweise mit Schadensersatzschreiben wegen abgelehnter Sozialleistungen rumplagen, in denen Gegenforderungen, „zahlbar in Gold, Silber oder Platin in handelsüblicher Stückelung“, aufgestellt werden. Eindrücklich berichtete unlängst die Märkische Oderzeitung über das Agieren von Reichsbürgern im Landkreis Oder-Spree. Dort hatte man lange – dem Leitbild einer bürgerfreundlichen Verwaltung folgend – die eingegangenen Schreiben freundlich und sachlich beantwortet. Grundgesetz steht in Frage Als „Dank“ wurden die Behörden unablässig mit Fragen bombardiert wie „Ist Ihnen die Haager Landkriegsordnung bekannt?“ oder „Kennen Sie die Gesetze zur Bereinigung des Bundesrechts?“ Als Anlage finden sich dann bis zu 100 Seiten starke Pamphlete, die gerne auch einfach mal durchgefaxt werden. In diesen wird dann behauptet, dass die Bundesrepublik Deutschland am 17. Juli 1990 untergegangen sei. An diesem Tag habe der amerikanische Außenminister anlässlich der Verhandlungen zum ZweiPlus-Vier-Vertrag in Paris kraft seiner alliierten Sonderrechte „am Rande eines
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Gesprächs Artikel 23 des Grundgesetzes in der Fassung vom 23. Mai 1949 aufgehoben. Mit der Streichung von Artikel 23 (in der alten Fassung), welcher zu dieser Zeit den Geltungsbereich des Grundgesetzes regelte, sei die Gültigkeit des Grundgesetzes selbst entfallen und die Bundesrepublik rechtlich erloschen“.1 Kopien aus dem Internet Dieser „Tatsache“ folgend seien alle Institutionen und Gesetze der Bundesregierung „falsch“ und „unrechtmäßig“. Vielmehr sei die heutige Bundesrepublik Deutschland eine Art alliiertes Geschäftsmodell, eine Firma in der Rechtsform einer GmbH, auch gerne bezeichnet als „staatssimulative Besatzungsverwaltungsfirma BRD“. Deshalb seien alle Gebühren und Bußgelder unrechtmäßig verhängt. Häufig werden einfach Textpassagen aus dem Internet kopiert, aneinander gereiht und als Untermauerung der eigenen Forderung oder der Zahlungsverweigerung beigefügt. In E-Mails, die die „Volksbewegung Dem Deutschen Volke – Für eine Zukunft mit Recht und Gesetz“ an unzählige Städte, Gemeinden und Ämter in Brandenburg verschickte, wurde ein „Verbot zu rechtsunwirksamen Verwaltungsakten und den damit einhergehenden widerrechtlichen Vollstreckungen“ ausgesprochen. Jeder öffentlich Bedienstete würde bei „Zuwiderhandlung unein-
geschränkt mit seinem gesamten Vermögen“ haften, drohte die Gruppierung.2 Gerne berufen sich „Reichsbürger“ samt „Reichsregierungen“ auch auf eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 1973. Darin stellte das Bundesverfassungsgericht unter anderem dar, welche völkerrechtlichen Probleme sich nach Ende des Zweiten Weltkrieges durch die Teilung Deutschlands hinsichtlich des deutschen Staates („als Ganzes“) aufgetan hatten. Daraus zitieren „Reichsregierungen“ oft diese Passage: „Das Grundgesetz […] geht davon aus, dass das Deutsche Reich den Zusammenbruch 1945 überdauert hat und weder mit der Kapitulation noch durch Ausübung fremder Staatsgewalt in Deutschland durch die alliierten Okkupationsmächte noch später untergegangen ist; das ergibt sich aus der Präambel, aus Art. 16, Art. 23, Art. 116 und Art. 146 GG. Das entspricht auch der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, an der der Senat festhält. Das Deutsche Reich existiert fort (…), besitzt nach wie vor Rechtsfähigkeit, ist allerdings als Gesamtstaat mangels Organisation, insbesondere mangels institutionalisierter Organe selbst nicht handlungsfähig. […] Mit der Errichtung
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Zitiert nach: Parlamentarischer Beratungsdienst, Landtag Brandenburg, ...nachgefragt. Existiert die Bundesrepublik Deutschland? Zur Argumentation der Reichsbürger.
2 Vgl. Landtag Brandenburg, Terrorisierung von Verwaltung und Bürgern durch sogenannte „Reichsbürger“, DS 5/6888
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der Bundesrepublik Deutschland wurde nicht ein neuer westdeutscher Staat gegründet, sondern ein Teil Deutschlands neu organisiert (…) Die Bundesrepublik Deutschland ist also nicht ‚Rechtsnachfolger‘ des Deutschen Reiches […].“ Das Agieren hat System Welcher Kommunalbedienstete steht einer solch kruden Argumentation nicht ratlos gegenüber und unterliegt nicht der Versuchung, ein Verfahren entnervt einfach einzustellen – was dann von den Reichsbürgern im Internet bundesweit als Erfolg verkauft wird. Reagiert eine Kommune nicht oder wird das Antragsbegehren abgelehnt, folgt die Bombardierung mit vermeintlichen „Rechtshinweisen“. Dass ihr Agieren dabei aber System hat und einer politischen Intention folgt, beweist das Weglassen der Schlüsselpassage des zitierten Verfassungsgerichtsurteils. In ihr heißt es: „Die Bundesrepublik Deutschland ist also nicht ‚Rechtsnachfolger‘ des Deutschen Reiches, sondern als Staat identisch mit dem Staat ‚Deutsches Reich‘, – in Bezug auf seine räumliche Ausdehnung allerdings ‚teilidentisch‘, so dass insoweit die Identität keine Ausschließlichkeit beansprucht.“ Der Verfassungsschutz schätzt die Zahl der Anhänger in Brandenburg auf etwa 100 Personen. Die Polizei verzeichnete von 2008 bis zum 31. Januar 2013
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insgesamt 51 Fälle, in denen Reichsbürger in Brandenburg aktiv waren. Der Verfassungsschutzbericht 2013 des Landes Brandenburg listet eine ganze Reihe weiterer Straftaten und Aktivitäten der „Reichsbürger“ und „Selbstverwalter“ auf. So forderte ein Steuerberater eine Gemeinde auf, zunächst die Rechtmäßigkeit des Grundgesetzes zu belegen, ehe sein Mandant Steuern entrichten würde. Als Reaktion auf ein „Parkknöllchen“ erhielt die Kommune eine „Abmahnung“ mit den Vorwürfen von Willkür, Nötigung, Rechtsbeugung, Betrug, Amtsanmaßung und Bildung einer kriminellen Vereinigung. Eine vermeintliche „Richterin am Reichsgericht“ hat gegenüber einem Landratsamt ein „Grundstücksbetretungsverbot, Hausverbot und Zustellverbot“ ausgesprochen. Verschiedentlich haben Reichsbürger das Landeswappen auf dem Kfz-Kennzeichen gegen einen Reichsadler ersetzt. In einer E-Mail wurde der Landrat des Landkreises Potsdam-Mittelmark als „SPD-Gauleiter“ tituliert und Mitarbeiter des Landratsamtes mussten sich als „Nazischergen“ beschimpfen lassen.3 Aufsehen erregt haben aber nicht nur die Traktate gegenüber Behörden. Herausstechend war eine E-Mail der „Kommissarischen Reichsregierung“ 3 Vgl. „Jetzt gibt es Hausverbot“, Berliner Zeitung vom 28.02.2013
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an 320 märkische Schulen mit einer „ausdrücklichen und dringlichen Vorsorgewarnung“. In ihr wurden die Schulen aufgefordert, „auf besondere Anordnung der Reichsregierung und des Reichsgerichts zur Vorsorge für die Auflösung der Bundesrepublik Deutschland Nahrungsmittel, Trinkwasser, Decken und Heizmaterial vor[zu]halten.“ Im Januar dieses Jahres weigerte sich eine NPD-Abgeordnete aus dem Landkreis Teltow-Fläming, zwei Bußgelder in Höhe von 105 Euro zu zahlen. Sie gab sich als „Staatsbürgerin der Exilregierung des 2. Deutschen Reiches“ aus. Ende Januar stand ein Ingenieur vor dem Finanzgericht in Cottbus. Der selbst ernannte Reichsbürger hatte es abgelehnt, Steuern zu zahlen. Im Mai 2012 haben die Vereine „Neudeutschland“ und der Schwester-Verein „Ganzheitliche Wege“ in Neuruppin für die AlternativWährung „EngelGeld“ geworden. Beides – Vereine und Währung – gehören trotz der alternativ-esotherischen Bezeichnungen zur Reichsbürgerbewegung. Eigenes Geld … Die „Reichsbürger“ stellen aber nicht nur die Legitimität der Bundesrepublik in Frage, sondern präsentieren den Behörden häufig eigene „Hoheitspapiere“ wie „Reichsausweise“, Urteile eines selbst ernannten Reichsgerichts oder manipulierte KFZ-Kennzeichen. Konsequent weiterge-
dacht werden dann so Gruppierungen wie „Neudeutschland“ gegründet. Sie wurde 2009 in Wittenberg (Sachsen-Anhalt) von dem Esoteriker und Kampfsportler Peter Fitzek als „Weltanschauungsgemeinschaft“ und „Scheinstaat“ gegründet. Ziel von Fitzek ist es, eine neue, esoterisch und ökologisch ausgerichtete, utopische Staatsform in Deutschland zu schaffen. Nach eigenen Angaben hat „Neudeutschland“ etwa 2.000 Mitglieder. Da jeder Staat auch eine Währung braucht, wird beispielsweise das „EngelGeld“ herausgegeben (das im Mai 2012 unter anderem in Neuruppin von teilweise ahnungslosen Künstlern beworben und als lokales Zahlungsmittel in einzelnen Geschäften akzeptiert wurde). Ebenfalls wurden eine „Neudeutsche Rentenkasse“ und eine „Neudeutsche Gesundheitskasse“ eingerichtet. … und eigene Ausweise Selbstverständlich braucht auch eine selbsternannte Reichsregierung Finanzmittel - und sei es nur zur persönlichen Refinanzierung. Dafür haben die Aktivisten vor allem „Amtsgeschäfte“ kreiert, die sie sich bezahlen lassen. Neben den schon zitierten „Reichspersonalausweisen“ werden weitere Phantasiepapiere wie „Reichsführerscheine“, „Reichskinderausweise“, „Reichsbaugenehmigungen“ oder auch „Reichsgewerbescheine“ kreiert. Diese „Doku-
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mente“ werden ganz profan verkauft. Eine „Personen-Meldestelle“ in Tübingen kassiert beispielsweise 60 Euro für den „Personenausweis“ oder einen „Gewerbeschein“. Erwerb von Grundstücken Dass es für diese Dokumente auch tatsächlich einen Markt gibt, kann man aus einer Verlautbarung des Verfassungsschutzes schließen. Nach dieser leitete das Bundesverwaltungsamt Köln bereits im Jahr 2007 mehr als 300 Ordnungswidrigkeitenverfahren und Strafverfahren wegen Amtsanmaßung, Missbrauch von Titeln, Berufsbezeichnungen und Abzeichen sowie missbräuchlicher Verwendung des Bundesadlers gegen Personen ein, die derartige „Ausweise“ bei offiziellen Stellen vorlegten. Die Betroffenen mussten in diesem Fall nicht nur die Phantasiepapiere bezahlen, sondern auch noch die Bußgelder nebst Verfahrenskosten. Manchmal wird aber auch Geld für ganz konkrete Projekte eingeworben. In Berlin verkaufte ein Reichsbürger Anteilscheine zur Finanzierung von Presslufthämmern um das Holocaustmahnmal abzureißen. Der schon angesprochene Peter Fitzek hat ein weiteres Geschäftsfeld entwickelt. Sein charismatisches Auftreten lässt er sich gut bezahlen. Für den zweitägigen „Gründungskongress“ seiner Bewegung im Mai 2012 mussten
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die Teilnehmer beispielsweise 223 Euro entrichten. Zu Seminaren, bei denen der Autodidakt über „Staatsrechtliches Grundlagenwissen“, alternative Heilmethoden, freie Energie und das Völkerrecht referierte, pilgerten in den vergangenen Monaten hunderte Interessierte. „EngelGeld“ wurde hier aber augenscheinlich nicht akzeptiert. Die Geschäfte scheinen jedenfalls so gut zu gehen, dass die Gruppierung um Peter Fitzek gegen harte Währung ein ehemaliges Krankenhaus in Wittenberg erwerben konnte. Das etwa neun Hektar große Territorium, auf dem das Krankenhaus zu finden ist, soll als „Staatsgebiet“ seiner Bewegung dienen. Ein belächeltes Scharnier Auch wenn die Reichsbürgerbewegung insgesamt sehr heterogen aufgestellt ist und im rechtsextremistischen Lager insgesamt eher belächelt wird, besitzt sie als Rekrutierungsbecken und insbesondere durch ihre Scharnierfunktion in die esoterische Szene hinein einen nicht zu unterschätzenden Stellenwert. Der Brandenburger Verfassungsschutz hat insbesondere in Hinblick auf die Stärkung der Verwaltungen im Jahr 2012 eine Informationsreihe für Behördenmitarbeiter und Polizisten durchgeführt. Bei drei eintägigen Fortbildungsveranstaltungen wurden rund 220 Mitarbeiter geschult. Darüber hinaus hat der Ver-
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fassungsschutz in seinem Bericht für das Jahr 2012 der Reichsbürgerbewegung ein ganzes Kapitel gewidmet. Dies alles hat dazu geführt, dass das Thema „Reichsbürger“ eine deutlich höhere Aufmerksamkeit erfährt, als das in den letzten Jahren der Fall war. Kommunen haben einen kompetenten Ansprechpartner und können angemessen und zielorientiert mit den Aktivitäten umgehen. | LARS KRUMREY
ist Referent bei der SPD-Fraktion im Brandenburger Landtag.
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IMPRESSUM
Herausgeber – SPD-Landesverband Brandenburg – Wissenschaftsforum der Sozialdemokratie in Berlin, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern e.V. Die perspektive 21 steht für die Gleichberechtigung von Frauen und Männern. Der besseren Lesbarkeit halber wurden an manchen Stellen im Text ausschließlich männliche oder weibliche Bezeichnungen verwendet. Diese Bezeichnungen stehen dann jeweils stellvertretend für beide Geschlechter. Redaktion Klaus Ness (V.i.S.d.P.), Thomas Kralinski (Chefredakteur), Ingo Decker, Dr. Tobias Dürr, Klaus Faber,Tina Fischer, Klara Geywitz, Lars Krumrey, Christian Maaß, Till Meyer, Dr. Manja Orlowski, John Siegel Anschrift Alleestraße 9 14469 Potsdam Telefon +49 (0) 331 730 980 00 Telefax +49 (0) 331 730 980 60 E-Mail perspektive-21@spd.de Internet www.perspektive21.de www.facebook.com/perspektive21 Herstellung Gestaltungskonzept, Layout & Satz: statement Designstudio, Berlin www.statementdesign.de Druck: LEWERENZ Medien+Druck GmbH, Coswig (Anhalt) Bezug Bestellen Sie Ihr kostenloses Abonnement direkt beim Herausgeber. Senden Sie uns eine E-Mail.
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