Heft 64 l Oktober 2015 l www.perspektive21.de
Brandenburgische Hefte für Wissenschaft und Politik
MAGAZIN Dietmar Woidke Das Herz am richtigen Fleck Albrecht Gerber & Thomas Kralinski Film ab! DAS STRASSENSCHILD SCHWERPUNKT
Norbert Blüm über Regine Hildebrandt
25 JAHRE BRANDENBURG Wo wir herkommen, wo wir hingehen
Manfred Stolpe & Matthias Platzeck Es geht darum, glücklich zu sein Hans-Otto Bräutigam Meine ersten Brandenburger Jahre Thomas Falkner Im Wandel Beate Fernengel Traditionen und Chancen Oliver Heinrich Was uns verbindet
VORWORT
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nser Land feiert Geburtstag. Die zurückliegenden 25 Jahre waren zweifellos nicht einfach. Der Zusammenbruch unserer Wirtschaft und die hohen Arbeitslosenzahlen haben unser Gemeinweisen auf eine sehr harte Probe gestellt. Heute, 25 Jahre nach Brandenburgs Wiedergründung, können wir jedoch mit Stolz auf das Geleistete zurückblicken. Der Zusammenhalt im Land ist groß, 97 Prozent der Brandenburger identifizieren sich mit ihrem Land, die Arbeitslosenzahlen haben sich mehr als halbiert, unsere Wirtschaft ist wettbewerbsfähig. Dass in Brandenburg erst der dritte Ministerpräsident seit der Wiedervereinigung regiert, zeugt auch von der hohen politischen Stabilität – und spricht für die große Überzeugungskraft der Brandenburger Sozialdemokratie. Dieses Heft blickt deshalb – unter anderem in einem Interview mit den beiden ehemaligen Ministerpräsidenten Manfred Stolpe und Matthias Platzeck – auf die Wiedergründung unseres Landes zurück. Mit dem Erfahrungsschatz von 25 Jahre Aufbau Ost können wir heute auch an neue Aufgaben gehen. Eine der großen Herausforderungen wird es sein, viele der zu uns kommenden Flüchtlinge in unser Gemeinwesen zu integrieren. Das müssen wir in einer Weise tun, dass am Ende alle – die „eingesessenen“ und die „neuen“ Brandenburger – davon profitieren. Die Chance dazu besteht. Wie das gelingen kann, werden wir auch in der perspektive21 in den kommenden Ausgaben diskutieren müssen. Damit Integration funktioniert, gibt es eine wichtige Herausforderung: Wir müssen uns mit aller Kraft gegen diejenigen stellen, die unser Land abschotten wollen, die Menschen Hilfe verweigern wollen, die in schwerer Not sind. Rechtsextremisten und Fremdenfeinde haben noch nie einen Beitrag dazu geleistet, Probleme in unserem Land zu lösen! Viel Freude beim Lesen der neusten Ausgabe der perspektive21 Klara Geywitz
Klaus Ness
INHALT
MAGAZIN 7
Das Herz am richtigen Fleck Brandenburg steht 25 Jahre nach seiner Gründung vor großen Herausforderungen von Dietmar Woidke
19 Film ab! Warum Filmförderung eine Investition in Deutschlands Zukunft ist von Albrecht Gerber und Thomas Kralinski
DAS STRASSENSCHILD 25 Großes Mundwerk, aber noch größeres Herz Norbert Blüm über Regine Hildebrandt
SCHWERPUNKT 25 JAHRE BRANDENBURG WO WIR HERKOMMEN, WO WIR HINGEHEN
27 Es geht darum, glücklich zu sein Über Brandenburgs Grenzen, Regine Hildebrandt und die kleine DDR sprach Thomas Kralinski mit Manfred Stolpe und Matthias Platzeck
39 Anfänge in Potsdam Meine ersten Brandenburger Jahre von Hans Otto Bräutigam
61 Tradition und Chancen Brandenburgs Wirtschaft hat einen weiten Weg zurückgelegt von Beate Fernengel
69 Was uns verbindet Die industriepolitischen Herausforderungen Brandenburgs von Oliver Heinrich
51 Im Wandel 25 Jahre Brandenburg – ein Ausblick von Thomas Falkner
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DIETMAR WOIDKE l DAS HERZ AM RICHTIGEN FLECK
Das Herz am richtigen Fleck Brandenburg steht 25 Jahre nach seiner Gründung vor großen Herausforderungen – Von Dietmar Woidke I. Es gibt Themen, deren Aktualität wir vor zwei oder drei Jahren noch anders gesehen haben, die aber unser Land Brandenburg auch in den kommenden 25 Jahren beeinflussen werden. Die aktuelle Situation sieht so aus: Heute ist vollkommen klar, dass unsere Zukunft von neuen Mitbürgern geprägt sein wird – von neuen Mitbürgern, die in unserem Land Sport treiben, deren Kinder mit unseren Kindern und Enkeln in die Schule gehen, von Menschen, die ihre Heimat verloren haben und bei uns eine neue Heimat finden wollen oder schon gefunden haben. Wenn ich heute an 25 Jahre Brandenburg denke, denke ich – wie viele von uns – an die schwierigen Jahre des wirtschaftlichen Aufbruchs. Ich denke daran, wie Strukturen entstanden sind, die es in dieser Art und Weise vorher nicht gab – beispielsweise an die Gründung der Industrie- und Handelskammern Anfang 1990 sowie an viele Betriebsgründungen. Ich denke an den Mut vieler Brandenburgerinnen und Brandenburger, sich selbstständig zu machen und nicht nur für sich selbst Arbeitsplätze zu schaffen, sondern auch vielen Menschen aus ihrer Region oder ihrer Stadt Arbeit zu geben. Ich denke aber auch an die schwierige Treuhandpolitik und den harten Kampf um jeden einzelnen Industriebetrieb in unserem Land – Kämpfe, die wir zu oft verloren haben, aber, Gott sei Dank, auch einige Male gewinnen konnten. Ich denke an erfolgreiche Privatisierungen wie die des PCK Schwedt im Februar 1991 oder an die Übernahme des Standorts Schwarzheide durch die BASF schon im Jahr 1990. Ich denke an das EKO in Eisenhüttenstadt, an das Stahlwerk in Hennigsdorf und viele andere. 7
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Es ist uns gelungen, wichtige industrielle Kerne in unserem Land zu erhalten. Es war mühsam, aber es war entscheidend für das Aufblühen unserer Wirtschaft in den späteren Jahren, und es ist nach wie vor die Grundlage unserer Brandenburger Wirtschaft. Es wird auch die Grundlage dessen sein, was wir bis 2040 erreichen wollen: mehr zu sein als das Umland von Berlin, aus eigener Kraft weiterzuwachsen, Arbeitsplätze für alle zu bieten, die arbeiten wollen und können, aber auch ein Ort zu sein, an dem unsere Kinder gut ausgebildet werden und eine Perspektive haben, und – auch das gehört dazu – ein Ort zu sein, der für andere und anderes offen ist. Ganz entscheidend war deshalb die Gründung der drei brandenburgischen Universitäten und der sechs Fachhochschulen im Jahre 1991. Das war der Start in die akademische Ausbildung in unserem Land. Davon profitieren wir heute – nicht nur die jungen Menschen, die an diesen Fachhochschulen und Universitäten eine hervorragende Ausbildung erhalten, sondern gerade auch unsere Hochtechnologieunternehmen wie Rolls-Royce und MTU. Anders gesagt: Unsere frühe Investition in kluge Köpfe wird heute durch Innovation und Wachstum für unser Land belohnt. 2005 war – damals sehr umstritten – die Geburtsstunde der Förderstrategie „Stärken stärken“. Damals nahm die Erfolgsgeschichte unserer Regionalen Wachstumskerne ihren Lauf. Von da an haben wir – später verstärkt auch gemeinsam mit Berlin – auf unsere Kompetenzen fokussiert. Zukunftsbranchen wie die schon erwähnte Luft- und Raumfahrtindustrie haben in erheblichem Maße davon profitiert, und nicht nur sie. II. Aber wirtschaftliche Entwicklung darf und soll kein Selbstzweck sein. Wirtschaft muss immer für die Menschen da sein. Hinter all diesen Maßnahmen stand deshalb auch immer ein arbeitsmarktpolitisches Ziel, und das lautete: Arbeit statt Arbeitslosigkeit finanzieren. Arbeit ist seit den neunziger Jahren das zentrale Thema in unserem Land; daran hat sich bis heute nichts geändert, und daran wird sich auch in den nächsten Jahrzehnten nichts ändern. Der Transformationsschock saß tief. Jeder erinnert sich an Familienmitglieder, Freunde oder Bekannte, die von Arbeitslosigkeit betroffen waren. Viele von uns waren es selbst und haben dem Land auf der Suche nach Arbeit den Rücken kehren müssen. Unser 8
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wirtschaftlicher und unser sozialer Aufbruch im Großen besteht bei genauer Betrachtung aus vielen, vielen Aufbrüchen im Kleinen. Es waren die Brandenburger, die in sehr schwierigen Situationen nicht aufgesteckt haben, die trotz unterbrochener Erwerbsbiografien, trotz teils jahrelanger Arbeitslosigkeit und mitunter mehrfacher Umschulungen nicht aufgegeben haben. Mehr als 80 Prozent aller Arbeitnehmer, die 1989 einen Beruf ausgeübt haben, mussten mindestens einen neuen Beruf erlernen, manche sogar zwei, einige sogar drei neue Berufe, um in dieser neuen Arbeitswelt anzukommen. Diese Zahl zeigt beeindruckend, was die Basis unserer heutigen Stärke ist: Es sind der Mut, die Ausdauer und das Durchsetzungsvermögen der Menschen in unserem Land. Unter schwierigen Bedingungen Großes geleistet Schon in den ersten fünfzehn Jahren wurde unter teilweise schwierigen Bedingungen Großes geleistet. In diesen Jahren wurde der Grundstein für das starke Wirtschaftsland gelegt, das wir heute sind. Endgültig geplatzt aber ist der Knoten vor etwa einem Jahrzehnt. Seitdem hat unser Wirtschaftsstandort nicht nur regelmäßig Preise erlangt, sondern er hat sich über alle Maßen dynamisch entwickelt. Die Wirtschaft hat sich auch als robust erwiesen, als die Finanz- und Wirtschaftskrise tobte, und die Arbeitslosigkeit konnte in den letzten Jahren von knapp 20 Prozent auf weit unter 10 Prozent gesenkt werden. Heute geht es darum, dass wir Wohlstand erwirtschaften, und es geht darum, Menschen in gute Arbeit zu bringen und sie an diesem erwirtschafteten Wohlstand angemessen teilhaben zu lassen. Der Kreis schließt sich mit Beginn dieses Jahres mit der Einführung des allgemeinen gesetzlichen Mindestlohns in Ost und West. Auch dafür hat Brandenburg lange gekämpft. Wir haben besonders darum gekämpft, dass Ostdeutschland nicht zu einem Billiglohnland wird. Auch dieser gesetzliche Mindestlohn trägt heute schon maßgeblich dazu bei, dass das Leben in unserem Land ein besseres Leben geworden ist. In den neunziger Jahren sind wir oft als „kleine DDR“ verspottet worden. Brandenburg, die „kleine DDR“, die ein gut ausgebautes Kita-Netz hatte – damals sehr umstritten, vor allen Dingen in den westlichen Teilen der Bundesrepublik –, Brandenburg, das Land, das sich sehr für den Erhalt der 9
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Polikliniken eingesetzt hat – heute sind Ärztezentren in Krankenhäusern das Normalste der Welt, damals war das für viele Mediziner sozusagen ein Tabubruch. Regine Hildebrandt hat diese Diskussion an vorderster Stelle geführt. Regine Hildebrandt hat der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik einen anderen Anstrich verpasst, als viele Traditionalisten im Westen das gern gesehen hätten. Sie hat als Erste klargemacht, dass wir keine und keinen vergessen dürfen. Sie hat dafür gesorgt, dass denen geholfen wird, die in Not sind. Regine Hildebrandt war eine von uns und sie bleibt in unseren Herzen. Sie hat definiert, was wir unter guter Sozialpolitik verstehen wollen. Ihre Nachfolger haben in ihrem Geiste Politik gestaltet. Vor allem jedoch: Sie hat sich auch etwas getraut und Risikobereitschaft passte auch sonst zu einem Land, das erst noch aus den Startlöchern herausmusste. Ja, wir haben oftmals das Risiko gewählt, im Sinne wirtschaftlicher Entwicklung, in der Hoffnung auf Arbeitsplätze in unserer Heimat, und meist sind wir belohnt worden. III. Es gibt viele Dinge, an denen sich die gute Entwicklung unseres Landes ablesen lässt. Wenn ich aber gefragt werde, was der Charakter dieses Landes ist, sage ich: Schaut auf die Brandenburger und schaut vor allen Dingen darauf, wie sie mit der derzeitigen Flüchtlingssituation hier in unserem Land umgehen. Nicht nur Städte und Infrastruktur, nicht nur Wirtschaft und Arbeitsmarkt, nicht nur Natur und Landschaft haben in den letzten 25 Jahren gewonnen: Die eigentliche Gewinnerin ist unsere Gesellschaft. Wir Brandenburger haben gelernt, dass Freiheit immer auch Verantwortung bedeuten muss. Viele von uns hatten jahrzehntelange staatliche Bevormundung in der DDR hinter sich, aber wir haben uns in den letzten 25 Jahren als Gesellschaft neu erfunden. Es ist genau das entstanden, was man eine starke Zivilgesellschaft nennt und diese starke Zivilgesellschaft zeigt sich in diesen Tagen von ihrer besten Seite. Mittlerweile gibt es gut 100 Willkommensinitiativen in Brandenburg. Es gibt Demonstrationen für Toleranz, es gibt Runde Tische für Integration, es gibt ungemein engagierte Kirchengemeinden und Sportvereine. Es gibt jede Menge guter Ideen und Projekte im ganzen Land Branden 10
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burg. Dennoch, die Hände in den Schoß legen können wir nicht. Staat und Gesellschaft müssen weiter klare Kante zeigen. Und das tun wir. Es gilt das Prinzip „Null Toleranz gegen Rechtsextremismus und Fremdenhass“. Dafür steht die Landesregierung und dafür steht unsere Brandenburger Zivilgesellschaft. Überall, wo rechtsextreme Aktivitäten bekannt werden, zeigt das demokratische Brandenburg Flagge. Darauf können wir stolz sein, auch, weil hier jahrelange Arbeit an der Basis Früchte trägt, etwa durch unser Netzwerk „Tolerantes Brandenburg“. Deutschland ist ein einer Ausnahmesituation Klare Kante gegen rechts heißt aber nicht, die aktuelle Situation schönzufärben. Die Herausforderung durch die nicht abreißende Flüchtlingswanderung ist gewaltig und die Lage auch für Brandenburg dramatisch. Wir werden diese Herausforderung nicht weglächeln, sondern wir sollten Probleme erkennen und benennen. Nur dann können wir daran arbeiten, nur dann können wir das Beste aus der Situation machen – im Sinne der Flüchtlinge, die unsere Hilfe brauchen, und auch im Sinne unseres Landes. Mittlerweile erwartet das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge deutschlandweit 800.000 Asylsuchende allein für dieses Jahr. Kurzfristig heißt das vor allem für uns, dass wir Kapazitäten der Erstaufnahme stärker erweitern, als wir im Rahmen der Haushaltsgesetzgebung beschlossen hatten. Denn eins steht fest: Kein Flüchtling, der in Brandenburg ankommt, darf auf der Straße landen. Nicht nur unsere Zentrale Erstaufnahmestelle in Eisenhüttenstadt ist seit Wochen am Limit. Mein Respekt und Dank gilt daher den Mitarbeitern in den Aufnahmeeinrichtungen. Ihre Arbeit ist wichtig, derzeit ganz besonders. Das Gleiche gilt für Hilfsorganisationen, Polizei, Bundeswehr, den Landesbaubetrieb, die Wohnungsunternehmen, die Landkreise, Kommunen und die Tausenden freiwilligen Helfer. Sie alle sind eingespannt, sie alle leisten Großes, häufig an der Grenze der Belastbarkeit. Wenn man sieht, was auf vielen Bahnhöfen, auf dem Weg in die Erstaufnahmelager der Länder und auch in Eisenhüttenstadt passiert, dann weiß man: Deutschland ist in einer Ausnahmesituation, und auch 11
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Brandenburg ist in einer Ausnahmesituation. Dieser Zustand, darf nicht zur neuen Normalität werden. Wir müssen dringend wieder zu einem geordneten Verfahren zurückkehren, in Deutschland und Europa. IV. Deutschland muss seiner Verantwortung gegenüber diesen Menschen, die auf der Flucht vor Bürgerkrieg und Verfolgung sind, gerecht werden. Ich bin stolz darauf, dass wir ein offenes und humanistisches Land sind. Es gilt aber auch: Deutschland wird diese Verantwortung nicht allein tragen können. Es kann nicht sein, dass wir in der Europäischen Union weiter über Kontingente diskutieren. Wir brauchen ein übergreifendes und verbindliches europäisches Regelwerk und dazu gehört ein gerechter Verteilungsmechanismus. Auch wenn die Einführung von Grenzkontrollen an der Grenze zu Österreich umstritten ist, halte ich sie aktuell für richtig. Es kann nicht darum gehen, Europa abzuriegeln. Das wäre zutiefst unmenschlich, und das ginge gegen jede politische Überzeugung, für die ich stehe. Aber wir müssen auch die Dynamik unter Kontrolle bringen, und wir müssen europaweit zu einem geordneten Verfahren zurückkehren. Sonst sind alle Beteiligten langsam aber sicher überfordert. Das muss vor allen Dingen die Bundesregierung unseren europäischen Partnern klarmachen. Eine gemeinsame Kraftanstrengung Aber sie ist auch hier in Deutschland in der Pflicht. Denn was wir jetzt brauchen, ist eine gemeinsame Kraftanstrengung für das, was die Bundesregierung immer wieder gesagt hat: Wir stehen vor einer nationalen Herausforderung. Dazu kommt ein weiteres Problem: Wir müssen die Bearbeitungsdauer von Asylanträgen dringend verkürzen. Das ist wichtig für die Menschen, die Asyl beantragen. Klar ist: Unabhängig von dem, was in Berlin oder Brüssel passiert, wir hier in Brandenburg müssen jederzeit imstande sein, schnell und koordiniert zu handeln. Wir haben deshalb ein Asylkabinett ins Leben gerufen, und wir haben im Innenministerium einen Koordinierungsstab eingerichtet, der seitdem auf Hochtouren arbeitet. Wir haben auch 12
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einen regelmäßigen Dialogprozess mit Kommunen und Zivilgesellschaft in Gang gesetzt, und wir werden ihn fortführen. Doch es geht längst nicht nur um Koordinierung. Es geht vor allem um schnelle und unbürokratische Hilfe. Zwei Dinge sind mir da besonders wichtig: Erstens: Wir unterstützen die Kommunen bei der dauerhaften Bereitstellung von ausreichendem Wohnraum durch rechtliche Vereinfachung, aber auch durch Fördermittel. Die Mittel für den sozialen Wohnungsbau erhöhen wir von 40 auf 70 Millionen Euro, um vor allem im Berliner Umland, wo wir schon heute eine angespannte Wohnungssituation haben, mehr bezahlbaren Wohnraum für alle zu schaffen. Zweitens: Wir unterstützen die zivile Willkommenskultur und Integrationshilfe. Wir werden unseren Fonds zur Unterstützung der Willkommensinitiativen weiter aufstocken. V. Brandenburg steht vor einer kolossalen Aufgabe. Jeden Tag kommen neue Menschen aus anderen Kulturkreisen zu uns. Viele von ihnen sind traumatisiert. Es gibt Sprachbarrieren, und es gibt noch andere Integrationshürden. Mancher wird sicher auch darunter sein, dem die Integration schwerer fallen wird als anderen. Ja, es gibt auch Probleme. Und auch in Zukunft wird vielleicht nicht alles sofort reibungslos funktionieren. Eine rosa Brille wäre hier also fehl am Platz. Wir dürfen Integrationsbereitschaft einfordern. Aber es ist unsere Pflicht, Integration auch zu ermöglichen – aus humanistischer Überzeugung heraus, aber vor allen Dingen auch aus unserem eigenen Interesse. Deshalb werden wir Geld in die Integration von Flüchtlingen investieren müssen. Das ist die wichtigste Investition in die Zukunft. Seit Jahren diskutieren wir den demografischen Wandel. Wir diskutieren die Schwierigkeiten bei der Fachkräftesicherung und viele andere Herausforderungen für unser Land. Einwanderung, aber vor allem erfolgreiche Integration, kann uns helfen, beide Herausforderungen in Zukunft besser zu meistern. Deshalb werden und dürfen wir eines nicht aus den Augen verlieren: Flüchtlinge und Asylbewerber gehören mitten in unsere Gesellschaft. 13
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Sie gehören in unsere Städte und Dörfer, Tür an Tür mit Brandenburgern. Sie gehören auf die Nachbarschaftsfeste und in die Sportvereine. So werden Grenzen abgebaut, so werden Vorurteile überwunden. So kann Integration am besten gelingen, und daran müssen wir gemeinsam arbeiten. Sicher, es kommen nicht nur syrische Ärzte nach Brandenburg. Aber es kommen Menschen, die hochmotiviert sind, die motiviert sind, in unserem Land Fuß zu fassen, Menschen, die vielleicht heute noch keinen hohen Bildungsstandard haben, aber gewillt sind, sich zu bilden und in diesem Land eine Rolle zu spielen. Also noch einmal: Was jetzt zählt, ist Integration, Integration und Integration. Vor diesem Hintergrund arbeiten wir in der Landesregierung derzeitig an einer Novelle des Landesaufnahmegesetzes. Das Ziel lautet kurz gefasst: mehr Personal und mehr Geld für eine dauerhafte und erfolgreiche Integration. Das wird keine Aufgabe für die nächsten Monate sein, es wird eine Aufgabe für die nächsten Jahre und vielleicht sogar für die nächsten Jahrzehnte sein. Vor zwei Jahren waren es noch gut 1.100 schulpflichtige Kinder, die wir in unsere Schulen eingegliedert haben, in diesem Jahr sind es 4.300. Wir müssen deshalb zusätzliche Landesmittel in die entsprechende Beratung von Schulen, aber auch in Fortbildung für Lehrer und Betreuungskräfte fließen lassen. Gleichzeitig stellen wir natürlich ausreichend zusätzliche Lehrer ein. Auch in Brandenburg gibt es Ängste und Vorurteile. Auch in Brandenburg gibt es Übergriffe und Anschläge. Aber es gibt in Brandenburg eben auch eine übergroße Mehrheit der Anständigen und Tüchtigen. Diese Anständigen und Tüchtigen haben Brandenburg aufgebaut. Auch sie üben hier und da Kritik, und das ist auch wichtig. Und doch haben sie einen klaren moralischen Kompass. Sie haben Selbstvertrauen, weil sie gelernt haben, Herausforderungen zu meistern. Wir lassen uns das, was wir hier aufgebaut haben, nicht kaputtmachen – nicht von rechten Einfaltspinseln, nicht von den Feinden dieser Gesellschaft und nicht von Rechtsterroristen! Es liegt eine große Herausforderung vor uns, aber wir packen es – auch jetzt. Wir packen es, weil in den Kommunen trotz aller Probleme Großes geleistet wird. Wir packen es, weil Wirtschaft und Gesellschaft längst erkannt haben, welche Chance eine gelungene Integration für 14
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unser Land bedeutet. Und wir packen es, weil wir eine starke Zivilgesellschaft haben. Das passende Motto zum Jubiläum: 25 Jahre Brandenburg und das Herz am rechten Fleck. VI. Die Sozialdemokratie steht seit 1990 in Verantwortung für unser Land. Sie hat die positive Entwicklung intensiv vorangetrieben und Rahmenbedingungen gestaltet. Fünf Parteien haben seit 1990 in diesem Land regiert. Es stimmt – um Willy Brandt zu zitieren -, dass jede Zeit ihre eigenen Fragen stellt und ihre eigenen Antworten braucht. Aber wir Demokraten sollten durchgehend die Spielregeln des kritischen aber auch des konstruktiven Umgangs miteinander beachten. Denn die Fragen, vor denen wir morgen stehen, können nur von uns allen gemeinsam beantwortet werden. Wenn wir über 25 Jahre Brandenburg sprechen, dann möchte ich kurz an die frühen Anfänge erinnern. Bis heute prägt unser Land ein Geist von Freiheit und Selbstbestimmung. Dieser Geist hat seinen Ursprung in der friedlichen Revolution von 1989/90. In dieser Umbruchphase entstand auch der politische Gestaltungswille, der fortan für unser Land prägend war. Er entstand vor allem durch die Erfahrungen der Runden Tische. Dieser basisdemokratische Anspruch prägte besonders die Arbeit an unserer Landesverfassung. Diese Verfassung trat am 21. August 1992 in Kraft, und sie war nicht das Werk einer politischen Elite, sondern sie war ein Werk, an dem viele Personen des öffentlichen Lebens beteiligt waren. 94 Prozent der Brandenburger haben im Juni 1992 per Volksentscheid zugestimmt. Kurzum: Unsere Verfassung gehört nicht nur zu den progressivsten in Deutschland, sie kommt auch mitten aus unserer Brandenburger Gesellschaft. Brandenburg ist ein soziales und tolerantes Land Wir Brandenburger haben entschieden: Brandenburg soll ein besonders soziales, ein besonders offenes und ein besonders tolerantes Land sein. Übrigens hatten alle diese Erfahrungen eine wichtige Folge – und das war Anfang der neunziger Jahre so nicht vorhersehbar: Es entstand re 15
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lativ schnell eine gemeinsame Brandenburger Identität. Es entstand das Bewusstsein: Wir packen gemeinsam an für unsere Zukunft! Es gab weitere bedeutsame und historische Momente. Einer davon war der 31. Juli des Jahres 2006: Erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg, erstmals seit der Shoah wurden auf deutschem Boden Rabbiner ordiniert – ein wichtiger Schritt zur Normalität und ein Verdienst insbesondere von Rabbiner Walter Homolka und dem Abraham Geiger Kolleg in Potsdam. Unsere Gesellschaft steht zusammen Während diese erste Rabbinerordination etwas Historisches hatte, ist christliches Leben in unseren Städten und Gemeinden etwas völlig Normales. Die evangelische und die katholische Kirche gehören nicht nur zu Brandenburg, sie sind aus diesem Land schlichtweg nicht wegzudenken. Die Leistung auf karitativem Gebiet von Diakonie und Caritas gehen manchmal ein wenig unter, aber, da geschieht ungemein Wichtiges – gerade im Sinne der Menschen, die auf der Flucht vor Krieg und Vertreibung sind. Was da passiert, ist der erste Schritt zur Integration: dass Menschen nicht nur untergebracht und versorgt werden, sondern mit Wärme empfangen werden und damit sich endlich zu Hause fühlen können. 25 Jahre Brandenburg heißt sichtbare Veränderungen. 25 Jahre Brandenburg heißt: Wir Brandenburger haben dieses Land gemeinsam geprägt. Denken wir daran, wie unsere Städte vor 25 Jahren ausgesehen haben und wie sie heute aussehen. Denken wir daran, wie unsere Dörfer vor 25 Jahren ausgesehen haben und wie sie heute aussehen. Oder denken wir an die Eröffnung unseres neuen Landtages Anfang 2014. Damals hieß es, Potsdam hat seine Mitte zurück. Und Ähnliches passierte in den vergangenen 25 Jahren in vielen brandenburgischen Städten. Die umfangreiche Sanierung und Wiederbelebung unserer Innenstädte – auch das ist Brandenburger Geschichte, und davon profitieren wir heute. Die Entwicklung unseres Landes trägt die Handschrift der Brandenburger. Denken wir beispielsweise an die Konversion in der Kyritz-Ruppiner Heide, denken wir an die Internationale Bauausstellung Fürst-PücklerLand, an die Umgestaltung der Bergbaufolgelandschaften ein weltweit ungekanntes Ausmaß an Rekultivierung und Sanierung. Oder machen wir 16
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bei unserer geistigen Tour über die Lausitzer Seen einen kleinen Ausflug in den Spreewald und treten in Kontakt mit Menschen, die sorbische Tradition nicht nur als Tradition empfinden, sondern die sorbisches Leben verkörpern und dieses Leben pflegen. Sie wird auch in Zukunft weit mehr sein als Folklore, sie ist gelebte Vielfalt hier in Brandenburg. Ob Babelsberg 03 irgendwann gegen Hertha BSC im ausverkauften Olympiastadion in der 1. Bundesliga gewinnt, weiß ich nicht. Sicher bin ich mir hingegen, dass diejenigen, die Woche für Woche ehrenamtlich aktiv sind in unseren Vereinen, die Kinder- und Jugendsport organisieren, die sich beim Roten Kreuz als Helfer, beim THW oder bei der Feuerwehr engagieren, auch in den kommenden Jahren und Jahrzehnten unsere Helden des Alltags sein werden. Umso wichtiger ist unsere Aufgabe, die Vereine so gut zu fördern, wie wir können. Die Wirtschaft brummt, die Arbeitslosenzahlen sinken weiter. Unsere Gesellschaft steht zusammen. Fremde werden herzlich begrüßt und aufgenommen. Soziale Sicherheit ist klar definiert: Wer Hilfe braucht, dem wird geholfen. Die Zusammenarbeit mit Berlin gedeiht in den unterschiedlichsten Bereichen trotz unterschiedlicher Auffassung zu einigen Punkten. Unsere Polizei leistet hervorragende Arbeit; und Verbundenheit und Austausch mit unseren polnischen Nachbarn wachsen stetig. Stettin, Posen, das Lebuser Land und Niederschlesien sind sehr wichtige Partner für uns. Wir haben den Haushalt des Landes auf null Neuverschuldung gestellt und gezeigt, dass wir mit Geld gut umgehen können. Unsere Universitäten glänzen mit dem, was in Lehre und Forschung geleistet wird. Die Brandenburger haben in den vergangenen 25 Jahren viel geleistet! Auf diese Leistung können sie zu Recht stolz sein!
DR. DIETMAR WOIDKE ist Ministerpräsident des Landes Brandenburg und Landesvorsitzender der SPD.
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Film ab! Warum Filmförderung eine Investition in Deutschlands Zukunft ist – Von Albrecht Gerber und Thomas Kralinski
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igentlich müsste man die Buchstaben „BABELSBERG“ metergroß in die Hügel des Babelsberger Parks stellen. Denn bei der jüngsten OscarVerleihung wurden allein vier der begehrten Trophäen nach Babelsberg vergeben, genauer natürlich an den Film „Grand Budapest Hotel“. Dabei erfolgten die Auszeichnungen in genau den Kategorien, in denen die spezifischen Babelsberger Stärken wie Szenenbild, Musik, Kostüme und Makeup honoriert wurden. Natürlich ist der Oscar nicht alles. Die Auszeichnungen belegen jedoch: Deutschland ist in den vergangenen Jahren zu einem Standort der Filmindustrie geworden, der weltweit für Aufmerksamkeit sorgt. Das kam weder von allein, noch ist es ein Selbstläufer. Denn „Filme machen“ hat zwar vor allem viel mit Kunst und Kreativität zu tun – aber eben nicht nur. „Filme machen“ ist heute auch eine Industriebranche, die in Deutschland mehrere tausend Arbeitsplätze schafft und sichert. Der Film ist nicht nur ein Kultursondern zugleich auch ein Wirtschaftsgut. Die deutsche „Filmindustrie“ genießt zwar nicht die gleiche Aufmerksamkeit wie die deutsche Maschinenbauindustrie – verdient hätte sie diese Beachtung aber durchaus. Während der Begriff „Industrie 4.0“ bezogen auf die Produktion materieller Güter täglich durch die deutschen Gazetten geistert, brauchen wir auch für die Filmindustrie nichts anderes als eine adäquate Industriepolitik. Filmförderung ist damit nicht nur eine kulturpolitische Aufgabe, sondern auch eine wirtschaftspolitische – und zwar für den Bund und die Länder gleichermaßen. Wo über Filmförderung geredet wird, da kommt es schnell zu abwinkenden Handbewegungen und dem üblichen Geraune über „brotlose Kunst“ oder „teure Subventionen“ für den Kulturbetrieb. Doch gerade hier lohnt ein zweiter Blick. Ja, es ist wahr: Die Filmindustrie ist hungrig nach Subventionen. Und mit diesem Hunger ist sie international unterwegs. Denn
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mittlerweile haben Länder wie Großbritannien, Ungarn oder Kroatien den Mehrwert des Filmemachens erkannt. In den USA betreiben fast alle Bundesstaaten eigene Filmförderprogramme – und hoffen, damit Filme von Hollywood nach Louisiana oder Georgia zu locken. Wird ein Film gedreht, bedeutet das nicht nur Jobs und Steuern, es bedeutet im günstigsten Fall eben auch „name recognition“. Wenn ein neuer James Bond Jagd auf das Böse macht – und er tut das in Istanbul, Siena oder Miami –, bedeutet das für diese Städte eben auch, dass der eine oder andere Zuschauer sich hinterher auch im richtigen Leben für diese Orte interessiert. Es geht bei der Filmförderung nicht darum, Tom Hanks mit Steuergeldern besonders hohe Gagen zu sichern. Tom Hanks sieht davon im Zweifel wenig. Filmförderung in Deutschland kann vier andere Ziele erreichen: Es geht nicht um Tom Hanks Erstens. Warum sind die Vereinigten Staaten von Amerika heute nach wie vor eines der beliebtesten Länder der Welt – und das trotz Irakkrieg, NSA oder Afghanistan? Es hat viel mit dem „American Way of Life“ zu tun, mit der Art und Weise, wie die USA ihre Werte und ihre Lebensart in die Welt transportiert. Das geschieht über Marken wie Apple oder Facebook und sicherlich auch über Marlboro, Nike und McDonald’s. Aber der größte Exporteur amerikanischer Lebensart ist und bleibt die „Dream Factory“ Hollywood. Filme transportieren nicht nur schöne Bilder von Menschen und Landschaften, sie transportieren auch Werte, Geschichte und Lebensweisen. Sie schaffen Bilder im Kopf, wandeln Urteile und Vorurteile, lassen Menschen nachdenken und träumen. Das macht sie so wirkmächtig. Internationale Produktionen, die in Deutschland gedreht werden, können das auch. Sie können aufsetzen auf dem überaus positiven Bild von Deutschland, das mittlerweile fast überall auf der Welt verbreitet ist. Und sie können dieses Bild vom „German Way of Life“ formen und weiterentwickeln helfen. Technisch ist es heute kein Problem mehr, jeden beliebigen Ort der Welt an jedem beliebigen anderen Ort der Welt nachzubilden. Die amerikanische Spionage-Serie Homeland spielte jüngst in Pakistan – gedreht wurden die Szenen in Südafrika. Demnächst spielt die Serie in Syrien – gedreht werden die Szenen vor den Toren Berlins. Interessant wird es, wenn Großpro 20
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duktionen in Berlin spielen – und auch dort gedreht werden. Dabei ist nicht nur die Authentizität höher, es besteht auch die Chance, genau diese Szenen realistischer abzubilden. So haben die Produzenten von „Operation Walküre“ nicht nur in Deutschland gedreht, sie haben ihre Geschichte auch entwickelt, nachdem sie hier im Land mit Deutschen diskutiert hatten – und dabei am Ende ein weniger hollywood-klischeehaftes Bild deutscher Geschichte gezeichnet. Zweitens. Ganz nebenbei rücken internationale Produktionen bisweilen auch Orte ins kollektive Bewusstsein. Unvergessen, wie Tom Hanks vor einigen Jahren bei „Wetten dass“ auf der Couch saß, sein iPhone zückte und von Eisenhüttenstadt zu schwärmen begann. Das Kleinod der realsozialistischen Architektur von „Iron Hat City“ (Hanks) hatte es dem Weltstar angetan. Nie im Leben wäre Eisenhüttenstadt in der Lage, mit irgendeiner vor Ort ausgetüftelten Image-Maßnahme auf einen Schlag acht Millionen Menschen zu erreichen, um auf die Schönheiten dieser geschundenen ostdeutschen Stadt aufmerksam zu machen. Ob Zufall oder nicht: Jedenfalls schnellten die Besucherzahlen Eisenhüttenstadts im Jahr nach Tom Hanks’ öffentlicher Eloge in die Höhe. Wir brauchen eine Industriepolitik für den Film Drittens. Deutschland kann nicht nur Maschinen bauen, die international begehrt sind. Gerade auch die deutsche Filmindustrie hat gute Chancen sich international führend zu positionieren. Sie steht technologisch – speziell auf dem Gebiet der Digitalisierung – an der Weltspitze. Wenn es um Klang und Ton oder digitale Nachbereitung geht, können Unternehmen aus Berlin, Brandenburg, Bayern oder Baden-Württemberg mit Hollywood nicht bloß mithalten, sondern sie setzen sogar die Maßstäbe. Doch der Prophet sollte auch im eigenen Land etwas gelten: Alle diese innovativen und im weltweiten Wettbewerb stehenden Unternehmen müssen die Chance erhalten, ihre Produkte an den Mann zu bringen – und zwar nach Möglichkeit auch im eigenen Land. Viertens. Auch die globale Filmindustrie braucht regionale Bezüge und Identitäten. Hier ist das Land Brandenburg mit seiner über hundertjährigen Filmgeschichte und der ältesten Filmhochschule, die sich mittlerweile zur einzigen deutschen Filmuniversität fortentwickelt hat, gut aufgestellt. 21
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Zu dieser regionalen Identität tragen viele Medienschaffende im Land wie Andreas Dreesen mit seinen ungewöhnlichen Filmen über das Alltagsleben und Wolfgang Kohlhaase mit seinen ausgezeichneten Dokumentarfilmen bei. Das ist es, was eine Industrie- und Kulturpolitik für die deutsche Filmindustrie ausmacht. Deshalb ist Filmförderung keine Subvention, sondern eine aktive Investition. Eine Investition in das Bild Deutschlands in der Welt, eine Investition in deutsche Innovationen. Aber Filmförderung lohnt sich auch fiskalisch: Die deutschen Steuerzahler unterstützen Filmproduktionen jährlich mit insgesamt 100 Millionen Euro. Dem stehen Steuereinnahmen von etwa 170 Millionen gegenüber. Die deutsche Kinofilmproduktion erwirtschaftet etwa eine halbe Milliarde Euro Umsatz pro Jahr; zählt man die indirekten Umsätze hinzu, reden wir über 1,4 Milliarden – damit ist der Multiplikator-Effekt sogar höher als in der Chemiebranche. In Berlin und Brandenburg kommen auf einen Euro Filmförderung fünf Euro für Produktionsausgaben. Wir müssen unser System ändern Der Deutsche Filmförderfonds DFFF ist das wichtigste und zudem ein gut eingeübtes Instrument der Filmförderung. Es wird derzeit evaluiert und muss neu justiert werden. Ursprüngliche Pläne des Finanzministeriums und der Staatsministerin für Kultur und Medien sahen vor, den Fonds Schritt für Schritt auf Null zu fahren. Soweit ist es nicht gekommen, der Fonds wurde „nur“ um 20 auf 50 Millionen Euro zusammengeschmolzen. Ende 2014 hat der Bundesrat die Bundesregierung aufgefordert, den Fonds nicht weiter abzusenken, sondern auf höherem Niveau zu verstetigen. Es ist Sigmar Gabriel hoch anzurechnen, dass er derzeit im Bundeswirtschaftsministerium eine ergänzende Förderstruktur aufbaut, mit der auch weitere Film- und Serienformate in Deutschland produziert werden können. Die Absenkung des DFFF-Etats hatte nämlich zur Folge, dass der Fonds in diesem Jahr bereits im Juni ausgeschöpft war, weshalb internationale Produktionen, die sich nach den Oscar-Auszeichnungen vom Frühjahr für Babelsberg oder andere deutsche Standorte interessierten, abgewiesen werden mussten. Dabei ging es zum Teil um Produktionen, die in Berlin spielen sollten – nun aber in Budapest gedreht werden. Andere große 22
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Serien und Produktionen haben sich jüngst für Tschechien, Luxemburg und Belgien entschieden. Im kommenden Jahr steht nun die Novellierung der Filmförderung auf der Tagesordnung. Die ist auch dringend nötig, weil sich das internationale Umfeld deutlich verändert hat – und Deutschland wettbewerbsfähig bleiben sollte. Etliche Staaten setzen mittlerweile auf die Filmindustrie, weil sie deren Potential für Image, Innovation und Wertschöpfung erkannt haben. In vielen Fällen geht man dabei den Weg direkter Unterstützung über „tax credits“. Eine solche Förderung ist für die Produzenten deutlich planbarer als das bisherige deutsche Fondsmodell – und damit zweifellos attraktiver. Insgesamt muss die deutsche Filmförderung so aufgestellt werden, dass Deutschlands guter Ruf als führender Standort für internationale Filmproduktionen erhalten bleibt. Denn es gibt noch viele Geschichten aus Deutschland, die es wert sind, nicht nur erzählt, sondern auch hier bei uns gedreht zu werden. Dabei können zweifellos Filme entstehen, die auch wieder Oscars nach Deutschland holen. Vielleicht kann der Schriftzug „BABELSBERG“ dabei ein Ansporn sein.
ALBRECHT GERBER ist Minister für Wirtschaft und Energie des Landes Brandenburg.
THOMAS KRALINSKI ist Staatssekretär und Bevollmächtigter des Landes Brandenburg beim Bund.
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Grosses Mundwerk, aber noch grösseres Herz Von Norbert Blüm
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egine Hildebrandt war die „Mutter Courage“ der Sozialpolitik 1990. Ich habe Sie „gern“ gehabt! Und sie selbst wollte auch, wenn’s geht, von vielen geliebt werden. Der Sozialstaat lebt nicht nur in Paragraphen, sondern mit und von Menschen. Das Leben kennt nämlich meist einen Fall mehr als der Gesetzgeber sich ausdenken kann. Für diese Fälle war „Mutter Courage“ zuständig. Regine Hildebrandt hat die Welt nicht durch die Brille der Statistik gesehen, sondern mit dem Herzen. Und nur mit dem Herzen sieht man gut, behauptet der „Kleine Prinz“ von Antoine de Saint-Exupéry. Wehleidig war Regine Hildebrandt nicht. Bis zum letzten Atemzug hat sie nicht an sich, sondern an andere gedacht. „Das Leben mit anderen teilen“ ist wahrscheinlich das Betriebsgeheimnis der Solidarität. Als ich sie nach der Wende traf, kämpfte sie beim ersten Zusammentreffen offenbar noch zwischen Misstrauen und Vertrauen. Das schwere Amt der DDR-Arbeitsministerin hat sie bedrückt und befreit. Last und Lust des Ministeramtes vereinte sie mit Hilfe eines lebensfrohen Naturells in glücklicher Symbiose. Was ihr an Vorbereitungszeit zum Regieren fehlte, hat sie durch die Kombination von Selbstvertrauen und gesundem Menschenverstand wettgemacht. Mit der Bürokratie hat sie sich allerdings nie ganz anfreunden können (obwohl es ohne Papiere, Vorschriften, Regelungen etc. auch nicht geht). Die „Wende“ wurde in der DDR mit einem Personal geschafft, das allesamt sich mehr zugetraut hat, als alltäglich üblich ist. Ohne Gutachten, Enquete-Kommissionen oder Modellversuchen haben sie sich an die Arbeit gemacht: Sprung vom Zehn-Meter-Turm, ohne vorherige Prüfung der 25
DAS STRASSENSCHILD
Regine Hildebrandt
1941-2001
Wassertiefe. Das kann man nur mit einer großen Portion von Gott- oder Menschenvertrauen. Regine Hildebrandt hatte beides. Regine Hildebrandt wirkte in den Behörden wie ein frischer Wirbelwind. Sie blieb auch „in Würden“ eine kecke Berlinerin, die nicht auf den Mund gefallen ist. Sie ist der einzige Mensch, den ich kenne, der reden konnte ohne Luft zu holen. Lieber Gott schick uns Typen und keine Funktionäre in die Politik! Die Apparatschiks „produzieren“ wir selbst! Wenn ich an Regine Hildebrandt denke, werde ich – ich weiß nicht warum – fröhlich. Ihr Wirken geht offenbar über das Grab hinaus.
DR. NORBERT BLÜM war von 1982 bis 1998 Bundesarbeits- und Sozialminister.
Mit dieser Rubrik stellen wir eine Person vor, deren Lebensleistung größere Beachtung verdient. Zum Beispiel in Gestalt von Straßen- oder Schulnamen.
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MATTHIAS PLATZECK & MANFRED STOLPE l ES GEHT DARUM, GLÜCKLICH ZU SEIN
ES GEHT DARUM, GLÜCKLICH ZU SEIN Über Brandenburgs Grenzen, Regine Hildebrandt und die kleine DDR sprach Thomas Kralinski mit Manfred Stolpe und Matthias Platzeck perspektive21: Kann eine politische Einheit wie ein Land eigentlich „Heimat“ sein? MANFRED STOLPE: Als wir 1990 mit Brandenburg angefangen haben, gab es lediglich drei Bezirke. Es gab kein ostdeutsches Land, das so vergessen, verdrängt und tabuisiert war wie Brandenburg. Die Sachsen konnten von Sachsen reden – man hörte es ihnen ja auch an –, die Thüringer von Thüringen, die Mecklenburger von Mecklenburg. Brandenburg aber war eigentlich vergessen, vermutlich auch deshalb, weil man dachte, wenn man Brandenburg herausstellt, hat man Preußen gleich mit am Tisch – und genau das wollte die DDR nicht. Das war wirklich schlimm, denn die totale Verdrängung des Brandenburgischen hat dazu geführt, dass selbst Hochgebildete mit Brandenburg erstmal nichts anfangen konnten. Nach der Wende hin-
gen die sächsischen Kleingärtner sehr schnell ihre Sachsen-Fahnen überall auf – die wussten, wo sie hingehören. Bei uns hat das etwas länger gedauert, aber heute fühlen sich 95 Prozent der Brandenburger wohl in ihrem Land. MATTHIAS PLATZECK: Wir haben großes Glück gehabt in Brandenburg. Dazu gehört auch, dass wir zu unserer Geburtsstunde zwei Identifikationsfiguren hatten. Zum Heimatgefühl gehört ja nicht nur der Kirchturm, das hat etwas mit Beziehungen zwischen Menschen, mit gemeinschaftsstiftenden Ereignissen zu tun. Manfred Stolpe und Regine Hildebrandt waren sehr stilprägend für unser Land. Hinzu kam: Manfred Stolpe hat sehr viel Wert auf Symbole gelegt – und der rote Adler wurde in einem atemberaubenden Tempo das Symbol unseres Landes. Wie wichtig der Adler
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für unser Land und seine Leute ist, hat man am Streit um den „weißen Adler“ im neuen Landtag gesehen…
Kampf um den roten Adler … der Architekt wollte im Plenarsaal einen verfremdeten, weißen und keinen roten Adler anbringen… PLATZECK: Da hat kein künstlerisches Argument gefruchtet – und am Ende kam der rote Adler doch zurück in den Landtag. Man kann auch die Grüne Woche nehmen. Wenn man sieht, mit welcher Inbrunst zur Eröffnung des Brandenburg-Abends das Brandenburg-Lied von der ganzen Halle gesungen wird, weiß man dass die Menschen angekommen sind. Ich halte Heimatgefühl für ganz essentiell, wenn man will, dass Menschen sich engagieren. Wenn man nicht weiß, wo man zu Hause ist, weiß man auch nicht, wofür man sich einbringt. In den achtziger Jahren bin ich viel auf den Fußballplätzen rumgetingelt. In Jena, Erfurt oder Dresden war es üblich, neben dem Vereinsnamen auch Sachsen oder Thüringen zu rufen. Weder bei Stahl Brandenburg oder in Eisenhüttenstadt ist jemand auf die Idee gekommen, „Brandenburg“ zu ru 28
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fen. Das gab es einfach nicht. Dass das repariert wurde, ist ein großes Glück für unser Land. Herr Platzeck, Sie saßen in der Volkskammer, als diese im Sommer 1990 das Ländereinführungsgesetz beschloss. Gab es damals noch andere Überlegungen, als die fünf Länder, wie wir sie heute kennen? PLATZECK: In der Volkskammer gab es 1990 viele Vorstellungen. Zum einen natürlich, die DDR als Ganzes zu erhalten. Dann gab es die Zweiteilungsidee – also Nordostdeutschland und Südostdeutschland. Es gab dann aber auch Vorstellungen, Vorpommern als eigenes Land zu etablieren oder etwa die Lausitz. Auch wie Sachsen-Anhalt aussehen sollte, war nicht so schnell klar. Wie auch bei Diskussionen um Kreisgebietsreformen, spielen dabei aber auch andere Diskussionen eine Rolle.
Streit um die Hauptstadt Nämlich? PLATZECK: Da ging es auch um die Frage, wer die Landeshauptstadt wird. In Sachsen-Anhalt war der Streit zwischen Magdeburg und
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Halle ungleich vehementer als in Brandenburg zwischen Frankfurt und Potsdam. Die Idee der fünf Länder hat sich allerdings relativ schnell als Mehrheitsmeinung durchgesetzt.
Havelberg sollte dazukommen Hätte nicht eigentlich Havelberg auch zu Brandenburg gehören müssen? STOLPE: Es hat damals eine Abstimmung in der Bevölkerung gegeben, die nach Brandenburg wollte. Bei der entscheidenden Abstimmung hat das Stadtparlament aber für Sachsen-Anhalt votiert. Magdeburg hatte denen zwischenzeitlich angeboten, dass sie auf ewig Kreisstadt bleiben. Das Versprechen hat allerdings nicht lange gehalten. PLATZECK: Während des Hochwassers 2013 war Havelberg von Sachsen-Anhalt aus nicht mehr zu erreichen. Absprachen, Hilfen, Unterstützung kamen alle aus Brandenburg, ich selbst war zu der Zeit alle drei Tage im Rathaus in Havelberg. Dem Bürgermeister habe ich damals gesagt: Die Natur zeigt dir, wo du hingehörst. Ich habe selber gehört, dass viele Havelberger sich
eher als Brandenburger fühlen. Ich finde es schade, dass diese wunderschöne und geschichtsreiche Stadt nicht zu uns gehört. STOLPE: Wir haben ja zwei Städte verloren, die eigentlich zu uns gehören müssten. Strasburg in der Uckermark ist die andere – auch denen ist damals versprochen worden, dass sie Kreisstadt bleiben. Als die Länder sortiert wurden, gab es auch eine Phase, in der die Altmark und Vorpommern zu Brandenburg tendierten. Dass muss damals der sowjetische Botschafter mitbekommen haben, der daraufhin bei de Maiziere intervenierte. Denn Preußen wollte die Sowjetunion nicht wiederhaben.
Das Traumland PLATZECK: Vorpommern und die Altmark würden nach wie vor gut zu Brandenburg passen. STOLPE: Es ist nach wie vor sein Traumland. Die schnelle Ausbildung der Brandenburger Landesidentität hat dann 1996 aber auch zur Ablehnung der Länderfusion mit Berlin geführt. Wurden Sie dabei Opfer 29
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Ihres eigenen Erfolges? Stolpe: Nein, da bin ich mir ganz sicher. Das Hauptproblem war, dass wir zwischen dem unterschriebenen Vertrag und der Abstimmung 13 Monate Zeit verloren haben. Nachdem die beiden Parlamente dem Fusionsvertrag zugestimmt hatten, bekam die Berliner Landesregierung eine Heidenangst. Sie wollte keine Abstimmung am Tag der Abgeordnetenhauswahl, weil sie Stimmengewinne der Linken fürchtete, die damals gegen die Fusion war. Über den Winter 1995-1996 formierten sich dann die Westberliner Kreise und die Brandenburger bekamen sehr wohl mit, was da geredet wurde vom „Ausräuchern“ vermeintlicher „sozialistischer Wärmestuben“. In jenem Winter begann dann auch die Arbeitslosigkeit deutlich zu steigen. Hinzu kam eine Diskussion über den großen Berliner Schuldenberg – damals 30 Milliarden Mark. Und es kamen viele Gefühle aus der DDR-Zeit wieder hoch, als aus den Bezirken alles nach Ost-Berlin floss.
Fusion ist zu risikoreich PLATZECK: Ich finde, die Wählerinnen und Wähler haben damals sehr klug entschieden. Für Brandenburg 30
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war das am Ende gut. Wenn die Fusion gelungen wäre, bin ich mir relativ sicher, dass wir nicht die acht bzw. neun Hochschulen mit dieser Ausstattung im Land hätten. Wir hätten hier vielleicht zwei oder drei Fachhochschulen und mehr nicht. In den Werbeprospekten standen damals ja Punkte wie gemeinsamer Verkehrsverbund oder gemeinsame Gerichtsbarkeit drin. All das haben wir heute auch ohne Fusion. Der einzige Punkt, der noch offen ist, wäre eine gemeinsame Wirtschaftsförderung. Auch mit Blick in die Zukunft bleibe ich bei meinem Vorbehalt. In einem gemeinsamen Parlament kämen immer vier Berliner auf zwei Brandenburger – das ist mir für unser Land zu risikoreich.
Ohne Reißbrett Wenn Heimatgefühl so wichtig ist, wäre es unter dem Aspekt nicht sinnvoll, Brandenburg zu behalten? STOLPE: Ich glaube, dass war bei der Abstimmung nicht der entscheidende Punkt. Im Herzen habe ich immer noch die Vorstellung, dass eine gemeinsame Metropolenregion mehr leisten kann, als zwei kleine Länder. Aber die Zeit
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ist dafür nicht reif. Aber vielleicht kommt irgendwann mal die große Lösung. Im Verbund von Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt wäre Berlin erträglicher. Was waren denn die wichtigsten Wegmarken der ersten beiden Brandenburger Jahrzehnte? PLATZECK: Im Kern mussten wir die Brandenburger Gesellschaft neu formieren – und zwar unter vollkommen neuen Rahmenbedingungen. Es ging darum, überhaupt Boden unter den Füßen zu haben. Anfang der neunziger Jahre gab es Situationen, wo man nicht wusste, wo es langgeht oder ob es gutgeht.
Keine Erfahrungen Zum Beispiel? PLATZECK: Wir reden heute von Umbruch, in Teilen war das auch ein Zusammenbruch. Wir sind damals jede Woche zu Betrieben gefahren und haben den Leuten erklärt, dass der Laden geschlossen werden muss. Häufig ohne Alternative. Wir haben Orte gehabt, da war die Arbeitslosigkeit schnell bei 50 Prozent. Später kam ja der Vorwurf an Manfred Stolpe und die Landesregierung, dass sie manche
Strukturen konserviert haben. Ich fand den Vorwurf immer falsch. Denn man kann eine Gesellschaft nicht am Reißbrett konstruieren und vom ersten Tag an sagen, wir rasieren jetzt erstmal alles weg. Die Menschen wollen eine Arbeit haben, ihre Familie ernähren und eine Perspektive haben. Manches geht nur Stück für Stück, manche Umwege muss man gehen. Am Reißbrett geht das nicht – es ging schließlich um Menschen. STOLPE: Wir hatten große Startprobleme. Die Bundesregierung ist ja 1990 durch das Land gezogen und hat die Hoffnung verbreitet, in sechs Monaten sei alles erledigt. Ich habe das nicht geglaubt, Regine Hildebrandt auch nicht. Dabei hatte auch der Westen Erfahrungen mit Strukturbrüchen. Dem Ausstieg aus der Kohle- und Stahlindustrie im Ruhrgebiet und im Saarland. STOLPE: Darüber habe ich lange mit Johannes Rau gesprochen. Er dachte eher an 20 bis 30 Jahre. Bei der Integration des Saarlandes in den fünfziger Jahren hatte man sogar zwei Währungen. Doch mit der Integration von zwei so unterschiedlichen Wirtschaftssystemen hatte man keine Erfahrungen. 31
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Der Westen hatte sich überschätzt? STOLPE: Ja, man nahm an, dass das starke System West dazu führen wird, dass es einen Wirtschaftsaufschwung geben würde – und man deshalb die industriellen Kerne sausen lassen könne. Es gab die Haltung lasst doch Eisenhüttenstadt kaputtgehen – wofür brauchen wir das noch. Mir tut es immer noch in der Seele weh, dass wir die Nähmaschinenfabrik in Wittenberge oder auch Premnitz nicht halten konnten. Am Ende konnten wir zwar 47 Industriekerne erhalten, aber das war ein sehr anstrengender und teurer Kampf. Zweitens haben wir alles getan, um die Leute zu ermutigen, sich selbständig zu machen – das war das große Verdienst von Walter Hirche, dem ersten Wirtschaftsminister.
tungsmöglichkeiten gekämpft, um die Arbeitslosigkeit nicht noch weiter ansteigen zu lassen, als es ohnehin schon geschah. Ich habe ein paar mal erlebt, wie glücklich Männer und Frauen waren, dass sie eine ABM hatten. 1991 hatten Regine Hildebrandt und ich einen skandalträchtigen Auftritt bei Helmut Kohl. Wir haben ihm versucht klarzumachen, dass wir deutlich mehr Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen brauchen, sonst würden weitere 100.000 Menschen in die Arbeitslosigkeit geraten. Sie war ja nicht zu bremsen, wenn es um den Osten ging. Uns ging es um Übergangsmaßnahmen. Kohl hat dann verstanden, dass da was gemacht werden musste. Ich fand es besonders wichtig, die Leute in der Gemeinschaft zu halten. Denn das schrecklichste am Verlust der Arbeit ist, dass man alle Kontakte in die Gesellschaft verliert.
Auftritt bei Helmut Kohl
PLATZECK: Ich finde es nach wie vor richtig, dass wir uns zu Beginn nicht gleich auf nur zwei oder drei Schwerpunkte wie Schwerindustrie und Landwirtschaft konzentriert haben. Dadurch ist ein breiterer Fächer im Land entstanden, der zur Stabilität beigetragen hat. Denn Krisen gab es in den vergangenen 25 Jahren in allen mögli-
100.000 Frauen und Männer haben in den ersten Jahren eine Selbständigkeit aufgebaut. STOLPE: Die haben dem ganzen Land mit ihrem Mut geholfen – und das mussten wir unbedingt unterstützen. Und drittens haben wir mit aller Kraft für Überlei 32
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chen Branchen mal wieder, aber die haben uns dann nicht wieder völlig von den Füßen gerissen. Natürlich hatten wir auch Pleiten und Pannen, aber jetzt stehen wir mit am stabilsten da. Das hat man in der Krise von 2008/ 2009 gut sehen können, als der Rückgang des BIPs bei uns am geringsten war.
15 Jahre warten Woher kam dann der Begriff von der sogenannten „kleinen DDR“? PLATZECK: Zunächst einmal: Unser Ziel war, Menschen nicht am Wegesrand sitzen zu lassen. Gerade Regine Hildebrandt wollte, dass Menschen eine Chance bekommen. Uns war klar, dass sich das in der Marktwirtschaft nicht von allein regelt – und dafür haben wir auch alle Möglichkeiten des Staates genutzt. Schadet der Begriff heute? PLATZECK: Wenn man mit den Menschen redet, habe ich nicht den Eindruck, dass sie das beschwert. Man muss ja auch sagen, Brandenburg ist das einzige Bundesland im Osten, das zweieinhalb, bald drei Jahrzehnte von den Sozialdemokraten regiert wird. Diese offenbar erfolgreiche
Politik sollte mit diesem Begriff ein Stück weit diskreditiert werden, was nicht gelang. Ich glaube, die deutsche Einheit wäre in den Köpfen und Herzen der Menschen schneller und besser vollzogen, wenn man auch geschaut hätte, was es an vernünftigem Potential gegeben hat, das man mit in die Einheit hätte nehmen können. Dann hätten wir nicht 15 Jahre warten müssen, bis Kitas als sinnvolles gesellschaftliches Instrument erkannt worden wären bei der Gleichberechtigung von Mann und Frau. Auch bei der gesundheitlichen Versorgung hätte man schneller auf die Idee kommen können, dass Polikliniken durchaus sinnvoll sind – Regine Hildebrandt hat sich da ja den Mund fusselig geredet.
Keine Verteufelung STOLPE: Der Begriff kam ja aus dem Westen Berlins und spielte auch eine Rolle bei der Abstimmung über die Fusion der beiden Länder. Ich habe das auch immer so verstanden wie Matthias Platzeck. Wir wollten nicht einen harten Schnitt machen, sondern wir wollten schauen, was sinnvoll ist und das dann auch erhalten. Wir wollten nicht den Um 33
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weg gehen über die totale Ablehnung und dann die Neuerfindung aus dem Westen. PLATZECK: Manches, wie die Ganztagsschule und das stringente Schulsystem, haben wir uns ja später in Finnland angeschaut. Und der Witz ist, dass die sich das in den siebziger Jahren aus der DDR abgeguckt haben. Was unterscheidet denn Brandenburg heute von den anderen ostdeutschen Bundesländern? STOLPE: Wir haben uns der totalen Verteufelung der DDR nicht angeschlossen. Wir wollten, dass sich alle Menschen am Aufbau des Landes beteiligen. Am auffälligsten ist der Unterschied sicher bei der Landesverfassung. Zum einen ist Brandenburg das einzige Land, das sich ausdrücklich am Verfassungsentwurf des Runden Tisches der DDR orientiert hat. Und zweitens waren in Brandenburg alle Parteien bei der Erarbeitung der Verfassung einbezogen, also auch die PDS.
Sehr durchmischt Ist es dann nicht ein bisschen paradox, dass in anderen Teilen
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Ostdeutschlands die „Ostalgie“ größer ist als in Brandenburg? PLATZECK: Das ist ganz sicher so. Meines Erachtens hat das zwei Gründe. Zum einen weil wir Vergangenheit und Gegenwart in ein vernünftiges Verhältnis gebracht haben. Da kommt es weniger zur Verklärung, weil wir vorher diskutiert haben, was kann man mitnehmen und was nicht. Zweitens sind wir natürlich ein sehr durchmischtes Völkchen. Das hängt viel mit der Lage Berlins in unserer Mitte zusammen. In Potsdam sind mittlerweile zwischen 50 und 60 Prozent „Neubürger“ – das kann keine andere Landeshauptstadt auch nur annähernd erreichen.
Ende der Nachwendezeit? Als neuer Ministerpräsident haben sie 2002 das „Ende der Nachwendezeit“ ausgerufen. Sie, Herr Stolpe, haben 2005 gemeint, bis 2020 sei die Ost-West-Angleichung geschafft. Waren das Irrtümer? PLATZECK: Die unmittelbare Nachwendezeit – also völlige Umstrukturierung und Wiederschrittfassen – das war zu dieser Zeit vorbei. Unser Weg basierte zunehmend weniger auf der DDR-Vergangen-
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heit sondern mehr auf dem, was in der Zwischenzeit geschehen ist. Viele Menschen sind damals noch abgewandert, die haben ihre Chancen anderswo gesucht. Ich glaube, wir müssen andere Kriterien als den unmittelbaren Ost-West-Vergleich suchen. Denn die komplette Angleichung der Lebensverhältnisse werden wir so schnell nicht erleben. Wir sind im Osten halt ein wenig anders und das wird auch in 20 Jahren noch so sein. Das muss aber nichts schlechtes sein. STOLPE: Kohl hatte anfangs von drei bis vier Jahren bis zur Angleichung gesprochen. Rau dachte eher an dreißig Jahre – das ist auch der Korridor des zweiten Solidarpaktes. Ende 1990 hatte ich in der Staatskanzlei Besuch aus den USA. Die wollten schauen, wie es im Osten aussieht und was auf die Vereinigten Staaten zukommen könnte. Ich habe sie gefragt, wie lange sie denn gebraucht haben, bis die Südstaaten nach dem Bürgerkrieg wieder auf Augenhöhe gekommen sind. Die Antwort war: Jetzt ist es soweit, nach 140 Jahren. In vielen Bereichen, gerade im Berliner Umland, sind wir schon sehr nahe an gleichen Lebensverhältnissen. Zum Glück ist in Brandenburg das Abschotten nicht so weit verbrei-
tet – wie zum Beispiel in Sachsen. Abschotten wirft die Leute zurück. Erinnern wir uns an die Nachkriegszeit. Wie lange haben die Millionen aus dem Osten gebraucht, damit sie in West- und Ostdeutschland integriert waren. Das waren 30 bis 40 Jahre. Am Anfang war das ganz schlimm. Ich glaube, in der Zukunft wird der Nord-Süd-Unterschied viel wichtiger als der Ost-West-Unterschied sein. PLATZECK: Die Totalangleichung wird es nicht geben. Wichtig ist doch, dass für die Menschen das Leben auskömmlich ist. Dass sie gerne hier leben und nicht tauschen wollen, auch wenn es ihnen in München materiell besser ginge. Es geht nicht nur um das Materielle, es geht auch darum, glücklich und aktiv zu sein. Und das sind die Menschen in Brandenburg offenbar.
Unterschiede im Westen Aber dennoch entwickeln sich die Fundamentaldaten der wirtschaftlichen Entwicklung nicht mehr aufeinander zu, manches geht sogar auseinander. STOLPE: Der Westen ist auch ganz schön unterschiedlich. Das habe ich erst richtig in meiner Zeit als 35
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Bundesminister begriffen. Gelsenkirchen ist in wahrlich keinem guten Zustand, jedenfalls ist der schlechter als in Cottbus. Wir müssen nur aufpassen, dass die Unterschiede – auch innerhalb Brandenburgs – nicht zu groß werden. Und dass es uns gelingt, auch für periphere Regionen eine Perspektive zu entwickeln.
man manch saturierter Gegend im Vorteil.
PLATZECK: Strukturunterschiede gibt es in Deutschland schon seit Jahrhunderten. Das badische Land oder die Region um Stuttgart ist schon immer anders strukturiert als beispielsweise Ostfriesland oder Mecklenburg. In den neunziger Jahren gab es Gutachten von Regionalforschern, die meinten, 2010 würde jedes dritte Brandenburger Dorf brachfallen. Jetzt haben wir 2015, und kein einziges Dorf mussten wir aufgeben. Es gab auch für Berlin in den letzten Jahren Prognosen, die davon ausgingen, dass die Stadt schrumpft und krank sei. Jetzt ist es die am schnellsten wachsende Großstadt Deutschlands. Wenn man mal richtig am Boden war – und das war der Osten – und durch ein tiefes Tal wandern muss, dann entsteht dabei auch viel Neues und auch eine größere Offenheit und Innovationsfreude. Da ist
PLATZECK: Hier ist ein ruhiges Selbstbewusstsein entstanden. Die Menschen wissen, was sie aufgebaut haben und auch gesehen, dass die anderen auch nur mit Wasser kochen. Die Brandenburger sind ja wenig euphorisch, sondern eher geerdet. Die Zukunftsangst ist weg und das ist die wichtigste Voraussetzung an den Glauben, dass man es schon gebacken kriegt.
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Ist denn das Land heute anders als vor 20 Jahren? STOLPE: Wir haben dazugelernt und uns in der Welt umgeschaut. Es ist ein bisschen wie bei Fontane: Wir sind ein bisschen zurückhaltender, aber kein bisschen dumm.
Überzeugter als Alteingesessene Trifft das auch auf die Neu-Brandenburger zu? PLATZECK: Bei manchen braucht es sicher noch ein bisschen. Das liegt sicher daran, dass viele, die in den Speckgürtel gezogen sind, ihre Berliner Zeitungen mitgenommen haben. Aber die meisten sind sicher jetzt überzeugte Brandenburger.
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STOLPE: Manche sind sogar überzeugter als die Alteingesessenen. Wo ist denn Brandenburg am brandenburgischsten? STOLPE: In Havelberg (lacht). Unser Land ist sehr unterschiedlich. Es wäre auf jeden Fall ein Ort nicht allzu nah an Berlin dran – also vielleicht Gransee oder Angermünde. PLATZECK: Stimmt, man kann das nicht mit einem Ort beschreiben. Potsdam ist es mit Sicherheit nicht. Die Träger des Brandenburger Lebens sind die kleinen und mittleren Städte jenseits des Umlands. So was wie Treuenbrietzen.
MANFRED STOLPE war von 1990 bis 2002 Ministerpräsident des Landes Brandenburg, anschließend bis 2005 Bundesverkehrsminister.
MATTHIAS PLATZECK war von 2002 bis 2013 Brandenburgs Ministerpräsident, von 2005 bis 2006 war er auch Bundesvorsitzender der SPD.
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HANS OTTO BRÄUTIGAM l ANFÄNGE IN POTSDAM
ANFÄNGE IN POTSDAM Meine ersten Brandenburger Jahre – Von Hans Otto Bräutigam
A
m 10. November 1990, einem Samstag, trat ich die Reise von New York – wo ich Botschafter bei der UNO war – in die Bundesrepublik an. Vor mir lagen neue Aufgaben mit vielen Ungewissheiten. Am darauffolgenden Montag fuhr ich zum Auswärtigen Amt in Bonn, um mich zu verabschieden und die mit meinem Wechsel nach Brandenburg zusammenhängenden Fragen zu klären. Mein Abschiedsbesuch beim Bundesaußenminister verlief sehr freundlich. Genscher billigte ausdrücklich meine Absicht, in die neue brandenburgische Landesregierung einzutreten. Er hätte genauso gehandelt, sagte er und dachte dabei sicher an seine Heimatstadt Halle an der Saale, für die er sich seit der „Wende“ in der DDR stark engagiert hatte. Der Neuanfang sei für die ostdeutschen Länder allerdings schwer, fügte Genscher hinzu, viel schwerer als man das in der Euphorie der deutschen Einigung zunächst angenommen habe. Der Bund und die westdeutschen Länder würden
sehr viel mehr leisten müssen, als sie bisher in Aussicht genommen hatten. Wie Recht er hatte, sollte ich bald erfahren. Als ich mich von „meinem“ Minister, was er ab jetzt nicht mehr war, verabschiedete, bat ich ihn darum, seinen Rat auch künftig in Anspruch nehmen zu können, so wie ich das auch als Ständiger Vertreter in der DDR regelmäßig getan hatte. Das war mehr als eine höfliche Geste. Genscher war aufgrund seines Engagements im deutschen Einigungsprozess unbestritten eine politische Autorität auf diesem Gebiet. Am Abend flog ich nach Berlin. Am Flughafen Tegel mietete ich einen Leihwagen und fuhr nach Potsdam, wo ich in dem mir aus DDR-Zeiten gut bekannten Interhotel ein Zimmer bestellt hatte. Am nächsten Morgen holte mich Eberhard Grashoff im Hotel ab. Er war früher Pressesprecher der Ständigen Vertretung in Ost-Berlin gewesen und inzwischen zum stellvertretenden Regierungssprecher der Lan-
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desregierung in Potsdam berufen worden. Ich war hocherfreut, einen von mir sehr geschätzten ehemaligen Mitarbeiter in der Staatskanzlei zu wissen. Grashoff brachte mich dann zu Ministerpräsident Stolpe, der mich sehr freundlich wie einen Vertrauten aus früheren Zeiten begrüßte. Endlich eingetroffen Er war wohl erleichtert, dass ich endlich eingetroffen war. An diesem Morgen hatte Stolpe freilich wenig Zeit für mich. Seit er Mitte Oktober zum Ministerpräsidenten des Landes Brandenburg gewählt worden war, regierte er praktisch allein und musste sich um tausend Dinge kümmern. So trafen wir uns zum Mittagessen in der nahe gelegenen Kantine der Bezirksverwaltungsbehörde. Wir suchten uns einen freien Tisch, stellten uns wie alle anderen Bediensteten an und bekamen nach kurzer Wartezeit ein einfaches, aber reichliches Essen. In unserem ersten Gespräch äußerte sich Stolpe ganz knapp zu den vordringlichen Aufgaben der neuen Landesregierung, die zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht im Amt war. Er erwähnte die Personalbeschaffung, die Unterbringung der Ministerien, die Geschäftsvertei 40
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lung innerhalb der Landesregierung, die Aufstellung des Haushalts und vor allem die Finanzierung der sofort zu treffenden Maßnahmen. Stolpe war nach meinem ersten Eindruck bemüht, als Ministerpräsident den Überblick zu behalten und praktische Lösungen für die vielen Probleme zu suchen, mit denen das neue Bundesland Brandenburg konfrontiert war. Er arbeitete diszipliniert, wie er es stets getan hatte, und erwartete das auch von seinen Mitarbeitern. Andere Probleme Als ich ihn ganz nebenbei fragte, ob sich auch die Frage eines Zusammenschlusses mit dem Land Berlin stelle, schaute er mich verwundert an und sagte: „Ach, wissen Sie, wir haben jetzt ganz andere Probleme zu lösen. Vielleicht kommt das später einmal.“ An diese Bemerkung Stolpes habe ich mich 1996 erinnert, als die Fusion mit Berlin scheiterte. Vielleicht wäre sie erfolgreich gewesen, wenn wir früher damit begonnen hätten. Doch Ende 1990 gab es in der Tat weit dringendere Probleme. Am Nachmittag fand in der Staatskanzlei eine informelle Kabinettsbesprechung statt. Für die designierten Minister war es die erste Gelegen-
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heit, sich kennenzulernen. Die „Neuen“ hatten viele Fragen und es entwickelte sich rasch eine lebhafte Diskussion. Ich war sehr angetan von diesem Beginn und hatte das Gefühl, dass ich mich als parteiloser Minister in der neuen Landesregierung, einer „Ampel-Koalition“ aus SPD, FDP und Bündnis 90, politisch wohl fühlen würde. Unterstützung aus NRW Die nächsten Wochen waren ausgefüllt mit Arbeitssitzungen über die vordringlichen Aufgaben im Bereich der Justiz: Es ging vor allem um die Personalbeschaffung, die Ausstattung der Gerichte und Staatsanwaltschaften, die Fortbildung des Justizpersonals, die Konstituierung der Ausschüsse für die Überprüfung der ehemaligen DDR-Richter und -Staatsanwälte, die Sanierung der in der DDR-Zeit vernachlässigten Grundbücher, die Überprüfung der Strafurteile aller in Brandenburg einsitzenden Häftlinge, die Anwendung des Strafvollzugsgesetzes der Bundesrepublik und die Überprüfung der Sicherheitsvorkehrungen in den Haftanstalten. Insgesamt handelte es sich um ein umfassendes Programm für die Neuordnung der Justiz auf der Grundlage der rechtsstaatlichen Prinzipien der
Bundesrepublik, das Brandenburg aus eigener Kraft kaum bewältigen konnte. In dieser Lage war die Unterstützung durch das „alte“ Land Nordrhein-Westfalen, das nach einer Absprache der Ministerpräsidenten der Länder eine Art Patenschaft für das „neue“ Land Brandenburg übernommen hatte, von ganz entscheidender Bedeutung. Bereits Ende November 1990, nur eine Woche nach Bildung der neuen Landesregierung, traten in Potsdam die beiden Kabinette zu einer gemeinsamen Sitzung zusammen, um Umfang und Modalitäten der Zusammenarbeit zu erörtern und entsprechende Vereinbarungen vorzubereiten. Anschließend sprach ich mit meinem Kollegen Rolf Krumsiek über die konkrete Ausgestaltung der Hilfe im Bereich der Justiz. Wir konnten uns glücklich schätzen, dass wir mit Nordrhein-Westfalen einen starken Partner bei unserer Aufbauarbeit hatten. Ein dringendes Gespräch Ende November rief mich die Berliner Justizsenatorin Jutta Limbach an und bat um ein persönliches Gespräch in einer wichtigen Angelegenheit. Natürlich war ich dazu gern bereit. „Bitte kommen sie sofort, wenn es dringlich ist. Und ich 41
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freue mich, Sie kennenzulernen“, erwiderte ich. Eine Stunde später kam sie nach Potsdam. Worum es ihr ging, war in der Tat brisant. Das Amtsgericht Tiergarten in Berlin hatte soeben einen Haftbefehl gegen Erich Honecker erlassen, der sich zu dieser Zeit in einem sowjetischen Militärhospital in Beelitz unweit von Potsdam aufhielt. Die Justizsenatorin bat nun die brandenburgische Landesregierung, der Berliner Justiz bei der Festnahme des ehemaligen Staatschefs der DDR behilflich zu sein. Honecker in Wünsdorf Sie hatte bereits vorsorglich eine Gruppe von Berliner Polizeibeamten in Zivil mitgebracht. Ich reagierte zurückhaltend und wies meine Kollegin darauf hin, dass die brandenburgische Polizei wie auch die Berliner Polizei im Bereich der sowjetischen Truppen nur mit Zustimmung der sowjetischen Kommandantur tätig werden durfte. Diese würde eine Festnahme Honeckers sicher als eine politische Angelegenheit behandeln, in der das Oberkommando der Westgruppe der Sowjetischen Streitkräfte in Wünsdorf zu entscheiden habe und das wahrscheinlich nur nach Rücksprache mit Moskau. 42
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Die Landesregierung sei selbstverständlich bereit, umgehend mit den sowjetischen Stellen Kontakt aufzunehmen, fügte ich hinzu. Doch auf diesem Weg werde man wahrscheinlich nicht weit kommen. Ich gab deshalb den Rat, jedenfalls parallel zu unseren Bemühungen auch das Auswärtige Amt einzuschalten und über die deutsche Botschaft in Moskau bei der sowjetischen Regierung einen Antrag auf Überstellung Honeckers an die deutsche Justiz zu stellen. Die Senatorin war sichtlich enttäuscht von dieser Auskunft. Sie hätte Honecker am liebsten gleich mitgenommen, zumal er sich ja auf deutschem Territorium aufhielt. Auf einen direkten Vorstoß bei den sowjetischen Truppen in Beelitz wollte ich mich allerdings nicht einlassen. Doch ich sagte Frau Limbach zu, dass wir uns bei der sowjetischen Kommandantur um eine umgehende Entscheidung bemühen würden. Mit dieser Zusage fuhr sie nach Berlin zurück. Die erste Wahl Die eigenständige Entwicklung Brandenburgs als Land der Bundesrepublik Deutschland begann mit den Landtagswahlen am 14. Oktober 1990. Anders als in den
HANS OTTO BRÄUTIGAM l ANFÄNGE IN POTSDAM
übrigen Ost-Ländern ging hier die SPD mit ihrem Spitzenkandidaten Manfred Stolpe als stärkste Partei aus den Wahlen hervor. Sie erhielt 38,2 Prozent der Stimmen, war jedoch nicht stark genug, allein die Landesregierung zu bilden. In dieser Lage entschied sich die brandenburgische SPD – übrigens zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik – für eine „Ampelkoalition“, das heißt ein Zusammengehen mit den beiden kleinen Parteien FDP und Bündnis 90, die 6,6 Prozent beziehungsweise 6,4 Prozent der Stimmen erhalten hatten. CDU (29,4 Prozent) und PDS (13,4 Prozent) bildeten die Opposition, sie handelten allerdings nicht gemeinsam, stimmten sich auch nicht ab, sondern verfolgten gegensätzliche Ziele. Kabinett ohne Ost-West-Konflikte In der ersten Brandenburger Landesregierung unter Ministerpräsident Stolpe waren die SPD mit fünf und mir als parteilosem Minister, die beiden kleinen Parteien mit jeweils zwei Ministern vertreten. Sieben Kabinettsmitglieder kamen aus Brandenburg beziehungsweise Ost-Berlin, vier aus den „alten“ Ländern. Die Zusammenarbeit der Ost- und der West-Minister war von Anfang
an erstaunlich unproblematisch: Die ostdeutschen Kollegen kannten die Probleme, die der wirtschaftliche und gesellschaftliche Umbruch mit sich gebracht hatte, aus eigener Anschauung, sie waren mit der Mentalität der Menschen im Lande vertraut, mit ihren Ängsten und Nöten, während die westdeutschen Kollegen die Erfahrungen aus dem politischen und wirtschaftlichen System der alten Bundesrepublik in die Landesregierung einbrachten. Die unterschiedlichen Prägungen ergänzten sich in idealer Weise. Ost-West-Konflikte im Kabinett gab es so gut wie gar nicht. Auch wenn ich parteilos war, wurde ich im Kabinett der sozialdemokratischen Seite zugerechnet. Anfangs fragte ich mich, ob es nicht politisch vernünftig und konsequent wäre, gleichzeitig mit meiner Berufung in die Landesregierung auch der SPD beizutreten, mit deren Ausrichtung ich im Großen und Ganzen einverstanden war. Eintritt in die SPD? Die sozialliberale Koalition unter den Bundeskanzlern Willy Brandt und Helmut Schmidt war ganz in meinem Sinne gewesen und ich erwartete, dass auch die neue brandenburgische Regierung eine 43
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ähnliche Linie verfolgen würde. Jedenfalls wollte ich dazu beitragen. Dennoch konnte ich mich 1990 nicht dazu entschließen, in die SPD einzutreten. Vor allem wollte ich nicht den Eindruck erwecken, als würde ich der SPD nur beitreten, um Minister in Brandenburg zu werden. Doch hatte ich auch eine allgemeine Abneigung gegen die Mitgliedschaft in einer politischen Partei. Als langjähriger Beamter fühlte ich mich dem Staat, und nur diesem, verpflichtet. Eine zusätzliche Bindung an eine Partei widerstrebte mir – wie übrigens vielen meiner Kollegen und Freunde im Auswärtigen Dienst. Ich sprach darüber mit Manfred Stolpe, der Verständnis für meine Haltung hatte. Sie war ihm wohl auch nicht fremd. Kein Außenseiter Jedenfalls sagte er: „Sie sind uns auch als parteiloser Minister willkommen.“ Damit war für mich die Frage einer SPD-Mitgliedschaft erst einmal erledigt. Um aber nicht in eine Außenseiterposition zu geraten, bemühte ich mich um ein gutes und enges Verhältnis zur SPD-Fraktion, auf deren Unterstützung, zumal in schwierigen Situationen, ich ohnehin angewiesen war. Manchmal nahm ich sogar an 44
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den Sitzungen des SPD-Parteivorstands und an den Parteitagen der SPD in Brandenburg teil – als Gast, versteht sich, was mich aber nicht davon abhielt, mich auch zu Wort zu melden. So hatte ich eigentlich keinen Nachteil davon, nicht der SPD anzugehören, außer vielleicht bei internen SPD-Beratungen in Bonn über Angelegenheiten des Bundesrats, zu denen ich nicht zugezogen wurde. Ein Fehler Vor den Landtagswahlen 1994 stellte ich mir noch einmal die Frage einer Mitgliedschaft in der SPD. Zeitweilig dachte ich daran, in einem Wahlkreis in Brandenburg für die SPD zu kandidieren. Inzwischen war mir klar geworden, dass man als Minister eine stärkere Position hatte, wenn man auch dem Parlament angehörte und damit in einem direkten Kontakt mit den Wählern stand. Doch den Gedanken gab ich bald wieder auf, um nicht einen Brandenburger Kandidaten zu verdrängen. Als ich im Zusammenhang mit der Bildung der neuen Landesregierung die Frage eines SPD-Beitritts ansprach, sagte Stolpe: „Aber warum wollen Sie denn in die SPD eintreten? Für die Landesregierung sind Sie als parteiloser Justizminister mindestens
HANS OTTO BRÄUTIGAM l ANFÄNGE IN POTSDAM
ebenso wichtig. Und Ihrem Ansehen im Lande schadet es schon gar nicht.“ Im Rückblick halte ich die Entscheidung, parteilos zu bleiben, allerdings für falsch. Wenn man sich politisch engagieren will, sollte man sich in unserem politischen System auch zu einer Partei bekennen und nicht eine – manchmal ja angenehme – Distanz wahren. Denn letztlich findet die politische Meinungsbildung in den Parteien und im Parlament statt. Putsch in Moskau Am 19. August 1991 wurde ein Putschversuch in Moskau bekannt. Kommunistische Hardliner aus dem Parteiapparat der KPdSU, dem KGB und der Armeeführung versuchten die Macht an sich zu reißen. Offenbar wollten sie der Reformpolitik Gorbatschows und der Demokratisierung der Sowjetunion Einhalt gebieten. Bald darauf meldete sich das Oberkommando der Westgruppe der Sowjetischen Streitkräfte, das seinen Sitz in Wünsdorf südlich von Berlin hatte, und ersuchte Ministerpräsident Stolpe um ein Gespräch, möglichst noch am gleichen Tag. Auf seine Bitte begleitete ich den Ministerpräsidenten.
Als wir in Wünsdorf ankamen, wurden wir in ein Besucherzimmer geleitet, in dem ich bei einem Empfang am 9. Mai, dem Tag der deutschen Kapitulation gegenüber der Roten Armee 1945, schon einmal gewesen war. Doch in dem Raum hatte sich etwas geändert: Das Bild des Präsidenten der Sowjetunion, Michail Gorbatschow, war abgehängt worden. Man sah noch den hellen Fleck an der Wand. Ich fragte mich, was das zu bedeuten hatte. Hatte sich etwa die Westgruppe der Sowjetischen Streitkräfte bereits auf den Sturz Gorbatschows eingestellt? Nach wenigen Minuten erschien der Oberkommandierende Generaloberst Matwej Burlakow und bat uns, Platz zu nehmen. Er wies auf die Vorgänge in Moskau hin, die ihn sehr zu beunruhigen schienen, aber darüber wollte er mit uns nicht sprechen. Es ging ihm um zwei Dinge: Offenbar fürchtete das Oberkommando als Reaktion auf die Ereignisse in Moskau Ausschreitungen deutscher Extremisten gegen Armeeangehörige, ihre Familien und andere Sowjetbürger. Darum bitte man die deutsche Polizei, geeignete Maßnahmen zum Schutz der sowjetischen Kasernen und Wohngebiete in Brandenburg zu treffen, sagte der General. Das zweite Anliegen war noch heikler. Das Oberkommando war 45
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besorgt, es könne bei einem Machtwechsel in Moskau zu massenhaften Desertionen von sowjetischen Armeeangehörigen kommen. Auch für diesen Fall bitte man die Landesregierung um Unterstützung bei dem Bemühen, gegebenenfalls Deserteure in die Kasernen zurückzuführen. Schutz vor Übergriffen Stolpe und ich waren überrascht. Mit solchen Befürchtungen hatten wir nicht gerechnet. Doch der Ministerpräsident blieb gelassen. Die Brandenburger, sagte er, verfolgten die Ereignisse in Moskau „mit heißem Herzen“, auch aus Sorge um Präsident Gorbatschow, der bei den Deutschen hohes Ansehen genieße. Die Landesregierung werde selbstverständlich alles tun, um die Sowjetbürger und die sowjetischen Liegenschaften – Stolpe sagte „Objekte“, wie es in der DDR üblich war – vor Übergriffen zu schützen. Für den Innenminister sei das eine „Chefsache“. Sollte es zu „komplizierten Havarien“ kommen, werde er sich persönlich einschalten und umgehend Verbindung mit dem Oberkommando aufnehmen. Das Gespräch hatte uns den Ernst der Situation aus der Sicht der Westgruppe der Sowjetischen Streitkräfte 46
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vor Augen geführt. Offenbar fürchteten die hohen Militärs, sie könnten in eine äußerst schwierige Lage geraten, wenn in Moskau die Armee und die politische Führung gegeneinander stehen sollten. Wenige Tage später war der Putsch gescheitert. Der russische Präsident Boris Jelzin, der sich gegen die Putschisten gestellt hatte, ging aus der Machtprobe als Sieger hervor. Gorbatschow kehrte aus dem Urlaub auf der Krim nach Moskau zurück. Er hatte sich auf keine Kompromisse mit den Putschisten eingelassen. Doch seine Position war angeschlagen. Der neue Führer hieß Jelzin. Und die Bevölkerung, so schien es, stand hinter ihm. Eine neue Verfassung Als sich das Land Brandenburg am 14. Oktober 1990 konstituierte, gab es keine Verfassung. An die Verfassung von Brandenburg in der Sowjetischen Besatzungszone aus dem Jahre 1947 anzuknüpfen, kam selbstverständlich nicht in Betracht. Doch eine neue Verfassung auszuarbeiten brauchte Zeit. So wurde zunächst ein Gesetz über „die vorläufige Sicherung der Arbeitsfähigkeit des Landtags und der Regierung des Landes Brandenburg“ beschlossen und dann im Januar ein außerparla-
HANS OTTO BRÄUTIGAM l ANFÄNGE IN POTSDAM
mentarischer Verfassungsausschuss für die Ausarbeitung eines Entwurfs eingesetzt. Grundlage für die Arbeit des Verfassungsausschusses war ein Entwurf, der bereits 1990 von einer Gruppe Juristen und Staatsrechtslehrer im Auftrag des „Koordinierungsausschusses für die Bildung des Landes Brandenburg“ ausgearbeitet worden war. Er stützte sich weitgehend auf Vorarbeiten im Verfassungsausschuss des Zentralen Runden Tischs in Ost-Berlin. Ein erster Entwurf Ende Mai 1991 leitete der außerparlamentarische Verfassungsausschuss dem Landtagspräsidenten einen ersten Entwurf für die neue Landesverfassung zu, der anschließend veröffentlicht wurde. Er nahm bewusst Impulse der friedlichen Revolution in der DDR auf, insbesondere soziale Grundrechte, die erheblich über den Grundrechtskatalog des Grundgesetzes hinausgingen, Staatsziele wie das Recht auf Wohnen, Arbeit und soziale Sicheung und plebiszitäre Elemente. Der sehr ambitionierte Entwurf löste heftige Auseinandersetzungen zwischen den Parteien aus. Einige Kritiker meinten, der Entwurf lasse „sozialistische Tendenzen“ erkennen.
Aus der Bevölkerung gingen 400 Stellungnahmen ein. Die Landesregierung hielt sich in der öffentlichen Debatte zurück, leitete aber dem Verfassungsausschuss ein Gutachten mit kritischen Anmerkungen und Änderungsvorschlägen zu. Daraufhin wurde der Entwurf noch einmal gründlich überarbeitet und die neue Fassung im Dezember 1991 dem Landtag zugeleitet. Dieser setzte nun einen rein parlamentarischen Verfassungsausschuss ein, in dem weitere Änderungen beschlossen wurden. Damit waren die Kontroversen aber keineswegs beendet. Vor allem der Landesvorstand der CDU erhob weiterhin Bedenken und forderte die CDU-Landtagsfraktion auf, den Entwurf abzulehnen. Doch in der Schlussabstimmung im Landtag am 14. April 1992 wurde der Verfassungsentwurf mit großer Mehrheit angenommen. Von CDU bis PDS Die erforderliche Zweidrittelmehrheit wurde deutlich übertroffen. Auch zehn Abgeordnete der CDU stimmten ihm zu. Dieser spannungsvolle Verlauf der Verfassungsdiskussion machte deutlich, dass die politischen Kräfte des Landes, von der konservativen CDU bis hin zur linksorientierten PDS, einigungs 47
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und handlungsfähig waren, was sicher auch den Erwartungen der Bevölkerung entsprach. Was ist bemerkenswert an der Brandenburger Verfassung, die einige Befürworter als die fortschrittlichste in der deutschen Verfassungsgeschichte bezeichneten? Es ist keineswegs selbstverständlich, dass eine Landesverfassung einen Grundrechtskatalog enthält, da die Grundrechte bereits durch das Grundgesetz gewährleistet werden. Konkrete Sprache Doch Brandenburg bestand darauf, den Grundrechtsschutz für seine Bürger weiterzuentwickeln und an den heute bestehenden gesellschaftlichen Verhältnissen zu orientieren. Das zeigte sich zum Beispiel beim Recht der Menschen auf Leben, dem „die Achtung ihrer Würde im Sterben“ hinzugefügt wurde. Ferner wurde das „Recht der Kinder auf Achtung ihrer Würde“ ausdrücklich anerkannt und der „Schutz der auf Dauer angelegten Lebensgemeinschaften“ neben der Ehe in die Verfassung aufgenommen. Auch der Schutz der Benachteiligten und Behinderten wird an verschiedenen Stellen der Verfassung hervorgehoben. Gerade im Bereich der Grundrechte ist die Sprache der Verfassung 48
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konkret und an den existenziellen Bedürfnissen der Menschen, ihren Nöten und Ängsten orientiert. Die in der Verfassung aufgeführten Staatsziele Arbeit, Wohnen und soziale Sicherung sind von konservativer Seite scharf kritisiert worden. Dem Landtag wurde vorgeworfen, durch sie würden bei den Menschen Erwartungen geweckt, die das finanzschwache Land Brandenburg selbst gar nicht erfüllen könne. Diese Kritik beruhte jedoch auf einem Missverständnis. Die Staatsziele sollen dem Menschen im Lande das Gefühl vermitteln, dass der Staat ihre existenziellen Lebensbedürfnisse ernst nimmt und die Politiker verpflichtet sind, auf die Verwirklichung dieser Ziele auch gegenüber der Bundesregierung hinzuwirken. Damit werden zugleich Prioritäten der Landespolitik festgeschrieben. Allerdings können ein Arbeitsplatz, eine Wohnung oder etwa ein Platz in einem Altenheim von den Bürgern nicht eingeklagt werden. Lehren aus der DDR Staatsziele verpflichten den Staat und das Gemeinwesen, geben aber den Bürgern keine Rechte, die sie unmittelbar geltend machen können. Zu den Staatszielen von großer aktueller Bedeutung gehört auch der
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Umweltschutz. Der Verfassungsgeber in Brandenburg hat ihm einen hohen Stellenwert zuerkannt, sicher auch in der Erkenntnis, dass es in der DDR auf diesem Gebiet schwere Versäumnisse gab. Insgesamt entspricht die brandenburgische Verfassung den Grundbedürfnissen und Befindlichkeiten der Menschen in den neuen Ländern nach der Wiederherstellung der deutschen Einheit. Sie setzt Zeichen von „Sensibilität, Toleranz und Solidarität“, wie es Gottfried Mahrenholz, der damalige Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts, in einem Gutachten für die SPD-Fraktion des Landtags ausgedrückt hat. Das Interesse war gering Vor dem Volksentscheid über die Verfassung fand eine „Kampagne“ statt, eine Art Wahlkampf, an dem ich mich aktiv beteiligte. Im Grunde war es mein erster Wahlkampf und ich entdeckte, dass mir das Spaß machte. Mein erster Auftritt verlief allerdings ganz anders, als ich mir das vorgestellt hatte. Als ich an einem Samstagmorgen in Herzberg an der Elster, einer kleinen Kreisstadt im Süden von Brandenburg, eintraf, wurde ich auf dem Marktplatz, wo die Veranstaltung stattfinden sollte, von dem
Fraktionsvorsitzenden der SPD im Gemeinderat begrüßt. Er kam etwas zögerlich auf mich zu und sagte: „Herr Minister, herzlich willkommen in Herzberg. Doch ich muss Ihnen sagen: Bisher ist niemand erschienen.“ Ihm war das peinlich, ich aber war erleichtert, denn so wurde mir ein für mich ungewohnter Auftritt auf einem öffentlichen Platz erspart bleiben. So antwortete ich: „Ach, warten wir doch noch etwas. Vielleicht kommt noch jemand.“ Auf dem Marktplatz war ein Podium aufgestellt, von dem aus ich sprechen sollte. Aus einem Lautsprecher ertönte laute Musik, einige Kinder liefen herum und spielten. Der Fraktionsvorsitzende und ich nahmen auf dem Podium Platz, tranken Kaffee und plauderten über die Stadt, die ich nicht kannte, über Gott und die Welt und Regine Hildebrandt, die hier ihren Wahlkreis hatte. Der erste Wahlkampf Nach einer Weile forderte mich der Fraktionsvorsitzende auf, doch mit meiner Rede zu beginnen. „Dann sehen wir, ob jemand zuhört.“ Ich tat, wie mir geheißen, und fing an zu reden vor einem nicht vorhandenen Publikum. Die Kinder waren bald verschwunden. Sie waren 49
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enttäuscht, weil die Musik abgestellt worden war. Doch plötzlich erschien ein älterer Mann auf dem Marktplatz, blieb stehen und hörte mir zu. Ich sprach ihn persönlich an und dachte mir, den musst Du festhalten, also rede nicht zu lange, sonst geht er weiter. Andere Sorgen Nach knapp zehn Minuten beendete ich meine Rede und stieg von dem Podium herab, um mich bei meinem Zuhörer für sein Interesse zu bedanken. Der fasste sich ein Herz und sagte: „Herr Minister, ich stamme aus Ostpreußen. Können Sie mir sagen, wann wir endlich unseren Lastenausgleich bekommen?“ Auf diese Frage war ich nicht vorbereitet. Mit der Verfassung hatte das nichts zu tun. Doch soweit ich wusste, waren tatsächlich Lastenausgleichszahlungen der Bundesrepublik für die Vertriebenen in den neuen Ländern vorgesehen. „Es wird nicht mehr lange dauern“, beschied ich ihn. Damit gab er sich zufrieden und ging weiter. Inzwischen war auch die Musik wieder angestellt worden. Die Kinder kamen zurück. Mein erster Wahlkampfauftritt war beendet. Am 14. Juni 1992 fand die Volksabstimmung über die Verfassung 50
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statt. Sie wurde mit überwältigender Mehrheit angenommen. 94 Prozent stimmten für die Verfassung, 5,6 Prozent dagegen. Leider beteiligte sich nur knapp die Hälfte der Stimmberechtigten an der Abstimmung. Doch es reichte. Denn für die Annahme der Verfassung kam es darauf an, dass die Mehrheit der Abstimmenden, nicht der Stimmberechtigten zustimmte. Die geringe Beteiligung war für die Landesregierung und die politischen Parteien enttäuschend. Sie hatte nach meinem Eindruck aber nur wenig mit dem Inhalt der Verfassung zu tun. Diese fand in der Bevölkerung eine breite Zustimmung. Doch die Menschen hatten inzwischen andere Sorgen. Es war vor allem die dramatisch steigende Arbeitslosigkeit, die sie zutiefst beunruhigte.
HANS OTTO BRÄUTIGAM war Ständiger Vertreter der Bundesrepublik in der DDR sowie Botschafter der BRD bei der UNO sowie von 1990 bis 1999 Justizminister des Landes Brandenburg.
THOMAS FALKNER l IM WANDEL
IM WANDEL 25 Jahre Brandenburg – ein Ausblick – Von Thomas Falkner
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Jahre Brandenburg? Erst vor wenigen Jahren haben wir das 850-jährige Bestehen der Mark gefeiert. Doch die Zäsur 1990 ist es wert, besonders beachtet zu werden. So viel bis dahin, bis zur friedlichen Revolution in der DDR, geschehen war - erstmals war Brandenburg in einen neuen Entwicklungsabschnitt eingetreten, ohne dass damit Kriege oder deren mehr oder weniger unmittelbare Wirkungen verbunden waren. Der Vorläufer des heutigen Landes Brandenburg war nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges und der von den Alliierten verfügten Auflösung des Landes Preußen im wesentlichen aus den westlich der Oder gelegenen Teilen der alten preußischen Provinz Brandenburg gebildet worden. Bis 1933 war die Mark Brandenburg eine sozialdemokratische Hochburg gewesen. Karl Liebknecht entriss hier 1912 in Potsdam den so genannten Kaiser-Wahlkreis dem deutschen Hochadel. Bei den letzten regulären Provinzial-Landtagswah-
len in der Mark Brandenburg im November 1929 lag die SPD mit knapp 35 Prozent um nahezu 15 Punkte über dem Reichsdurchschnitt der Sozialdemokraten. Die KPD hingegen blieb während der Weimarer Republik in der Mark Brandenburg stets unter ihrem Reichsdurchschnitt. An diese eher gemäßigt linke parteipolitische Prägung knüpfte das Land Brandenburg nach seinem Wiedererstehen im Jahr 1990 an. Zugleich wirkten soziokulturelle Prägungen aus der DDR-Zeit nach. Das Berliner Umland war zu einem Zentrum der DDR-Dienstklasse geworden: Potsdam als Verwaltungs- und Wissenschaftszentrum, das ostbrandenburgische Strausberg etwa durch das Ministerium für Nationale Verteidigung der DDR. Insbesondere in Ost-Brandenburg fanden sehr viele Umsiedler aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten nicht nur eine neue Heimat, sondern durch die Bodenreform von 1945/46 auch eine neue Existenzgrundlage. 51
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Die Industriepolitik der DDR wertete in Brandenburg auch bis dahin schwach entwickelte und strukturell benachteiligte Landesteile auf. Die Lausitz mit ihrer Braunkohleförderung und -verstromung wurde zu einer der maßgeblichen Säulen der Energieversorgung der DDR. Brandenburg gehörte mit der Filmproduktion in Babelsberg, aber auch mit Theatern wie dem in Schwedt oder in Senftenberg zu einem der kulturellen Zentren der DDR. Dies war der Nährboden dafür, dass sich nach 1989/90 in Brandenburg neben der SPD in Brandenburg eine starke, gesellschaftlich tief verwurzelte PDS etablieren konnte. Begünstigend kam hinzu, dass sich wichtige Akteure der PDS bereits vor 1989 – wie Lothar Bisky – beziehungsweise in den Wendezeiten – so Heinz Vietze und Michael Schumann – als Protagonisten der demokratischen Umbrüche auch in der SED erwiesen hatten. Ein besonderer Weg Brandenburg war zunächst in vielerlei Hinsicht einen besonderen ostdeutschen Weg gegangen. Für diesen Kurs bildete sich allmählich der bis heute umkämpfte Begriff des „Brandenburger Weges“ heraus. Vor allem war es der frühere 52
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evangelische Konsistorialpräsident aus der DDR, Manfred Stolpe, der an die historischen und politischen Traditionen der Mark Brandenburg anknüpfte und den Bürgerinnen und Bürgern nicht nur ein Identitätsgefühl vermitteln wollte, sondern auch nach einem belastbaren Leitfaden für die Bewältigung der anstehenden Umbruchprozesse suchte. Preußische Tugenden Dabei bezog sich Stolpe (und seine engagierte Sozialministerin Regine Hildebrandt) auch auf soziale Leistungen der DDR sowie auf positive preußische Tugenden wie Toleranz, Gemeinsinn, Verantwortungsbewusstsein. Vor allem Stolpe erweckte so ein Stück märkischer Identität wieder zum Leben, die Resultat einer langen kulturellen Tradition war und in ihrer verantwortungsethisch bestimmten Linie auch dem „Zeitalter der Extreme“ (Eric Hobsbawm über das 20. Jahrhundert) standgehalten hatte. Eine schrille Ausgrenzung der PDS – wie zunächst in anderen ostdeutschen Ländern – wurde weitestgehend vermieden. Die PDS Brandenburg ihrerseits wirkte – als einziger Landesverband im Osten – unterstützend an der
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Verfassungsgebung im Land mit. Sie entwickelte die Idee einer konstruktiven „gestaltenden Opposition“ und bewegte sich bewusst im Spannungsfeld von Opposition und Gestaltungsanspruch. Trotz des vergleichsweise sozial engagierten Wirkens der SPD-geführten Landesregierungen konnten auch in Brandenburg massive wirtschaftliche und soziale Einbrüche nicht vermieden werden. Die Landespolitik setzt dem seit etwa Mitte der neunziger Jahre einen Kurs der teils spektakulär anmutenden Großprojekte entgegen, die dann allerdings ebenso spektakulär scheiterten. Die CDU ist überfordert Zudem hatte sich die SPD 1999 nach dem Verlust der absoluten Mehrheit in eine Koalition mit der CDU unter dem Ex-Bundeswehrgeneral und wertkonservativen Wortführer Jörg Schönbohm begeben und damit nicht nur Regine Hildebrandt als aktive Politikerin, sondern insgesamt an Handlungsfähigkeit als Sachwalter und Fürsprecher ostdeutscher Interessen verloren. Allerdings zeigte sich bald, dass die CDU auch unter Jörg Schönbohm ihre innere Konflikte und Blockaden nicht zu beherrschen gelernt hatte. Sie er-
wies sich zunehmend als politisch überforderter, innerlich zerrissener und gesellschaftlich nicht hinreichend verankerter, also instabiler Koalitionspartner. Die märkische SPD hingegen hielt sich – ungeachtet aller bundespolitischen Turbulenzen – stabil über 30 Prozent, während die PDS/ Linke zur zweitstärksten Partei heranwuchs und der SPD inzwischen auf Augenhöhe gegenüber trat. EIne neue Option für die SPD Vor diesem Hintergrund kam es 2009 zu einem Strategie- und damit auch zu einem Koalitionswechsel seitens der SPD. Die Linke hatte sich als stetig erstarkende, ihre gesellschaftliche Verankerung ausbauende Kraft erwiesen. Damit war sie sowohl zu einer machtpolitischen Herausforderung als auch zu einem interessanten Partner geworden. Die SPD entschied sich angesichts dessen dafür, die gesellschaftliche Kraft der Linken durch ein Regierungsbündnis für die Bewältigung der anstehenden Herausforderungen zu binden und zugleich einen politisch-konzeptionell unverschlissenen und kreativen Partner zu gewinnen. Die SPD war mit dem inzwischen sieben Jahre im Amt befindlichen, bundesweit angese 53
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henen Ministerpräsidenten Matthias Platzeck und angesichts der in seiner Amtszeit vorgenommenen, vor allem wirtschaftspolitischen, Kurskorrekturen auch stark genug, einen solchen Koalitionswechsel, landes- und vor allem bundespolitisch nicht nur durchzustehen, sondern auf diese Weise der Sozialdemokratie neue Optionen zu eröffnen. Dem war eine Zeit vorausgegangen, in der Brandenburgs Zukunft neu abgesteckt wurde. Die PDS, bald schon als die Linke, spielte in diesen Debatten mit ihrem Leitbild für Brandenburg eine aktive Rolle. Sie brachte zwei Schlüsselbegriffe ins Spiel: das „Brandenburg der Regionen“ und das „solidarische Brandenburg“. Die PDS, später die Linke, hatte sich in diesen Fragen mit ihrem landespolitischen Leitbild programmatisch stark aufgestellt. Gegenentwurf zum Leitbild Die Idee vom „Brandenburg der Regionen“ war die Antwort auf das zunehmende Auseinanderdriften von berlinnahen und berlinfernen Regionen des Landes und die Herausforderungen bei der Sicherstellung der öffentlichen Daseinsvorsorge. Und es war der erklärte Gegenentwurf zu dem Leitbild, das die damals 54
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noch rot-schwarze Landesregierung für die Region vorgelegt hatte – ein Leitbild, das aus Sicht der Linken die Geschicke Brandenburgs zu eng an die Metropole Berlin band, das die Suche nach Stärken überbetonte und die Schwächen vernachlässigte. Der Wandel gewinnt an Fahrt Die Idee vom „solidarischen Brandenburg“ nahm u. a. den Protest gegen die von vielen im Land als massive soziale Ungerechtigkeit empfundene Agenda-Politik der Schröder-Regierung im Bund auf. Die Positionen von SPD und PDS dazu waren zunächst unüberbrückbar. 2004 scheiterten daran noch die Sondierungsgespräche für eine neue Landesregierung. Fünf Jahre später wandten sich beide mit dem Koalitionsvertrag explizit auch den sozialen Verlierern zu, die Niedriglohn-Strategie des vormaligen CDU-Wirtschaftsministers Junghanns wurde zu den Akten gelegt. Für öffentliche Aufträge wurde nun eine Lohnuntergrenze eingeführt. Der wirtschaftliche Strukturwandel in Brandenburg nahm Fahrt auf und erhielt zugleich Richtung und soziale Substanz. Die Arbeitslosigkeit ging deutlich zurück, die Einkommen stiegen – wenn auch
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von bescheidenem Niveau aus und mit bescheidenen Zuwächsen und mit deutlicher, vor allem regionaler, Differenzierung. Alles in allem hatte sich die erste Legislaturperiode von Rot-Rot für Brandenburg ausgezahlt – auch wenn die Linke bei der Landtagswahl 2014 eine herbe Niederlage erlitt. Die Koalition hat dennoch, maßgeblich geprägt durch die Linke, für die ganze Breite der gesellschaftlichen Herausforderungen politische Linien entwickeln können, die sich für das Land als tragfähig und entwicklungsfähig erwiesen haben – auch für die Zukunft. Berlin wächst ins Land Diese Zukunft ist nicht ein fernes, im Nebel kaum erkennbares Ufer. Sie steckt im Wandel, der das Land schon lange erfasst hat. Die Brandenburger von heute, das sind bei weitem nicht allein die älter Gewordenen von 1990 und deren Kinder und Kindeskinder. Schon vor einigen Jahren ergab eine Umfrage, dass 39 Prozent der Brandenburger nicht in Brandenburg geboren, sondern später hierher gezogen waren – und zwar aus allen Teilen des Bundesgebietes. Im Berliner Umland stellen diese Neu-Brandenburger sogar klar die Mehrheit.
Und dabei ist noch gar nicht erfasst, dass der Ballungsraum Berlin schon längere Zeit dadurch in unser Land hineinwächst, dass Brandenburger an die Metropole heran ziehen. So entstehen sehr unterschiedliche Lebenswirklichkeiten mit unterschiedlichen Schwerpunkten – jede mit eigener Legitimität und Rationalität. Eine neue Generation Das erfordert eine neue politische Kultur – eine Kultur des Miteinanders und der Durchlässigkeit zwischen Politik und Gesellschaft, des klaren Engagements für die jeweiligen Interessen im Bewusstsein, Teil eines Ganzen zu sein. Parallel macht sich eine neue Generation bereit, die Geschicke Brandenburgs in ihre Hände zu übernehmen. Jene Jahrgänge, die jetzt in Politik, Wirtschaft, Kultur und Gesellschaft noch dominant sind und ihre Ausbildungs- und Startphase noch in der DDR (oder in der alten Bundesrepublik) hatten, gehen in den Ruhestand. Jüngere, die vielleicht noch in der DDR geboren wurden, aber bereits im vereinten Deutschland aufgewachsen sind, übernehmen die Verantwortung. Auch diese Altersgruppe ist in Brandenburg noch stark „ost 55
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deutsch“ geprägt. 57 Prozent der 18- bis 24-Jährigen und 66 Prozent der 25- bis 34-Jährigen gaben im Sozialreport 2010 an, sie fühlten sich stark bzw. sehr stark verbunden mit Ostdeutschland – deutlich schwächer hingegen mit der Bundesrepublik insgesamt (41 bzw. 50 Prozent) und auch mit dem jeweiligen Bundesland (nur 9 bzw. 26 Prozent!). Was ist ostdeutsch? Ostdeutsches definiert sich bei diesen Jahrgängen allerdings weniger über die DDR – und wo es sich über die DDR definiert, wird dies kritischer geschehen als derzeit im Osten. Es ist die von der NachWende-Zeit bestimmte Sozialisation, die das spezifisch Ostdeutsche ausmacht – vor allem offenbar eine ausgeprägte Skepsis: „... seit 1990 sind sinkende Hoffnungen und steigende Befürchtungen für die neuen Bundesländer charakteristisch. Insbesondere junge Ostdeutsche und ältere Bürger in Ost wie West gehen in höherem Maße von negativen Erwartungen aus.“ Damit geht aber kein Defätismus einher – eher ein klarerer Blick für Herausforderungen und Aufgaben. Beispielsweise ist bei den Schülern im Land die Überzeugung, dass im Land mehr getan werden muss, um 56
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den Klimawandel aufzuhalten, fast doppelt so stark ausgeprägt wie im Bevölkerungsdurchschnitt. Auch ökonomisch ist der Wandel voll im Gange. Brandenburg war und ist noch ein Land der Braunkohlenförderung und ‑verstromung – aber es ist bereits und wird in zunehmendem Maße ein Land der erneuerbaren Energien. Schon jetzt hat Brandenburg dabei eine Vorreiterrolle in Deutschland und Europa inne. Rot-Rot hat diesen Prozess forciert – hin zur Gestaltung des technologischen und gesellschaftlichen Durchbruchs für erneuerbare Energien. Die bundesweite Energiewende unterstützt dies, schafft aber auch neue ökonomische, technologische und auch soziale Probleme. Andere Energieerzeugung Doch der Strukturwandel in der Energieerzeugung ist weit über das Technische hinaus bemerkenswert. Er bringt den Übergang von der Zentralität zur Dezentralität. Auf der Unternehmensseite fächert sich die Struktur auf – die Bedeutung von Monopolisten wie Vattenfall geht zurück, neue Unternehmen treten auf, neue Organisationschancen können und müssen genutzt werden. Bisherige Schwächen verwandeln sich in
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gefragte Ressourcen – Flächen in dünn besiedelten Gebieten können in Wind- oder Solarparks umgewandelt werden. Neue Konkurrenzen entstehen – bei der Frage, ob Äcker landwirtschaftliche Nutzfläche bleiben oder dem Anbau von Biomasse nutzen sollen. Bürgerinteressen werden berührt – in die bisherige Stille mischt sich das Brummen von Windrädern oder das Summen von Elektroleitungen. Für viele bricht sich der bislang abstrakte Wunsch nach erneuerbaren Energien an der Frage, ob und wie weit sie das eigene Lebensumfeld verändern dürfen. Neue Chancen, neue Interessen keimen auf. Nicht ohne Widersprüche Strukturwandel wird nie ein eindimensionaler, widerspruchsfreier Vorgang sein. Strukturwandel ist die Gleichzeitigkeit von Vergehen und Entstehen, er ist das möglichst vorwärts gewandte Lösen von Konflikten. Wer die Gesellschaft nach vorn verändern will, muss Interesse daran wecken, organisieren, unterstützen und bündeln. Daran wird sich der Erfolg künftiger Politik im Land maßgeblich bemessen. Doch über welchen zeitlichen Horizont reden wir, über welche Dimensionen und Akteure überhaupt?
1990, als Brandenburg im Zug von friedlicher Revolution und deutscher Vereinigung wieder erstand, sollte ihm eigentlich nur eine kurze, zumindest eine zeitlich überschaubare eigenständige Zukunft beschieden sein. Rechtlich wie politisch waren alle Weichen für einen Zusammenschluss mit Berlin gestellt. Doch 1996 scheiterte die Länderfusion bei der Volksabstimmung in Brandenburg – ein Ergebnis, dass sich die PDS seinerzeit als ihren bis dahin größten politischen Erfolg anrechnete. In der Tat hatte sie es vermocht, einer verbreiteten Skepsis unter den Bürgern Ausdruck zu verleihen, die sich aus zwei Quellen speiste: einerseits aus der gerade erwachten und wiederbelebten märkischen Identität. Andererseits aus der berechtigten Sorge, in einem gemeinsamen Bundesland der schwächere Teil, aber zugleich mitverantwortlich für den Abbau des exorbitanten Berliner Schuldenberges zu sein. Wachstum ohne Fusion Am Ende hatten nur knapp 37 Prozent der Abstimmungsberechtigten in Brandenburg für einen Zusammenschluss mit der Bundeshauptstadt gestimmt – in Berlin hingegen waren 54 Prozent für die Fusion. 57
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Nur 66 von damals insgesamt 1.696 Brandenburger Gemeinden hatten sich eindeutig für einen Länderzusammenschluss ausgesprochen. Eine Fusion von Berlin und Brandenburg, so wird seither immer wieder betont, stehe wegen der anhaltend ablehnenden Haltung in der Mark nicht auf der Tagesordnung. Doch dieses Projekt steht in dieser Form überhaupt nicht mehr auf der Tagesordnung – zu viel hat sich seit 1996 verändert. Die Region ist weiter zusammengewachsen – über Institutionen, Staatsverträge, abgestimmtes Vorgehen wie bei der Gemeinsamen Innovationsstrategie, vor allem aber über die Menschen. Rund 177.000 Brandenburger pendelten 2009 aus beruflichen Gründen nach Berlin, über 68.000 Berliner nach Brandenburg. In beiden Richtungen haben sich die Zahlen seit Mitte der neunziger Jahre mehr als verdoppelt. Andere Metropolen locken Das Miteinander mit Berlin wird für mehr und mehr Menschen zur Alltagserfahrung. Aber auch das Miteinander mit anderen Metropolenräumen: Hamburg, Szczecin, Poznan, Halle/Leipzig und Dresden. Schon jetzt bezieht die Entwicklungsperspektive des Me 58
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tropolenraums Hamburg auch das nordwestliche Brandenburg mit ein – so zum Beispiel über das Kooperationsprojekt zu Elbschifffahrt und Wassertourismus. Im Süden des Landes sind Spreewaldbesucher aus Sachsen ein mindestens genauso gewichtiger Wirtschaftsfaktor wie die Touristen aus Berlin. Während Brandenburg sich um seinen strukturschwachen „Rand“ sorgt, geht ihm dieser Rand vielleicht schon Stück für Stück verloren. Weil es im heutigen Mitteleuropa vielleicht gar keine „Peripherie“ mehr gibt, weil fern von Berlin einfach näher an Hamburg oder Dresden ist? Wandel verdrängt Stillstand Wird Brandenburg irgendwann einfach zerrissen? Der eine Teil von Berlin aufgesaugt, der andere auf Umlaufbahnen um die Nachbarzentren geschossen? Definiert sich der zukünftige Lebensort der Brandenburger in einem auch administrativ neu gestalteten Raum in Nordost- und im früheren Mitteldeutschland? Sind das realitätsferne Überlegungen? Mag sein, wenn man auf die politischen Realitäten in Ländern und Bund, auf die laufenden Verhandlungen zum bundesstaatlichen Finanzausgleich blickt.
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Aber ob man es will oder nicht: Darunter verändert sich die Welt. Und der Stillstand in den administrativen und politischen Strukturen verträgt sich nicht dauerhaft mit dem Wandel, der die Region längst erfasst hat. Für Brandenburg wächst damit künftig der Druck. Gleich zweifach hat unser Land es mit Herausforderungen zu tun, die Ländergrenzen überschreiten und die überdies noch von nationaler Dimension sind: die angemessene Gestaltung des Metropolenraums um Berlin und seiner Folgen einerseits sowie die Notwendigkeit eines forcierten Strukturwandels der Lausitz als einheitlichem Wirtschafts- und Sozialraum im Zuge der Energiewende andererseits. Politisch und administrativ jedoch herrscht Stillstand. Wo liegt die Antwort? Im Reformprozess zur Neuordnung des bundesstaatlichen Finanzausgleichs bis 2019 spielt die nationale Herausforderung der Metropole Berlin in diesem Sinne keine Rolle – sie wird von zwei Ländern vertreten und tritt aufgespalten als Teil des Problems Stadtstaaten und als Teil des Problems Flächenländer mit strukturschwachen Regionen in Erscheinung.
Der Strukturwandel in der Lausitz wird derzeit auch nicht als nationale Herausforderung angesehen und von zwei Landesregierungen (Brandenburg und Sachsen) ohne allzu enge Abstimmung verantwortet. Bleibt die Antwort auf die Belange allein die beginnende Verwaltungsstrukturreform in Brandenburg, so werden die Probleme kommunalisiert. Vor allem dann, wenn es weiter bei den „Tortenstück-Landkreisen“ bleibt und wenn die dann weiterhin in sich die zunehmenden sozialen, ökonomischen und sonstigen Disparitäten ausgleichen sollen. EIne solide Basis Erfahrungen anderer Metropolenräume damit, wie übergreifende regionale Herausforderungen abgebildet, wie Strukturwandelprozesse beherrscht werden und wie diese Erfahrungen möglicherweise für unsere Region nutzbar gemacht werden können, spielen im politischen Diskurs keine Rolle. In welchem Diskurs überhaupt? Eigentlich gibt es ihn doch gar nicht. Bundesweit herrscht noch immer das politische Biedermeier der späten Angela Merkel. Unter den Bundesländern versuchen die bisherigen Geber-Länder ihre 59
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Beiträge zum Finanzausgleich zu reduzieren und gemeinsam mit den westdeutschen Nehmer-Ländern fiebern sie dem Ende des Solidarpakts Ost entgegen – während die ostdeutschen Länder sich darauf konzentrieren, davon wenigstens ein Stück zu erhalten, um trotz der Schuldenbremse ab 2019 ein bisschen politischen Handlungsspielraum zu erhalten. Und Berlin und Brandenburg? Ihre Nähe ist die von zwei Leuten, die Rücken an Rücken auf einer Straße in Zeuthen oder Ahrensfelde stehen, der eine mit dem Blick hinein nach Berlin, die andere mit dem Blick hinein in die brandenburgische Weite. Doch es ist Zeit, aufzuwachen. Höchste Zeit. Die nächsten 25 Jahre werden nicht weniger dramatisch und spannend als die hinter uns liegenden. Und sie werden unser Bild von Brandenburg noch einmal kräftig verändern. Doch das zurückliegende Vierteljahrhundert hat dafür eine solide Basis geschaffen.
THOMAS FALKNER ist Vorstandsreferent der Linksfraktion im Brandenburger Landtag.
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BEATE FERNENGEL l TRADITION UND CHANCEN
TRADITION UND CHANCEN Brandenburgs Wirtschaft hat einen weiten Weg zurückgelegt – von Beate Fernengel
I
m Jahre 1989 verändert sich Deutschland, Europa und damit die Welt. Auslöser dieser Veränderungen waren der Mut und die Entschlossenheit der Menschen in der DDR und in vielen Staaten Mittelosteuropas. Ihr Freiheitswillen und ihre Zivilcourage haben die politischen Veränderungen und den Lauf der Geschichte maßgeblich mitbestimmt. Rückblickend erinnern wir uns an viele Ereignisse dieses bedeutungsvollen Jahres: die Verhandlungen am ersten Runden Tisch in Polen, der erstmalige Nachweis der Wahlfälschung bei den Kommunalwahlen in der DDR, die ersten Risse im „Eisernen Vorhang“ durch den Abbau der Grenzzäune zwischen Österreich und Ungarn, die vielen friedlichen Demonstrationen und Proteste im Herbst – und schließlich der Fall der Mauer am 9. November 1989. 1990 wurde das Land Brandenburg gegründet. In diesen 25 Jahren wurde in Brandenburg
viel aufgebaut, viel geleistet und geschaffen. Die Brandenburgerinnen und Brandenburger können stolz auf das Erreichte sein. Voller Hoffnung und manchmal auch mit dem Mut der Verzweiflung haben sie die Fähigkeit zur Neuorientierung unter Beweis gestellt. Denn eines der zentralen Motive für die Unzufriedenheit und das Aufbegehren in den letzten Jahren der DDR waren die wirtschaftlichen Verhältnisse. Die immer neuen Versorgungsmängel, der desolate Zustand von Infrastruktur, Wohnungswesen und Umwelt sowie der Verschleiß der Produktionskapazitäten waren offensichtlich. Ganz zu schweigen von der allgegenwärtigen Beschneidung der Menschenrechte, der Verfolgung Andersdenkender, der immer dichter werdenden Grenzanlagen. Die DDR war nicht nur politisch und gesellschaftlich sondern auch wirtschaftlich am Ende! Nun galt es, in dem Konflikt zwischen der Zielvorgabe der 61
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Treuhand, nämlich die unrentablen DDR-Betriebe zu privatisieren und der hieraus resultierenden Zerschlagung und Stilllegung von Betrieben auf der einen Seite, und dem Erhalt von Arbeitsplätzen und Zukunftssicherung für die Menschen andererseits, die richtigen Akzente und Prioritäten zu setzen. Hier fokussierte das Land Brandenburg auf den Erhalt der industriellen Kerne, waren diese doch die Basis für die zukünftige Entwicklung einer prosperierenden Wirtschaftsstruktur. So lautete die neue Strategie der Treuhand nun: „Erst marktfähig machen, dann privatisieren.“ Nicht nur Leuchttürme Beispiele für den Erfolg dieser neuen Strategie finden sich heute in Brandenburg in großer Zahl. So etablierte Mercedes-Benz gleich zu Beginn der 90er Jahre in Ludwigsfelde einen neuen Standort. Auch der italienische Stahlgigant RIVA mit seinen Niederlassungen in Hennigsdorf und Brandenburg an der Havel trug zur positiven Entwicklung des Landes bei. Es gibt weit mehr als Leuchttürme: Die Liste erfolgreicher Brandenburger Unternehmen, die zum einen aus ehemaligen Volksei 62
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genen Betrieben (VEB) entstanden und sich zum anderen kurz nach dem Fall der Mauer in Brandenburg ansiedelten, reicht von A wie Allresist in Strausberg, über C wie Cleo Skribent in Bad Wilsnack, E wie EWG Eberswalder Wurst bis hin zum Studio Babelsberg, Klenk Holz AG in Baruth, MTU Maintenance Berlin-Brandenburg in Ludwigsfelde, Rolls-Royce Deutschland in Dahlewitz, die Takeda GmbH in Oranienburg und auch zum Zahnradwerk Pritzwalk. Zuerst die Gießkanne Schaut man sich die Zahlen an, zeigt sich schnell, dass hier noch viel zu tun bleibt: Absolut wuchs die brandenburgische Wertschöpfung des Verarbeitenden Gewerbes von 1,7 Milliarden Euro im Jahr 1991 auf 7,1 Milliarden Euro im Jahr 2014. Das ergibt ein Wachstum um beachtliche 400 Prozent, das jedoch – wenn man die niedrige Ausgangsbasis betrachtet – näherer Betrachtung bedarf. Der Anteil des Verarbeitenden Gewerbes an der Brandenburger Bruttowertschöpfung wuchs nämlich insgesamt in 23 Jahren von 9,3 auf nur 12,7 Prozent an. Mit nur 1,2 Prozent (2013) ist der Anteil unseres Bundeslandes an der Wertschöpfung
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des gesamtdeutschen Verarbeitenden Gewerbes äußerst gering. Neben dem politischen Ziel des Erhalts der industriellen Kerne war das zweite übergeordnete Ziel die Förderung des Mittelstandes, denn letztendlich sind es gerade die kleinen und mittleren Betriebe, die seit der Wende entscheidend zum Wohlstand in Brandenburg beigetragen haben. Es war entscheidend, dass gute Startchancen für alle Wirtschaftszweige und alle Regionen geschaffen wurden. So folgte die Wirtschaftsförderung in den ersten entscheidenden Jahren dem Prinzip der „Gießkannenförderung“, welches erst im Jahr 2007 durch die Maxime „Stärken stärken“ abgelöst wurde. In den ersten Jahren war es wichtig, die noch vorhandenen Strukturen weitgehend zu erhalten und Neues zu entwickeln. Eine logische Konsequenz Im Laufe der Zeit kristallisierten sich die wirtschaftlichen Stärken immer deutlicher heraus, so dass es eine logische Konsequenz in der Wirtschaftspolitik war, die sogenannten „Regionalen Wachstumskerne“ und „Branchenkompetenzfelder“ zu identifizieren und in ihrer Entwicklung gezielt zu fördern. Mittlerweile hat das Land Brandenburg eine
mit dem Land Berlin abgestimmte Förderpolitik. Mit dieser gemeinsamen Innovationsstrategie werden die länderübergreifenden Cluster, die die Branchenkompetenzfelder ersetzten, gezielt gefördert. Viel geschafft, viel zu tun Die Unterstützung von Forschungsund Innovationsaktivitäten muss weiterhin eine Priorität der Brandenburger Wirtschaftspolitik darstellen. Den kleinen und mittleren Unternehmen muss es besser und schneller gelingen, neu entwickelte Produkte und Dienstleistungen am Markt zu etablieren. Begleitend hierzu sind auch die Förderung von wissenschaftlichen Einrichtungen und Hochschulen sowie die Vernetzung von Wissenschaft und Wirtschaft von großer Bedeutung und sollte von der Politik aktiv unterstützt werden. Noch einmal ein Blick zurück: Zum Zeitpunkt der Wiedervereinigung im Oktober 1990 war die Verkehrsinfrastruktur in Brandenburg durch erhebliche Defizite gekennzeichnet, die für viele Jahre einen erheblichen Wettbewerbsnachteil für die Wirtschaft bedeuteten. Die Verkehrsinfrastruktur wurde in den vergangenen 25 Jahren in großem Umfang modernisiert und 63
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ausgebaut. Von den Erneuerungsund Ausbaumaßnahmen der vergangenen Jahre haben vor allem der Straßen- und Schienenverkehr, aber auch die Binnenschifffahrt profitiert. Der Ausbau der Wasserstraßen liegt im Vergleich zu den erzielten Verbesserungen bei Schiene und Straße jedoch noch deutlich zurück. Wettbewerbsfähige Wasserstraßen dürfen angesichts der klimapolitischen Vorteile der Binnenschifffahrt nicht kurzfristigen Haushaltskonsolidierungen geopfert werden. Insbesondere vor dem Hintergrund des Bevölkerungswachstums müssen die Stadt-Umland-Verbindungen zwischen Berlin und Brandenburg weiter verbessert und das Angebot des ÖPNV in diesem Raum verstärkt werden. Sechsspurig in die Zukunft Die wichtigen Autobahnen nach Hannover und Leipzig und große Teile des Berliner Rings sind heute sechsspurig ausgebaut. Gegenwärtig wird der Bundesverkehrswegeplan 2015 vom Bundesverkehrsministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur erarbeitet. Für die Mitgliedsunternehmen der IHK Potsdam unverzichtbar sind der Ausbau der Bundesstraße B 96 (Nord) sowie der Autobahnneubau 64
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der A 14 Magdeburg – WittenbergeSchwerin, einschließlich des Neubaus der B 189 n (Mirow-Wittstock) als großräumiger Lückenschluss im europäischen Fernstraßennetz. Um die negative demografische Entwicklung zu stoppen, muss nicht nur die vorhandene Infrastruktur erhalten bzw. den aktuellen Erfordernissen angepasst werden, sondern es müssen den ländlichen Regionen auch neue Perspektiven eröffnet werden. Dazu gehört auch eine gute Verkehrsanbindung an die Ballungsräume. Modernster Knoten Wichtige Eisenbahnstrecken wurden modernisiert, die Reisezeiten mit der Bahn in vielen Verbindungen drastisch verkürzt. Drei Hochgeschwindigkeitsstrecken binden die Region in den schnellen innerdeutschen Eisenbahnverkehr ein. Im Jahre 2006 gingen in Berlin der neue zentrale Hauptbahnhof und die neue Nord-Süd-Verbindung in Betrieb. Damit verfügt die Region über den modernsten Eisenbahnknoten Europas. Bei einer ganzen Reihe von Eisenbahnstrecken jedoch, vor allen nach Norden, Osten und Süden, geht der Ausbau nicht oder nur ungenügend voran. Gleichzeitig werden die Bahn-
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verbindungen nach Polen weiter reduziert. Der Neubau des Flughafens Berlin-Brandenburg „Willy Brandt“ in Schönfeld ist unser Sorgenkind – wird aber nach seiner Inbetriebnahme der Entwicklung der Hauptstadtregion weiteren Zuwachs bescheren. Der mehrfach verschobene Eröffnungstermin sorgt für eine anhaltend unbefriedigende Situation im Flugverkehr. Dies belastet Wirtschaft und Region über Gebühr und hemmt damit die Entwicklung der Länder Berlin und Brandenburg. Die anhaltende Diskussion über weitere Nachtflugbeschränkungen beeinträchtigt die nachhaltige Entwicklung des internationalen Luftverkehrs in Berlin-Schönefeld und damit die internationale Wettbewerbsfähigkeit unserer Region. Eine wichtige Voraussetzung Kurzum: Die Verkehrsinfrastruktur ist ein wesentlicher Bestandteil unserer Lebensqualität und Voraussetzung für Wohlstand und Beschäftigung. Ihre Substanz muss kontinuierlich an sich verändernde wirtschaftliche und gesellschaftliche Rahmenbedingungen angepasst werden. Insbesondere ein reibungsloser Verkehrsfluss auf den
Hauptverkehrsachsen muss im Interesse der Wirtschaft sichergestellt werden. Blick in die Vergangenheit Analog zur erfolgreichen Entwicklung des gesamten Bundeslandes hat sich auch die Wirtschaft im Bezirk der Industrie- und Handelskammer (IHK) Potsdam positiv entwickelt. Der Kammerbezirk, der die Landkreise Prignitz, Ostprignitz-Ruppin, Oberhavel, Havelland, Potsdam-Mittelmark, Teltow-Fläming sowie die beiden kreisfreien Städte Potsdam und Brandenburg an der Havel umfasst, deckt ungefähr 45 Prozent des Bundeslandes ab. Waren zur Neugründung im Februar 1990 ungefähr 300 Unternehmen Mitglied der Kammer, so vertritt die IHK Potsdam 25 Jahre später die Interessen von mehr als 75.000 Mitgliedsunternehmen. Ein Ausflug in die Geschichte sei hier erlaubt. Insgesamt blickt die IHK Potsdam auf eine mehr als 100-jährige Erfolgsgeschichte zurück. Als der Kaufmann Karl Blell im Dezember 1890 die Gründung einer Handelskammer für die Stadt Brandenburg an der Havel forderte, ahnte er wahrscheinlich nicht, was er damit initiiert hatte. Es folgten Jahre der Anträge und Erlasse mit 65
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viel Hin und Her zwischen Berlin und Brandenburg. Letztendlich war das Unterfangen von Erfolg gekrönt: Am 23. April 1898 erteilte der Minister für Handel und Gewerbe die Genehmigung zur Errichtung zweier Handelskammern mit den Sitzen in den Städten Brandenburg an der Havel und Potsdam, und im Oktober desselben Jahres konstituierten sich die beiden Kammern. Fortan wurde die wirtschaftliche Entwicklung der westlichen und nordwestlichen Kreise des Landes unterstützt. Mit den politischen Verhältnissen wandelten sich auch die inneren Strukturen, die Statuten und die gesellschaftliche Bedeutung der Kammer. Von Anfang an bewegten sie sich aufgrund ihrer Aufgaben in einem System zum Teil gegensätzlicher unternehmerischer Interessen. Die Unterschiede zwischen dem Ballungsgebiet Berlin mit seinem industriellen Umland und dem ländlichen Charakter der äußeren Kammergebiete bestimmten die Geschichte ebenso wie die wirtschaftliche Lage ihrer Mitglieder. Schlagkräftig und selbstbewusst Eine schlagkräftige, lebendige und selbstbewusste Organisation der Wirtschaft ist heute ebenso 66
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unverzichtbar wie zur Gründungszeit der IHK Potsdam. Sie bündelt unternehmerisches Denken und gemeinnütziges Engagement der Unternehmerinnen und Unternehmer, vertritt offensiv deren Interessen und vermittelt zwischen Konfliktpartnern. Eine der wichtigsten Aufgaben in der Zukunft wird es sein, die Rolle des Impulsgebers für Brandenburg zu sein, um die Rahmenbedingungen zur Verbesserung der Wirtschaft weiterhin zu optimieren. Weichenstellung unter neuen Vorzeichen Wo stehen wir heute? Insgesamt steht Brandenburg sehr gut da. Wir müssen dankbar sein für die Solidarität aus dem Westen, für den Aufbau Ost. Aber wir können auch zufrieden mit dem sein, was wir hier in Brandenburg gemeinsam aufgebaut haben. Der Aufholprozess gegenüber dem Westen ist allerdings noch längst nicht abgeschlossen, was insbesondere an der kleinteiligen Wirtschaftsstruktur liegt. Eine so hoffnungsverbreitende Arbeitslosenquote von unter neun Prozent haben wir uns bei dem holprigen Start nach 1990 nicht träumen lassen! Aber nicht nur den Status quo gilt es zu verbessern. Es sind Weichen
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zu stellen, um den neuen Herausforderungen aus den Megathemen demografischer Wandel, Fachkräftemangel, Digitalisierung und Globalisierung adäquat begegnen zu können. Die Wirtschaft in Brandenburg hat in den vergangenen 25 Jahren nach einem tiefgreifenden Strukturwandel einen enormen Aufschwung erlebt. Es sind starke wirtschaftliche Standorte entstanden, die auch international mitreden können. Zunehmend gefährden jedoch die Auswirkungen des demografischen Wandels den Erfolg. Die Bevölkerungszahlen in Brandenburg gehen insgesamt zurück. Bis zum Jahr 2030 wird infolge des Geburtendefizits mit einem Bevölkerungsrückgang um 250.000 auf 2,25 Millionen Menschen gerechnet. Der Rückgang wird von einer erheblichen Veränderung der Altersstruktur und einer veränderten Verteilung der Bevölkerung begleitet. Dies führt zu einer Zunahme der regionalen Unterschiede. Zwischen Prignitz und Fläming Zwischen Prignitz und Fläming liegen Regionen und Teilräume, die zu den am schnellsten wachsenden sowie zu den stark schrumpfenden Regionen Deutschlands gehören, nur wenige Kilometer auseinander.
In den vergangenen 25 Jahren hat vor allem der Zuzug junger Familien aus Berlin in die angrenzenden Brandenburger Städte und Gemeinden eine positive Entwicklung unterstützt. Dies ist in abgeschwächter Form auch in den kommenden Jahren zu erwarten. Allerdings konnten die Berlin-fernen Standorte von diesem Hauptstadt-Effekt nicht profitieren. Glück durch Zuwanderung Im Gegenteil, hier ist die deutsche Hauptstadt sehr oft das Ziel der Abwanderung insbesondere junger Menschen. Dies verstärkt die ohnehin vorhandenen Abwanderungstendenzen insbesondere in den ländlichen Regionen noch. So ist zu befürchten, dass der Konsum und die Nachfrage nach Gütern und Dienstleistungen durch die rückläufige Bevölkerungszahl insgesamt sinken, wobei auch hier erhebliche regionale Unterschiede zu erwarten sind. Die Anforderungen an Produkte und Dienstleistungen verändern sich, hier können sich neue Absatzmärkte entwickeln. Dieses Potenzial gilt es, in neue Produkte und Dienstleistungen umzusetzen. Weniger Personen im erwerbsfähigen Alter machen es zunehmend schwierig, Arbeitsplätze aus dem 67
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regionalen Arbeitskräftepotenzial heraus zu besetzen. Ein Mangel an Fachkräften wie an Ausbildungsstellen zeichnet sich bereits jetzt ab und wird noch zunehmen. Land, Städte und Gemeinden stehen vor der Herausforderung, ihre Infrastruktur anzupassen bzw. zu reduzieren und effizienter zu gestalten. Dies gilt umso mehr angesichts der sich abzeichnenden massenhaften Zuwanderung in Deutschland, die auch Brandenburg erreichen und bereichern wird. Der Angst vor Neuem und dem Widerstand gegen Fremdes entgegenzuwirken – hier kommt viel Arbeit auf uns alle zu. Hier brauchen wir jeden klugen Kopf und jede starke Hand, die das mit gestaltet. Neues bereichert das Leben Das, was viele von uns in den Jahren vor 1990 miterlebt haben, ist nicht im Ansatz zu vergleichen mit dem Terror und dem Elend, das heute Millionen Menschen widerfährt. Hilfe ist hier selbstverständlich und menschlich. Eines ist klar: Neues bereichert immer das Leben und die Gesellschaft. Und vielleicht haben wir in zehn Jahren einst von der Entvölkerung bedrohte Dörfer vor dem Verschwinden auf der Landkarte gerettet durch glückliche Famili 68
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en aus aller Welt. Die Vorstellung ist so verlockend, dass ich es gar nicht erwarten kann. Diesen Herausforderungen stellen wir uns in allen Bereichen des Wirtschaftslebens, um die in der Veränderung liegenden Chancen für die Entwicklung nutzen zu können. Die Wirtschaft hatte zwar schon Strategie- und Handlungsansätze für die Gestaltung des demografischen Wandels in den kommenden Jahren erarbeitet - diese „Völkerwanderung“ war in dem Maß allerdings nicht abzusehen. Auch für die Unternehmen – die jüngst eigene innovative Projekte zur Fachkräftegewinnung oder zum besseren Know-how-Transfer gestartet haben – versprechen wir uns maßgebliche Effekte. Die IHK Potsdam unterstützt die Betriebe mit neuen Weiterbildungs- und Qualifizierungsangeboten und mit der Gründung und Pflege von Netzwerken. Politik und öffentliche Verwaltung sind gleichermaßen aufgerufen, die Aktivitäten der Wirtschaft zu befördern. Allein die Bevölkerungszahlen sagen: Die Bereitstellung von Fachkräften kann nicht dem Selbstlauf überlassen werden. Deshalb müssen die Voraussetzungen für eine höhere Erwerbsbeteiligung von Frauen, älteren Menschen und Menschen mit
BEATE FERNENGEL l TRADITION UND CHANCEN
Behinderungen geschaffen werden. Wir wissen, alles dies wird nicht ausreichen. Ohne Zuwanderung wird es nicht gehen. In Brandenburg ist nur dann eine nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung mĂśglich, wenn sich alle Akteure gemeinsam diesen Herausforderungen stellen.
BEATE FERNENGEL ist Präsidentin der Industrie- und Handelskammer (IHK) Potsdam
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OLIVER HEINRICH l WAS UNS VERBINDET
WAS UNS VERBINDET Die industriepolitischen Herausforderungen Brandenburgs – Von Oliver Heinrich
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Jahre Industriepolitik Brandenburg, 125 Jahre IG BCE. Es gibt gute Argumente für eine Betrachtung von gemeinsamen Perspektiven und einer Weltoffenheit im Kopf. Dabei geht es vor allem um die Freude an einer gemeinsamen Entwicklung unseres Landes. Auch die ökonomische Werteordnung Brandenburgs lebt vom fairen Austausch von Fakten, partnerschaftlichen Prozessen zwischen Politik, Verwaltungen sowie den Wirtschafts- und Sozialpartnern, jedoch auch von basisorientierten Visionen. Wenn es uns gelingt, mit Weitblick und Engagement besonders mehr jüngere Menschen „hungrig“ auf ihre Region zu machen, dann hätten wir schon einen wichtigen Beitrag für Wirtschaft, Gesellschaft und dem Industriestandort Brandenburg geschaffen. Nicht nur Unternehmen sind gefordert, sich unter hohem Zeitdruck ständig neu zu erfinden. Die wirtschaftspolitische Herausforderung des Landes besteht
darin, die industrielle Basis weiter zu entwickeln und das Land noch stärker als einen Standort moderner, ökologisch orientierter und international wettbewerbsfähiger Industrie zu profilieren. Nach wie vor gibt es in Brandenburg zu wenige industrielle Betriebe und eine zu geringe industrielle Fertigungstiefe. Eine aktive Industriepolitik Die Verbesserung der Rahmenbedingungen für industrielle Produktion und Wertschöpfung ist ein wichtiges Element einer aktiven Industriepolitik des Landes in der aktuellen Legislaturperiode. Das fasste schon 2012 das Ministerium für Wirtschaft und Europaangelegenheiten zusammen und hob zugleich den Beleg für die Wettbewerbsfähigkeit der brandenburgischen Industrie hervor. Laut Amt für Statistik Berlin-Brandenburg erwirtschaftete die Brandenburger Industrie im Januar und Februar 2012 einen Umsatz von rund 3,5 71
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Milliarden Euro – 3,1 Prozent mehr als im Vergleichszeitraum des Vorjahres. Nur mit der Industrie Brandenburg setzt durch seine Industriepolitik beeindruckende Akzente. Globale Fragen wie der Klimawandel, die Ressourcenknappheit, die Digitalisierung der Wirtschaft und der demografische Wandel fordern auch von Brandenburg eine hohe Veränderungs- und Anpassungsbereitschaft, bieten zugleich aber auch große Chancen. Denn viele Folgen oder Begleiterscheinungen dieser Entwicklungen können nur zusammen mit der Industrie bewältigt werden. Diese kann mit ihren spezifischen Kompetenzen und ihrem innovativen Potenzial maßgeblich dazu beitragen, die großen Herausforderungen unserer Zeit erfolgreich zu meistern. Immerhin wurde Brandenburg bereits dreimal als dynamischste Wirtschaftsregion Deutschlands ausgezeichnet. Das Engagement vor Ort gewinnt immer mehr an Bedeutung, Jeder Standort muss seine Stärken erkennen und sie nutzen. Dabei achtet die Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie (IG BCE) darauf, dass der Mensch weiterhin im Mittelpunkt 72
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bleibt. Seit 125 Jahren erzielen wir damit große Erfolge bei Arbeitszeiten, Lohnerhöhungen, Arbeitsrecht, Urlaubstagen und Krankenschutz. Sichere Arbeitsplätze, eine starke betriebliche Mitbestimmung und eine faire tarifliche Entlohnung sind wichtige gesellschaftspolitische und soziale Errungenschaften, die gute Arbeit in Deutschland heute prägen und mit hoher sozialer Verantwortung einhergehen. Aktuelles Beispiel: Vor ein paar Wochen begrüßte IG BCE-Chef Michael Vassiliadis die energiepolitische Entscheidung der Koalitionsspitze. Nach langen und strittigen Debatten ist es gelungen, tragfähige Lösungen zu finden, die gut sind für das Klima, die Arbeitsplätze und die industriellen Standorte. Sie verbinden die Klima-Ziele der Bundesregierung mit ökonomischer Vernunft und sozialer Verantwortung. Das ist ausgewogen und verdient Respekt und Unterstützung. Vier Cluster in Brandenburg Für die Beschäftigten in der Energiewirtschaft ist auch die jetzige Entscheidung mit Härten verbunden. Allerdings gibt es nun die Chance, die schrittweise Stilllegung von wenigen Kraftwerken ohne Entlassungen in der Energiewirt-
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schaft sozialverträglich zu gestalten. Wichtig ist ferner, dass die Unternehmen Planungssicherheit erhalten und dass es zu keinen Strukturbrüchen in den Regionen kommt, die von der Braunkohle geprägt sind. Ein weiterer Schwerpunkt ist die Regionalisierung der Clusterpolitik. Als Flächenland steht Brandenburg bei der Umsetzung der Clusterstrategie vor besonderen Herausforderungen. In Brandenburg wurden vier Cluster identifiziert. Neben dem Tourismus sind dies die Industrie-Cluster Ernährungswirtschaft, Kunststoffe/Chemie und Metall. Was passiert in der Lausitz? Als neuer Landesbezirksleiter der IG BCE Nordost bin ich mit meinen 38 Jahren der jüngste Vertreter in diesem Amt. Ich bin in der Lausitz aufgewachsen, habe den massiven Personalabbau nach der Wende erlebt. Mein Heimatort Lauchhammer hat sich im Grunde bis heute nicht davon erholt. Natürlich fließen solche Erfahrungen in meine Arbeit mit ein. Die Gestaltung des Energiemarktes und die Zukunft unserer großen Energieregionen in Nordost werden weiter eine übergeordnete Rolle spielen. Es geht in den nächsten Jahren darum, wie
wir insbesondere die Lausitz und Mitteldeutschland als Industrieregionen für die kommenden Jahrzehnte und darüber hinaus weiterentwickeln und neue Arbeitsplätze schaffen können. Industriepolitisch bewegt mich die Frage der weiteren Tarifangleichung, zum Beispiel in der chemischen Industrie. Auch in anderen Branchen möchte ich in diesem Punkt Schritte nach vorn gehen. Ich nenne als Beispiele Papier, Kunststoff, feinkeramische Industrie. Es muss zudem darum gehen, wie wir den Anteil der Betriebe mit Betriebsratsstrukturen und Tarifbindung erhöhen können, der in Ostdeutschland immer noch viel zu gering ist. Wir müssen viel mehr Betriebe gewerkschaftlich organisieren. Tarifbindung lohnt sich auch für die Unternehmen: Tarifverträge erhöhen die Arbeitszufriedenheit, die Produktivität – das zeigen sämtliche Gutachten. Perspektive für Jung und Alt Ich sehe es als meine Aufgabe, generationenübergreifend zu wirken. Unsere Forderungen wie die nach der Schaffung altersgerechter Arbeitsplätze wirken sich schließlich auch auf die Perspektiven der jungen Menschen aus und erhö 73
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hen deren Übernahmechancen. Wir haben in Nordostdeutschland manche Regionen, die bereits jetzt überaltert sind, in denen praktisch eine Entvölkerung stattfindet. Wir werden in den nächsten Jahren Antworten finden müssen auf den demografischen Wandel – in den Betrieben, aber auch in den Regionen. Damit hängen Fragen wie die nach der Infrastruktur, der medizinischen Versorgung und mehr zusammen. In diesem Zusammenhang geht es auch darum, wie wir künftig die Flüchtlinge besser in unsere Regionen integrieren können. Ich kann zwar die Ängste vieler Menschen, auch unserer Mitglieder verstehen. Wir müssen uns aber entschieden gegen jeden Rechtsradikalismus stellen. Den Wandel gestalten Unser Slogan zum 125. Geburtstag der IG BCE lautet: „Hol Dir Dein Stück vom Kuchen!“ Damit wollen wir das, was unsere Mitglieder mit einer starken Gewerkschaft in den vergangenen 125 Jahren erreicht haben, zurück in die Köpfe bringen und mit den Beschäftigten ins Gespräch kommen. Wir sagen damit aber auch: Die Kollegen haben es in der Hand, für ihren Anteil gemeinsam zu kämpfen. 74
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Unsere Arbeitswelt ist gerade dabei, sich ähnlich rasant zu verändern wie zu Beginn der Industrialisierung. Wir wollen diesen Wandel mitgestalten. Themen wie Arbeitsverdichtung, psychische Belastungen, sicher auch die Vereinbarkeit von Beruf und Familie werden immer wichtiger. Als junger Familienvater mit drei Kindern erlebe ich auch persönlich ständig diese Herausforderung. Im aufrechten Gang Deshalb ist meine Botschaft: Gewerkschaftsmitgliedschaft soll attraktiv sein. Gemeinsam mit allen Mitgliedern, in Zusammenarbeit mit den Bezirken und mit meinem Team im Landesbezirk möchte ich zeigen, dass wir für alle Beschäftigtengruppen da sind – von der Produktion bis zu außertariflich Beschäftigten. Letztlich geht es darum, dass wir in den Betrieben weiter wachsen und gesellschaftspolitisch stark sind. Dafür brauchen wir die Beschäftigten und viele Mitglieder! Dafür möchte ich werben, dass wir alle gemeinsam in Brandenburg eine besondere Verantwortung haben und diese in aufrechter Gangart zeigen. In Zeiten des rasanten demografischen Wandel erfreuen mich besonders auch die „kleinen Schritte“ in
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Richtung zum hoffnungsvollen Slogan: „Brandenburg lebt!“ Dafür ist das Zusammenspiel der gewählten Vertreter, der Verwaltung, zwischen den Bürgern und der Wirtschaft vor Ort entscheidend. Wir haben ideenreiche und engagierte Menschen im Land. Vielerorts bilden sich Initiativen und Projekte, die beispielhafte Lösungen im Umgang mit dem demografischen Wandel gefunden und umgesetzt haben.
Industriepolitik, die darauf setzt – in Zukunft und für die Zukunft.
OLIVER HEINRICH ist Landesbezirksleiter der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie in Berlin, Brandenburg, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern.
Wie es gehen kann Zum Schluss ein Beispiel aus einer Kommune, wie demografischer Wandel er- und gelebt werden kann: Vor zehn Jahren gab es in Wittmannsdorf (Dahme-Spreewald) nur noch einen Jugendlichen. Der Kindergarten in dem 300-Seelen-Ort musste wegen Kindermangel geschlossen werden. Heute erfrischt dort wieder das Lachen von 45 Kindern die Gegend. Junge Familien haben sich angesiedelt, bauen Häuser, Kitas und Schulen. Viele von denen, die gingen, kamen wieder zurück. Die Älteren freut’s. Der Fußballverein zählt 120 Mitglieder und neue Jobs in einer Elektrofirma, in einem Agrarbetrieb und einer Tischlerei wurden geschaffen. Junge Brandenburger lieben ihre Heimat. Gefragt ist eine nachhaltige 75
IMPRESSUM
Herausgeber –– Klara Geywitz (V.i.S.d.P.), Klaus Ness –– SPD-Landesverband Brandenburg –– Wissenschaftsforum der Sozialdemokratie in Berlin, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern e.V. Die perspektive21 steht für die Gleichberechtigung von Frauen und Männern. Der besseren Lesbarkeit halber wurden an manchen Stellen im Text ausschließlich männliche oder weibliche Bezeichnungen verwendet. Diese Bezeichnungen stehen dann jeweils stellvertretend für beide Geschlechter. Redaktion Thomas Kralinski (Chefredakteur), Gerold Büchner, Robert Dambon, Ingo Decker, Dr. Tobias Dürr, Klaus Faber, Klara Geywitz, Lars Krumrey, Christian Maaß, Klaus Ness, Dr. Manja Schüle, Prof. John Siegel Anschrift Alleestraße 9 14469 Potsdam Telefon +49 (0) 331 730 980 00 Telefax +49 (0) 331 730 980 60 E-Mail perspektive-21@spd.de Internet www.perspektive21.de www.facebook.com/perspektive21 Druck Gieselmann GmbH, Potsdam Bezug Bestellen Sie Ihr kostenloses Abonnement direkt beim Herausgeber. Senden Sie uns eine E-Mail.
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Kinder? Kinder! Erneuerung aus eigner Kraft Ohne Moos nix los? Was nun Deutschland? Die neue SPD Chancen für Regionen Investitionen in Köpfe Auf dem Weg ins 21. Jahrhundert Brandenburg in Bewegung 10 Jahre Perspektive 21 Den Rechten keine Chance Energie und Klima Das rote Preußen Osteuropa und wir Bildung für alle Eine neue Wirtschaftsordnung? 1989 - 2009 20 Jahre SDP Gemeinsinn und Erneuerung
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Neue Chancen Zwanzig Jahre Brandenburg It’s the economy, stupid? Wie wollen wir leben? Geschichte, die nicht vergeht Engagement wagen Die Zukunft der Kommunen Die Zukunft der Medien Welche Hochschulen braucht das Land? Quo vadis Brandenburg? Sport frei! Wo es stinkt und kracht Wachsam bleiben Zwischen Erfolg und Niederlage Aufstieg organisieren Intelligent wirtschaften 25 Jahre Freiheit Brandenburg in guten Händen Ein Land, zwei Geschwindigkeiten?