Heft 65 l Mai 2016 l www.perspektive21.de
Brandenburgische Hefte für Wissenschaft und Politik
MAGAZIN Joanna Andrychowicz-Skrzeba und Bastian Sendhardt Säbelrasseln oder Umgestaltung? Frank-Walter Steinmeier „Fürchtet Euch nicht!“ Mathias Albert Generation im Aufbruch DAS STRASSENSCHILD Lars Krumrey Amadeu Antonio SCHWERPUNKT
EIN BÜNDNIS FÜR BRANDENBURG Wie Integration von Schutzsuchenden gelingen kann
Wolfgang Schroeder Die doppelte Integration Herfried Münkler Die Mitte und die Flüchtlingskrise Maja Wallstein & Eyrusalem Goitom Ideologie und Wirklichkeit Andreas Musil Integration durch Studium Ansgar Drücker Teil der realen Welt
VORWORT
A
m 17. Dezember des vergangenen Jahres starb vollkommen überraschend Klaus Ness. Er war zweifellos der maßgebliche Stratege der Brandenburger SPD und als solcher auch der Erfinder der Perspektive 21. Als Herausgeber hat er unsere Zeitschrift 18 Jahre lang maßgeblich geprägt. Klaus Ness hat dabei immer großen Wert darauf gelegt, dass dieses einmalige Politik-Magazin aktuelle Debatten führt, neue Themen aufspürt und spannende Diskussionen anregt. So ist die Perspektive 21 eine einzigartige Zeitschrift geworden, eine Zeitschrift, wie es sie in einem Bundesland kein zweites Mal gibt. Gerade weil Klaus Ness dieser Zeitschrift stets seinen Stempel aufgedrückt hat, wollen wir versuchen, die Perspektive 21 auch in seinem Sinne weiterzuführen. Das zentrale Thema, das Deutschland seit einem guten halben Jahr in Atem hält, ist die Flüchtlings- und Integrationspolitik. Sie steht auch im Mittelpunkt dieser Ausgabe der Perspektive 21. Ende 2015 hat – übrigens auf Anregung von Klaus Ness – unser Ministerpräsident Dietmar Woidke das „Bündnis für Brandenburg“ ins Leben gerufen. Ziel des Bündnisses ist es, in unserer Gesellschaft mehr Offenheit für Schutzsuchende und mehr Offenheit für ihre Integration erreichen, indem es auf die Vernetzung der unterschiedlichsten Akteure setzt. Die verschiedenen Facetten der Integration wollen wir in diesem Heft beleuchten. Besonders ans Herz legen möchten wir Ihnen dabei die Beiträge von Wolfgang Schroeder und Herfried Münkler. Sie beleuchten zum einen die verschiedenen Aspekte von Integration als auch die veränderte Rolle Deutschlands in Europa. Unser wichtigstes und größtes Partnerland im Osten ist Polen. In diesem Jahr wird der Deutsch-Polnische Nachbarschaftsvertrag 25 Jahre alt. Was in den vergangenen zweieinhalb Jahrzehnten an Vertrauen und Zusammenarbeit gewachsen ist, ist zweifellos ein Grund zu feiern. Die Herausforderungen der Zeit zeigen allerdings auch, dass Polen und Deutschland zwingend auf Kooperation angewiesen sind – unabhängig davon, welche Regierung gerade im Amt ist. Wir wünschen Ihnen eine spannende Lektüre. Klara Geywitz Thomas Kralinski Herausgeberin Chefredakteur
INHALT
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Säbelrasseln oder Umgestaltung? Polen nach den Parlamentswahlen 2015 von Joanna Andrychowicz-Skrzeba und Bastian Sendhardt
19 „Fürchtet euch nicht!“ Der deutsch-polnische Nachbarschaftsvertrag wird 25 Jahre alt von Frank-Walter Steinmeier
25 Generation im Aufbruch Was die 17. Shell-Jugendstudie über Deutschlands Jugendliche herausgefunden hat von Mathias Albert
DAS STRASSENSCHILD 41 Symbol für rechten Terror und Zivilgesellschaft Lars Krumrey über Amadeu Antonio
SCHWERPUNKT EIN BÜNDNIS FÜR BRANDENBURG WIE INTEGRATION VON SCHUTZSUCHENDEN GELINGEN KANN
45 Bündnis für Brandenburg
49 Die doppelte Integration Wie es mit vorsorgender Politik gelingen kann, die Herausforderungen der Migration zu bewältigen von Wolfgang Schroeder
59 Die Mitte und die Flüchtlingskrise Über Humanität, Geopolitik und innenpolitische Folgen der Aufnahmeentscheidung von Herfried Münkler
71 Ideologie und Wirklichkeit Zwei sehr persönliche Sichten auf die Flüchtlingsdebatte in Brandenburg von Maja Wallstein und Eyrusalem Goitum
77 Integration durch Studium Welche Beiträge die Hochschulen bei der Integration von Flüchtlingen leisten können von Andreas Musil
83 Teil der realen Welt Wie sich rechte Hetze gegen Geflüchtete (nicht nur) im Netz ausdrückt von Ansgar Drücker
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ANDRYCHOWICZ-SKRZEBA, SENDHARDT l SÄBELRASSELN ODER UMGESTALTUNG?
Säbelrasseln oder Umgestaltung? Polen nach den Parlamentswahlen 2015 – Von Joanna Andrychowicz-Skrzeba und Bastian Sendhardt Am Morgen nach den Parlamentswahlen vom 25. Oktober 2015 wachten die polnischen Bürgerinnen und Bürger in einem anderen Polen auf, einem Polen, in dem die nationalkonservative Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) eine Parlamentsmehrheit besitzt. Dieses neue Polen hatten sie selbst, genauer gesagt, die Hälfte von ihnen, gewählt – in demokratischen, fairen Wahlen, bei einer für polnische Verhältnisse passablen, wenngleich aus deutscher Perspektive vergleichsweise geringen Wahlbeteiligung von 51 Prozent. Dieses Wahlergebnis spiegelt nicht zuletzt einen deutlichen Rechtsruck der polnischen Gesellschaft wider, der sich nun auch in der Politik niedergeschlagen hat. Ein zentraler Grund dieser Entwicklung ist die zunehmende Unzufriedenheit weiter Teile der polnischen Gesellschaft mit ihrer derzeitigen wirtschaftlichen und sozialen Situation. Dies mag auf den ersten Blick verwundern, deuten doch die makroökonomischen Daten auf eine positive Entwicklung in den vergangenen acht Jahren der Bürgerplattform-Regierung hin. So kam Polen vergleichsweise glimpflich durch die Wirtschafts- und Finanzkrise hindurch, verzeichnet eine Arbeitslosigkeit von lediglich 9,7 Prozent sowie ein Wirtschaftswachstum von über 3 Prozent. Gleichzeitig kämpft die polnische Gesellschaft mit einer hohen Jugendarbeitslosigkeit von 21 Prozent und den sogenannten „Müllverträgen“, also Beschäftigungsverhältnisse, die nicht dem Arbeitsrecht unterliegen, jederzeit kündbar sind und keinen Sozial- oder Krankenversicherungsschutz bieten. Ihr Anteil liegt bei über 25 Prozent der Beschäftigungsverhältnisse. Hinzu kam das Gefühl eines Teils der Bevölkerung, an dem Wirtschaftsaufschwung nicht teilzuhaben und abgehängt zu werden. Während es 7
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der bis Oktober regierenden Bürgerplattform (PO) nicht gelang, auf diese Entwicklung zu reagieren, bediente die PiS die steigende Unzufriedenheit mit teils populistischen, auf jeden Fall aber sozialpolitisch ambitionierten Wahlversprechen. Diese Veränderungen in der polnischen Gesellschaft und der politischen Szene zeichneten sich spätestens seit den Umfragen im Juni 2014 ab, als die bis dahin regierende liberal-konservative PO gegenüber der größten Oppositionspartei, der national-konservativen PiS, zu schwächeln begann. In den darauffolgenden Monaten verfestigte sich diese Tendenz und führte zu dem unerwarteten Sieg von Andrzej Duda (PiS) bei den Präsidentschaftswahlen im Mai 2015 und letztlich zum überragenden Erfolg der PiS bei den wichtigsten Wahlen – den Parlamentswahlen. Parlament ohne Linke Die Ergebnisse des Wahlabends waren nach den Prognosen der Vorwochen zwar keine große Überraschung, dennoch kam das Ergebnis einem politischen Erdbeben gleich. Mit rund 37,5 Prozent errang PiS einen deutlichen Sieg und ist die erste Partei, die nach 1989 allein regiert. Die PO erlitt eine schmerzvolle Niederlage, bleibt aber ein wichtiger Akteur. Ihr Koalitionspartner, die Bauernpartei PSL, büßte ebenfalls Stimmen ein und meisterte mit Ach und Krach (5,1 Prozent) die Fünf-Prozent-Hürde. Eine Überraschung waren zwei neue Kräfte im Sejm, die beide anlässlich der Präsidentschaftswahlen im Mai 2015 entstanden waren. Das Komitee Kukiz’15 des Rockmusikers Paweł Kukiz ist eine konservative, gegen das Establishment gerichtete Bewegung ohne feste Strukturen und Programm, die unter anderem Vertretern der rechtsradikalen Nationalen Bewegung (Ruch Narodowy) ins Parlament half. Kukiz hat der neuen Regierung bereits seine partielle Unterstützung bei Gesetzesvorhaben versichert, zudem würde er wohl eine Verfassungsänderung unterstützen, wenngleich die beiden Parteien bislang nicht über die hierfür notwendige Zweidrittelmehrheit verfügen. Die zweite neue Kraft im polnischen Sejm ist die Partei des Ökonomen Ryszard Petru – die wirtschaftsliberale Nowoczesna – eine junge, energische Partei für Erfolgsmenschen. Sie erwies sich als Alternative zu der an Attraktivität immer stärker einbüßenden PO und konnte Teile deren Wähler für sich gewinnen. Denkbar knapp verpasst den Einzug ins polnische Parla 8
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ment die fremdenfeindliche Partei KORWiN von Janusz Korwin-Mikke, die im Wahlkampf vor allem auf Anti-Immigrations-Rhetorik gesetzt hatte. Sie kam auf 4,8 Prozent. Ebenfalls nicht in den Sejm schaffte es die Vereinigte Linke (Zjednoczona Lewica – eine Koalition unter anderem aus SLD, Twój Ruch und den Grünen), die nicht die für eine Wahlkoalition erforderlichen 8 Prozent erreichte. Letztlich fehlte ihr ein halbes Prozent. Einen Achtungserfolg von über 3 Prozent erreichte Razem (Zusammen), eine neu gegründete und von jungen Aktivisten repräsentierte Partei mit sozialdemokratischem Programm. Razem war bis fünf Tage vor der Wahl medial kaum in Erscheinung getreten, gab dann aber in der TV-Debatte ein sehr gutes Bild ab. Insbesondere der inoffizielle Kopf der Partei, Adrian Zandberg, vermochte es, die Aufmerksamkeit der Medien auf Razem zu lenken. Insgesamt ist der neue Sejm deutlich nach rechts gerückt und steht erstmals seit 1989 ohne parlamentarische Linke da. Nach acht Jahren sind die Polen nun also der PO-Regierung überdrüssig geworden. Die Partei hatte sich zunehmend von den Bürgern entfernt und wurde bisweilen als arrogant wahrgenommen. Zudem führte die Partei einen schwachen Wahlkampf, in der ihr die PiS stets einen Schritt voraus schien. Seit den Präsidentschaftswahlen schwamm Recht und Gerechtigkeit auf einer Welle des Erfolgs, die sie bis zu den Wahlen im Oktober zu nutzen wusste. Zudem verstand es die PiS, die Bedürfnisse der Gesellschaft aufzugreifen, von der große Teile sich vom wirtschaftlichen Aufschwung des Landes ausgeschlossen fühlten. Erdbeben in der politischen Szene Die PiS bot demgegenüber ein ganzes Spektrum sozialer Annehmlichkeiten, angefangen von der Senkung des Renteneintrittsalters, über die Einführung eines Kindergeldes bis hin zur zusätzlichen Besteuerung von Banken und großen Supermarktketten. Der mehrmonatige Rückzug des Parteivorsitzenden Jarosław Kaczyn´ski und seiner engsten Mitarbeiter aus dem Rampenlicht ermöglichte es, ein gemäßigtes und verjüngtes Gesicht der Partei zu zeigen – mit neuen Führungspersönlichkeiten: Staatspräsident Duda und Beata Szydło als Kandidatin für das Amt der Ministerpräsidentin. Während es bei früheren Wahlen für die Wählerschaft der PO 9
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keine wirkliche Alternative gab, konnte die Bürgerplattform diesmal nicht als Anti-PiS, und damit als das kleinere Übel, punkten. Bei diesen Wahlen tauchten Alternativen auf (das neue Gesicht der PiS, KUKIZ’15, Nowoczesna, Razem) und erschütterten die politische Szene Polens. Die PO verlor überall dort, wo sie noch bei den vorherigen Wahlen gut dagestanden hatte. Und das nicht nur geografisch gesehen. Waren 2011 noch elf Woiwodschaften sichere Bastionen gewesen, so blieb davon bei diesen Wahlen nur noch eine erhalten. Menschen aller Altersgruppen wandten sich von der PO ab und der PiS zu. Dabei war die PO bis vor Kurzem unter den jungen Menschen noch die dominierende Kraft gewesen. Die jüngsten jedoch erinnern sich nicht mehr an die Regierungszeit der PiS in den Jahren 2005–2007. Somit lief die Taktik der PO, die PiS als Schreckgespenst darzustellen, ins Leere. Überdies, und das war wohl am schmerzhaftesten für diese Partei, wandten sich von der PO die gut ausgebildeten Menschen in den großen Städten ab. Die PO erlitt eine Niederlage auf der ganzen Linie. Im Wahlkampf konzentrierten sich die Parteien statt auf programmatische Inhalte vor allem auf das Austeilen persönlicher Hiebe, was zu einer Trivialisierung und Infantilisierung der gesamten Kampagne führte. Vor diesem Hintergrund wurde die moralische Erneuerung der Eliten in den Raum gestellt. Viele Polen kamen darüber zu dem Schluss, dass eine solche Erneuerung nur mit der PiS möglich sei. Wahlkampf ohne Außenpolitik Der zweite Stützpfeiler des Wahlkampfs waren wirtschafts- und sozialpolitische Themen. Die Frage nach der Finanzierung einer solchen Politik stellten die wenigsten. Die Außenpolitik blieb außen vor, die Ukraine wurde vergessen und über NATO-Basen weitgehend geschwiegen. Nur einen Moment lang führte, hervorgerufen durch den EU-Gipfel zur Flüchtlingskrise im September, die Frage über die Verteilung der Flüchtlinge zwischen den EU-Staaten zu Auseinandersetzungen. Die polnischen Parteien behandelten das Thema anfangs wie ein heißes Eisen aus Angst, die gesellschaftlichen Stimmungen nicht zu treffen. Erst als sie diese erfasst hatten, gelang es der PiS, Janusz Korwin-Mikke und Paweł Kukiz, einen Teil der Wähler mit radikaler Anti-Immigrations-Rhetorik „einzufangen“. 10
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Bei den Wahlen zum polnischen Parlament traten zwei Formationen an, die sich selbst im linken bzw. sozialdemokratischen Spektrum verorten. Dies war einerseits das vom Bund der Demokratischen Linken (Sojusz Lewicy Demokratycznej, SLD), Twój Ruch (Deine Bewegung, TR), den Grünen sowie der Arbeitsunion (Unia Pracy, UP) und der Polnischen Sozialistischen Partei (Polska Partia Socjalistyczna, PPS) gebildete Wahlbündnis Vereinigte Linke (Zjednocznona Lewica). Auf der anderen Seite trat die neugegründete Formation Razem (Zusammen) erstmals bei den Sejm-Wahlen an. Beide Parteien verpassten den Einzug in den Sejm. Katerstimmung und Jubel Für die Vereinigte Linke endete die Parlamentswahl mit einer herben Niederlage. Zwar stellt das Ergebnis eine Niederlage für die politische Linke insgesamt dar, allerdings ist es auch symptomatisch für den politischen Abstieg des SLD, der 1993 bis 1997 sowie 2001 bis 2005 noch die Regierung anführte. Einen Tiefpunkt hatte der SLD bereits bei den Präsidentschaftswahlen im Mai dieses Jahres erreicht, als die Kandidaten des Linksbundes, Magdalena Ogórek, gerade einmal 2,5 Prozent der Stimmen erhielt. Große Teile der Kernwählerschaft wie auch der Partei, die auf eine Neuausrichtung des Linksbündnisses gehofft hatten, begannen sich ab diesem Zeitpunkt abzuwenden. Die negative Entwicklung der Partei machten sie vor allem am Parteichef und früheren Premier Leszek Miller fest. Dieser zog jedoch keine personellen Konsequenzen aus der anhaltenden Misere in den Umfragen und verblieb an der Spitze des SLD. Noch im Sommer lag die Partei bei Umfragen bei unter 4 Prozent. Erst in dieser Situation konnte sich der SLD zur Zusammenarbeit mit Twój Ruch durchringen, ein Schritt, den die Partei zuvor lange Zeit ausgeschlossen hatte. So gründete man am 21. Juli die Vereinigte Linke, ließ sich mit der Auswahl der Spitzenkandidatin Barbara Nowacka bis zum September Zeit. Somit blieben der Mitvorsitzenden von Twój Ruch nur noch wenige Wochen für den Wahlkampf. Gleichwohl gelang es der 40-Jährigen, verlorenen Boden gut zu machen. Eine Woche vor der Wahl lag die Vereinigte Linke in den Umfragen zwischen 4 und 13 Prozent, verpasste den Einzug ins Parlament aber dennoch. Letztlich erwiesen sich die Altlasten des SLD als folgenschwerer Ballast beim Neustart als Vereinigte Linke. 11
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Aktuell steht die Partei vor einem Scherbenhaufen, ihre Zukunft ist ungewiss. Zwar kündigte Miller kurz nach den Wahlen seinen Abschied aus der aktiven Politik an, allerdings könnte sich dieser Prozess über Monate hinziehen, eine Perspektive, die gerade für die jüngeren SLD-Politiker kaum akzeptabel sein dürfte. Hoffnungsträger der Linken, wie etwa der ehemalige Sejm-Abgeordnete von Twój Ruch und jetzige Bürgermeister von Słupsk, Robert Biedron´, werfen dem SLD vor, die sozial benachteiligten Bevölkerungskreise vernachlässigt zu haben. Erst so sei der Erfolg der PiS möglich geworden, da die Kaczyn´ski-Partei auf einem Terrain punkten konnte, das traditionell zur Kernkompetenz der Sozialdemokratie zählen sollte: der Sozialpolitik. Dass die Vereinigte Linke von der Thematisierung sozialpolitischer Inhalte während des Wahlkampfes kaum profitieren konnte, deutet nicht zuletzt auf einen Glaubwürdigkeitsverlust des SLD gegenüber der Wählerschaft hin. Als glaubwürdige sozialdemokratische Alternative nahmen insbesondere junge Wähler des linken Spektrums die Mitte 2015 gegründete Partei Razem war. Nachdem der Partei bereits mit der Sammlung der notwendigen Unterschriften, um bei der Sejmwahl antreten zu können, ein erster Achtungserfolg gelungen war, kommt das Wahlergebnis einer kleinen Sensation gleich. Zwar verpasst Razem mit 3,6 Prozent klar den Einzug ins Parlament, gleichzeitig konnte die Partei sich jedoch die staatliche Finanzierung für die kommenden vier Jahre sichern und sich nachhaltig in der politischen Szene des Landes bemerkbar machen. Eine neue Linke am Horizont? Razem besteht vor allem aus jungen gesellschaftlichen Aktivisten, die bisher kaum über politische Erfahrung verfügen. Zu den Wahlen trat die Partei mit einem sozialdemokratisch ausgerichteten Programm an, distanzierte sich jedoch ausdrücklich vom SLD, insbesondere von dessen post-kommunistischen Funktionären. Für die außerparlamentarische Arbeit scheint die in zahlreichen zivilgesellschaftlichen Organisationen vernetzte Partei gut gerüstet, jedoch werden erst die kommenden Monate zeigen, ob Razem eine echte politische Alternative im progressiven Spektrum wird, die das Vertrauen der Polen gewinnen kann. 12
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Während sich die politische Linke nach den Wahlen außerhalb des Sejm wiederfand, befindet sich die PiS nach ihrem Wahltriumph in einer äußerst komfortablen Situation: Nach dem Präsidentenamt konnte sie nun auch die absolute Mehrheit im Sejm erringen. Als alleinregierende Partei musste sie sich zudem nicht über eine Koalition verständigen und konnte somit schnell zur Regierungsbildung übergehen. Die Besetzung des Kabinetts erklärte Parteichef Jarosław Kaczyn´ski kurzerhand zur Chefsache. Die designierte Premierministerin Beata Szydło nahm auf die Besetzung des Kabinetts keinen entscheidenden Einfluss, angeblich wurde sie während der Verhandlungen in den Urlaub geschickt. Die bis vor Kurzem noch weitgehend unbekannte Sejm-Abgeordnete steht nun einer Regierung vor, an deren Zusammenstellung sie kaum Anteil hatte. Unter den Ministern der neuen PiS-Regierung befinden sich etliche konservative Hardliner. Auf dem Gipfel der Macht Zu dieser Gruppe zählt etwa der neue Verteidigungsminister Antoni Macierewicz, der dem radikalen Flügel der PiS zuzurechnen ist und als einer der engsten Vertrauten Kaczyn´skis gilt. Macierewicz gilt als Verfechter der Theorie, dass der Flugzeugabsturz des damaligen Präsidenten Lech Kaczyn´ski im Jahre 2010 in Smolen´sk Folge eines Bombenanschlags war. In diesem Zusammenhang warf er dem früheren Premier Donald Tusk vor, ein Mordkomplott gegen den Präsidenten geschmiedet zu haben. In der polnischen Gesellschaft gehört Macierewicz zu den umstrittensten Politikern. Nicht zuletzt deshalb hielt ihn die Partei während des Wahlkampfes im Hintergrund. Neuer Chef des Justizministeriums ist Zbigniew Ziobro, der 2011 aus der PiS ausgeschlossen wurde und nun als Chef der Splitterpartei Solidarna Polska (Solidarisches Polen) ein Wahlbündnis mit der PiS eingegangen ist. Ziobro will sein Amt mit dem des Generalstaatsanwalts verschmelzen, wie dies in Polen bereits bis 2010 der Fall war. Einige politische Beobachter sehen aus diesem Grund die Trennung zwischen Politik und Justiz in Gefahr. Aus deutscher Perspektive ist zudem die Besetzung des Außenministeriums von Interesse. Neuer Chef der polnischen Diplomatie ist Witold Waszczykowski. Der neue Außenminister setzt vor allem auf die USA als wichtigsten Partner Polens und setzt sich für eine Stationierung von 13
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NATO-Truppen in Polen ein. Nach den Anschlägen in Paris brachte er die Aufstellung einer syrischen Armee bestehend aus Flüchtlingen ins Spiel. Selbst der als vergleichsweise moderat geltende Minister für europäische Angelegenheiten, Konrad Szyman´ski, stellte die bereits eingegangene Zusage der Aufnahme von 7.000 syrischen Flüchtlingen und damit Polens Haltung zur derzeit größten Herausforderung innerhalb der EU in Frage. Der stellvertretende Premier und Minister für Kultur und nationales Erbe, Piotr Glin´ski, kündigte eine Umgestaltung der öffentlich-rechtlichen Medien in nationale Kulturinstitute an und fiel zuletzt in einer Fernseh-Talkshow aus der Rolle, als er der hart nachfragenden Journalistin vorwarf ein „Propagandaprogramm“ zu moderieren. Weitere Mitglieder der Regierung sind die Kaczyn´ski-Vertrauten Mariusz Błaszczak als Innenminister und Krzysztof Tchórzewski im Bereich Energie. Kostspielige Wahlversprechen Beata Szydło kann innerhalb der Partei auf keine feste Unterstützergruppe setzen und ist daher vor allem Kaczyn´ski abhängig. Dass sich dieser darauf versteht mit parteieigenen Premiers kurzen Prozess zu machen, bewies er bereits 2006, als er den damaligen Premier Kazimierz Marcinkiewicz kurzerhand demontierte und anschließend dessen Nachfolge selbst antrat. Eine solche Situation könnte schneller eintreten als erwartet. Spätestens im kommenden Frühjahr wird die Regierung Szydło die kostspieligen Wahlversprechen, die sie im Rahmen ihrer Regierungserklärung noch einmal bestätigt hat, umsetzen müssen. Jarosław Kaczyn´ski, der ohne Verfassungsauftrag bereits jetzt stärkster Mann im Staat zu sein scheint, könnte dann wieder selbst in die politische Verantwortung treten. Die PiS muss damit beginnen, die zahlreichen Versprechen aus dem Wahlkampf einzulösen. Ob der Haushaltsplan das zulässt, wird sich in den kommenden Monaten und Jahren zeigen. Zunächst kündigt die Partei, wie Ministerpräsidentin Beata Szydło in der Regierungserklärung vom 18. November wiederholt hat, unter anderem die Einführung eines Kindergeldes von ca. 120 Euro ab dem zweiten Kind, die Absenkung des Rentenalters sowie die Anhebung des Steuerfreibetrags und des Mindestlohns an. In Planung sind auch entschiedene Reformen unter 14
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anderem im Bereich der Gerichtsbarkeit und der öffentlichen Medien oder solche werden bereits durchgeführt. Die Außenpolitik wurde von Ministerpräsidentin Szydło in der Regierungserklärung stiefmütterlich behandelt. Sie bildete den Schlusspunkt ihres Auftritts und nahm nur sehr wenig Raum ein. Die Ministerpräsidentin betonte die Bedeutung der Zusammenarbeit Polens mit den USA, die Stärkung der Ostflanke der NATO, die Energieversorgungssicherheit und den Kontakt mit den Auslandspolen. Auf die Ukraine, Russland oder Syrien ging sie nicht ein. Bezüglich der Flüchtlingskrise sprach sie sich gegen den „Export von Problemen“ einiger EU-Länder in andere aus und erteilte den Deutschen damit einen Seitenhieb. In der Außenpolitik und den deutsch-polnischen Beziehungen sind zwei Entwicklungsszenarien denkbar. Das pessimistische Szenario kommt zu einer Rückkehr zu den Auseinandersetzungen zwischen Deutschland und Polen, Russland und Polen sowie der EU und Polen, was zu einer Isolierung Polens auf internationaler und vor allem europäischer Ebene führen würde. Das positive Szenario geht von einer weitgehenden Fortsetzung der Politik der PO aus. Die bilateralen deutsch-polnischen Beziehungen und die geopolitische Situation haben sich in den vergangenen Jahren nämlich verändert. Erika Steinbach stellt mit der Eröffnung eines „Zentrums gegen Vertreibungen“ keine Bedrohung mehr dar, denn die Entscheidung über dessen Bau ist bereits vor langer Zeit getroffen worden und das Projekt bereits in der Umsetzung. Eine neue Rhetorik Die aus polnischer Sicht kontroverse Nord-Stream-Erdgaspipeline ist bereits seit vier Jahren in Betrieb. Deutschland ist zu einem strategischen Partner für Polen geworden, nicht nur in wirtschaftlicher, sondern auch in politischer Hinsicht. Auch die EU steht vor neuen Herausforderungen. Die PiS-Regierung ist sich sicherlich dessen bewusst, dass sie viele Projekte, die für sie Priorität haben, nur auf der Grundlage guter Beziehungen zwischen Berlin und Warschau durchsetzen kann. Es lässt sich nicht abstreiten, dass neue Streitpunkte auftreten werden, wie die Klima- und Energiepolitik, die Flüchtlingskrise oder auch der seit Kurzem vorangetriebene Bau eines zweiten Strangs der Nord-Stream-Erdgaspipeline zwischen Russland und 15
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Deutschland, die aus polnischer Perspektive eine Bedrohung für die Energieversorgungssicherheit Polens darstellt. Die Verhandlungen über diese Themen wären jedoch unabhängig von der Zusammensetzung der polnischen Regierung schwierig. Verändern wird sich sicherlich die bisher gemäßigte Rhetorik. Schließlich kündigte Staatspräsident Duda ein entschiedeneres Eintreten für die Interessen Polens und eine lautere Artikulation von dessen Stimme an. Auch von einigen PiS-Politikern waren in den letzten Tagen schärfere Töne vernehmbar. Die neue Regierung unter Beata Szydło wie auch Staatspräsident Andrzej Duda werden sich um den Bau dauerhafter NATO-Basen oder zumindest um eine stärkere Präsenz der NATO auf polnischem Gebiet und in den baltischen Ländern bemühen. Das jedoch ist nicht neu, denn einen ähnlichen Standpunkt vertrat auch die PO. Die PiS deutete bereits an, dass sie in der Flüchtlingspolitik einen entschlossenen Standpunkt vertreten wird, was jedoch, wenn man die negative Einstellung eines großen Teils der Bevölkerung betrachtet, mit hoher Wahrscheinlichkeit, zumindest teilweise, auch bei der PO der Fall gewesen wäre. Wie geht es weiter? Die Regierungsübernahme der PiS ging alles andere als geräuschlos vonstatten. Kaum ein Tag vergeht, ohne dass die liberalen Medien des Landes neue Hiobsbotschaften aus der PiS-Regierung melden. Sei es die Begnadigung des wegen illegaler Ermittlungspraktiken, allerdings nicht rechtskräftig, verurteilten neuen Geheimdienstkoordinators Mariusz Kamiski durch Präsident Andrzej Duda oder die bereits zuvor erwähnten Einlassungen verschiedener Minister zum Thema Flüchtlingspolitik. Ob es sich hierbei lediglich um politisches Säbelrasseln oder die Anfänge einer Umgestaltung Polens nach ungarischem Vorbild handelt, ist weiterhin ungewiss. Allerdings scheinen diejenigen Stimmen, die PiS während des Wahlkampfes als eine neue moderatere Partei einstuften, eines besseren belehrt worden zu sein. Laut einer Umfrage sehen 55 Prozent der Polen die Demokratie in ihrem Land in Gefahr, in den größeren Städten sind es sogar bis zu 70 Prozent. Währenddessen befindet sich die Opposition in einem Prozess der Neuformierung. Die PO muss sich nach acht Jahren an der Regierung erst 16
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noch an ihre neue Rolle als Oppositionsführerin gewöhnen. Im stark rechts ausgerichteten Sejm muss sie sich um ein klares Profil als Markenzeichen für die nächsten Wahlen bemühen. Beliebige Kritik an der PiS allein reicht nicht aus. Es wird nötig sein, konstruktive Kritik zu üben und in Schlüsselmomenten den Wählern „auf den Zahn zu fühlen“. Doch momentan steht der PO die innerparteiliche Wahl eines Vorsitzenden bevor und damit ein Machtkampf zwischen zwei Konfliktparteien mit dem Lager um Donald Tusk auf der einen Seite und dem des ehemaligen Außenministers Grzegorz Schetyna auf der anderen. Die ehemalige Ministerpräsidentin Ewa Kopacz entschied sich nach der Niederlage bei der Wahl zur Fraktionsvorsitzenden dazu, bei der Wahl um den Parteivorsitz nicht anzutreten. In dieses Vakuum konnte die neue liberale Partei Nowoczesna vorstoßen, die sich anschickt, der PO den Rang abzulaufen. In den jüngsten Umfragen nimmt die Partei um Ryszard Petru mit 23 Prozent bereits den zweiten Platz hinter der PiS mit 35 Prozent und vor der Bürgerplattform mit 15 Prozent ein. Die Linke hingegen wird sich außerhalb des Parlaments neu finden müssen. Ihr bleiben nun vier Jahre Zeit, um bei den nächsten Wahlen wieder eine ernstzunehmende Alternative zu sein.
JOANNA ANDRYCHOWICZ-SKRZEBA UND BASTIAN SENDHARDT sind wissenschaftliche Mitarbeiter in der Friedrich-Ebert-Stiftung in Warschau.
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FRANK-WALTER STEINMEIER l „FÜRCHTET EUCH NICHT!“
„Fürchtet euch nicht!“ Der deutsch-polnische Nachbarschaftsvertrag wird 25 Jahre alt – Von Frank-Walter Steinmeier Die ersten Schritte auf dem langen Weg zur deutsch-polnischen Freundschaft wurden barfuß zurückgelegt. Vor über eintausend Jahren macht sich Kaiser Otto III. auf den Weg von Rom nach Gnesen. Er will das Grab seines väterlichen Freundes Adalbert aufsuchen. Gleich hinter der böhmischen Grenze, am Ufer des Flusses Bober, empfängt ihn Herzog Boleslaw von Polen. Otto erkennt in ihm einen Ebenbürtigen und setzt ihm zum Zeichen der Freundschaft seine eigene Kaiserkrone auf. Mit allen Ehren und großem Tamtam geleitet Boleslaw den Kaiser nach Gnesen. Doch auf dem letzten Wegstück zieht Otto seine Schuhe aus. Er kommt in die Stadt seines neuen Freundes und an das Grab seines Mentors nicht als Herrscher, sondern als einfacher Pilger – als Mensch. So beginnt der lange, schicksalhafte Weg der deutsch-polnischen Beziehungen. Er ist und bleibt nicht in erster Linie ein politischer Weg – Regierungen kommen und Regierungen gehen – sondern der Weg zweier Völker. Durch dunkle Täler Unser Weg durch die Jahrhunderte war gewiss kein sonniger, sondern er sollte durch dunkelste Täler führen und an den Tiefpunkt der Menschheitsverbrechen, die Deutsche in und an Polen verübt haben. Umso erstaunlicher ist es aber – im Grunde fast ein Wunder –, wohin uns dieser Weg tausend Jahre nach den ersten Schritten geführt hat: zu einer festen Freundschaft in einem vereinten Europa. 25 Jahre wird der Deutsch-Polnische Nachbarschaftsvertrag in diesem Jahr, sie sind allemal Grund zum Feiern. Da der deutsch-polnische Weg immer ein Weg von Menschen war, sollten wir uns auch in diesem Jubiläumsjahr als Menschen begegnen – ehrlich, ohne politische Floskeln – „barfuß“ sozusagen. Und wenn wir ehrlich
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miteinander reden, dann müssen wir sagen: Ja, der 25. Jahrestag ist Grund zum Feiern, aber er fällt in äußerst bedrohliche Zeiten! Bedroht fühlen sich in diesen Zeiten viele Polen und ebenso viele Deutsche. Gründe gibt es leider genug: • Die internationalen Krisen überschlagen sich: Syrien, Irak, Libyen – und in direkter Nachbarschaft Polens: die Ukraine. • Die Krisen rücken nicht nur näher an Europa heran, sondern sie sind mitten unter uns angekommen: in Gestalt der Tausenden Flüchtlinge, die bei uns in Europa Zuflucht suchen vor Krieg und Gewalt. • Der menschenverachtende Terror des „Islamischen Staates“ plagt nicht nur den Mittleren Osten, sondern er hat auch im Herzen Europas zugeschlagen. • Fortschreitende Globalisierung, gefühlte Entgrenzung und sogar die Integration Europas: viele Menschen in Polen und in Deutschland empfinden all das nicht als Verheißung, sondern als Bedrohung. • Die gewachsene europäische Friedensordnung, gegründet auf der Helsinki-Schlussakte von 1975 und der Paris-Charta von 1990, ist mit der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim durch Russland infrage gestellt. All das löst bei vielen Polen und Deutschen Ängste aus. Und die meisten dieser Ängste teilen Polen und Deutsche. Sie bestehen gleichzeitig. Es sind Geographie und geschichtliche Erfahrungen, die manchmal die Gewichtung etwas unterschiedlich ausfallen lassen. Wo das der Fall ist, wie gelegentlich bei der Frage des Umgangs mit Russland, müssen wir reden. Wichtig ist, dass wir uns gegenseitig ernstnehmen. Weder die einen noch die anderen Bedrohungsgefühle sind mehr oder weniger berechtigt. Die Frage ist nur: Wie reagieren wir darauf? Ohne Make-up Noch etwas anderes geschieht gerade. Zeiten der Bedrohung sind Zeiten von „identity politics“. Die Menschen werden zurückgeworfen auf existenzielle Fragen: Wer sind wir? Und wer sind die Anderen? Gerade jetzt im Angesicht von Flüchtlingen und Neuankömmlingen, fragen die Menschen: Wer sind wir als Polen? Als Deutsche? Als Europäer? Natürlich treten da Unterschiede zu Tage, auch unterschiedliche Erwartungen an Europa. Dies 20
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FRANK-WALTER STEINMEIER l „FÜRCHTET EUCH NICHT!“
sind Zeiten ohne Make-up. Wir stehen, um im Bild zu bleiben, einander barfuß gegenüber. Deshalb ist dieser 25-jährige Jahrestag nicht nur eine Feierstunde. Er ist auch eine Reifeprüfung der deutsch-polnischen Freundschaft. Vieles hängt von unseren Antworten ab. Die deutsch-polnischen Beziehungen haben nicht nur eine große Höhe erreicht, sie haben auch eine große Fallhöhe erreicht. Für unsere beiden Länder selbst, aber auch für Europa insgesamt. Deshalb spreche ich von der „deutsch-polnischen Verantwortungsgemeinschaft“. Die Menschen schauen zur Politik und erwarten Antworten: nicht nur technische Antworten, Maßnahmen, „Policies“. Sondern Identität, Selbst-Vergewisserung, Rückversicherung. Und wieder stellt sich die Frage: Wie antworten wir? Angst ist ein schlechter Ratgeber Manche Leute haben ganz einfache Antworten parat: Abschotten, Abgrenzen, Einigeln! Das ist die einfachste Art, die eigene Identität zu stärken: durch Feindbilder und Misstrauen gegen andere. Es gibt solche Stimmen, leider auch unter Deutschen und Polen. Aber es gibt sie auch bei unseren Nachbarn in Europa oder in Amerika bei Donald Trump. Ich kann nur warnen vor der Politik der Angst! Angst ist ein wichtiger menschlicher Reflex. Aber Angst ist ein schlechter Ratgeber! In der Politik genau wie im eigenen Leben. Ich will stattdessen an einen anderen, einen ganz einfachen Satz erinnern, der in Polen einen besonderen Klang hat: „Fürchtet Euch nicht!“ Mit dieser Losung bestieg Karol Wojtyla vor fast vierzig Jahren den Heiligen Stuhl. Wenig später reiste der Papst in seine polnische Heimat. Er sprach in Warschau. Und er sprach in Gnesen, jener Stadt, in der die deutsch-polnische Freundschaft begann. Vielleicht war es ja kein Zufall, dass er in Gnesen ausgerechnet die Pfingst-Messe feierte – die Botschaft von Verständigung und Gemeinschaft statt Abschottung und Angst. In seiner Pfingstpredigt spricht Johannes Paul von der Begegnung von Otto, dem Deutschen, und Boleslaw, dem Polen, am Grabe Adalberts, eines Tschechen. Er spricht von der Erhebung Gnesens zum Erzbistum und der Ankunft von Mönchen aus Italien und Irland. Und er sagt damit: Der Ursprung Polens ist untrennbar verbunden mit dem Ursprung Europas. 21
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Die polnische Identität, nach der Ihr sucht, ist vom ersten Moment an auch eine europäische! Heute in Zeiten in denen die Menschen nach Identitäten fragen, nach der eigenen, nach anderen und gemeinsamen Identitäten, treten auch diese langen Linien neu ins Bewusstsein. Daher freut es mich besonders, dass ein wichtiges gemeinsames Projekt gerade sein erstes Etappenziel erreicht hat: Der erste Band des deutsch-polnischen Geschichtsbuches ist fertiggestellt. Europa braucht Polen Das heutige Europa ist freilich ein anderes als Johannes Paul oder geschweige denn Boleslaw und Otto es kannten: größer, offener, vielfältiger, und gewiss nicht mehr rein christlich. Doch das braucht uns keine Angst zu machen. Im Gegenteil: Das heutige Europa durchlebt turbulente Zeiten und es braucht ein starkes, aktives Polen. Und genauso brauchen wir, Deutschland und Polen, einander. Wojtylas „Fürchtet Euch nicht!“ sollte uns Mut machen und Ansporn sein, gerade in Zeiten, in denen wir barfuß gehen. Es gibt reichlich zu tun für unsere deutsch-polnische Verantwortungsgemeinschaft: • In unserer Nachbarschaft: einerseits im Osten, in der Ukraine, wo eine neue Regierung dringend notwendige Reformen anpacken muss und wir – Polen und Deutschland – sie darin unterstützen. • Andererseits in unserer südlichen Nachbarschaft, etwa durch gemeinsame Projekte der humanitären Hilfe und Stabilisierung in den Krisenregionen des Mittleren Ostens. Solange wir Krieg und Gewalt dort nicht beenden, werden Menschen weiterhin die Flucht ergreifen. • Und natürlich auch im Bereich der Sicherheitspolitik, gerade jetzt, wo wir uns auf den Warschauer NATO-Gipfel im Sommer vorbereiten. Bei diesen und bei den vielen anderen Themen, braucht Europa Polen! Schon oft in der Geschichte hat Polen die Fackel mutig vorangetragen. 1791 zum Beispiel gab der Sejm diesem Land die erste freiheitliche Verfassung Europas. Sie hat viele inspiriert, nicht zuletzt die deutschen Freiheitskämpfer des 19. Jahrhunderts. Sie enthält auch – das habe ich aus aktuellen Gründen einmal nachgelesen – die Prinzipien von Rechtsstaat 22
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lichkeit und Gewaltenteilung. Ich finde, das zeigt: Dies sind tiefverwurzelte polnische und europäische Verfassungsprinzipien und sie sollten es bleiben! Später dann hat Johannes Paul mit seiner Polen-Reise den Funken der Freiheit neu entfacht, der nicht nur Polen, sondern ganz Europa erfassen sollte. Ein Jahr nach der Papst-Reise unterschreibt Lech Walesa die Gründungsakte der Solidarnosc – auf seinem Kugelschreiber prangt das Konterfei von Johannes Paul. Mich persönlich – ich war damals Student – hat dieser Moment gehörig wachgerüttelt. Die Parteinahme für Solidarnosc hat auch bei uns Deutschen, jedenfalls in meinem politischen Lager, manche Turbulenzen erzeugt, scharfe Debatten hervorgerufen, an der für mich auch politische Freundschaften zerbrochen sind. Eine neue Generation Auch im Osten Deutschlands gerät damals etwas ins Wanken. Dietmar Woidke, unser Koordinator für die Deutsch-Polnischen Beziehungen, leistet gerade seinen Wehrdienst in der Nationalen Volksarmee, als 1981 das Kriegsrecht in Polen verhängt wird und sein Bataillon zum Beistand des Warschauer Regimes beordert wird. Eines Nachts ertönt der Gefechtsalarm. Im Stockdunkeln, mit der Kalaschnikow im Anschlag, rauscht seine Lastwagenkolonne durch die Brandenburgischen Wälder in Richtung polnische Grenze: In diesem Moment, so erzählte es Dietmar Woidke, sei die DDR in ihm gestorben. Heute entdeckt eine ganz neue Generation den Funken, der in unseren Beziehungen steckt – eine Generation, die die Narben unserer Geschichte nur aus den Erinnerungen anderer kennt. Über zweieinhalb Millionen junge Menschen haben seit dem Nachbarschaftsvertrag von 1991 am deutsch-polnischen Jugendaustausch teilgenommen. Eine von ihnen, Franziska aus Dillenburg in Hessen, erzählte mir neulich, wie sie als Austauschschülerin in Polen ankam: Nervös sei sie gewesen – doch gleich zur Begrüßung nahm ihre Gastfamilie sie buchstäblich in die Arme. Schon wenig später saß Franziska abends mit polnischen Klassenkameraden beisammen und diskutierte intensiv über die Flüchtlingspolitik, ohne Berührungsängste – „barfuß“ sozusagen – über genau die existenziellen Fragen, 23
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die diese neue deutsch-polnische Generation beschäftigen. Gerade diese Begegnungen sind wichtig – denn in politisch schwierigen Zeiten kommt es umso mehr auf den Draht zwischen den Menschen an. Gerade weil es in Europa auf Polen und Deutsche ankommt, müssen wir ehrlich und ernsthaft miteinander umgehen. Wenn wir gemeinsam barfuß gehen, dann treten wir uns nicht auf die Füße. Sondern dann räumen wir die Steine aus dem Weg, die vor uns liegen.
FRANK-WALTER STEINMEIER ist deutscher Außenminister und Brandenburger Bundestagsabgeordneter.
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Generation im Aufbruch Was die 17. Shell-Jugendstudie über Deutschlands Jugendliche herausgefunden hat – Von Mathias Albert
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ie junge Generation in Deutschland zeichnet sich auch weiterhin durch ihre pragmatische Haltung gegenüber den Herausforderungen aus, die Alltag, Beruf und Gesellschaft mit sich bringen. Hierzu gehört sowohl die Bereitschaft, sich an Leistungsnormen zu orientieren, als auch der Wunsch nach stabilen sozialen Beziehungen im persönlichen Nahbereich. Im Vordergrund steht die individuelle Suche nach einem gesicherten und eigenständigen Platz in der Gesellschaft. Die Jugendlichen versuchen sich den Gegebenheiten so anzupassen, dass sie Chancen, die sich auftun, ergreifen können. Prägend sind das Bedürfnis nach Sicherheit sowie der Wunsch nach positiven sozialen Beziehungen, was ebenfalls die Bereitschaft ein-schließt, sich im persönlichen Umfeld für die Belange von anderen oder für das Gemeinwesen zu engagieren. Auffällig ist der große Optimismus, den die Jugendlichen trotz des durchaus schwierigen weltweiten Umfeldes aufrechterhalten und der sogar noch zugenommen hat. Trotz anhaltender Krisen in Europa sowie einer zunehmend unsicher gewordenen Lage in Teilen der Welt mit Terror und steigenden Flüchtlingsströmen haben sich die Jugendlichen in Deutschland nicht von ihrer mehrheitlich positiven persönlichen Grundhaltung abbringen lassen. Dazu trägt auch die im Vergleich zu vielen Ländern der Welt stabile Lage in Deutschland bei. Die Befunde der neuen 17. Shell-Jugendstudie weisen aber auch auf erste Veränderungen bei der aktuellen Jugendgeneration hin. Neu ist das wieder angestiegene politische Interesse. Weltweite Vorgänge werden von vielen aufgeschlossener zur Kenntnis genommen. Doch anders als in den siebziger und im Übergang zu den achtziger Jahren vollzieht sich diese Öffnung vor dem Hintergrund einer grundsätzlich positiven Beur 25
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teilung der Lage und der Zukunft der Gesellschaft. Es scheint für Jugendliche wieder etwas perspektivreicher zu werden, bei gesellschaftlichen Gestaltungsfragen auf dem Laufenden zu sein und gegebenenfalls auch an Gestaltungsprozessen mitzuwirken. Zugleich hat sich die Sicht Jugendlicher auf die Gesellschaft und die eigene Lebensführung vertieft. Respekt (gegenüber Kultur und eigener Tradition), Anerkennung (der Vielfalt der Menschen) und Bewusstheit (für Umwelt und Gesundheit) sind dabei wichtig. Auf der Suche nach Verlässlichkeit Jugendliche wünschen sich die Vereinbarkeit von Arbeit, Freizeit und Familie. Dabei geht es vor allem um planbare und verlässliche Gestaltungsmöglichkeiten und weniger um „entgrenzte Welten“. Der Beruf soll sicher sein und ein auskömmliches Leben ermöglichen, aber auch als eine selbstbestimmte, sinnvolle und gesellschaftlich nützliche Tätigkeit erlebbar sein. Mehr als zuvor kann die Jugend von 2015 als eine „Generation im Aufbruch“ bezeichnet werden. Der Optimismus der Jugendlichen in Deutschland ist ungebrochen. 61 Prozent blicken unserer Untersuchung zufolge optimistisch in die eigene Zukunft, 36 Prozent gemischt »mal so, mal so« und nur 3 Prozent eher düster. Damit erhöht sich der Anteil der optimistischen Jugendlichen gegenüber 2010 (59 Prozent) noch einmal leicht und lässt den entsprechenden Wert aus 2006 (50 Prozent) weit hinter sich. Von dieser steigenden Zuversicht profitieren Jugendliche aus der sozial schwächsten Schicht allerdings erneut nicht. Wie schon im Jahr 2010 äußert sich von ihnen nur ein Drittel (33 Prozent) optimistisch hinsichtlich der eigenen Zukunft. Leicht rückläufig ist auch der Optimismus in der unteren Mittelschicht von 56 Prozent im Jahr 2010 auf 52 Prozent im Jahr 2015. Positiv zu vermerken ist, dass erstmals auch eine Mehrheit der Jugendlichen die gesellschaftliche Zukunft optimistisch beurteilt. Nach einem Tiefpunkt im Jahr 2006 (44 Prozent) setzt sich die Trendwende aus 2010 (46 Prozent) fort, so dass im Jahr 2015 mit 52 Prozent erstmals seit den neunziger Jahren eine leichte Mehrheit der Jugendlichen zuversichtlich auf die Zukunft der Gesellschaft blickt. Hier besitzt die soziale Herkunft ebenfalls eine starke Erklärungskraft. Jugendliche aus der oberen Schicht 26
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(59 Prozent) sind wiederum am optimistischsten gestimmt, Jugendliche aus der unteren Schicht (43 Prozent) dagegen deutlich seltener. In Deutschland hängt der Schulerfolg so stark wie in keinem anderen Land von der jeweiligen sozialen Herkunft der Jugendlichen ab. Mit diesem schulischen Erfolg verbinden sich unweigerlich zentrale Weichenstellungen für das weitere Leben. Jugendliche, die die Schule ohne Schulabschluss verlassen mussten, haben deutlich schlechtere Chancen, einen Ausbildungsplatz zu finden und danach eine geregelte Erwerbstätigkeit aufzunehmen. Doch auch für Jugendliche, die bereits einen Schulabschluss erlangt haben, sind Risiken vorhanden. Unter Auszubildenden (78 Prozent) und bei Studierenden (82 Prozent) sind sich rund vier Fünftel (sehr) sicher, die eigenen beruflichen Wünsche verwirklichen zu können. Im Jahr 2010 waren es erst rund drei Viertel, die hier zugestimmt haben. Die soziale Herkunft ist wie schon in den vorherigen Shell-Jugendstudien auch hier weiterhin von zentraler Bedeutung. Jugendliche aus der unteren Schicht (46 Prozent) sind auch 2015 deutlich weniger zuversichtlich, was die Realisierbarkeit der beruflichen Wünsche angeht, als Jugendliche aus der oberen Schicht (81 Prozent). Wo Wünsche nicht wahr werden Trotz der positiven Entwicklungen bei den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen driften die Bildungswelten der Jugendlichen noch immer auseinander. Die Jugendlichen nehmen die Schlüsselrolle der Bildung für das weitere Leben ebenfalls wahr. Insbesondere Jugendliche aus der unteren Schicht, die keinen Bildungsaufstieg in Aussicht haben, sehen ihre geringeren Chancen. Diese Jugendlichen lassen sich von dem in anderen sozialen Schichten größer werdenden Optimismus hinsichtlich der eigenen Lebensmöglichkeiten kaum anstecken. Die Einstellungen rund um das Berufsleben bildeten einen weiteren Schwerpunkt in der 17. Shell-Jugendstudie. Traditionell fragen wir die Ansprüche an das Berufsleben ab. Ein gutes Fünftel der Jugendlichen (22 Prozent), die bereits die Schule verlassen haben, blickt auf die Erfahrung zurück, dass sie aufgrund des fehlenden Schulabschlusses nicht ihren Wunschberuf ergreifen konnten. Dies trifft vor allem auf Jugendliche aus der unteren Schicht (50 Prozent) zu. Auch 25 Jahre nach der deutschen 27
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Einheit machen Jugendliche aus den östlichen Bundesländern häufiger die Erfahrung, dass ihnen für ihren Wunschberuf der Schulabschluss fehlte (27 Prozent im Osten im Vergleich zu 21 Prozent im Westen). Zugleich sind sie auch seltener sicher, dass sie ihre eigenen beruflichen Wünsche verwirklichen werden (65 Prozent im Osten im Vergleich zu 75 Prozent im Westen). Von einer Angleichung der Lebensverhältnisse zwischen Ost und West kann an dieser Stelle noch nicht gesprochen werden. Das politische Interesse steigt wieder Die Selbsteinschätzung zum politischen Interesse ist eine der zentralen Zeitreihen der Shell-Jugendstudie. Hierzu liegen uns seit der 10. Jugendstudie aus dem Jahr 1984 für die Frage „Interessierst du dich ganz allgemein für Politik? Würdest du sagen, du bist stark interessiert, interessiert, wenig interessiert oder gar nicht interessiert?“ vergleichbare Querschnittsdaten vor. Die aktuellen Ergebnisse zeigen, dass sich an dieser Stelle inzwischen eine Trendwende vollzogen hat. Das politische Interesse ist bei den Jugendlichen in Deutschland wieder deutlich gestiegen. Im Vergleich zum Tiefpunkt mit 30 Prozent im Jahr 2002 sind es jetzt wieder 41 Prozent, die sich selbst als „politisch interessiert“ bezeichnen (Altersgruppe 12 bis 25 Jahre). Insgesamt hatten die Jugendlichen vor allem ab den neunziger Jahren an politischem Interesse verloren. In den achtziger Jahren, zu deren Beginn die öffentliche Debatte stark von der Anti-Atomkraft sowie der Friedensbewegung geprägt war, bis kurz nach der Wende mit der Maueröffnung von 1989 und der sich daran anschließenden deutschen Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 hatten die damaligen Shell-Jugendstudien ein politisches Interesse zwischen 55 Prozent für 1984 und 57 Prozent für 1991 gemessen (Altersgruppe 15 bis 24 Jahre). Dieses Niveau ist aktuell noch nicht wieder erreicht. Der Absturz in den neunziger Jahren bis zum Tiefpunkt im Jahr 2002 mit nur noch einem Drittel Jugendlicher, die Interesse an Politik bekundeten, scheint inzwischen aber überwunden zu sein. Jugendliche, die sich als politisch interessiert bezeichnen, informieren sich zu 74 Prozent aktiv über Politik. Wer sich hingegen wenig oder gar nicht für Politik interessiert, tut dies nur zu 10 Prozent. Politisches Interesse und politische Kompetenz gehen an dieser Stelle Hand in Hand. Relativ 28
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betrachtet ist das politische Interesse bei den Jugendlichen mit niedrigerer Bildungsposition sogar noch etwas stärker gestiegen. Die signifikanten Niveauunterschiede mit einem nach wie vor höheren politischen Interesse bei Jugendlichen aus den gehobenen Schichten bleiben allerdings bestehen. Das gestiegene Interesse an Politik hat sich vor dem Hintergrund einer positiveren Bewertung der gesellschaftlichen Lage in Deutschland vollzogen. Dies trifft insbesondere auf die wirtschaftliche Lage und auf die damit verbundene Bewertung der gesellschaftlichen und der eigenen Zukunft zu. Auf Ängste in Anbetracht der wirtschaftlichen Lage verweisen nur noch 51 Prozent der Jugendlichen. Parallel dazu ist auch die Angst davor, keinen Ausbildungsplatz zu finden oder den Arbeitsplatz zu verlieren, auf 48 Prozent gesunken. Auffällig ist allerdings die zeitgleich angewachsene Sorge in Bezug auf die internationale Politik. Mit 73 Prozent benennen die Jugendlichen am häufigsten mögliche Terroranschläge als Risiko- und Problembereich, der ihnen Angst macht. An die zweite Stelle gerückt ist mit 62 Prozent die Angst vor einem möglichen Krieg in Europa. Die gesellschaftliche Zukunft insgesamt bewertet mit 52 Prozent die Mehrheit der Jugendlichen inzwischen aber wieder eher zuversichtlich. Zwischen 2002 und 2010 war dies nicht der Fall. Es sind nicht etwa erwartete oder bereits erfahrene (gesellschaftliche) Krisenprozesse, sondern eher eine positive Zukunftssicht im Verbund mit eigenen Handlungs- und Gestaltungsmöglichkeiten, die das Interesse an Politik befördert haben. Etwas linker Ähnlich wie in den letzten Shell-Jugendstudien festgestellt, bleibt die politische Selbstverortung bei den Jugendlichen in Deutschland auf der von uns hierzu vorgelegten Skala von 0 = „links“ bis 10 = „rechts“ mit einem Mittelwert von 4,4 leicht nach „links“ (Altersgruppe 15 bis 25 Jahre) verschoben. 20 Prozent haben allerdings keine Einstufung vorgenommen, vorrangig mit dem Hinweis darauf, dass sie ihre politische Meinung mit diesen Kategorien nicht richtig einordnen können. War es früher noch mit großem Abstand der „Arbeitsmarkt“, der im Jahr 2002 von 66 Prozent und im Jahr 2006 sogar von 78 Prozent der Ju 29
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gendlichen als Bereich benannt wurde, in dem die Gesellschaft besonders aktiv werden muss, so sagen dies 2015 nur noch 37 Prozent. An die Spitze der Prioritäten ist stattdessen das Thema „Kinder und Familie“ gerückt, das nunmehr von 55 Prozent der Jugendlichen als besonders wichtig erachtet wird. Es folgt „Bildung, Wissenschaft und Forschung“ mit 46 Prozent und „ Soziale Sicherung, Rente“ mit 42 Prozent, erst danach kommt der „Arbeitsmarkt“ mit 37 Prozent. Anders als im letzten Jahrzehnt gibt es aus der Sicht der Jugendlichen heute kein vergleichsweise klar umrissenes Schwerpunktthema, auf das sich Politik und Gesellschaft fokussieren sollten. Es sind eher die allgemeinen Rahmenbedingungen, die für die eigene und die gesellschaftliche Zukunft derzeit wichtig sind. Mehr Zufriedenheit mit der Demokratie 73 Prozent der Jugendlichen sind mit der Demokratie in Deutschland „zufrieden“. Bei der letzten Shell-Jugendstudie 2010 traf dies nur für 63 Prozent und 2002 für 60 Prozent zu. Als „eher“ oder „sehr unzufrieden“ bezeichnen sich 23 Prozent. 2010 waren es 34 Prozent, und 2002 gaben dies 35 Prozent an. Der Trend ist auch an dieser Stelle signifikant und in diesem Ausmaß mehr als bemerkenswert. Politisch relevant ist, dass die nach wie vor vorhandenen Ost-West-Unterschiede geringer geworden sind. 77 Prozent der Jugendlichen aus dem Westen und inzwischen ebenfalls 54 Prozent der Jugendlichen aus dem Osten (inkl. Berlin) äußern sich zufrieden mit der Demokratie. Bei den Shell-Jugendstudien seit 2002 hatten sich die Jugendlichen aus dem Osten noch mehrheitlich unzufrieden geäußert. Vergleichbares gilt auch für die Frage nach der Zufriedenheit mit der Demokratie als Staatsform. Diese halten 85 Prozent der Jugendlichen, 87 Prozent in den westlichen und 74 Prozent in den östlichen Bundesländern, für eine gute Staatsform. Nach wie vor zeigen sich soziale Differenzierungen. Jugendliche aus den unteren sozialen Schichten artikulieren eine höhere Unzufriedenheit mit der Demokratie. Im Kontext der politischen Selbsteinstufung positionieren sich diese unzufriedenen Jugendlichen ebenfalls deutlich weiter rechts. Die hohe Zustimmung zur Demokratie in Deutschland korrespondiert mit einer hoch ausgeprägten Übereinstimmung mit zentralen Demokratienormen. Dazu gehören aus der Sicht der Jugendlichen vor allem 30
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die Meinungsfreiheit, das Recht zu wählen sowie die Möglichkeit, über Entscheidungen abstimmen zu können. Typisch für die Sicht von Jugendlichen in Deutschland ist die nach wie vor ausgeprägte Politikverdrossenheit. Wir hatten diese Stimmungslage bereits in den früheren Jugendstudien untersucht und beschrieben. An diesen Befunden hat sich trotz der gestiegenen Zufriedenheit mit der Demokratie und der Gesellschaft in Deutschland nichts Grundlegendes geändert. Nach wie vor unterdurchschnittlich ist das Vertrauen, das Parteien entgegengebracht wird (2,6 auf einer Skala von 1 bis 5). Der Aussage „Politiker kümmern sich nicht darum, was Leute wie ich denken“ stimmen 69 Prozent der Jugendlichen zu (Altersgruppe 15 bis 25 Jahre). Politikverdrossenheit ist sicherlich vorurteilsbeladen und hat etwas Stereotypes an sich. Dem hierbei zum Ausdruck kommenden fehlenden Vertrauen und dem Defizit an Glaubwürdigkeit wird man allerdings kaum mit Gegenvorwürfen oder dem Hinweis auf fehlendes Differenzierungsvermögen beikommen können. Den Jugendlichen in Deutschland mangelt es nicht an Demokratieakzeptanz und auch nicht an Problembewusstsein. Vielmehr werfen sie der Politik eine Orientierung primär an den eigenen Organisationsinteressen sowie eine fehlende Verlässlichkeit vor. Wenn Politik Vertrauen zurückgewinnen will, wird sie vor allem in diesen Punkten mit überzeugenden Argumenten für sich werben müssen. Weniger Vorbehalte In der Shell-Jugendstudie messen wir die Toleranz gegenüber anderen gesellschaftlichen Gruppen unter anderem anhand der Frage, ob die Jugendlichen es „gut fänden, ob es ihnen egal wäre oder ob sie es nicht so gut fänden, wenn in der Wohnung nebenan folgende Menschen einziehen würden“. Hierzu legen wir eine Liste mit ausgewählten gesellschaftlichen Gruppen vor. Im Trend betrachtet, haben Jugendliche immer weniger Vorbehalte. So ist die geäußerte Ablehnung gegenüber einer türkischen Familie von 27 Prozent im Jahr 2010 auf aktuell 20 Prozent und gegenüber einer Aussiedlerfamilie aus Russland von 26 Prozent auf 17 Prozent gesunken. Auch ein homosexuelles Paar wird mit aktuell 12 Prozent im Vergleich zu 15 Prozent im Jahr 2010 seltener abgelehnt. 31
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Wie bisher äußern Jugendliche aus den östlichen Bundesländern (inkl. Berlin) häufiger Vorbehalte als Jugendliche aus den westlichen Bundesländern. Eine türkische Familie wird im Osten von 30 Prozent der Jugendlichen, im Westen hingegen nur von 18 Prozent abgelehnt. Gegen eine Aussiedlerfamilie aus Russland sprechen sich 24 Prozent im Osten und 16 Prozent im Westen aus, bei einer Familie aus Afrika sind es 21 Prozent im Osten im Vergleich zu 9 Prozent im Westen. Interessanterweise wird aber auch eine deutsche Familie mit vielen Kindern von 24 Prozent der Jugendlichen aus dem Osten häufiger als zu 16 Prozent im Westen abgelehnt. Keine relevanten Unterschiede ergeben sich in der Einstellung gegenüber einem homosexuellen Paar als Nachbarn. Im Osten mehr Ablehnung Bemerkenswerterweise hat sich inzwischen auch die Akzeptanz gegenüber Zuwanderern erhöht. Waren es 2002 noch 48 Prozent der Jugendlichen und 2006 sogar 58 Prozent, die sich dafür aussprachen, die Zuwanderung nach Deutschland zu verringern, so ist dieser Anteil aktuell auf 37 Prozent gesunken. 39 Prozent der Jugendlichen sprechen sich hingegen dafür aus, dass auch in Zukunft genauso viel und sogar 15 Prozent, dass mehr Personen als bisher aus dem Ausland zuwandern sollten. Offenbar werden inzwischen die öffentlich diskutierten wirtschaftlichen und sozialen Notwendigkeiten einer Zuwanderung nach Deutschland stärker mitbewertet. Auch an dieser Stelle finden sich markante Ost-West-Unterschiede. Jugendliche aus den westlichen Bundesländern sprechen sich zu 35 Prozent dafür aus, die Zuwanderung nach Deutschland zu reduzieren, bei Jugendlichen aus den östlichen Bundesländern (inkl. Berlin) sind es hingegen 49 Prozent, die für weniger Zuwanderung nach Deutschland plädieren. Die Einstellungen der Jugendlichen aus dem Osten und aus dem Westen sind an dieser Stelle in den Mehrheitsverhältnissen geradezu umgekehrt. Ähnlich verhält es sich bei der Frage der Aufnahme von Flüchtlingen. 32 Prozent der Jugendlichen fordern, weniger Flüchtlinge als bisher aufzunehmen. Für eine gleiche Aufnahme wie bisher plädieren 36 Prozent und für mehr als bisher 24 Prozent. Weniger Aufnahme fordern 44 Prozent der Jugendlichen im Osten im Vergleich zu nur 30 Prozent der Jugendlichen im Westen. 32
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Neben den Einstellungen zu Diversität und Zuwanderung messen wir in der Shell-Jugendstudie auch, inwieweit sich Jugendliche selbst im Alltag als diskriminiert und ausgegrenzt empfinden. Wir fragen dies anhand einer Liste ab, die typische Dinge enthält, aufgrund deren man sich im Alltag ab und zu oder oft als benachteiligt empfinden kann. Auffällig ist hier das deutlich höhere Benachteiligungsempfinden der nichtdeutschen sowie der Jugendlichen mit Migrationshintergrund. Fasst man an dieser Stelle beide Gruppen, also nichtdeutsche Jugendliche sowie deutsche Jugendliche mit Migrationshintergrund, zusammen, so verweisen 44 Prozent der Jugendlichen mit Migrationshintergrund im Vergleich zu 5 Prozent der Deutschen ohne Migrationshintergrund auf Benachteiligungen aufgrund ihrer Nationalität, 31 Prozent im Vergleich zu 18 Prozent auf Benachteiligungen aufgrund ihres Äußeren, 27 Prozent im Vergleich zu 9 Prozent auf Benachteiligungen aufgrund ihrer sozialen Herkunft sowie 25 Prozent im Vergleich zu 4 Prozent auf Benachteiligungen aufgrund ihrer Religion oder ihres Glaubens. Toleranz und Diskriminierung Im Trend betrachtet sind die von den Jugendlichen im Alltag empfundenen Diskriminierungen leicht rückläufig. Nichtdeutsche Jugendliche klagen allerdings – entgegen dem allgemeinen Trend – inzwischen etwas häufiger über Diskriminierungen im Alltag. Diese anders gelagerten Akzentuierungen, mehr Toleranz bei Jugendlichen gegenüber unterschiedlichen sozialen Gruppen und rückläufige Ablehnung des weiteren Zuzugs von Ausländern, jedoch gleichzeitig bei nichtdeutschen Jugendlichen mehr empfundene Diskriminierungen im Alltag, sind kein Widerspruch. Vielmehr spiegelt sich an dieser Stelle das gesamtgesellschaftliche Klima wider, das vor allem in den letzten Monaten im Kontext diverser Protestaktionen und vor dem Hintergrund der Debatte um Zuwanderung durch stärkere Polarisierung gekennzeichnet war. Es passt durchaus zusammen, dass die Mehrheit der Jugendlichen ihre Toleranz gegenüber der gesellschaftlichen Vielfalt betont, während nichtdeutsche Jugendliche zugleich verstärkt auf die empfundene Diskriminierung verweisen. Distanziert verhalten sich Jugendliche noch immer gegenüber einer Mitarbeit in den Parteien. Grund hierfür ist zum einen das unterdurch 33
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schnittlich ausgeprägte Vertrauen, das Jugendliche den Parteien entgegenbringen. Zum anderen spiegelt sich darin die nach wie vor prägende Politik- und Politikerverdrossenheit wider. Die Befunde der aktuellen Shell-Jugendstudie verdeutlichen, dass sich Jugendliche aktuell wieder stärker politisch positionieren. Dieser Anspruch auf Teilhabe hat sich vor dem Hintergrund einer kritischen, jedoch alles in allem positiven Bewertung der gesellschaftlichen Wirklichkeit in Deutschland vollzogen und ist darüber hinaus auch mit der Bereitschaft zur Beteiligung an politischen Aktivitäten verbunden. Charakteristisch sind hier vor allem individuelle und niederschwellige Beteiligungsformen. Vieles spricht dafür, dass sich mit Partizipations- und Beteiligungsangeboten, die über das Internet zugänglich sind und in die sich Jugendliche online einbringen können, an dieser Stelle wichtige neue Möglichkeiten eröffnen. Sorge um die Weltlage Wenn Jugendliche sich mit der Lage in Europa und der Welt beschäftigen, dann verbinden sie hiermit besonders häufig die Stichworte Krise, Krieg und Terror. 73 Prozent (2010: 61 Prozent) machen sich Sorgen über Terroranschläge und 62 Prozent über einen möglichen Krieg in Europa (2010: 44 Prozent). Die Sorgen um einen Krieg in Europa sind fast so groß wie im Jahr 2002, als der Krieg im ehemaligen Jugoslawien nachwirkte. Die Angst vor Terror ist heute sogar leicht höher als 2002, als die Anschläge auf das World Trade Center in New York und auf das Pentagon in Washington noch in frischer Erinnerung waren. Trotz wachsender Flüchtlingszahlen sehen die meisten Jugendlichen die Immigration eher gelassen. Nur 29 Prozent fürchten sich vor der Zuwanderung. Das sind zwar zwei Punkte mehr als 2010, doch seinerzeit war die Zuwanderung auf ein sehr niedriges Niveau zurückgegangen. Die Bevölkerung Deutschlands nahm ab, während sie inzwischen wieder wächst. Die Jugend ahnt, dass die Unterbringung und Versorgung von Hunderttausenden Zuwanderern pro Jahr große Probleme bereiten wird. 48 Prozent (2010: 40 Prozent) fürchten, dass die Ausländerfeindlichkeit in der Bevölkerung wachsen könnte. Krise, Krieg, Terror und die anschwellende Zuwanderung machen Jugendliche immer wieder auf die Probleme in der Welt aufmerksam. Da viele häu 34
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fig online sind, erhalten sie über die elektronischen Kanäle auch die vielen Schlagzeilen aus einer krisenhaften Welt. Nur 13 Prozent der Jugendlichen interessieren sich nicht für das weltweite Geschehen. Dagegen bringen 51 Prozent der Lage in der Welt großes Interesse entgegen. Viele Jugendliche sagen, dass ihr Interesse an der Welt in den letzten Jahren zugenommen hat (49 Prozent). Das Interesse an der Welt ist stark politisch gefärbt: Wer sich aufmerksam mit der Welt beschäftigt, der interessiert sich auch im Allgemeinen für Politik. In der oberen Schicht interessieren sich 67 Prozent für Vorgänge in der Welt, in der unteren Schicht hingegen nur 31 Prozent. Auf die Frage, wie sich das Interesse in den letzten Jahren entwickelt hat, haben 61 Prozent der Jugendlichen aus der oberen Schicht und 36 Prozent aus der unteren Schicht geantwortet, dass dies bei ihnen zugenommen habe. Zum einen sind die Auswirkungen der weltweiten Vorgänge auf Deutschland offenkundig. Zum anderen nehmen Jugendliche wahr, dass Deutschland in den letzten Jahren in der Welt und in Europa eine neue und wichtigere Rolle spielt. Ein Teil der Jugendlichen hat diese unvermittelte Veränderung bereits angenommen. 54 Prozent finden, dass Deutschland eine Führungsrolle in Europa haben sollte, nur 11 Prozent sehen das nicht so. In den vertiefenden Gesprächen zeigt sich, dass den Jugendlichen die starke Stellung der Bundeskanzlerin in Europa bewusst ist. Zugleich plädieren sie dafür, die bisherige Art des Auftretens Deutschlands, die sie als moderat empfinden, beizubehalten. Stolz auf die Heimat Jugendliche sehen, dass ihr Land in der Welt von heute eine wichtige Position einnimmt. 68 Prozent finden, dass es ein bedeutsamer Akteur in der Welt sei. Doch dieses neue Gewicht verstehen sie gerade nicht als Aufforderung, sich in die Konflikte der Welt allzu sehr einzumischen. Sie setzen zum einen auf die Qualität der Produkte, die das Land der Welt anbieten kann. Zum anderen glauben sie, dass Deutschland kulturell und sozial attraktiv ist und dadurch ein Vorbild für andere Länder der Welt sein kann. Von dieser positiven Grundstimmung her, die auch von vielen Migranten geteilt wird, bekunden viele Jugendliche Stolz auf Deutschland als Heimatland. 35
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62 Prozent der Jugend sind stolz darauf, Deutsche zu sein. Bei jungen Leuten ohne Migrationshintergrund sind es sogar 70 Prozent, bei deutschen Jugendlichen, die zumindest einen im Ausland geborenen Elternteil haben, 54 Prozent. Sehr viele Jugendliche haben einen positiven Blick auf ihre Heimat und auf Deutschland. Zum Thema „Stolz auf die Nation“ gibt es allerdings zwei verschiedene Ansichten: Die einen, und das sind vor allem die höher Gebildeten, meinen, man könne nur auf etwas stolz sein, was man selbst geleistet hätte. Die anderen, das ist die Mehrheit, finden, dass sich Stolz ganz von selbst ergäbe, wenn man in eine Kultur eingeboren ist oder sich darin eingelebt hat. Diese unterschiedlichen Sichtweisen haben eigene Konsequenzen. Wer Stolz mit eigenen Leistungen begründet, dem ist das Herkunftsland eher unwichtig. Man fühlt sich mit denen im Einklang, die etwas leisten, egal, woher sie kommen. Leistung wird dabei nicht nur im materiellen, sondern auch im ideellen Sinne verstanden. Kulturelle „Verwandtschaft“ mit jenen, die eben „zufällig“ Landsleute sind, spielt eine geringere Rolle. Dagegen finden Jugendliche, die sich über den Stolz mit ihrer Kultur identifizieren, einheimische „Standards“ und die Zugehörigkeit zu den Landsleuten wichtiger. Geschichte und Gegenwart Jugendliche, die den Begriff „Stolz auf Deutschland“ für sich ablehnen, thematisieren stärker den Bruch, den der Nationalsozialismus in der deutschen Geschichte darstellt. Die anderen sehen eher eine geschichtliche Kontinuität. Dabei spielen die industriell-technischen Leistungen eine besondere Rolle, ergänzt durch Erfindergeist sowie Wissenschaft und Kunst. Das hat Folgen für die heutige Definition Deutschlands. Wer den historischen Bruch betont, will auch einen Rollenwechsel. Aus einem Staat, der einst andere Länder angriff und unterdrückte, ist ein Staat geworden (oder soll es zumindest sein), der andere Länder unterstützt. Jugendliche, die Deutschland mehr in einer geschichtlichen Kontinuität sehen, sind anspruchsloser. Sie halten es für wichtig, dass das Land seine Interessen wahrt, die vor allem wirtschaftlicher Natur seien. Dabei soll es jedoch moderat auftreten. Die Shell-Jugendstudie 2015 zeigt erneut, dass die Jugend in Deutschland ein solides Wertesystem hat. Freundschaft, Partnerschaft und Fami 36
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lie stehen dabei ganz oben. 89 Prozent finden es besonders wichtig, gute Freunde zu haben, 85 Prozent, einen Partner zu haben, dem sie vertrauen können, und 72 Prozent, ein gutes Familienleben zu führen. Das ist allerdings weniger überraschend als die Tatsache, dass auch 84 Prozent der Jugendlichen den Respekt vor Gesetz und Ordnung wichtig nehmen und 64 Prozent sogar besonders wichtig. Jugendlichen ist es wichtig, sich zu einer eigenständigen Persönlichkeit zu entwickeln. Die meisten leben noch bei den Eltern und bejahen diese Familienbindung. Viele fühlen sich in diesem Umfeld auch bei ihren ersten Schritten in die individuelle Unabhängigkeit gut aufgehoben. Die Familie ist eine Keimzelle der Werte, in der man Bindungsfähigkeit erlernt, aber auch seine Individualität ausprägt. Werte, die für Familie und soziale Bindung, für Tugenden (Ordnung, Fleiß usw.) und für Eigenständigkeit stehen, hängen bei vielen Jugendlichen eng miteinander zusammen. Solides Wertesystem Grundlegende Regeln des Gemeinwesens sind Jugendlichen inzwischen sogar wichtiger, als etwa „kreativ zu sein“ oder der Wunsch, „das Leben zu genießen“. Die Shell-Jugendstudien beobachteten in den 2000er Jahren, dass sich immer mehr Jugendliche als fleißig und ehrgeizig positionierten. 2010 wurde mit 60 Prozent ganz besonderer Wichtigkeit der höchste Wert erreicht. Das war ein Rückgriff auf dasjenige, was der Bevölkerung in Deutschland in der Außenperspektive als „deutsche Tugenden“ zugeschrieben wird. Noch in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre war Jugendlichen Fleiß und Ehrgeiz nur zu 36 Prozent besonders wichtig. Seit den neunziger Jahren ging es in der Jugend um die Anpassung an die immer wichtiger gewordenen Leistungsnormen, die mit der forcierten Globalisierung eingezogen waren. Doch zwischen 2010 und 2015 kam diese Entwicklung zu einem gewissen Halt. Fleiß, Ehrgeiz und Sicherheit wurden wieder etwas unwichtiger, jedoch nicht der Respekt vor Gesetz und Ordnung, der sogar weiter stieg. Zugleich stieg die Bereitschaft zum politischen Engagement. Zwar sind jene Jugendlichen, denen es wichtig ist, sich politisch zu engagieren, mit 32 Prozent in der Minderzahl, im Jahr 2010 waren es aber erst 23 Prozent. Immerhin sind es jetzt wieder so viele wie in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre. Einen Zuwachs gab es 37
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auch bei der Bereitschaft Jugendlicher zum umweltbewussten Verhalten (2010: 59 Prozent, 2015: 66 Prozent). Dies hängt eng mit dem gestiegenen Gesundheitsbewusstsein zusammen. Dagegen verloren materielle Dinge wie Macht oder ein hoher Lebensstandard eher an Bedeutung. 82 Prozent der Jugendlichen finden den erstmals erfragten Wert „Die Vielfalt der Menschen anerkennen und respektieren“ wichtig und 60 Prozent sogar ganz besonders wichtig. Junge Frauen nehmen solche Werte, die Respekt vor sozialen Regeln und anderen Menschen einschließen, noch wichtiger als junge Männer. Und in fünf Jahren? Immer mehr Jugendliche wollen sich nicht zwischen Idealismus und Materialismus entscheiden. Ganz offensichtlich ist aber, dass Werte aller Art von den Jugendlichen auch weiterhin kombiniert werden. Damit kommen die Ansprüche zum Ausdruck, die Jugendliche an die Zukunft stellen. Jugendliche wollen in einem sicheren Beruf Geld verdienen, aber in der Arbeit auch etwas Sinnvolles und Nützliches für die Gesellschaft tun. Sie wollen etwas leisten, aber genügend Freizeit und Freiraum für eine eigene Familie haben. Sie wollen engagiert arbeiten, aber auch gut leben. Viele glauben, dass das im Rahmen der gesellschaftlichen Ordnung, so wie sie sich entwickelt hat, möglich ist. Es muss sich zeigen, ob die Gesellschaft diesen Wünschen und Ansprüchen einer immer größer werdenden und nach oben drängenden Gruppe von Jugendlichen gerecht werden kann. Beim Ausblick auf die Zukunft in fünf Jahren sehen die Jugendlichen die größten Veränderungen im Bereich der Qualifikation auf sich zukommen. Dabei denken sie an Dinge wie „guter Abschluss“, „eigenes Leben führen“ und „ausreichend Geld verdienen“. In anderen Lebensbereichen wünschen sich Jugendliche in den nächsten fünf Jahren möglichst wenige Änderungen. Die Unterstützungsfunktion der Eltern sehen die Jugendlichen auch weiterhin als wichtig an. Werte wie Geborgenheit, Vertrauen und Unterstützung behalten für weibliche Jugendliche und junge Erwachsene hohe Relevanz – mehr Selbstständigkeit hat keine Bedeutung. Beim Themenkomplex „Freunde und Freizeit“ stehen „Vertrauen“ und „Spaß“ erneut im Vordergrund. Mit dem Leitmotiv »gute Freunde behalten« wird deutlich, dass die Jugendlichen hier auch konkret daran 38
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MATHIAS ALBERT l GENERATION IM AUFBRUCH
interessiert sind, mit ihren aktuellen Freunden weiterhin eng verbunden zu bleiben. Die Jugendlichen beschreiben vielfältige Befürchtungen, die sie daran hindern könnten, ihre Pläne in der Zukunft auch umzusetzen. Der größte Stressfaktor sind die Bereiche Schule, Noten, Ausbildung und Job. Hier zeichnen sich zum Teil massive Versagensängste ab. Aber auch Schicksalsschläge wie schwere Krankheiten, Scheidung oder Tod der Eltern könnten die Zukunft der Jugendlichen erheblich beeinträchtigen. Im Gegenzug erleben Jugendliche ihre nahe soziale Umgebung in Form von Eltern, Partnern und Freunden als zentrale Pfeiler bei der Verwirklichung eigener Pläne. Zudem sehen sich Jugendliche aber auch selbst in der Pflicht, hier den Großteil der Verantwortung für die eigene Zukunft zu übernehmen, und sie sehen sich dazu – größtenteils – auch in der Lage.
PROF. DR. MATHIAS ALBERT ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität Bielefeld und ist verantwortlich für die Erstellung der Shell-Jugendstudie.
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Amadeu Antonio
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Symbol für rechten Terror und Zivilgesellschaft Von Lars Krumrey
S
eit 25 Jahren – noch lange vor den Terroropfern des NSU – ist der Name Amadeu Antonio Kiowa Synonym für den rassistischen Terror in Ostdeutschland sowie die dunkle Seite einer unzureichenden juristischen Aufarbeitung. Heute tragen unter anderem eine bundesweite Stiftung, ein Preis für Zivilcourage und ein Bürgerhaus diesen Namen. Der Politik-Barde Konstantin Wecker hat dem jungen Mann, der diesen Namen trug, schon vor Jahren eine eigene Ballade gewidmet. Wie kam es dazu, warum hat der Klang des Namens bis heute eine solche Symbolkraft und wer überhaupt war Amadeu Antonio? Als das älteste von zwölf Kindern wurde Amadeu Antonio – in der öffentlichen Debatte werden nur seine beiden Vornamen verwendet – am 12. August 1962 in Quimbele, nordöstlich von Luanda, in Angola geboren. In Brasilien, Portugal und der Sowjetunion hatte er verschiedene Ausbildungen absolviert. Am 3. August 1987 kam Antonio gemeinsam mit 103 weiteren angolanischen Vertragsarbeitern in die damalige DDR. Eigentlich wollte er in dem sozialistischen Bruderstaat Flugzeugtechnik studieren, wurde aber, wie damals viele angolanische Vertragsarbeiter, im Schlacht- und Verarbeitungskombinat Eberswalde zum Fleischer ausgebildet. In Eberswalde lernte er auch seine Freundin kennen. Schnell beschlossen sie, sich eine gemeinsame Zukunft aufzubauen und eine Familie zu gründen. In dieser Zeit änderte sich die Lage der Vertragsarbeiter massiv. Insbesondere ihr Aufenthaltsstatus war in Folge der friedlichen Revolution und durch die Annullierung der Verträge mit den Herkunftsländern unklar. In Folge des Zusammenbruchs vieler DDR-Industriebetriebe drohte ihnen der Arbeitsplatzverlust und somit der Bleibestatus. So auch bei Amadeu Antonio. Sein Aufenthalt wurde nur deshalb verlängert, weil 41
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er zusammen mit seiner deutschen Freundin ein Kind erwartete. Beide freuten sich sehr auf das gemeinsame Kind. In der Nacht vom 24. auf den 25. November 1990 fand die gemeinsame Lebensplanung des jungen Paars ein jähes Ende. Aufgestachelt von der damaligen Stimmung zog in dieser Nacht eine Gruppe von etwa 50 rechtsextremen Jugendlichen mit Baseballschlägern durch Eberswalde. Erklärtes Ziel war „die Jagd auf Schwarze“. In einer Gaststätte traf der marodierende Mob auf drei Afrikaner, darunter auch der werdende Familienvater. Obwohl sich in der Nähe Polizisten aufhielten, entfachten die Jugendlichen auf der Straße eine Schlägerei und einer der Täter sprang dem mittlerweile am Boden liegenden Amadeu Antonio mit beiden Füßen auf den Kopf. Hierdurch erlitt er schwerste Kopfverletzungen. Während die beiden Mosambikaner teils schwer verletzt vor den Jugendlichen flüchten konnten, erwachte der 28-jährige werdende Vater nicht mehr aus seinem Koma. Amadeu Antonio verstarb elf Tage nach dem Überfall im Krankenhaus und wurde damit eines der ersten Todesopfer rassistischer Gewalt in Ostdeutschland. Der Tragödie für die kleine Familie folgte dann auch noch ein juristisches Trauerspiel. In einem heftig kritisierten Urteil wurden im September 1992 lediglich fünf der jugendlichen Täter vom Bezirksgericht Frankfurt (Oder) zu Bewährungs- und maximal vierjährigen Haftstrafen verurteilt. Das Gericht begründete das milde Strafmaß damit, dass es nicht nachweisen könne, welcher der Schläge der tödliche gewesen sei. Anders als das Gericht ordneten viele Medien den Übergriff als Mord ein und äußerten massive Kritik an der Straffestsetzung. So verlieh die damalige Brandenburger Ausländerbeauftragte Almuth Berger mit ihrer Befürchtung, solche Urteilsbegründungen könnten geradezu als „Ermutigung für ausländerfeindliche Übergriffe gedeutet werden“, einer weit verbreiteten Sorge Ausdruck. Vor allem durch die äußerste Brutalität des Überfalls und das höchst umstrittene Urteil ist Amadeu Antonio zu einem Symbol rassistischer Übergriffe nach der Wiedervereinigung geworden. Die breite politische Empörung war es, die seinen Namen bis heute im Gedächtnis hält. Als der ehemalige Unternehmer und Stifter Karl Konrad von der Groeben unter der Schirmherrschaft des damaligen Bundestagspräsidenten Wolfgang Thierse eine Stiftung zur Förderung von zivilgesellschaftlichem Engagement 42
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gründete, benannte er diese nach Amadeu Antonio. Sie ist heute eine der bundesweit am stärksten profilierten Stiftungen, die sich gegen Rechtsextremismus und für eine weltoffene und demokratische Gesellschaft einsetzen. Aber auch die Stadt Eberswalde hat einiges unternommen, um der bis weit in die 2000er Jahre hinein verbreiteten Stimmung entgegenzutreten. Beschrieb der als Halbwaise zur Welt gekommene und nach seinem Vater benannte Amadeu Antonio junior im Dezember 2000 noch, dass er sich auf der Straße als „Negerbastard“ bezeichnen lassen und viele Eberswalder Stadtteile wegen seiner Hautfarbe meiden müsse, so hat sich die Stimmung heute nicht zuletzt durch ein engagiertes Eintreten von Vereinen und Initiativen, aber auch der Lokalpolitik, deutlich verbessert. So hat der Afrikanische Kulturverein Palanca e. V. gemeinsam mit der Eberswalder Koordinierungsstelle für Toleranz und gegen Fremdenfeindlichkeit im Jahr 2004 die Ausstellung „Geschichte der angolanischen Vertragsarbeiter in Eberswalde“ erstellt. Ein Bürgerzentrum in Eberswalde trägt den Namen Amadeu Antonio und es gibt einen gemeinsam von der Stadt und der Antonio-Amadeu-Stiftung ausgelobten Preis, der das kreative Auseinandersetzen mit Menschenrechten würdigt. Dass der Einsatz für Respekt und Weltoffenheit wohl noch lange gefragt sein wird, spürt Amadeu Antonio junior auch heute noch. Wenn er bestimmte Jugendliche sehe, achte er darauf, ob Gefahr drohe, höre ansonsten aber weg, falls Beleidigungen fielen. In Eberswalde könne er sich frei bewegen, „außer in den Dörfern, da sind die Dorfnazis“, sagte er gegenüber der Tageszeitung Die Welt anlässlich des 25. Todestages seines Vaters.
LARS KRUMREY ist Politologe und als Referent der SPD-Landtagsfraktion unter anderem für den Themenbereich Engagement gegen Rechtsextremismus tätig.
Mit dieser Rubrik stellen wir eine Person vor, deren Lebensleistung größere Beachtung verdient. Zum Beispiel in Gestalt von Straßen- oder Schulnamen.
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SCHWERPUNKT l EIN BÜNDNIS FÜR BRANDENBURG
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BÜNDNIS FÜR BRANDENBURG
BÜNDNIS FÜR BRANDENBURG Am 26. November gründete sich unter der Schirmherrschaft von Ministerpräsident Dietmar Woidke das „Bündnis für Brandenburg“. Hinter dem Gründungsaufruf versammeln sich Menschen aus allen gesellschaftlichen Gruppen des Landes: von den Kirchen, über die Gewerkschaften, Unternehmen und Wirtschaftsverbände, aus Politik, Kultur und Kunst, vom Angler- bis zum Bauernverband. Das Bündnis will ein Dach sein für all diejenigen, die ins Gelingen verliebt sind, die wollen, dass die Integration der bei uns Schutzsuchenden gelingt und in Brandenburg auch weiterhin ein Klima der Offenheit herrscht. Das Bündnis will Mut machen und all die Akteure vernetzen, die bereit sind, Flüchtlinge in unsere sozialen Strukturen zu integrieren. Jeder kann dem Bündnis und seinem hier dokumentierten Gründungsaufruf beitreten unter www.buendnis-fuer-brandenburg.de
I
n diesem Jahr haben wir das erste Vierteljahrhundert Brandenburg gefeiert. Aus schwierigen Anfängen heraus haben wir Bürgerinnen und Bürger Brandenburg in den vergangenen 25 Jahren zu einem erfolgreichen demokratischen Gemeinwesen gemacht. Der Aufbau ist gelungen: Miteinander und Zusammenhalt, Solidarität und Toleranz werden bei uns in Brandenburg besonders groß geschrieben. Auf unsere Brandenburger Erfolgsgeschichte sind wir stolz. Wir in Brandenburg haben diesen Aufbruch gemeinsam geschafft, weil wir uns von Herausforderungen, Krisen oder Rück-
schlägen niemals entmutigen oder gar umwerfen lassen haben. Ob Wirtschaftskrisen, Massenarbeitslosigkeit oder Hochwasser – immer wenn es schwierig wurde, haben wir nicht gezaudert und gehadert, sondern gemeinsam angepackt. Wir haben Probleme gelöst und neue Ideen entwickelt. Es ist diese Haltung des Hinkriegens, die uns hier in Brandenburg auszeichnet. Mit ihr haben wir unser Land aufgebaut. Auch darauf sind wir stolz. Heute stehen wir aufs Neue vor großen Aufgaben. Die Ankunft einer hohen Zahl von zu uns geflüchteten Menschen in unserem Land stellt für alle Beteiligten eine beispiellose Herausforderung dar 45
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– für die notleidenden Flüchtlinge, aber ebenso für die Bürgerinnen und Bürger Brandenburgs, für unsere Verwaltungen, für die Vereine und Verbände, für die Unternehmen und für die vielen ehrenamtlich Engagierten im Land. Unzählige Brandenburger haben in den vergangenen Monaten spontan, solidarisch und mitmenschlich geholfen, heimatlos gewordenen Menschen in Brandenburg einen guten Neuanfang zu ermöglichen. Und auch darauf können wir richtig stolz sein. Selbstverständlich muss auf der Ebene der europäischen und internationalen Politik alles daran gesetzt werden, die Ursachen massenhafter Fluchtbewegungen zu beheben. Wir erwarten von der Bundesregierung und den Institutionen der Europäischen Union, dass sie dafür alles in ihrer Macht Stehende tun. Klar widersetzen werden wir uns jedoch den erklärten Gegnern unserer freiheitlichen und solidarischen Gesellschaft, die die aktuelle Verunsicherung von Bürgerinnen und Bürgern für ihre Zwecke ausnutzen wollen. Wir in Brandenburg wissen, dass Rechtsextremisten und Fremdenfeinde nicht das geringste Interesse daran haben, die wirklichen Probleme der Men 46
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schen in unserem Land zu lösen. Vielmehr arbeiten diese Kräfte aktiv auf das Scheitern des erfolgreichen Gemeinwesens hin, das wir in den vergangenen 25 Jahren gemeinsam aufgebaut haben. Wir werden ihnen mit aller politischen, rechtsstaatlichen und zivilgesellschaftlichen Kraft entgegentreten. Dabei werden wir umso erfolgreicher sein, je besser es gelingt, die aktuelle Herausforderung der Flüchtlingsaufnahme in einen langfristigen Vorteil für alle Beteiligten zu verwandeln und damit als eine große Chance für die Weiterentwicklung unseres Gemeinwesens zu begreifen. Brandenburg ist heute ein wunderbares Land, doch alle wissen: Wir stehen vor schwierigen demografischen Entwicklungen. Wir müssen die Arbeits- und Fachkräfte gewinnen, die wir in Brandenburg benötigen, um unseren Wohlstand und unsere Lebensqualität in Zukunft zu bewahren. Schon heute suchen unsere Unternehmen händeringend nach Auszubildenden und Nachwuchspersonal. Unser aller Wohlstand und unsere Lebensqualität hängen davon ab, dass wir Einwanderer für Brandenburg gewinnen und ihnen Lebensperspektiven in allen Teilen unseres Landes bieten.
BÜNDNIS FÜR BRANDENBURG
Mit der Ankunft vieler möglicher „neuer Brandenburger“ erwächst uns nun eine unverhoffte Chance, die bevorstehenden demografischen Herausforderungen Brandenburgs zu mildern. Voraussetzung dafür ist die erfolgreiche Integration der potenziellen „Neu-Brandenburger“, die gegenwärtig in unserem Land eintreffen. Deshalb unterstützen wir alle „Neu-Brandenburger“ bei ihren Bemühungen um Teilhabe an Arbeit und Gesellschaft, besonders indem wir ihre sprachliche, schulische und berufliche Entwicklung aktiv fördern. Genau hier liegt der Schlüssel für gelingende Integration. Sie brauchen uns – und wir brauchen sie! Für diesen Grundgedanken zu werben ist das Ziel unseres Bündnisses für Brandenburg. Gemeinsam und als breite gesellschaftliche Bewegung werden wir in den kommenden Monaten Konzepte dafür entwickeln, weiterentwickeln und umsetzen, damit die Integration der zu uns geflüchteten Menschen gelingen kann. Gemeinsam mit ihnen werden wir die Erfolgsgeschichte Brandenburgs fortschreiben. Gemeinsam und mit großer Entschlossenheit werden wir alle Kräfte bekämpfen, die auf das Scheitern unseres
freiheitlichen und toleranten, demokratischen und solidarischen Gemeinwesens setzen. Wir wollen, dass Brandenburg gelingt! Potsdam, 26. November 2015
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WOLFGANG SCHROEDER l DIE DOPPELTE INTEGRATION
DIE DOPPELTE INTEGRATION Wie es mit vorsorgender Politik gelingen kann, die Herausforderungen der Migration zu bewältigen – Von Wolfgang Schroeder
I.
Die seit 2013 stark gewachsene Zuwanderung stellt Politik, Verwaltung und Gesellschaft vor große Herausforderungen. Eigentlich hat Politik immer mit Integrationsaufgaben zu tun. Denn immer sind Individuen und ganze Gruppen davon bedroht, aus der Gesellschaft herauszufallen oder gar nicht erst in sie hineinzukommen. Die Herausforderungen, die an eine wirksame Integrationspolitik gestellt werden, sind sehr unterschiedlich. Meist geht es entweder um eine sozial-ökonomische Integration, damit diejenigen, die nur über geringe soziale und ökonomische Ressourcen verfügen, materiell unterstützt und eingebunden werden können. Oder wir zielen auf eine kulturelle Integration, um Minderheiten, die andere Deutungs- und Lebenspräferenzen haben, in bzw. mit der Mehrheitsgesellschaft zu verbinden. Bei der gegenwärtig beobachtbaren Zuwanderungspolitik sind beide Dimensionen gefordert:
Nötig ist sowohl eine kulturelle wie auch eine sozio-ökonomische Integrationsperspektive. Und die Aufgabe von Politik besteht darin, die Bedingungen dieser doppelten Integration so zu gestalten, dass sie zum Wohle aller möglichst gut gelingt. Eine Dauerbaustelle Auch wenn Integrationsfragen ein zentraler Dauer-Gegenstand von Politik ist, wissen alle, dass sich die gegenwärtige Zuwanderungsdimension nicht im Normalmodus bewältigen lässt. Deshalb ist das Brandenburger „Bündnis für Brandenburg“ gegründet worden. Dadurch wird deutlich herausgestellt, dass das Land vor einer besonderen Herausforderung steht, die aber bei allen Schwierigkeiten auch Chancen für das Land bietet. Weil diese Herausforderung sowohl Chancen wie auch Risiken beinhaltet, ist Politik auch gefordert, sowohl gesinnungs- wie auch 49
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verantwortungsethische Momente zu verbinden. Denn wer nur pragmatisch handelt, unterschätzt bei allen Schwierigkeiten auch die Chancen, die eine auf Werten und Haltungen begründete Politik ermöglichen kann. Dass, was wir gegenwärtig versuchen, also die Integration von einer zuvor so nicht gekannten Zahl von Zugewanderten, lässt sich nicht nur mit technokratisch-administrativen Mitteln erfolgreich betreiben. Ohne gelingende Integrationsprozesse sind Gesellschaften labil, verlieren an Leistungsfähigkeit und Lebensqualität. Und labile Gesellschaften sind solche, die sich ihrer Kräfte und Identität unsicher sind. Sie können nicht das tun, was man tun muss, um erfolgreich zu sein. Und bleiben damit unter ihren Möglichkeiten. Schnell wechselnde Aufgaben Dabei wechseln die Herausforderungen schnell. Bedenken wir, dass noch 2008/2009 mehr Menschen das Land verlassen haben als hierhergekommen sind. Mit den vielen Flüchtlingen, die wir in den vergangenen Monaten aufgenommen haben, sind die gesellschaftlichen Integrationskünste besonders gefordert. Im Vordergrund stehen 50
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zunächst viele ganz praktische Probleme von der Unterbringung, der Versorgung bis hin zu vielen rechtlichen Fragen, die täglich zu klären sind. Dann ist dies alles auch eingebunden in engagierte und emotional geführte innergesellschaftliche Debatten über das Selbst- und Solidarverständnis von Politik und Gesellschaft. Dabei stehen sich durchaus sehr unterschiedliche zum Teil sogar unversöhnliche Sichtweisen gegenüber. In solchen Zeiten, die bei nicht wenigen zur Verunsicherung und Ungewissheit führen, haben Demagogen der Abschottung, der Schließung des Denkens in homogenen Gesellschaftsbildern Hochkonjunktur. Es geht um zwei Gruppen Einfache Antworten, die aber in einer komplexen, vernetzten Welt nicht funktionieren. Aber auch damit müssen wir uns auseinandersetzen. Als eines der ersten Bundesländer hat Brandenburg mit dem „Bündnis für Brandenburg“ eine gezielte Koordination zwischen Staat und Zivilgesellschaft auf den Weg gebracht. Wenn wir heute darüber nachdenken, wie wir unser Land unter den gegebenen Bedingungen voran bringen können, dann ist ein Denken, dass
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sich nur auf die Flüchtlinge konzentriert, unzureichend. Schließlich geht es immer um zwei Gruppen. Und zwar um die, die hierherkommen und hier bleiben wollen, also die Zugewanderten und diejenigen, die hier sind, also die Aufnahmegesellschaft. Es geht also um eine doppelte Integrationsperspektive: Diejenigen, die hier sind, müssen für die Chancen der neuen Situation gewonnen werden, ihnen muss plausibel gemacht werden, dass es auch darum geht, wie sie, wie wir in Zukunft leben und arbeiten.
II.
Klar ist, dass Deutschland nicht alle Probleme der Welt lösen kann. Es können auch nicht alle hierbleiben, die zu uns gekommen sind. Aber diejenigen, die eine Bleibeperspektive haben, müssen so schnell und so gut wie mögliche in eine Integrationsperspektive eingebunden werden. Denn trotz aller gegenwartsbezogenen Schwierigkeiten können wir mit der Integration der Asylbewerber für unser Land viel gewinnen. Wir helfen Menschen, die von Verfolgung, Not und Zukunftsangst bedroht sind. Das ist ein Wert und eine Praxis für sich, die mit unserem Menschsein, mit den Menschenrechten, aber auch unserem grundgesetzlich
verbrieften Rechtsansprüchen zusammenhängen. Darauf können wir, jeder Einzelne, aber auch wir als Gemeinschaft stolz sein. Zudem können wir, wenn wir die Weichen richtig stellen, Antworten auf den demografischen Wandel und den Fachkräftemangel geben. Einwanderung – ob von Flüchtlingen oder aus EU-Ländern – kann den Bevölkerungsrückgang ausgleichen und den Rückgang der Erwerbsbevölkerung abfedern. Die Überalterung der Gesellschaft kann die gegenwärtig stattfindende Einwanderung vorerst aber nicht kompensieren. Wenn wir es schaffen, Asylbewerber und Flüchtlinge erfolgreich zu integrieren, ist die Einwanderung nicht nur eine Chance für die betroffenen Menschen, sondern auch für unser Land. Wenn wir es jedoch nicht schaffen, dann werden alte Konflikte befördert und zugleich neue geschaffen.
III.
Migranten sind sehr unterschiedlich. Sie sind Teil unterschiedlicher Ethnien, Konfessionen, sie kommen aus politischen Systemen und Wirtschaftsformen, die anders sind als unser System. Sie haben ihr Land verlassen, weil die dortigen Lebensverhältnisse lebensbedrohend, feindlich, zu 51
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kunftsverbauend sind. Die meisten kommen aus Syrien, Albanien, Kosovo, Afghanistan, dem Irak. Aus den Erfahrungen der letzten Jahre wissen wir, dass etwa zwei Drittel der Zuwanderer langfristig hierbleiben und sich mithin dauerhaft in unsere Gesellschaft integrieren wollen. Knapp 54 Prozent der Antragsteller sind jünger als 25 Jahre – zum Vergleich: Der Anteil der deutschen Bevölkerung in dieser Altersgruppe beträgt gerade mal 24 Prozent. 80 Prozent der Asylbewerber sind sogar jünger als 35 – zum Vergleich: Der Anteil der deutschen Bevölkerung in dieser Altersgruppe beträgt 36 Prozent. Zudem sind ca. zwei von drei Asylbewerbern männlich. Der Anteil der Säuglinge unter einem Jahr liegt bei knapp 5 Prozent – der Anteil der Säuglinge in Deutschland beträgt 0,9 Prozent.
der Flüchtlinge haben eine Schule besucht. Was sagen uns diese Daten nun? Zunächst einmal: Wir haben es mit jungen, männlich dominierten und überwiegend noch geringqualifizierten Menschen zu tun. Dabei muss man auch die restriktiven Herkunftsbedingungen in Rechnung stellen. Denn klar ist, dass wir es mit Menschen zu tun haben, die aus Ländern kommen, wo der Besuch höherer Schulen selten ist und ein duales Ausbildungssystem nicht existiert. Durch ihre lange, in vielen Fällen beschwerliche und gefährliche Reise beweisen sie aber auch, dass sie nicht hierher gekommen sind, um sich auszuruhen, sondern um etwas aus ihrem Leben zu machen.
Wenig belastbare Zahlen
Viele wollen lernen, arbeiten, mit uns leben und aufsteigen. Sie sind flexibel, haben interkulturelle und in vielen Fällen gute sprachliche Kompetenzen jenseits ihrer Heimatsprache. Sie sind neugierig und veränderungsorientiert. Angesichts des Alters sind positive Weichenstellungen möglich und notwendig. Zugleich gibt es in einzelnen Ethnien und Gruppen, vor allem aus dem arabischen Bereich, aber auch an-
Zur Qualifikationsstruktur der Flüchtlinge gibt es bisher noch keine wirklich belastbaren Daten. Allerdings lassen sich auf der Basis von jüngsten Umfragen einige Tendenzen erkennen. Demnach sind etwa 8 Prozent der Schutzsuchenden Akademiker, 24 Prozent haben eine Berufsausbildung und 67 Prozent sind ungelernt. 88 Prozent 52
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Viele wollen aufsteigen
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dere Haltungen und Lebensweisen, mit denen wir uns auseinandersetzen müssen und zwar nicht zuletzt weil sie vieles gefährden können, wenn eine angemessene und frühzeitige Auseinandersetzung damit unterbleibt. Wie sollte der Umgang mit den Asylbewerbern mit Bleibeperspektive also gestaltet werden? Wir sollten ihnen signalisieren, dass wir an ihnen interessiert sind und unseren Beitrag leisten wollen, um ihnen die Integration zu ermöglichen. Unsere Haltung sollte so sein, dass wir Flüchtlinge als Mitbürger, Nachbarn, Freunde, Kollegen, zukünftige Fachkräfte gewinnen wollen, die unser gemeinsames Gemeinwesen bereichern.
IV.
Zwei orientierende Grundprinzipien für eine gelingende Integrationspolitik gilt es zu bedenken. Zunächst einmal hat sich Brandenburg in den letzten Jahren sehr verdient gemacht, um eine Weiterentwicklung des deutschen Sozialstaates im Sinne einer vorsorgenden Sozialstaatskonzeption. Dieses Konzept bietet einen hervorragenden Rahmen für die neue Zuwanderungspolitik. Denn die vorsorgende Sozialpolitik setzt ja gerade darauf, die Menschen so früh wie möglich zu fördern, um
sie zu befähigen ihre Talente und Wünsche zu realisieren. Das Motto dieser Politik lautet: Investieren in Menschen durch Menschen mit Hilfe von Institutionen. Zweitens geht es um die Grundprinzipien der doppelten Integration: Zur gelingenden Integration bedarf es des Willens der Zugewanderten sich zu integrieren. Normativ ist das Maß der Dinge unser Grundgesetz. Genauso benötigen wir aber auch eine Aufnahmegesellschaft, die ihren aktiven Beitrag für das Gelingen der Integration leistet. Dazu gehört es auch, sich mit denjenigen zu befassen, die Ängste und Schwierigkeiten in den Vordergrund rücken. Vor allem darf es durch die Politik der Zuwanderung nicht dazu kommen, dass die Schwachen in unserer Gesellschaft sich bedroht fühlen. Ihnen muss genauso unser Augenmerk gelten, wie jenen, die jetzt zuwandern. Denn klar ist, dass das Gefühl derjenigen ernstzunehmen ist, die sich bisher schon benachteiligt fühlen, die sich vor Verteilungskämpfen fürchten oder die befürchten ihre Lebensperspektiven weiter einschränken zu müssen.
V.
Wir sehen also die wichtigsten Handlungsfelder und mögliche Maßnahmen aus? 53
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Erstes Handlungsfeld Bildung. Dieser Bereich ist zentral für Kinder und Jugendliche. Deshalb besteht hier eine Mammutaufgabe für Kitas, Schulen und Vereine. Gerade unter Berücksichtigung der hohen Säuglings- und Kinderzahl kommt aber auch Initiativen zur frühkindlichen Förderung wie dem „Netzwerk gesunde Kinder“ eine große Bedeutung zu. Es geht vor allem um eine gezielte Sprachförderung für Kinder unabhängig vom sozialen und kulturellen Hintergrund. Das Ziel heißt, einen gleichberechtigten Zugang zu unserem Bildungssystem zu ermöglichen. Bevor der Zugang zum Arbeitsmarkt realisiert werden kann, steht für viele der Erwerb von Sprache, Zertifikaten und Bildungsmaßnahmen auf dem Programm, weil anders der Einstieg in den Arbeitsmarkt nicht zu realisieren ist. Das Erlernen der Sprache ist der wichtigste Baustein, der eine gelingende Integration in unsere Gesellschaft ermöglicht. Gezielt Tore öffnen Es gehört also zu unseren zentralen Aufgaben, gezielte Maßnahmen im Bereich der Sprachförderung zu ergreifen, um den jungen Zuwanderern das Tor zu unseren Bildungs 54
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institutionen zu öffnen. Dies ist die Grundvoraussetzung für eine erfolgreiche Teilnahme am Schulunterricht, für die Erlangung eines qualifizierten Schulabschlusses und für eine qualifizierte Berufsoder Hochschulausbildung. Darüber hinaus müssen Maßnahmen für Weiterbildungsangebote geschaffen werden, die es den Migranten ermöglichen, bereits im Ausland erworbene Fachkenntnisse zu vertiefen und anzuwenden. Durch all diese Schritte werden die Teilhabechancen für Arbeit eingeleitet und erhöht. Bereits auf diesem Feld können die Sozialpartner ihre Ressourcen für die Betriebe und deren Integrationsfähigkeit gezielt einsetzen. Zweitens, das eigentliche Ziel heißt Integration über Arbeit. Da selbst bei denen, die bereits über hinreichende Zertifikate und Berufserfahrungen verfügen, die Integration in den Arbeitsmarkt kein Selbstläufer ist, sind zunächst einmal frühe aktivierende Maßnahmen notwendig. Dazu zählen Praktika, Teilnahme im Förderjahr und natürlich Ausbildungsplätze. Für die Unternehmen sind damit zusätzliche Anstrengungen verbunden, die allerdings durch die Angebote der Tarifvertragspartei-
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en, des Bundes, des Landes und nicht zuletzt der Arbeitsagentur unterstützt werden müssen. Der Instrumentenkasten für Langzeitarbeitslose kann den Zugewanderten genauso zugutekommen, wie denen, die als Inländer gefördert werden müssen. Mit dem Arbeitsagentur-Pilotprojekt „Early Intervention“ liegen auch schon Ergebnisse eines Programmes vor, dass sich früh und intensiv mit den Asylbewerbern befasst. Mit dem Gesetz zur Anerkennung ausländischer Berufsabschlüsse sind Grundlagen gelegt, die jetzt mit Leben ausgestattet, dafür Sorge tragen sollten, dass die vorhandenen Qualifikationen schnell durch Nach- und Anpassungsqualifizierung ergänzt werden können. Dazu kann in Brandenburg eine gut funktionierende Sozialpartnerschaft den Rahmen setzen. Hinzu kommen müssen aber auf jeden Fall die IHKs, Wirtschaftsverbände und Arbeitsagenturen. Integration ist mehr als die Summe einzelner Förderangebote. Deshalb ist der Blick auf das gesellschaftliche Umfeld, das für all diese Aktivitäten wichtig ist, notwendig. Drittes Handlungsfeld Gesellschaft: Integration kann natürlich nicht nur über Bildung und Arbeit
gelingen, sondern sie muss sich im Alltag bewähren und vorangetrieben werden. Die aktive Beteiligung von Zuwanderern am Vereinsleben kann ein sinnvoller Einstieg und Ankerpunkt sein. Möglich ist dies insbesondere über die vielfältigen Angebote der Sport- und Freizeitvereine, vom Anglerverein bis zur Freiwilligen Feuerwehr. Gemeinsame Aktivitäten verbinden Menschen, geben ihnen das Gefühl dazuzugehören, motivieren dazu, sich anzustrengen, um anerkannt zu werden. Eine wichtige Rolle bei Integrationsprozessen spielen somit vor allem die Kommunen und zivilgesellschaftlichen Akteure, wie Gewerkschaften, Kirchen, Vereine.
VI.
Wirft man zum Ende nun einen zusammenfassenden und resümierenden Blick auf das Gesagte, dann wird Folgendes deutlich: • Integration kann nur gelingen, wenn die Politik einen stabilen Rahmen vorgibt. Mit dem erprobten Bündnis des „Toleranten Brandenburg“ gibt es einen Erfahrungswert, der deutlich macht, welche Differenzen damit einhergehen, wenn man in Länder wie Sachsen oder Thüringen schaut, die solche Strukturen nie aufgebaut haben. Denn 55
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ohne die Kooperation zwischen Staat und Zivilgesellschaft, ohne die aktive Unterstützung der zivilgesellschaftlichen Akteure wird diese Aufgabe nicht positiv zu realisieren sein. Wir brauchen für die Zivilgesellschaft einen starken, aufgeklärten und zukunftsorientiert handelnden Staat. • Die Migranten müssen zugleich aber ebenfalls die Bereitschaft aufbringen, sich Sprache und Kultur anzueignen. Staat und Zivilgesellschaft sollten um die Asylbewerber mit Bleibeperspektive werben, sich für sie aktiv interessieren und sie motivieren, die vorhandenen Angebote zu nutzen. Integration kann nämlich nur dann gelingen, wenn das Zusammenspiel zwischen der Aufnahmegesellschaft und den Zuwanderern gelingt. Dies ist ein Prozess, der sich im Spannungsbogen von Engagement und Enttäuschung bewegt. Es handelt sich nicht um eine mit Gebrauchsanweisung zu realisierende Erfolgspolitik. Vielmehr wird nicht alles glatt gehen, manches wird scheitern, weshalb wir in diesem Prozess eine gewisse Frustrationstoleranz benötigen und einen Kompass, der uns zeigt, warum und mit 56
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welchem Ziel diese Politik verfolgt werden muss. • Integration kann gelingen, wenn die Handlungsfelder gut miteinander verzahnt sind und Integrationsmaßnahmen in allen Bereichen initiiert und zielgruppengerichtet eingeführt werden. In diesem Sinne bietet die Herausforderung der Zuwanderung die Chance, unsere Institutionen, also beispielsweise unsere Bildungs- und Arbeitsmarktinstitutionen sowie die Spielregeln des Förderns und Forderns auf den Prüfstand zu stellen und sie zu verbessern. Etwas pathetischer formuliert bietet dies die Chance für eine positive Modernisierung von Politik und Gesellschaft. Es liegt an uns Wir haben die Möglichkeit durch eine entschiedene, frühzeitige und passgenaue Integrationspolitik dazu beizutragen, dass sich unsere Gesellschaft positiv weiter entwickelt und sich damit vor allem individuelle Entfaltungsmöglichkeiten und gesellschaftliche Integrationskraft verbessern. Wenn dies alles aber nicht gelingt, dann kann es aber auch zu einer großen Belastung für die Gesellschaft mit hohen Folgekosten kommen.
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Deshalb ist es so wichtig jetzt zu investieren. Zur Not auch auf Pump. Denn die Folgekosten für jetzt nicht erfolgte Investitionen, werden alles übersteigen, was wir uns jetzt vorstellen können. Damit gemeint sind die Kosten für Arbeitslosigkeit, soziale Sicherungssysteme und Kriminalität. Es liegt also an uns allen, wie wir mit der Großaufgabe Integration umgehen. Ich bin überzeugt davon, dass es uns gelingen kann, Integration so zu begreifen und so zu denken, dass wir uns als Gesellschaft insgesamt weiterentwickeln. Dafür gilt es jetzt die ersten Schritte einzuleiten. Die Gestaltung einer sinnvollen Integration über Bildung und Arbeit ist in diesem Zusammenhang die dringlichste Aufgabe, die wir lösen müssen. Verfolgen wir trotz aller aktuellen Widrigkeiten diesen Weg konsequent weiter, so sind die Chancen groß. Gelingt uns das, so zeigen wir, dass wir nicht zum ersten Mal in der Lage sind, eine gesellschaftliche Großaufgabe zu meistern. So sind wir es, die der Geschichte der bundesdeutschen Migration ein weiteres und zwar ein positives Kapitel hinzufügen. Integration ist kein Spaziergang; es ist jedoch besser sie zu gestalten als sie zu erleiden. Und genau dafür kann das „Bündnis
für Brandenburg“ einen wichtigen Rahmen bilden!
PROF. DR. WOLFGANG SCHROEDER ist Professor der Politikwissenschaft an der Universität Kassel und war Sozialstaatssekretär in Brandenburg.
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DIE MITTE UND DIE FLÜCHTLINGSKRISE Über Humanität, Geopolitik und innenpolitische Folgen der Aufnahmeentscheidung – Von Herfried Münkler
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er Begriff „Mitte“ hat viele Bedeutungen: die soziale Mitte einer Gesellschaft, das mittlere Segment eines sich nach rechts und links erstreckenden Parteienspektrums, die geografische Mitte eines Raumes. Ist von der Mitte die Rede, so ist zunächst selten klar, welche Bedeutung gemeint ist: die soziologische, die politikwissenschaftliche oder die geografische. Semantische Eindeutigkeit ergibt sich fast immer erst aus dem Kontext; nur selten erklärt der Sprechende explizit, in welcher Bedeutung er den Begriff der Mitte verwendet. Er kann sich das leisten, weil alle divergenten Bedeutungen von Mitte einen gemeinsamen Sinn haben: Sie ist die Größe, die etwas zusammenhält, die dafür sorgt, dass es nicht auseinanderfällt oder sich in Einzelteile auflöst, gleichgültig, ob es sich dabei um eine Gesellschaft, das Spektrum parteipolitischer Optionen oder einen soziokultu-
rellen Raum handelt. In welcher Bedeutung oder Funktion auch immer Mitte gedacht wird – sie ist der Ort beziehungsweise die Größe, ohne die ihre wie auch immer bestimmte Umgebung nicht gedacht werden kann. Eine privilegierte Position Offensichtlich ist der Platz in der Mitte beziehungsweise die Verfügung darüber eine privilegierte Position. Entsprechend umkämpft und umstritten ist die Mitte, und deswegen ist sie auch gefährdet, mitunter sogar bedroht: entweder, weil alle in die Mitte hineindrängen, was zu „Überfüllung“ führt, oder weil die Zentrifugalkräfte, die von den sozialen, politischen oder räumlichen Rändern auf die Mitte einwirken, so groß werden, dass die Mitte zu zerreißen oder sich zu spalten droht. Entgegen allen nach Ruhe, Gemütlichkeit und Langewei 59
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le klingenden Assoziationen ist die Mitte ein umstrittener und umkämpfter Ort. Und nicht nur das: Infolge des den unterschiedlichen Bedeutungen gemeinsam inhärenten Sinns, ein Ganzes zusammenzuhalten und zu organisieren, kommt ihr auch eine Aufgabe zu, die sie erfolgreich zu bewältigen hat, an der sie aber auch scheitern kann. Ein solches Scheitern der Mitte im soziopolitischen Sinn und ebenso ein Scheitern an der Mitte im geopolitischen Sinn durchzieht die deutsche Geschichte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts; deswegen hat der Begriff der Mitte in Deutschland eine besondere Signalfunktion, durch die er sich von der soziopolitischen Kultur der meisten anderen Länder unterscheidet. In der Regel wird das unter der Überschrift „Weimar als Warnung“ verhandelt. Die Mitte ist entscheidend Betrachtet man die deutsche Geschichte zwischen 1890, dem Ende der Bismarck-Ära und dem Anfang des „Wilhelminismus“, und dem Zusammenbruch der nationalsozialistischen Großreichsbildung 1945 im Hinblick auf die drei genannten Bedeutungen von Mitte, so fällt auf, dass das soziopolitische Scheitern 60
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an den Aufgaben der Mitte und das geopolitische Scheitern an der Mitte fast immer zusammenfallen: So hat das Bürgertum im Kaiserreich weder in sozialer noch in politischer Hinsicht die Rolle gespielt, die ihm als Mitte zugekommen wäre, und entsprechend ist es auch an den Aufgaben der Mitte gescheitert: die soziale Spannweite zwischen oben und unten überschaubar zu halten und die politischen Konflikte zwischen links und rechts zu moderieren. Woran Weimar scheiterte Parallel dazu hat die politisch-militärische Elite des Reichs im Sommer 1914 nicht begriffen, dass dessen Raison in der Separierung und Begrenzung der Konflikte in Europa bestand; stattdessen hat diese Elite darauf gesetzt, alle Konflikte miteinander zu verbinden. Das Ergebnis war der Erste Weltkrieg und an dessen Ende die Niederlage des Deutschen Reichs sowie der Zerfall der Donaumonarchie, die als „Mittelmächte“ miteinander verbündet waren. In der Weimarer Republik hatten zunächst die politischen Kräfte der Mitte das Übergewicht, aber diese politische Mitte war starken Erosionsprozessen ausgesetzt. Als diese
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in der Weltwirtschaftskrise auf die soziale Mitte übergriffen, war die Republik von Weimar am Ende. Die Position der gesellschaftlichen Mitte übernahm in der NS-Ideologie die Vorstellung von der „Volksgemeinschaft“, und anstelle eines außenpolitischen Arrangements mit den Nachbarn wurde mehr und mehr eine aggressiv-expansionistische Politik verfolgt, die schließlich in den Zweiten Weltkrieg führte. Ein weiteres Mal war Deutschland an den Imperativen der Mitte gescheitert. Die „Bonner Republik“ war wie keine Ordnung in Deutschland zuvor ein Staat der soziopolitischen Mitte: Die Parteien am rechten und linken Rand, zunächst noch im Parlament vertreten, verschwanden nach einiger Zeit aus dem Bundestag, und die sozialen Strukturen der Republik sind mit Grund als „nivellierte Mittelstandsgesellschaft“ bezeichnet worden. Eine andere Republik? Aber diese Bundesrepublik war nicht die geopolitische Mitte Europas, sondern ein Frontstaat des westlichen Bündnisses, und diese exponierte Lage hatte großen Einfluss auf die inneren Konstellationen der Republik. So stand von
Anfang an die Frage im Raum, ob die „Berliner Republik“, die mit dem Ende der Blockkonfrontation und der Osterweiterung der EU in die geopolitische Mitte Europas gerückt war, auch die soziopolitische Mitte werde bewahren können oder ob es mit dem Fortfall des Feindbildes, zumindest der konfrontativen Herausforderung durch den „Osten“, zu einer Spreizung der Vermögens- und Einkommensverhältnisse sowie einer Polarisierung in der politischen Landschaft kommen werde, in deren Verlauf die soziopolitische Mitte ihre hegemoniale Position verlieren werde. Macht in der Mitte Europas Als Kandidaten, die diese Entwicklung forcieren könnten, wurden die Globalisierung und deren soziale Folgen genannt, dazu der Wandel von einer Industrie- zu einer Dienstleistungsgesellschaft und schließlich ein wachsendes Unbehagen an den Großen Koalitionen der Mitte, durch das die Parteien rechts und links der Mitte von ihren jeweiligen Flügeln zu schärferen programmatischen Konturen und damit zum Aufgeben der politischen Mitte gezwungen werden könnten. Das ist nicht – jedenfalls nicht in dem prognostizierten Ausmaß – einge 61
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treten. Es waren vielmehr äußere Herausforderungen, die das Risiko einer Spaltung der Mitte mit sich gebracht haben, und unter diesen Herausforderungen kommt der Flüchtlingskrise eine ausschlaggebende Rolle zu. Die EU hat sich nicht so entwickelt, wie sich das die meisten Beobachter zur Jahrtausendwende vorgestellt haben. Erweiterung und Vertiefung der Union, so die damalige Überzeugung, würden Hand in Hand gehen, und gleichzeitig werde es gelingen, das bisherige Elitenprojekt zu demokratisieren, das heißt, den EU-Wahlbürgern eine direkte und unmittelbare Einflussnahme auf die Zusammensetzung des Europäischen Parlaments und der Europäischen Kommission zuzubilligen. Die Zuversicht dominierte Zwar gab es Stimmen, die warnten, dies werde auf eine strukturelle Herausforderung der bestehenden Institutionen hinauslaufen, aber insgesamt dominierte die Zuversicht, dass das aus allen Krisen gestärkt hervorgegangene Europaprojekt auch die mit Vertiefung und Erweiterung verbundenen Herausforderungen bewältigen werde. Die Gefahr eines Anwachsens der 62
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Zentrifugalkräfte sah man nicht, und wenn man sie sah, unterschätzte man deren Ausmaß. Schon vor dem Wendepunkt der EU-Geschichte um 2010 war erkennbar, dass Deutschland in der Union ein Gewicht gewonnen hatte, das dem eines jeden anderen Einzelstaates weit überlegen war und das für den bis dahin den Rhythmus der EU bestimmenden „deutsch-französischen Motor“ Folgen haben musste. Diese Entwicklung wurde durch Veränderungen im Portfolio der Machtsorten noch verstärkt: Militärische Macht hatte nach dem Ende der Blockkonfrontation an politischer Bedeutung verloren, wirtschaftliche Macht dagegen an Gewicht gewonnen. Dass diese Veränderungen zunächst nicht weiter zu Buche schlugen, lag am weitgehenden Verzicht der deutschen Politik, wirtschaftliche Macht für offene politische Einflussnahme zu nutzen. Die Bundesregierung begnügte sich mit einer Politik des leading from behind, und das hatte zur Folge, dass in der europäischen Politik eine „deutsche Handschrift“ nicht erkennbar war. Die Bundesrepublik half Im Gegenteil: Die europäische Politik bestand weitgehend im Finden
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von Kompromissen, und fast immer war die Bundesrepublik dabei behilflich, diese Kompromisse zu finanzieren. Das änderte sich mit der Eurokrise beziehungsweise der Politik zu deren Eindämmung. Mit einem Mal wurde Deutschland nicht mehr als Finanzier von Kompromissen, sondern als Hüter der Verträge wahrgenommen; bei der Redewendung, das Land sei vom „Zahlmeister zum Zuchtmeister“ der EU geworden, wurde freilich übersehen, dass es nach wie vor der europäische Zahlmeister war, nur dass es dies mit Erwartungen an andere verband und diese Erwartungen nicht länger im Unverbindlichen beließ. Das war erforderlich, weil die deutsche Rolle in Europa von der eigenen Bürgerschaft zunehmend kritisch gesehen wurde und das Vertrauen in die prinzipielle Nutznießerrolle Deutschlands zu schwinden begann. Eine doppelte Verteidigung Die Bundesregierung musste ihre Politik der Mitte damit zweifach verteidigen: nach innen, wo sie den Nutzen der EU für die politische Sicherheit und wirtschaftliche Prosperität Deutschlands herausstellte, und nach außen, wo es darum ging,
die Entstehung einer europäischen Transferunion zu verhindern und das Prinzip „Hilfeleistung gegen Reformen“ bei den Empfängern von Krediten durchzusetzen. Die wiederum wehrten sich dagegen, indem sie das Bild des freundlichen Deutschen mit dem des hässlichen Deutschen übermalten, also die NS-Zeit, die deutsche Eroberungspolitik und die mit ihr verbundenen Kriegsverbrechen herauskehrten. Das wiederum führte in der deutschen Bevölkerung zu wachsender Distanz gegenüber Hilfszusagen für Mitgliedsländer, was die Regierung zu einer härteren Haltung bei den Verhandlungen zwang. Die Überschuldungskrise Griechenlands war die erste Krise, die die EU an den Rand des Scheiterns brachte. Die Kompromisse, die schließlich gefunden wurden, haben diese Krise nicht beendet, sondern nur „Zeit gekauft“, um die strukturellen Probleme Griechenlands zu bearbeiten. Ob das der Fall ist und zum Erfolg führt, wird sich noch zeigen müssen. In der Eurokrise hat Deutschland jedenfalls seine europäische Führungsrolle offen gezeigt und dabei seine fortbestehende Verwundbarkeit durch den Verweis auf die deutsche Geschichte zwischen 1933 und 1945 erfahren müssen. 63
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Mit der Annexion der Krim und dem Krieg in der Ostukraine kam es zur zweiten Krise der EU. Die Kommission hatte bei den Assoziierungsverhandlungen mit der Ukraine mit einer derart massiven russischen Reaktion nicht gerechnet und war danach mit einer entschlossenen Antwort darauf überfordert – nicht zuletzt auch deswegen, weil sich die 28 Mitgliedsländer entsprechend ihrer geografischen Lage unterschiedlich bedroht fühlten und bei wirtschaftlichen Sanktionen gegen Russland ihre jeweiligen Interessen berücksichtigt wissen wollten. Dann kam die zweite Krise In dieser Krise zeigte sich zweierlei: zunächst die überaus begrenzte außen- und sicherheitspolitische Handlungsfähigkeit der EU und sodann abermals die Führungsrolle Deutschlands, unter anderem bei den Verhandlungen in Minsk. Der Schwäche der EU korrespondierte die neue Stärke Deutschlands, und das wurde ebenso wie die deutsche Verhandlungsposition bei der „Griechenlandrettung“ von den Regierungen einiger EU-Länder mit Misstrauen beobachtet. Immerhin nahm Frankreich an den Minsker Verhandlungen teil, so 64
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dass nicht der Eindruck entstehen konnte, Berlin und Moskau würden alleine über die politische Ordnung Ostmitteleuropas miteinander verhandeln. Das deutsche Agieren in beiden Krisen spielte eine erhebliche Rolle im Umgang mit der dritten Krise, der sich die EU seit dem Sommer 2015 ausgesetzt sieht: der Flüchtlingskrise. Neue Stärke Die nach der irischen Hauptstadt Dublin benannten Verträge sehen vor, dass Migranten dort um Asyl ersuchen müssen, wo sie erstmals das Territorium eines EU-Lands betreten, also an deren Außengrenzen. Als „Macht in der Mitte“ wäre bei Einhaltung der Verträge Deutschland für Asylsuchende nur per Flugzeug erreichbar gewesen, und das hätte dem Zuzug von Migranten enge Grenzen gesetzt. Tatsächlich hat sich aber schon bald eine Praxis entwickelt, bei der Italien Flüchtlinge, die über das Mittelmeer kamen, unregistriert nach Norden (Schweiz, Österreich, Deutschland) weiterreisen ließ und bei der Migranten nicht nach Griechenland „zurückgeschoben“ wurden, weil die Lage in den dortigen Flüchtlingslagern menschenrechtlichen Standards nicht entsprach.
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In der Folge entwickelte sich eine Praxis im Umgang mit Flüchtlingen, bei der Dublin III zwar offiziell Geltung besaß, praktisch aber nicht durchgesetzt wurde. Solange die Menge der Flüchtlinge überschaubar blieb, wurde das hingenommen, ebenso wie der Umstand, dass die Außengrenzen der EU zunehmend durchlässiger wurden. Die Grenzen wurden durchlässiger Dann aber wuchs im Sommer 2015 der Flüchtlingszuzug dramatisch an, als sich dessen Zentrum vom Mittelmeer auf die Balkanroute verlagerte. Ende August stand die Bundesregierung vor der Frage, ob sie auf der Einhaltung des Dublin-Abkommens bestehen und gegebenenfalls die deutschen Grenzen schließen oder die Flüchtlinge aufnehmen sollte, was darauf hinauslief, dass Deutschland zu deren Hauptzielland wurde. Bei der Entscheidung für letzteres dürften die Aufgaben einer „Macht in der Mitte“ eine zentrale Rolle gespielt haben. Hätte sich die Regierung nämlich dazu entschlossen, die Grenzen zu schließen, dann wäre dies das Ende des Schengenraums gewesen – und das sollte unter keinen Umständen durch eine deutsche Entscheidung herbeigeführt werden.
Deutschland, so der zu erwartende Tenor, habe in seiner privilegierten Mitteposition die größte Errungenschaft der EU zerstört. Und das in einer Situation, da hierzulande Asylunterkünfte in Brand gesteckt wurden. Die Schließung der Grenzen wäre somit auch auf eine Kapitulation vor den Brandstiftern hinausgelaufen oder hätte jedenfalls so dargestellt werden können. Noch mehr aber ging es darum, den Zerfall des Schengenraums zu verhindern, da zu befürchten war (und ist), dass dies der Anfang vom Ende der EU sein würde. Drohender Stauraum Auch die Folgen eines strikteren, an den Vorgaben von Dublin III orientierten Grenzregimes der Bundesrepublik mussten bedacht werden. Es war absehbar, dass es dann einen Rückstau nach Österreich geben würde, auf den Österreich mit der Schließung seiner Grenzen reagieren würde, woraufhin Ungarn (was es ohnehin getan hat, was aber folgenlos blieb), Slowenien und Kroatien ihre Grenzen geschlossen hätten. Legt man die heutigen Zahlen zugrunde, so wären dann Serbien, Bosnien-Herzegowina, Mazedonien und Griechenland, dazu Albanien und Montenegro, zum 65
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„Stauraum“ für eine halbe Million Flüchtlinge geworden, was dort mit großer Wahrscheinlichkeit zum Zerfall der staatlichen Ordnung und zu gewaltsamen Unruhen geführt hätte. Fast alle diese Staaten sind schwache Staaten und weisen ein brüchiges ethnisches und religiöses Gleichgewicht auf, das durch die Flüchtlinge aus der Balance gebracht worden wäre. – So jedenfalls stellte sich die Lage Ende August 2015 in Berlin dar, und auf der Grundlage dessen wurde der Entschluss gefasst, die Flüchtlinge nach Deutschland zu lassen, um einen Rückstau in den Balkan hinein zu vermeiden. Die Kanzlerin wollte der deutschen Verantwortung als „Macht in der Mitte“ gerecht werden. Es waren also keineswegs nur humanitäre, sondern auch geopolitische Argumente, die ausschlaggebend waren. Man hat der Bundesregierung, namentlich der Kanzlerin, schon bald danach vorgeworfen, sie habe diese Entscheidung ohne Konsultationen mit den europäischen Partnern getroffen; außerdem habe sie keinen Plan für eine auf längere Sicht angelegte Bearbeitung der Flüchtlingskrise gehabt. Ersteres dürfte, im Nachhinein betrachtet, ein Fehler gewesen sein, wobei 66
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freilich für langwierige Konsultationen nicht die Zeit zur Verfügung stand. Einen Plan zur Bearbeitung der Flüchtlingskrise gab es allenfalls in rudimentärer Form: Wie bei den vorherigen Formen der Krisenbearbeitung sollte zunächst „Zeit gekauft“ werden, um eine bessere Sicherung der EU-Außengrenzen zu gewährleisten, Fluchtursachen im Vorfeld dieser Außengrenzen zu vermindern und gleichzeitig eine faire Verteilung der Flüchtlinge auf alle Mitgliedsländer der EU durchzusetzen. Der Plan geht nicht auf Die Länder an den Außengrenzen der EU, namentlich Griechenland, waren überfordert, und Deutschland sollte seiner Position als zusammenhaltende Macht der EU entsprechend als Puffer dienen, bis eine gesamteuropäische Lösung gefunden war. – Dieser Plan ist nicht aufgegangen. Die meisten EU-Mitgliedstaaten haben einen effektiven Beitrag zur Lösung der Flüchtlingskrise verweigert, wobei die Višegrad-Länder Mitteleuropas so weit gegangen sind, die Flüchtlinge als ein rein deutsches Problem zu bezeichnen. Bei der Sicherung der EU-Außengrenzen und der Einrichtung von dort angesiedelten Zent-
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ren, in denen über Aufnahme oder Abweisung entschieden wird, ist man nicht weitergekommen, und die Staaten unmittelbar jenseits der EU-Außengrenzen haben die politischen und finanziellen Kosten einer durch sie bewerkstelligten Drosselung des Flüchtlingszuzugs kontinuierlich erhöht. Sie hatten sehr schnell begriffen, dass die EU in dieser Frage politisch erpressbar war. Drohende Spaltung der Mitte Bereits vor der Grenzöffnung hatte in Deutschland der politische Kampf um die Mitte begonnen, und er wurde nicht nur mit Brandstiftungen gegen Asylbewerberheime auf der einen und demonstrativen Willkommensbekundungen auf der anderen Seite geführt, sondern auch mit neurechten Texten und Stellungnahmen linksliberaler Provenienz; erstere klar offensiv, wobei kulturelle, ethnische und religiöse Identitätsbehauptungen sich wechselseitig ergänzten; letztere dagegen eher in einer Verteidigungshaltung, bei der rechtliche Selbstverpflichtungen und humanitäre Werte ins Feld geführt wurden. Solange die in dem Merkelschen Satz „Wir schaffen das“ zusam-
mengefasste Zuversicht vorherrschend war, neigte die Stimmungslage der Mitte der liberalen Sichtweise zu; sie begann sich im Spätherbst 2015 zu verändern, als die Zahl der Flüchtlinge entgegen den jahreszeitlich begründeten Erwartungen nicht kleiner wurde, und sie kippte, als die Übergriffe in der Silvesternacht am Kölner Hauptbahnhof bekannt wurden. Sie wurden zum Indiz dafür, dass der Prozess der Integration der Neuankömmlinge nicht so leicht vonstattengehen und auch nicht so schnell erfolgen würde, wie manche sich das vorgestellt hatten, und dass dabei erhebliche soziokulturelle Unterschiede zu überwinden waren. Hinzu traten Prognosen, dass die vorhandenen freien Stellen für die Integration der Flüchtlinge in den deutschen Arbeitsmarkt nicht ausreichen würden. Die Mitte scheut zurück Mit der Kölner Silvesternacht wurden „die Mühen der Ebene“ (Bertolt Brecht) sichtbar, und vor deren langer Dauer, dem unabsehbaren Ende sowie den unüberschaubaren Kosten scheute ein Teil der soziopolitischen Mitte in Deutschland zurück. Unter dem Sammelbe 67
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griff „Angst“ zusammengefasste Affekte und Emotionen wurden zum Katalysator des Stimmungsumschwungs. Die sich ausbreitende Angst wurde verstärkt, als klar wurde, dass die Regierung mit dem Minimalplan einer Sicherung der EU-Außengrenzen und einer Europäisierung des Zuzugs von Flüchtlingen nicht weiter gekommen war. Was sich zunächst als zeitlich begrenzte Zwischenlösung ausgenommen hatte, drohte zum Dauerzustand zu werden. Angst steckt an Angst ist – laut Sören Kierkegaard – eine diffuse Empfindung, die von Furcht zu unterscheiden ist: Furcht ist objektbezogen und enthält eine Vorstellung davon, womit man es zu tun hat und worin die Ursachen der Furcht bestehen. Angst dagegen ist eine fluide Disposition, die entweder keine genauen Ursachen anzugeben vermag oder bei der die ängstigenden Ursachen ständig wechseln. Furcht ist an eine Veränderung von Konstellationen zurückgebunden; Angst dagegen ist ansteckend; sie verbreitet sich von selbst, sobald sie begonnen hat, um sich zu greifen. Furcht lässt sich mit Wissen, Aufklärung und konkreten Maßnahmen bearbei 68
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ten; Angst nicht. Als Katalysator politischer Prozesse tritt Angst vor allem in der Mitte der Gesellschaft auf. Furcht vor einer massenhaften Zuwanderung von Flüchtlingen müssen die sozialstatistisch unteren 20 Prozent der deutschen Gesellschaft haben: erstens, weil es sich dabei um Konkurrenten um Arbeitsplätze für Un- und Angelernte handelt, die als Lohndrücker dienen können; zweitens, weil die Flüchtlinge den Druck auf genau jenes Segment des Wohnungsmarkts erhöhen, in dem sich auch dieser Teil der Gesellschaft bewegt; und drittens, weil der Anteil, den der Sozialstaat an Hilfeleistungen zu vergeben hat, bei einem kontinuierlichen Zuzug von Flüchtlingen zwangsläufig auf mehr Anspruchsberechtigte entfällt. Nutzen entsteht erst später Diesen Befürchtungen kann die Politik mit entsprechenden Maßnahmepaketen entgegenwirken, etwa indem sie für die Einhaltung von Mindestlöhnen sorgt (was freilich die Integration der Migranten in den Arbeitsmarkt erschwert) und Programme des sozialen Wohnungsbaus auflegt, die für bezahlbaren Wohnraum
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in den großen Städten sorgen. Bei der Bearbeitung von Furcht ist die Politik operativ gefordert. Davon unterscheidet sich die Bekämpfung von Angst, deren man nicht operativ, sondern allenfalls kommunikativ Herr werden kann. Die für die Unterschicht relevanten Furchtursachen gibt es für die Mittelschicht nicht, weder im Hinblick auf den Arbeits- noch auf den Wohnungsmarkt. Eher ist sie mittelfristig ein Nutznießer von Zuwanderung, insofern etwa aus deren Reihen bezahlbare Altenpfleger und Hilfskräfte im Sozialbereich erwachsen, auf die gerade Mittelschichtangehörige angewiesen sind. Auch die mit der Zuwanderung verbundene wirtschaftliche Stimulation kommt zu einem Teil Mittelschichtangehörigen zugute. Probleme wegarbeiten Aber die Angst in der gesellschaftlichen Mitte fällt nicht in den Bereich politisch und wirtschaftlich kontrollierbarer Prozesse; will man sie bekämpfen, muss man das argumentativ tun, doch das ist schwierig, weil es keinen Punkt gibt, an dem man strukturell ansetzen könnte. Angst kontinuiert sich, indem sie ständig den Referenzbereich wechselt. Die Kölner Silves-
ternacht war darum so verhängnisvoll, weil sie einen durchaus realen, imaginativ freilich überzeichneten Begründungsrahmen der Angst geschaffen hat, gegen den sich mit Zahlen und Statistiken nicht ankommen lässt. Ein entschlossenes Auftreten der Staatsmacht, von verstärkter Polizeipräsenz auf öffentlichen Plätzen bis zu demonstrativen Abschiebungen straffällig gewordener Flüchtlinge, ist die vorerst einzige Reaktion auf die um sich greifende Angst in der gesellschaftlichen Mitte. Es gibt freilich auch einen Modus von Angstbewältigung, der wesentlich in der Zivilgesellschaft angesiedelt ist und auf den die Politik einen allenfalls randständigen Einfluss hat: das „Wegarbeiten“ von Angst durch Engagement in Betreuungs- und Hilfsprojekten für Flüchtlinge. Wenn Angst ein Zustand ist, der nicht zuletzt aus Untätigkeit und dem damit verbundenen Gefühl des Ausgeliefertseins resultiert, dann ist die Arbeit mit Flüchtlingen etwas, das solchen Empfindungen entgegenwirkt. Wenn es gut läuft, gewinnen dabei alle: die Flüchtlinge durch den frühen Beginn der Integration, die Einheimischen, indem sie die Erfahrung von Aktivität und Problembearbeitung machen, und 69
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schließlich Gesellschaft und Politik, insofern die Probleme angegangen werden und die Angst in der Mitte schwindet. Das ist sicherlich nicht die Lösung des Problems, aber doch ein Element bei der Arbeit an dieser Lösung.
PROF. DR. HERFRIED MÜNKLER lehrt am Institut für Sozialwissenschaften der Humboldt-Universität Berlin.
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MAJA WALLSTEIN & EYRUSALEM GOITUM l IDEOLOGIE UND WIRKLICHKEIT
IDEOLOGIE UND WIRKLICHKEIT Zwei sehr persönliche Sichten auf die Flüchtlingsdebatte in Brandenburg – Von Maja Wallstein und Eyrusalem Goitum Maja Wallstein:
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ls sie den Raum betritt, erheben sich etwas mehr als die Hälfte der Anwesenden von den Stühlen, klatschen und johlen lautstark. Es sind vornehmlich Männer über 60. Die Begrüßung der Bundesvorsitzenden der AfD, Frauke Petry, in Cottbus ist unheimlich. Sie selbst gibt sich freundlich und offen, ihre Worte belegen aber, dass sie es nicht ist. Sie sagt, sie könne mit Kritik umgehen, doch als ich, die gebürtige Cottbuserin, immer wieder aufstehe und kritische Fragen stelle, attackiert sie mich persönlich und versucht die Cottbuser gegen mich aufzuwiegeln. Ob ich überhaupt schon Kinder habe, findet sie interessanter als meine Argumente und Fragen. Ein stiernackiger Typ mit einschlägiger Kleidung hat mich erkannt und ruft, ich sei doch von der SPD gekauft.
Natürlich streitet Petry ab, dass sie antidemokratische Zielsetzungen verfolgt, weil sie weiß, dass diese Offenheit schaden würde. Sie behauptet, es ginge ihr um die „Sorgen der Bürger“. Die Sorgen „des Volkes“, das niemanden mehr hat, dem es noch trauen könne, und nun endlich den Mut gefunden hätte, seinen Unmut über die schlechte Gesamtsituation im Land lautstark und mit Taten Luft zu machen. Die Jammerpartei Zuvor hatte Marianne Spring, die Cottbuser AfD-Stadtverordnete, ein endlos wirkendes Klagelied gesungen, wie schlimm es um Deutschland, Brandenburg und Cottbus stehe – angefangen vom politischen System, das nicht mehr funktioniere, den „Altparteien“, die den Bürgerwillen, aber vor allem die AfD ignorierten, über die schlechte Infrastruktur überall im 71
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Land bis hin zur Unsicherheit, der sich die Bürger aufgrund der Anwesenheit zahlreicher Flüchtlinge nun ausgesetzt sähen. Die AfD mausert sich zur Jammerpartei, die jedes Wehklagen am Rande aufsammelt, das Handeln von Putins Russland und Orbáns Ungarn preist, aber gleichzeitig über den Ausverkauf westlicher Werte klagt. Die Erkennungszeichen ihrer neurechten Ideologie sind Slogans, die mit „Wir sind das Volk“ Widerstand gegen das etablierte System bekunden sollen – nur diesmal nicht in einer Diktatur, sondern einer Demokratie. Viele der Anwesenden zeigen Frauke Petry an diesem Abend symbolisch die „rote Karte“. Petry und die AfD werden diese Idee bei ihrer Abschlussveranstaltung der „AfD-Herbst-Offensive“ am 7. November 2015 in Berlin kopieren und „Frau Merkel die Rote Karte“ zeigen. Hilflos bei den Zahlen Die AfD sieht sich als die Pegida-Partei, eine Partei von Opfern, welche sich sammeln und zur Wehr setzen müssten. In Cottbus gibt sich die AfD, wie schon zuvor auf einer Veranstaltung im Landkreis Teltow-Fläming mit der Landtag 72
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sabgeordneten Birgit Bessin und in Potsdam mit ihrem Fraktionsvorsitzenden Alexander Gauland, als Anwalt der Schwachen. Bessin jongliert dabei hilflos mit Zahlen, die einen übermäßigen Zuzug von „falschen Flüchtlingen“ darstellen und einschüchtern sollen. Ihr gegenüber sitzen aber viele Menschen, dir ihr das nicht abnehmen. In dieser Diskussion hat sie keinen leichten Stand. Voller Behauptungen Die AfD behauptet in Cottbus, dass „die Zahl der besorgten Bürger täglich wächst und das rasant“ (Marianne Spring) und dass selbst einige Vertreter der etablierten Altparteien, langsam zur Vernunft kämen. Die Ursachen dafür sieht sie aber nicht in ihren platten Parolen und rechtspopulistischen Argumentationen, nach denen zum Beispiel der Islam gewalttätig sei und deshalb „nicht zu uns“ passe, Flüchtlinge gar nicht so bedürftig seien, da sie ja „Smartphones besäßen“ (Frauke Petry) und das Asylrecht ausgesetzt werden solle, da die Sicherheit und Versorgung der deutschen Bevölkerung in Gefahr sei. Nein, sie richten den Blick vorwurfsvoll auf die Geflüchteten – die Schwächsten der Schwachen.
MAJA WALLSTEIN & EYRUSALEM GOITUM l IDEOLOGIE UND WIRKLICHKEIT
Unterdessen arbeiten hunderte Freiwillige täglich mit genau diesen Menschen zusammen. Diese Helfer beschimpft der AfD-Vizechef Alexander Gauland am 18. November 2015 im Brandenburger Landtag als „nützliche Idioten“. Eyrusalem Goitom:
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eit Anfang 2014 bin ich in Berlin und Brandenburg Dolmetscherin für Deutsch und Tigrinya (einer Sprache aus Eritrea). Ich erlebe, wie wichtig es ist, Sprachbarrieren zu durchbrechen. Es ist nicht leicht, sich in Deutschland zurechtzufinden, oder auch zu Recht zu kommen, wenn man kein Deutsch kann. Da ich selbst vor etwa 25 Jahren als Kriegsflüchtling nach Deutschland kam, fällt es mir nicht schwer, mich in die Lage der Flüchtlinge hineinzuversetzen. Flucht aus Eritrea Bereits im Alter von drei Jahren war ich Gefangene in einem Gefängnis in Äthiopien. Meine hochschwangere Mutter war mit mir und meinen jüngeren Geschwistern vor dem Krieg in Eritrea geflohen und in Äthiopien willkürlich inhaftiert worden. Der
Flucht aus dem Gefängnis über einen handgegrabenen Tunnel folgten Monate der Flucht durch die Sahara; immer nachts, weil sowohl die bombenabwerfenden Flugzeuge als auch die Hitze menschenfeindlich waren. Vom Sudan aus kamen wir nach Nürnberg, wo wir zwei Wochen im Erstaufnahmelager verbrachten. Man wird schnell erwachsen, wenn man solche Erfahrungen macht. Bereits mit sechs Jahren war ich Dolmetscherin und Anwältin der Familie. Und dennoch schüchterten mich die Beschimpfungen der anderen Kinder in meinem bayrischen Dorf ein. Für sie war ich der „Buschneger“. Nichts bleibt spurlos Heute bin ich Jurastudentin an der Europauniversität Viadrina in Frankfurt (Oder). Ich kann gut nachvollziehen, was Flüchtlinge auf ihren Fluchtwegen durchgemacht haben, und warum sie einfach nur einen Ort suchen, wo „Schutz“ und „Gerechtigkeit“ garantiert werden. Ich helfe ihnen die Briefe vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge und diversen Behörden zu verstehen, ich erkläre ihnen, wann und wo sie ihren nächsten 73
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Termin bei den deutschen Behörden haben, übersetze im Krankenhaus und immer bleibe ich neutral. In meiner Tätigkeit als Dolmetscherin höre ich auch einige Fluchtgeschichten, die an mir nicht spurlos vorübergehen. Es sind Geschichten von Menschen, die willkürlich in Gefängnisse in Libyen gesperrt werden. Sie werden dort zusammengepfercht und gehalten wie Vieh, werden geschlagen und misshandelt. Geschichten, wie die der 25-jährigen Frau, die im Gefängnis in Libyen von mehreren Männern vergewaltigt wurde, nun schwanger ist und ebenso wie ihr Kind mit HIV infiziert wurde.
Preis. Gleichzeitig trägt er eine zusätzliche Last mit sich. Die Last der Schuld gegenüber seiner Familie. Seine Angehörigen, die in Eritrea bleiben, zahlen 20 000 Dollar Strafe dafür, dass ihr Kind geflohen ist, mit der Begründung, dass sie die Flucht nicht verhindert haben. Auch die Tränen des 20-Jährigen werde ich nie vergessen, der die Überfahrt gemeinsam mit seinem Bruder wagte, und als das Boot unterging, sich mit einer Hand an einen Reifen klammerte und in der anderen Hand seinen Bruder hielt, bis dessen Hand ihm entglitt und er seinen Bruder ertrinken sah.
Was auf der Flucht passiert
Vielleicht sind diese Erfahrungen und Traumata der Grund, warum diese Menschen sich voller Geduld über Monate hinweg vertrösten lassen, wenn ich ihnen erklären soll, dass sie, obwohl sie bereits seit einem halben Jahr und länger warten, erst im nächsten oder übernächsten Monat, vielleicht auch später einen Deutschkurs besuchen können. Sie wissen, dass der Deutschkurs wiederum Voraussetzung für die Aufnahme einer Arbeit ist, und sie leiden sehr darunter, dass sie zum Nichtstun verdonnert werden.
Es sind diese Geschichten, die mich beschäftigen, wie die des jungen Mannes, der alles, was er hatte, verkauft und mit Hilfe seiner ganzen Familie Geld gespart hatte. Er arbeitete und wartete Monate, bis er beim Schlepper das Ticket für die Überfahrt bezahlen konnte. Aber als er nachts am vereinbarten Ort ankam, wartete da die konkurrierende Schlepperbande, zerriss das teure Ticket und verlangte einen neuen, höheren 74
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Jenseits der AfD
MAJA WALLSTEIN & EYRUSALEM GOITUM l IDEOLOGIE UND WIRKLICHKEIT
Keiner von diesen Menschen floh aus den „niederen Motiven“, die ihnen Pegida und AfD gern und immer wieder unterstellen. Sie erleben die Wirklichkeit, weitab der Vorstellungen der AfD. Einige Flüchtlinge mit gebrochenem Arm und üblen Wunden sitzen mir und der Einrichtungsleiterin gegenüber und ich übersetze, dass sie sich nur noch in Gruppen zum Einkaufen trauen, seit sie einzeln mit Autos in den Wald gejagt und dort zusammengeschlagen wurden.
sungen hat die AfD nicht, nur viel vergiftete Ideologie.
MAJA WALLSTEIN ist Landesvorsitzende der Jusos Brandenburg.
EYRUSALEM GOITOM geboren in Mendefera (Eritrea), arbeitet als Dolmetscherin für Flüchtlinge aus Eritrea und ist stellvertretende Landesvorsitzende der Jusos Brandenburg.
Maja Wallstein:
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ch frage Frauke Petry, ob sie es wirklich für klüger hält, Geld in eine vollständige Grenzschließung und ‑sicherung zu stecken, statt in Kitas, Schulen, Hochschulen, Sozialarbeiter, Wohnungsbau und alles, was eine erfolgreiche Integration vorantreibt. Sie beharrt darauf, dass sich „diese Menschen nicht integrieren wollen“. Frauke Petry wird gefragt, wie weit sie denn gehen würde, um die deutschen Grenzen vor Flüchtlingen zu sichern und ob sie dabei einen Schießbefehl ausschließen würde. Sie tut es nicht. Die AfD, ihre Anhänger und diejenigen, die diese menschenverachtende Rhetorik aufgreifen, verkennen die Wirklichkeit. Lö 75
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ANDREAS MUSIL l INTEGRATION DURCH STUDIUM
INTEGRATION DURCH STUDIUM Welche Beiträge die Hochschulen bei der Integration von Flüchtlingen leisten können – Von Andreas Musil
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eutschland steht derzeit vor einer der größten gesellschaftlichen Herausforderungen seit Kriegsende. Die Integration geflüchteter Menschen ist eine Aufgabe, der sich keine Institution entziehen kann. Wie groß die Aufgabe wirklich werden wird, kann derzeit – vor allem in quantitativer Hinsicht – niemand verlässlich beziffern. Gegenwärtig stehen als drängendste Probleme der Integration die Klärung des Aufenthaltsstatus, die Schaffung von Unterkünften, die medizinische Versorgung und die Sicherstellung eines geregelten Familiennachzugs im Vordergrund. Die Hochschulen und ihre Studienangebote stehen derzeit sicherlich nicht im Mittelpunkt des Interesses. Doch die Zeit der elementaren Bedürfnisbefriedigung wird bald vorbei sein. Deshalb heißt es schon jetzt, die Rolle des Hochschulwesens im Zuge der Integrationsbemühun-
gen auszuloten und sich für bald anstehende Herausforderungen zu rüsten. Es wird zu zeigen sein, dass die Hochschulen ihrer Rolle als Kristallisationspunkt für gesellschaftlichen Diskurs und zivilgesellschaftliches Engagement gerecht werden müssen und bereits gerecht werden. Weiterhin geht es um die Frage, welchen Integrationsbeitrag die Hochschulen in ihrem eigenen Aufgabenbereich leisten können. Das Beispiel Potsdam soll der Illustration dienen. Und schließlich soll gefragt werden, ob und wie die Hochschulen durch gelingende Integration einen langfristigen und nachhaltigen Beitrag zur bevölkerungspolitischen Entwicklung ganzer Regionen leisten können.
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Die Diskussion um Integration geflüchteter Menschen, um Ängste und Sorgen der Bevölkerung, um Obergrenzen und ähnli 77
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ches ist derzeit allgegenwärtig. Die Debatte nimmt bisweilen skurrile Formen an. Es bleibt auch nicht bei Debatten; Die ersten Unterkünfte brennen, die Stimmung wirkt aufgeheizt. Vor allem in manchen Landstrichen hat man den Eindruck, dass das freundliche Gesicht Deutschlands, das bei einigen Großereignissen beschworen wurde, nur ein Trugbild war. Aktive Gegenwehr Gegen aufkeimenden Fremdenhass und politisches Brandstiftertum ist aktive Gegenwehr erforderlich. Hier können und müssen sich die Hochschulen aktiv positionieren. Hervorzuheben ist das Engagement der BTU Cottbus-Senftenberg und ihres Präsidenten Jörg Steinbach. Die Universität hat sich früh für die Integration geflüchteter Menschen engagiert und zahlreiche Initiativen gestartet. Der Präsident äußerte sich zu Recht kritisch gegenüber einer zu zögerlichen Haltung der Stadtpolitik, insbesondere des Oberbürgermeisters, gegenüber rechtsgerichteten Auswüchsen. In Potsdam ist die politische Lage nicht derart aufgeheizt. Sollte sich das ändern, wäre auch hier ein klares Bekenntnis der Universität zu Weltoffenheit und Integration vonnöten. 78
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Unabhängig von politisch zugespitzten Situationen können die Hochschulen aber auch das ehrenamtliche Engagement ihrer Mitglieder fördern und ihm Raum geben. Mit großer Freude sieht die Universitätsleitung in Potsdam das Engagement vieler Potsdamer Studierender. Seit Mitte Oktober 2015 unterrichten 60 Studierende der Universität Potsdam im Rahmen der studentischen Initiative Pangea an vier Tagen in der Woche Flüchtlinge in deutscher Sprache. Die erste Verständigung erfolgt auf deutsch und englisch, aber auch durch Bilder und Piktogramme. Es haben sich erste private Tandempartnerschaften gebildet. Die Universität stellt für die Sprachkurse Räume zur Verfügung. Das Engagement, das an vielen anderen Hochschulen im Land Entsprechungen findet, zeigt, dass zivilgesellschaftliche Aktivitäten auch und gerade an Hochschulen ihren Ort haben. Die Klage über die unpolitische Haltung vieler junger Menschen findet hier ihr Gegenbild.
II.
Unabhängig von der aktivierenden und politischen Rolle der Hochschule muss sie auch und gerade in ihrem eigenen Aufgabenbereich tätig werden, um die Herausforderung der Integration zu bewältigen. Hier stehen wir als
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Verantwortliche noch vor vielen Unbekannten. Klar ist, dass sich die geflüchteten Zuwanderer in dem Moment, in dem der Grundstein für ein Leben in Deutschland gelegt ist, für die Ausübung eines Berufes, den Beginn einer Ausbildung oder die Fortsetzung eines Studiums entscheiden werden. Die erste Aufgabe Auf diesen Zeitpunkt, der bei vielen bald gekommen sein wird, müssen die Hochschulen vorbereitet sein. Zahlenangaben über die Nachfrage sind derzeit kaum zu bekommen. Eine der wenigen vorläufigen Schätzungen geht davon aus, dass zirka 30 Prozent der geflüchteten Personen aus nicht sicheren Herkunftsländern potentielle Studierende der Brandenburger Hochschulen sein können. Zu den Herkunftsländern zählen insbesondere Syrien, Eritrea und Afghanistan. Im Mittelpunkt der Integrationsaufgabe steht zunächst die Frage nach der deutschen Sprache. In der Vergangenheit führten die Diskussionen zur Deutschförderung für Zuwanderer zu großen Zerwürfnissen. Seit einigen Jahren werden bundesweit Integrationskurse angeboten, die das Konzept einer
zentralisierten, standardisierten, curricular vereinheitlichten und rechtskräftigen Integrationsförderung umsetzen. Die Hochschulen stellen mit ihren Studiengängen andere und höhere Sprachanforderungen an den Zuwanderer, als es der übliche Integrationskurs ermöglicht. Die Hochschulen müssen selbst ein nachhaltiges Konzept für die Sprachvermittlung schaffen, das den Zuwanderern das Erreichen eines für ihr Studium erforderlichen Sprachniveaus erlaubt. Mit dem „Zentrum für Sprachen und Schlüsselkompetenzen“ verfügt die Universität Potsdam über eine zentrale Einrichtung, die mit ihren qualifizierten Lehrkräften Intensivsprachkurse anbieten kann und soll. Was passiert dem Abitur? Die geflüchteten Studieninteressierten sollen nach der derzeitigen Konzeption einer „Integration durch Studium“ in einem mehrmonatigen täglich stattfindenden Deutschkurs von Niveau A1 bzw. Niveau B2 über einen Studienvorbereitungskurs bis zur Deutschen Sprachprüfung für den Hochschulzugang (DSH) vorbereitet werden. Diese Komponente des Integrati 79
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onskonzepts umfasst ca. 1 bzw. 2 Semester. Damit soll die Studierfähigkeit aus sprachlicher Sicht gewährleistet sein. Neben der Sprache stellt der Nachweis einer Hochschulzugangsberechtigung derzeit die höchste Hürde für die Aufnahme eines regulären Studiums an einer deutschen Hochschule dar. So ermöglicht etwa das Brandenburger Hochschulrecht ausländischen Studierenden bei Vorliegen einer Hochschulzugangsberechtigung, nachgewiesenen Sprachkenntnissen und geregeltem Aufenthaltsstatus den Zugang zu einer Brandenburger Hochschule. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt erfüllen aber die geflüchteten Studienbewerber in den wenigsten Fällen die genannten Voraussetzungen. Leistung wird anerkannt Das bereits genannte Programm „Integration durch Studium“ will hier Abhilfe schaffen. Geflüchtete Studieninteressierte sollen die Möglichkeit erhalten, als Programmteilnehmer für zwei Semester die für sie geeigneten Lehrveranstaltungen zu besuchen und – im Unterschied zu einem bloßen Gasthörerstatus – anerkennungsfähige Leistungsnachweise erwerben. Die erworbenen Leistungspunkte können im 80
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Rahmen eines späteren Studiums angerechnet werden. Flankierend wird im Rahmen eines „Buddy-Programms“ der Kontakt zu Studierenden der Universität Potsdam aufgebaut. Darüber hinaus können die Programmteilnehmer die universitäre Infrastruktur nutzen. Willkommene Lehrer Neben dem zentralen Konzept „Integration durch Studium“ haben sich an der Universität Potsdam weitere Initiativen entwickelt, die der Integrationsaufgabe dienen. So sollen Elemente der Flüchtlingsintegration in die Lehramtsausbildung implementiert werden. An der Universität Potsdam können Lehramtsstudierende das Spezialisierungsfach Deutsch als Zweitsprache wählen. Zudem wird in den Primarstufen-Studiengängen eine Lehrveranstaltung zur Sprachentwicklung und Sprachförderung in Deutsch als Zweitsprache für alle Lehramtsstudierenden verbindlich angeboten. Die Qualitätsoffensive Lehrerbildung setzt sich im Bereich „Inklusion“ fachübergreifend mit sprachlicher Heterogenität auseinander. Im Rahmen dieser Studienbausteine hat auch die Flüchtlingsintegration ihren Platz, etwa indem Lehramtsstudierende und bereits
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tätige Lehrer auf ihre Arbeit in sogenannten „Willkommensklassen“ vorbereitet werden könnten. Einen hierzu passenden Baustein des Integrationskonzepts bildet das Programm „Refugee Teachers Welcome“. Unter den geflüchteten Personen befinden sich Lehrerinnen und Lehrer, deren Berufserfahrung und arabische Sprachkenntnisse den integrativen Ansatz an den Brandenburger Schulen unterstützen könnten. Die geflüchteten Lehrkräfte könnten eine wichtige Brückenbauer-Funktion einnehmen. Das möchte die Universität Potsdam befördern. Die Lehrkräfte könnten an der Uni Potsdam für mehrere Wochen Intensivsprachkurse erhalten. Parallel sollen spezielle Seminare mit geflüchteten Lehrkräften und Potsdamer Lehramtsstudierenden stattfinden. Mehr Ressourcen nötig Dabei sollen die jeweiligen Schulund Bildungssysteme gegenseitig erläutert und der persönliche Kontakt zwischen den geflüchteten Lehrkräften und den deutschen angehenden Lehrkräften hergestellt werden. Neben den Seminarsitzungen sollen entsprechend der Konzeption Schulbesuche organisiert werden, bei denen Tandems
aus Studierenden und geflüchteten Lehrkräften an Schulen der Region hospitieren. Mit Erhalt eines Zertifikats wäre der Weg für eine Arbeit als Lehrassistent an einer Brandenburger Hochschule geebnet. Schließlich verfolgt die Universität das Ziel, Studierende im Rahmen ihres Studiums zu Rechtsberatern von Flüchtlingen und Flüchtlingsorganisationen auszubilden. Die sogenannte Law Clinic führt Studierende an die praktische juristische Arbeit heran und ermöglicht gleichzeitig ein niederschwelliges und kostengünstiges Beratungsangebot. Motoren der Integration All diese konzeptionellen Ansätze, die es an der Universität Potsdam und in ähnlicher Form an den meisten anderen Hochschulen im Land gibt, haben nur Aussicht auf nachhaltige Verwirklichung, wenn die Ressourcen für ihre Umsetzung gesichert sind. Die geschilderten Maßnahmen lösen einen zeitnah zu deckenden Ressourcenbedarf aus. Die bestehenden Strukturen können die zusätzlich erforderlichen Integrationsmaßnahmen nicht tragen. Angesichts dessen stimmen Pressemeldungen, wonach der Bund 81
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entsprechende Unterstützungsmaßnahmen in die Wege geleitet habe, zuversichtlich. Es bleibt zu hoffen, dass die entsprechenden Gelder auch bei den Einrichtungen ankommen, die sie benötigen. Hier sind die Landesparlamente in der Pflicht. Darüber hinaus erscheint die Schaffung neuer Finanzierungswege über Artikel 91b des Grundgesetzes und eine Gemeinschaftsaufgabe „Demografie und Integration“ angezeigt. Längerfristig stellt sich die Frage, ob zur Integration neuer Bevölkerungsgruppen generell eine Erhöhung der Kapazitäten an den Hochschulen erforderlich sein wird. Das lässt sich derzeit noch nicht absehen. Die Beantwortung der Frage hängt auch davon ab, wie sich das jeweilige Bundesland generell zur Rolle der Hochschulen als Integrationsmotor für neue Bevölkerungsgruppen stellt. Brandenburg könnte hier eine Vorreiterrolle einnehmen.
III.
Damit ist die längerfristige Perspektive der Thematik angesprochen. Ohne schon absehen zu können, wie viele geflüchtete Menschen letztlich in den Hochschulsektor drängen werden, kann politisch entschieden werden, ob die Hochschulbildung auch in diesem Zusammenhang einen Beitrag 82
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zum Umgang mit dem demografischen Wandel leisten soll. Gerade den ostdeutschen Bundesländern wird mittelfristig ein Bevölkerungsrückgang und ein Rückgang der Bildungsnachfrage prognostiziert. Unabhängig davon, was von solchen Prognosen und ihrem Wahrheitsgehalt zu halten ist, könnte die Politik den Zuzug junger Menschen als Aufbauchance begreifen. Hieran können und sollten die Hochschulen aktiv mitwirken. Erste Schritte Wird die Entwicklungsaufgabe auch an den Hochschulen verortet, so bedarf es nachhaltig wirksamer Strukturen, um die Studierfähigkeit ausländischer Interessenten herzustellen und sie an eine Hochschulzugangsberechtigung heranzuführen. Das Brandenburger Hochschulrecht enthält schon jetzt Ansätze für einen offenen Hochschulzugang. Insoweit hat sich das Land bei der Novelle des Hochschulgesetzes als Vorreiter betätigt. Es darf aber nicht bei Einzelakten des Gesetzgebers bleiben. Vielmehr ist zu überlegen, ob die vor einigen Jahren abgeschafften Studienkollegs wiederbelebt oder zumindest die als Ersatz geschaffenen Clusterstrukturen gestärkt und verstetigt werden
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können. Entsprechende Diskussionsansätze sind bereits vorhanden und sollten weiterverfolgt werden. Auch hier gilt, dass die Hoch-schulen nicht ohne finanzielle Unterstützung des Landes auskommen. Es ist zu wünschen, dass der Landtag entsprechende Grundsatzentscheidungen trifft. Die Hochschulen stellen sich der mit der Fluchtbewegung verbundenen Integrationsaufgabe. Allerdings stellen die geschilderten Maßnahmen und Konzepte nur einen ersten Schritt dar. Es bedarf der gemeinsamen Anstrengung aller Beteiligten, um die guten Ansätze real wirksam werden zu lassen und nachhaltige Strukturen zu schaffen. Die Hochschulen jedenfalls sind bereit, den begonnen Weg fortzusetzen und die Aufgabe im Schulterschluss mit den sie tragenden Institutionen zu meistern.
PROF. DR. ANDREAS MUSIL ist Vizepräsident der Universität Potsdam für Lehre und Studium und in dieser Eigenschaft auch für die Integration geflüchteter Menschen an der Universität zuständig.
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ANSGAR DRÜCKER l TEIL DER REALEN WELT
TEIL DER REALEN WELT Wie sich rechte Hetze gegen Geflüchtete (nicht nur) im Netz ausdrückt – Von Ansgar Drücker
S
ie nennen sich „Brandenburg wehrt sich – gegen den massenhaften Asylmissbrauch und antideutsche Politik“ oder „Nein zum Heim in Nauen“. In Facebook-Gruppen organisieren sich diejenigen, die in manchen Medien verharmlosend „Asylgegner“ oder „Asylkritiker“ genannt werden. Tatsächlich wenden sie sich aber gegen ein garantiertes Grundrecht und gehen mit zum Teil rassistischer oder extrem rechter Hetze, mit Gewaltbereitschaft oder sogar Gewalt gegen Geflüchtete vor. Sie verabreden sich auch im Netz zu Demos und Bürgerinitiativen und rufen oft mit ihrer Propaganda die Ängste erst hervor, die dann anschließend vermeintlich „besorgte Bürger“ auf die Straße tragen, vielleicht ohne zu realisieren, vor wessen Karren sie sich damit spannen lassen. Selbst der immer deutlichere Nachweis einer extrem rechten Unterwanderung bzw. Beeinflussung von AfD und Pegida hat manch „besorgte“, aber eben auch
manche selbst rassistisch eingestellte Menschen nicht davon abgehalten, dort mitzulaufen. Insofern erleben wir mit der populistischen Politisierung des Themas Flucht und Asyl auch einen Tabubruch in Bezug auf sich zunehmend verbreitende rassistische und extrem rechte Äußerungen – im Netz ebenso wie auf Demonstrationen und bei Bürgerversammlungen zum Bau von Flüchtlingsunterkünften. Auf den Leim gegangen Längst nutzen die Rechten auch das Netz und die sozialen Medien zum Austausch und zum Knowhow-Transfer. Die neonazistische Splitterpartei „Der III. Weg“ verbreitet beispielsweise ihren Leitfaden „Kein Asylantenheim in meiner Nachbarschaft“ und will damit die Frage beantworten: „Wie be- bzw. verhindere ich die Einrichtung eines Asylantenheims in meiner Nachbarschaft?“ Derartige Ansätze der Öffentlichkeitsarbeit 85
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im Netz erreichen längst nicht mehr nur extreme Rechte. Auch Bedenkenträger, die sich in Bürgerinitiativen gegen Flüchtlingsunterkünfte organisieren, greifen das Know-how auf, oft ohne zu wissen, dass sie extrem rechten Hetzern auf den Leim gegangen sind – oder sogar unter Inkaufnahme dessen. NPD profitiert nicht Im Gegensatz zu anderen ostdeutschen Bundesländern kann die NPD in Brandenburg politisch bisher kaum von der aktuellen Diskussion über Flucht und Asyl profitieren. Das mag in Hinblick auf kommende Wahlen eher beruhigend wirken, bedeutet aber keineswegs, dass nicht andere das Potenzial abrufen können. Aus der Selbstdarstellung im Netz lassen sich erste Rückschlüsse ziehen, was die strategische Ausrichtung der rechtsextremen Organisationen angeht: Die NPD zielt auf Erfolge im Wahlkampf und Mandate im Landtag sowie auf kommunaler Ebene und inszeniert sich bürgerlich. Die Splitterpartei „Der III. Weg“ hingegen gibt sich jung, bürgernah und lokal verankert. Auch wenn sie im Netz den Eindruck einer fast flächendeckenden Präsenz vor allem in Brandenburg zu 86
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erwecken versucht, dürfte die Zahl der dort Organisierten bundesweit eher dreistellig sein. Dennoch zeigte sich die Partei beispielsweise auf Kundgebungen und Mahnwachen in Zossen, Damsdorf, Pritzwalk oder Schwedt. Auf ihrer nur auf den ersten Blick staatstragend daherkommenden Website nimmt die Partei kein Blatt vor den Mund: Sie will beispielsweise den „Volkstod stoppen“, macht sich aber gleichzeitig zum Sprachrohr der Mitte der Gesellschaft und schreibt pseudo-sozialwissenschaftlich: „Mehrheit der Deutschen sagt: Asylanten sind keine Bereicherung“. Platz für Verschwörungen Mit dieser Gleichzeitigkeit von hetzerischen Sprüchen und Grafiken einerseits und pseudo-seriöser „Berichterstattung“ andererseits wirbt die Splitterpartei erst um Aufmerksamkeit um jeden Preis und versucht dann auch einige der Menschen mitzunehmen, die meinen, auf Sachinformationen zu stoßen. Die sozialen Medien bieten eben auch Platz für Fehlinformationen und Verschwörungstheorien. „Jeder kann alles schreiben“ ist einer der eigentlich demokratisierenden
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Effekte der sozialen Medien. Dies bedeutet aber auch: Es gibt keine Relevanzprüfung und keine fachliche Prüfung, keine journalistischen Qualitätsansprüche und keine externe Vorab-Kontrolle. Diese Eigenschaften der neuen Medien machen sich auch extreme Rechte zunutze. Es gibt Fake-Profile und Pseudo-Organisationen oder solche, die wesentlich größer scheinen, als sie sind. Es gibt schließlich Gruppen, die mit einem vermeintlich allgemein geteilten Anliegen rechte Camouflage betreiben und naive oder oberflächliche Nutzer auf rechte Seiten locken. Wie gerufen Das Thema Flucht und Asyl kam für viele extrem Rechte offensichtlich wie gerufen. Spätestens im Laufe des Jahres 2015 ist es zum wichtigsten Thema und Aufhänger für extrem rechte Agitation und Sichtbarkeit geworden, manchmal verborgen hinter einem „geländegängigen“ Rechtspopulismus, der die „berechtigten“ Befürchtungen der „besorgten“ Bürger vermeintlich verständnisvoll aufnimmt und anspricht. Inzwischen beschäftigen sich die meisten Blog-Einträge beispielsweise auf den Websites des „III. Wegs“ und der NPD Bran-
denburg mit dem Thema Flucht und Asyl. Insbesondere Flüchtlingsunterkünfte spielen eine wichtige Rolle, ebenso eine immer wieder fälschlicherweise mit Geflüchteten in Verbindung gebrachte angeblich steigende Kriminalität. Die ungebremste Konjunktur des Themas im Netz korrespondiert auf dramatische Weise mit der realen Welt: In Nauen war über Monate die Initiative „Nein zum Heim in Nauen“ aktiv, auch eine „Bürgerbewegung freies Nauen“ gesellte sich zwischenzeitlich, etwas bürgerlicher daherkommend, hinzu. Im August 2015 brannte dann eine Flüchtlingsunterkunft kurz vor Beginn der geplanten Nutzung ab. Es handelte sich um den folgenschwersten Brandanschlag auf eine Flüchtlingsunterkunft in Brandenburg seit über 20 Jahren. Die Sporthalle eines Schulzentrums wurde komplett zerstört. Kurzer Weg zu Brandanschlägen Der Weg von Hass und Hetze im Netz zu Brandanschlägen „auf der Straße“ scheint kurz zu sein: Bereits bis Ende November 2015 gab es in Brandenburg nach Angaben des Innenministeriums dreimal so viele Angriffe auf Flüchtlinge und Flüchtlingsunterkünfte wie im gan 87
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zen Jahr 2014. Besonders stark fällt der Anstieg seit dem Sommer aus. Allein im dritten Quartal wurden 51 Straftaten registriert, im ersten Halbjahr waren es 26 Delikte, 2014 insgesamt 36 Taten. Flüchtlinge wurden bedroht, beleidigt oder bei Angriffen verletzt. Ähnliches gilt für Kundgebungen, die sich gegen Geflüchtete oder ihre Unterbringung richten. Hier fanden im ersten Halbjahr 2015 immerhin 45 Veranstaltungen statt. Allein im Oktober gab es 31 Kundgebungen, ebenso viele wie im vorangegangenen Quartal insgesamt. Wenn Offizielle irren Leider gibt es auch immer wieder Verbindungslinien zu „offiziellen“ Äußerungen aus der etablierten Politik, die derartige Ressentiments befeuern. Im November 2015 warnte Jüterbogs parteiloser Bürgermeister auf der offiziellen Internet-Seite seiner Stadt vor Flüchtlingen mit ansteckenden Krankheiten. Auf Kritik reagierte er gereizt, wollte den amtlichen Charakter dieser Warnung aber nicht bestätigen. Er sagte dem Tagesspiegel: „Ich kann inzwischen gut damit leben, als Rassist beschimpft zu werden, da bin ich stressfrei.“ Gleichzeitig postete er einem Be 88
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richt zufolge bei Facebook Beiträge rechter Verschwörungstheoretiker oder wies auf Demonstrationen des Brandenburger Pegida-Ablegers „Bramm“ hin. Das Gesundheitsministerium nannte die Äußerungen des Bürgermeisters „ganz gefährliche Stimmungsmache“, die Landrätin von Teltow-Fläming klärte auf: „Der Amtsarzt hat klipp und klar erklärt, dass die Gefahr, sich bei einem Flüchtling oder Asylbewerber mit einer ansteckenden Krankheit zu infizieren, nicht höher ist als bei einem Einwohner des Landes Brandenburg.“ Sie verwies zudem auf die medizinische Behandlung und Nachimpfung in den Erstaufnahmeeinrichtungen. Dennoch wurde die Warnung des Bürgermeisters vor Kontakt mit Flüchtlingen erst von der Internetseite der Stadt entfernt, nachdem am Rande einer Kundgebung von Rechtsextremen ein Sprengstoffanschlag auf einen von der Kirche betriebenen Treffpunkt für Flüchtlinge und Helfer verübt worden war. Nicht so schlimm? Was sind nun aber die Auswirkungen von Hate Speech im Internet? Ist Hassrede vielleicht gar nicht so schlimm, weil sie ja „nur“ virtuell
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in den Tiefen der Sozialen Medien stattfindet? Oft übersehen wird die Verletzung der Betroffenen. Viele Geflüchtete verfolgen die Entwicklungen um sie herum, und viele sind vielleicht nach einem Jahr sprachlich sehr wohl in der Lage einzuordnen, was da über sie gesagt wird – und auch vorher verschaffen sie sich oft Zugänge. Schon daraus ergibt sich ein Schutzbedürfnis der Betroffenen, denn es wäre eine Illusion, dass gerade sie, die soziale Netzwerke täglich brauchen, um mit ihren Freunden und ihrer Familie irgendwo auf der Welt Kontakt zu halten, die gegen sie gerichtete Welle des Hasses und der Ablehnung übersehen würden. Wenn Rassismus alltäglich wird Zudem führen die genannten Mechanismen zu Vernetzungs- und Solidarisierungseffekten über die immer fließenderen Grenzen der extremen Rechten und Rechtspopulisten hinaus – hinein in die viel beschworene Mitte der Gesellschaft, um die es gerade in der Flüchtlingskrise zu kämpfen gilt. Die Art der Kommunikation trägt dazu bei, dass sich oft unmerklich und nach und nach neben dem politischen Klima allgemein auch das konkret „Sagbare“ verändert. Rassismus wird auf
diese Weise alltäglich oder zumindest Teil der alltäglichen Kommunikation vieler Menschen. Ein weiterer Effekt ist die Polarisierung in der Debattenkultur. Wenn man vermeintlich nur noch „für“ oder „gegen“ Flüchtlinge sein kann, werden einige ängstliche Gemüter sich eher für „gegen“ entscheiden – und merken vielleicht gar nicht, wie sie damit (womöglich ungewollt) das Grundrecht auf Asyl in Frage stellen. Sich selbst als politisch neutral bezeichnende Plattformen wie Twitter oder Facebook lassen unter der Überschrift Meinungsfreiheit immer wieder Grenzüberschreitungen zu. Werden aber doch einmal rassistische Einträge gelöscht, ist schnell von Zensur die Rede, auch wenn die Nutzungsregeln der sozialen Medien bekannt sind und es viele andere Möglichkeiten der Verbreitung von Informationen im Internet gibt. Ein möglichst diskriminierungssensibler Sprachgebrauch zur Vermeidung von Verletzungen und für Fairness wird schnell als übertriebene „political correctness“ beschrieben und gebrandmarkt. Wie Gegenstrategien aussehen Selbst die Wochenzeitung Die Zeit titelte Anfang September 2015: „Was 89
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man nicht mehr sagen darf“ und beklagte sich über vermeintliche Einschränkungen in der Diskussion durch politische Korrektheit. Dabei folgt Satzanfängen wie „Man wird ja wohl noch sagen dürfen…“ oder „Ich hab ja nichts gegen Flüchtlinge, aber…“ fast immer eine rassistische Fortsetzung. Wollen wir das Normalität in unserer Alltagskommunikation werden lassen? Rezeptbücher für Gegenstrategien kann es nicht geben, dazu ist die Kommunikation in den sozialen Medien zu schnell, zu veränderbar und zu vielseitig. Schlagfertigkeit und Schnelligkeit sind ebenso eine Strategie wie das Bemühen, absurden oder falsch zusammengestellten Tatsachenbehauptungen Fakten entgegen zu stellen, auch wenn dies bei emotional aufgeladenen Themen wie Flucht und Asyl oft keine hinreichende Strategie ist. Wenn es aussichtsreich erscheint, kann man Verbündete suchen. Wenn es angemessen ist, können Humor und Ironie ein Gegenmittel sein. Wichtig ist es in jedem Fall, dran zu bleiben, wenn man eine Gegenposition bezogen hat, sich aber nicht in unproduktive Endlosdiskussionen in sozialen Medien verwickeln zu lassen. Beiträge mit Grenzverletzungen oder offenkundigen Rechtsverstö 90
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ßen können dem jeweiligen Portal gemeldet, Postings oder Tweets als rassistisch benannt und diese Einordnung kurz und stichhaltig begründet werden. Weitere Handlungsspielräume ergeben sich, wenn Kritik an der Flüchtlingspolitik und Beschimpfungen von Geflüchteten auf eigenen Seiten auftauchen, zum Beispiel in Facebook-Kommentaren. Auch im Netz verletzbar Auch hier ist das Repertoire der Reaktionsmöglichkeiten auf den Einzelfall anzupassen. Die Bandbreite reicht von Ignorieren (verbunden mit dem Risiko des Stehenlassens und Wirkens von Hate Speech) über das Moderieren der eigenen Seite als oft aufwendiger Beitrag zu einer positiven Debattenkultur bis zum Diskutieren mit guten Argumenten, die vielleicht von respektierten Personen vorgebracht werden, wofür allerdings ggf. eine hohe persönliche Frustrationstoleranz erforderlich ist. Weitere Stilmittel sind das Ironisieren, also ein humorvoller, schlagfertiger Umgang, der Rassismus hoffentlich entlarvt und nicht banalisiert. Ja, Ironie kann auch ein Ventil für genervte Rassismuskritiker sein.
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Bundesjustizminister Heiko Maas ist im August 2015 in dankenswerter Deutlichkeit auf Facebook losgegangen und hat den Umgang mit rassistischen Posts als unzureichend kritisiert. Aber nicht alles wird der blaue Konzern für uns lösen können. In diesem Bereich ist nicht nur unsere Zivilcourage, sondern sind sowohl das Anzeigeverhalten als auch die Sensibilität der Strafverfolgungsbehörden noch unterentwickelt. Facebook ist keine virtuelle Halbwelt, in der alles nicht so ernst gemeint ist oder keine Bedeutung über das Virtuelle hinaus hat. Facebook ist Teil der realen Welt vieler Menschen. Sie lernen sich dort kennen und sind dort unter Umständen genauso verletzbar und angreifbar wie auf der Straße. Dieser Kulturwandel ist weder politisch oder in der Prävention noch kriminologisch bisher ausreichend nachvollzogen worden, und die Gesetzeslage hängt – wie so oft im Bereich der neuen Medien – noch weit hinter unserem bereits verspäteten Bewusstsein zurück. Zeigen wir also jetzt schon die notwendige Sensibilität für Hassrede und für Gesetzesverstöße bei Facebook, Twitter und in anderen sozialen Netzwerken und entwickeln wirksame und angepasste
Gegenstrategien für die jeweilige Situation.
ANSGAR DRÜCKER ist Geschäftsführer des Informationsund Dokumentationszentrums für Antirassismusarbeit e. V. mit Sitz in Düsseldorf. IDA (www.idaev.de) ist das bundesweit tätige Dienstleistungszentrum der Jugendverbände für die Themenfelder (Anti-)Rassismus, Rechtsextremismus, Migration, Interkulturalität und Diversität.
Zur Hintergrundinformation können folgende Informationsquellen dienen: •
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Broschüre zu Hate Speech der Amadeu Antonio Stiftung: http://www. amadeu-antonio-stiftung.de/w/ files/pdfs/hatespeech.pdf Chronik flüchtlingsfeindlicher Vorfälle 2015: http://www.mut-gegen-rechte-gewalt.de/service/chronik-vorfaelle Aktuelle Artikel zum Thema Hetze gegen Flüchtlinge: http://www. netz-gegen-nazis.de/lexikon/hetze-gegen-fl%C3%BCchtlinge Unterrichtsmaterial u.a. zu Hate Speech (Sonderarbeitsblatt November): http://zfds.zeit.gaertner.de/Arbeitsblaetter-Sekundarstufe-II2
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IMPRESSUM
Herausgeber –– Klara Geywitz (V.i.S.d.P.), Klaus Ness† –– SPD-Landesverband Brandenburg –– Wissenschaftsforum der Sozialdemokratie in Berlin, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern e.V. Die perspektive21 steht für die Gleichberechtigung von Frauen und Männern. Der besseren Lesbarkeit halber wurden an manchen Stellen im Text ausschließlich männliche oder weibliche Bezeichnungen verwendet. Diese Bezeichnungen stehen dann jeweils stellvertretend für beide Geschlechter. Redaktion Thomas Kralinski (Chefredakteur), Gerold Büchner, Robert Dambon, Ingo Decker, Dr. Tobias Dürr, Klaus Faber, Klara Geywitz, Lars Krumrey, Dr. Manja Schüle, Prof. John Siegel Anschrift Alleestraße 9 14469 Potsdam Telefon +49 (0) 331 730 980 00 Telefax +49 (0) 331 730 980 60 E-Mail perspektive-21@spd.de Internet www.perspektive21.de www.facebook.com/perspektive21 Druck Gieselmann GmbH, Potsdam Bezug Bestellen Sie Ihr kostenloses Abonnement direkt beim Herausgeber. Senden Sie uns eine E-Mail.
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Seit 1997 erscheint „perspektive 21 – Brandenburgische Hefte für Wissenschaft & Politik“.
m/ ok.co 1 o b e c fa e2 ektiv persp
Wenn Sie Interesse an bisher erschienenen Ausgaben haben, können Sie ältere Exemplare auf unserer Homepage www.perspektive21.de als pdf herunterladen. Einzelne Exemplare von bisher erschienenen Ausgaben schicken wir Ihnen gerne auch auf Wunsch kostenlos zu. Senden sie uns bitte eine E-Mail an perspektive-21@spd.de. Zur Zeit sind folgende Titel lieferbar: Heft 23 Heft 25 Heft 26 Heft 27 Heft 28 Heft 30 Heft 31 Heft 32 Heft 34 Heft 35 Heft 36 Heft 37 Heft 38 Heft 39 Heft 40 Heft 41 Heft 42 Heft 43 Heft 44 Heft 45
Kinder? Kinder! Erneuerung aus eigner Kraft Ohne Moos nix los? Was nun Deutschland? Die neue SPD Chancen für Regionen Investitionen in Köpfe Auf dem Weg ins 21. Jahrhundert Brandenburg in Bewegung 10 Jahre Perspektive 21 Den Rechten keine Chance Energie und Klima Das rote Preußen Osteuropa und wir Bildung für alle Eine neue Wirtschaftsordnung? 1989 - 2009 20 Jahre SDP Gemeinsinn und Erneuerung Neue Chancen
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