HEFT 50 NOVEMBER 2011 www.perspektive21.de
BRANDENBURGISCHE HEFTE FÜR WISSENSCHAFT UND POLITIK
WIE DIE ZUKUNFT DER DEMOKRATIE AUSSEHEN KANN
Engagement wagen BRANDENBURG 2030: Gemeinsam Perspektiven entwickeln WOLFGANG MERKEL: Die Mittelschicht ist überrepräsentiert TISSY BRUNS: Die Welt ist aus den Fugen KLAUS ARMINGEON: Erfolgsstory mit Risiken und Nebenwirkungen THOMAS KRALINSKI: Wer nicht wagt, der nicht gewinnt FRANK PIETRZOK: Pure Normalität CARSTEN STENDER: Feste oder flüssige Demokratie? REINHOLD DELLMANN: Keine Angst vor Demokratie FRANK DECKER: Direktwahl für Ministerpräsidenten?
Eine persรถnliche Bestandsaufnahme
20 Jahre nach der friedlichen Revolution von 1989: Wie viel Einheit haben wir erreicht? Welchen Aufbruch braucht Deutschland jetzt?
224 Seiten, gebunden
| Hoffmann und Campe | Das will ich lesen
vorwort
Engagement wagen ie Zukunft ist nach vorn immer offen. Das ist eine Binsenweisheit und sie galt auch 1997, als wir die Perspektive 21 gründeten. Heute feiern wir ein kleines Jubiläum: Sie halten nunmehr die 50. Ausgabe unserer Zeitschrift in den Händen. Seit 14 Jahren versuchen wir mit spannenden Themen die politische Debatte in unserem Land voranzutreiben. Das ist uns an vielen Stellen gelungen – und wir haben vor, dies auch mit den nächsten 50 Ausgaben zu tun.
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Zukunft ist auch ein zentrales Thema dieser Ausgabe. Die Brandenburger SPD hat sich ein großes Ziel gesteckt: Wir wollen mit einer breit angelegten Zukunftsdebatte ein Leitbild für unser Land im Jahr 2030 entwickeln. Den ersten Entwurf dieses Leitbildes hat die Zukunftskommission der SPD vor wenigen Wochen präsentiert – wie drucken in hier in voller Länge ab. Gleichzeitig laden wir Sie ein mitzudiskutieren, im Internet unter www.brandenburg2030.de oder auch hier im Heft. Für die nächsten Ausgaben der Perspektive 21 haben wir uns jedenfalls vorgenommen, in die einzelnen Thesen des Leitbildes tiefer einzusteigen. Demokratie lebt von Beteiligung. Und schnell wird klar, dass es Grenzen für Beteiligung gibt. In der Vergangenheit haben wir gesehen, dass sich viele Bürger aus Beteiligungsprozessen zurückgezogen haben. Auf der anderen Seite erleben wir, dass gut organisierte Gruppen mit egoistischen Interessen auch schnell Debatten dominieren können. Demokratie darf jedoch nicht zur Durchsetzung egoistischer Interessen verkommen. Wer über Beteiligung redet, ist ganz schnell bei sozialen Fragen. Und genau deshalb ist Willy Brandts Motto „Mehr Demokratie wagen“ heute so aktuell wie damals. Wolfgang Merkel arbeitet in diesem Heft sehr gut heraus: Wer über Teilhabe redet, muss über die soziale Frage reden. Genau das wollen wir mit diesem Heft erreichen. IHR KLAUS NESS
impressum
HERAUSGEBER I I
SPD-Landesverband Brandenburg Wissenschaftsforum der Sozialdemokratie in Berlin, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern e.V.
REDAKTION
Klaus Ness (V.i.S.d.P.), Thomas Kralinski (Chefredakteur), Ingo Decker, Dr. Tobias Dürr, Klaus Faber, Tina Fischer, Klara Geywitz, Lars Krumrey, Christian Maaß, Till Meyer, Dr. Manja Orlowski, John Siegel ANSCHRIFT
Alleestraße 9 14469 Potsdam Telefon 0331 / 730 980 00 Telefax 0331 / 730 980 60 E-MAIL
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Layout, Satz: statement Werbeagentur Kantstr. 117A, 10627 Berlin Druck: Lewerenz GmbH, Klieken/Buro BEZUG
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inhalt
Engagement wagen WIE DIE ZUKUNFT DER DEMOKRATIE AUSSEHEN KANN
MAGAZIN
Gemeinsam Perspektiven entwickeln ................................. 7 Thesenpapier der Zukunftskommission der SPD Brandenburg BRANDENBURG 2030:
THEMA WOLFGANG MERKEL: Die Mittelschicht ist überrepräsentiert
.............................. 33 Über den Zustand der Demokratie in Deutschland und Europa sowie die Parteireform der SPD sprach Michael Miebach mit Wolfgang Merkel TISSY BRUNS: Die Welt ist aus den Fugen
.......................................................... 41 Während Finanzwirtschaft Politik und Eliten vorführt, offenbart sich der desaströse Zustand unserer Demokratien KLAUS ARMINGEON: Erfolgsstory mit Risiken und Nebenwirkungen.................... 47
Über die Exportfähigkeit der Schweizer direkten Demokratie THOMAS KRALINSKI: Wer nicht wagt, der nicht gewinnt
.................................... 55 Wie die Instrumente der direkten Demokratie in Brandenburg genutzt wurden FRANK PIETRZOK: Pure Normalität
.................................................................... 63 Zum ersten Mal durften 2011 in Bremen 16-Jährige bei einer Landtagswahl wählen CARSTEN STENDER: Feste oder flüssige Demokratie?
.......................................... 69
Vorzüge und Fallstricke digitaler Partizipation REINHOLD DELLMANN: Keine Angst vor Demokratie
.......................................... 75 Wie die Akzeptanz für Infrastrukturprojekte erhöht werden kann FRANK DECKER: Direktwahl für Ministerpräsidenten?
........................................ 79 Für einen Umbau des Regierungssystems gibt es mehr Vor- als Nachteile
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Brandenburg 2030 GEMEINSAM PERSPEKTIVEN ENTWICKELN THESENPAPIER DER ZUKUNFTSKOMMISSION DER SPD BRANDENBURG
nser 1990 gegründetes Land hat in den ersten zwei Jahrzehnten seines Bestehens eine gute Entwicklung genommen. In dieser Zeit, geprägt von erheblichen Umbrüchen und Neuanfängen, haben wir Brandenburgerinnen und Brandenburger gemeinsam die Fundamente gelegt, auf denen unser Haus entstanden ist. Unsere Aufgabe der kommenden Jahre wird darin bestehen, es wetterfest und für alle gut auszubauen. Die Bedingung dafür ist eine ehrliche Bestandsaufnahme der Rahmenbedingungen, in denen sich Brandenburg in den kommenden Jahrzehnten behaupten muss. Vieles wird sich ändern, und auf den Wandel werden wir kluge Antworten finden müssen. Wir werden die Tugenden benötigen, die uns schon in den ersten beiden Jahrzehnten Brandenburgs vorangebracht haben: Wirklichkeitssinn, Tatkraft, Mut zu neuen Ideen und Lösungen sowie die Bereitschaft, die Debatte über den richtigen Weg nach vorn engagiert miteinander auszutragen. Wir sind darauf gut vorbereitet, denn immer deutlicher zeigt sich: Was in Europa als große Herausforderung erkannt wird, haben wir in Teilen schon gemeistert. Wir nehmen die nächsten beiden Jahrzehnte in den Blick. Unser Ziel: Ein erfolgreiches Brandenburg mit guten Lebenschancen für alle in allen Landesteilen, ein Land mit moderner Wirtschaft und guten Arbeitsplätzen, ein weltoffenes Land mit starkem bürgerschaftlichem Engagement, mit einem Klima, das zugleich von Weltoffenheit und Zusammenhalt, von Toleranz und von Miteinander gekennzeichnet ist. Wir wünschen uns ein Land, in dem die Einheimischen auch in Zukunft gerne leben und das zugleich immer mehr neu Hinzukommenden eine gute neue Heimat bietet. In einem Brandenburg des Miteinanders, nicht des Gegeneinanders. Diese Ziele zu erreichen wird nicht einfach. Besonders der demografische Umbruch, sehr unterschiedlich verlaufende Entwicklungsdynamiken in den verschiedenen Landesteilen und die schwieriger werdenden Rahmenbedingungen der öffentlichen Haushalte stellen uns vor enorme Aufgaben. Hinzu kommt: Brandenburg ist – zum Glück – keine einsame Insel ohne Anbindung an die Welt. Beispielsweise auf den Gebieten der Finanzmärkte, der Energiesicherheit, des Klimawandels betreffen uns äußere Entwicklungen ganz direkt: Beeinflussen können wir
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sie kaum, aber ihre Auswirkungen müssen wir hier bei uns in Brandenburg bewältigen. Wir sind gut beraten, dies so klug und umsichtig wie irgend möglich zu tun. Die unter dem Leitmotiv „Brandenburg 2030“ eingeleitete Debatte wollen wir Brandenburger Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten mit allen führen, denen an der Zukunft unseres Landes gelegen ist. Auf viele Fragen müssen wir wirklichkeitstaugliche, praktische Antworten finden: I
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Wie beflügeln wir wirtschaftliches Wachstum, Nachhaltigkeit und die Beteiligung möglichst vieler Menschen an dieser Entwicklung? Wie können noch mehr Menschen in allen Regionen unseres Landes in gute Arbeit zu fairen Löhnen gebracht werden? Wie können wir den solidarischen Zusammenhalt zwischen den Regionen Brandenburgs organisieren? Wie lassen sich Schrumpfprozesse so organisieren, dass nicht schwere gesellschaftliche Verwerfungen entstehen? Streben wir die Fusion mit anderen Bundesländern an, um im bundesdeutschen, im europäischen Wettbewerb zu bestehen? Können wir Braunkohlestrom tatsächlich durch regenerative Energien ersetzen? Wie organisieren wir unser Schulsystem, wenn sich die Zahl der Geburten bis 2030 fast halbiert?
Diesen und vielen weiteren Fragen stellen wir uns. Aus der SPD im ganzen Land kamen Ideen und Thesen. Fachleute aus der Wissenschaft sowie lebenserfahrene und zukunftsgewandten Freundinnen und Freunde Brandenburgs haben Anregungen beigesteuert. In diesem ersten Diskussionsentwurf haben wir sie zusammengetragen und vorläufig geordnet. Das Papier ist die Grundlage für den weiteren Dialog hin zu unserem „Leitbild Brandenburg 2030“, den wir im kommenden Jahr in der Partei und mit allen Interessierten weiter führen wollen. Kein Zweifel: Noch nicht auf jede Frage gibt es heute bereits eine schlüssige Antwort, noch nicht jede bevorstehende Herausforderung ist erkannt, und noch nicht jeder Zielkonflikt zwischen gleichermaßen wünschenswerten Ergebnissen begriffen und benannt. Aber Probleme klar herauszuarbeiten ist der Beginn ihrer Lösung. Darum wollen wir, dass unser Land mit sich selbst im Gespräch ist, über ein Land, das mit Berlin zu den europäischen Zentren gehört. Nur im Austausch der Argumente entstehen die Ideen, die wir brauchen werden, um die Zukunft zu gewinnen. Es wird auch Widerstände im Land geben. Aber einer Diskussion über die Zukunft des Landes kann sich niemand, dem Brandenburg am Herzen liegt, verwei8
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gern. Widerstände wird es aber auch außerhalb Brandenburgs geben, denn einige Stellschrauben können wir benennen und ihre Drehrichtung beeinflussen, aber nicht darüber entscheiden, zum Beispiel: I I I I
allgemeiner Mindestlohn, weniger (Bildungs-)Föderalismus – mehr Gemeinsinn, Steuerpolitik, die es auch für Ehepartner lohnend macht zu arbeiten, solidarische medizinische Versorgung und zukunftssichere Pflege.
Dieses Papier versammelt erste Anregungen für die weitere Diskussion – innerhalb der Brandenburger SPD und auch über sie hinaus. Es ist die Basis für den weiteren Dialog und ergänzende Ideen. Auf dem Landesparteitag im November 2011 wollen wir dieses Papier in einer „1. Lesung“ beraten und anschließend wieder zur weiteren Diskussion und Qualifizierung an die Basis zurückgeben. Im Spätsommer 2012 soll unser Konzept Brandenburg 2030 dann auf einem Landesparteitag abschließend beraten werden – als Leitplanke für den künftigen „Brandenburger Weg“. Alle sind eingeladen, mit zupackendem Optimismus mitzumachen, denn bereits die Teilhabe am Prozess ist ein wichtiger Schritt auf dem gemeinsamen Weg. Wir freuen uns darauf. Nur wer die Zukunft gestaltet, wird sie gewinnen.
I. BRANDENBURG 2030: EINLEITUNG Auf der Grundlage der Prinzipien „Stärken stärken“ und „Erneuerung aus eigener Kraft“ ist Brandenburg in den vergangenen Jahren eine dynamische Aufwärtsbewegung gelungen. Diese Entwicklung ist allerdings aufgrund stark voneinander abweichender Rahmenbedingungen in den berlinnahen und berlinfernen Regionen sehr unterschiedlich verlaufen. Auch in Zukunft wird Brandenburg in struktureller Hinsicht ein heterogenes Land bleiben – mit Auswirkungen auf alle Felder der politischen Gestaltung, ob Soziales oder Wirtschaft, Bildung oder Infra- und Verwaltungsstruktur. Eine wirklichkeitstaugliche Zukunftspolitik für Brandenburg muss daher auf der Grundlage nüchterner Analyse der strukturellen Vielfalt unseres Landes Ideen und Konzepte entwickeln, die geeignet sind, als integrierende Klammer für das gesamte Land zu wirken. Bei aller Heterogenität der Entwicklungsgeschwindigkeiten und -richtungen zugleich eine Politik für das gesamte Land Brandenburg zu betreiben und die perspektive21
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Zusammengehörigkeit und Identifikation mit der Region zu stärken – das ist die anspruchsvolle Aufgabe, der wir Brandenburger Sozialdemokraten uns in den kommenden Jahrzehnten mehr denn je zu stellen haben werden. Dynamische Entwicklungen zu fördern und zu nutzen, um zugleich solidarischen Ausgleich zu ermöglichen, darin besteht die Herausforderung jeder Zukunftspolitik für das gesamte Brandenburg. Diese Zentralperspektive liegt unseren „Thesen 2030“ zugrunde. a] Gesellschaft, Soziales und Demografie Der gesellschaftliche Zusammenhalt ist unabdingbare Voraussetzung für die Zukunftsfähigkeit Brandenburgs. Unter den Bedingungen des demografischen und ökonomischen Wandels bedarf es starker Anstrengungen, diesen Zusammenhalt weiterhin zu gewährleisten und auszubauen. Jede und jeder Einzelne muss mehr Verantwortung für die Allgemeinheit übernehmen. Unsere Gesellschaft braucht eine überwölbende Kultur des Miteinanders. Die Kirchen spielen dabei heute und künftig eine wichtige Rolle. Seit 1990 ist es – auch gegen (rechts-)extremistische Einstellungen – gelungen, in Brandenburg eine starke Bürgergesellschaft zu entwickeln sowie ein stabiles soziales System aufzubauen. Daran haben auch die Wohlfahrtsverbände wesentlichen Anteil. Dieser Prozess ging einher mit erheblichen gesellschaftlichen Veränderungen und individuell teilweise dramatischen Brüchen. Die Leistungen der Brandenburgerinnen und Brandenburger in diesem Umbruch verdienen große Anerkennung. Zum Aufbau haben auch viele beigetragen, die in Brandenburg ihre neue Heimat gefunden und das Land durch ihr Engagement mit geprägt haben. Viele halfen und helfen mit im Ehrenamt: Etwa ein Drittel der Brandenburgerinnen und Brandenburger engagieren sich ehrenamtlich – darunter immer mehr junge Menschen. Es gibt in allen Regionen und in allen gesellschaftlichen Bereichen – egal ob Sport, Kultur, Natur, Bildung, Soziales, Kirchen, Brand- und Katastrophenschutz oder Traditionspflege – Vereine oder Gruppen, die sich für das Gemeinwesen einsetzen. Diese innere Verbundenheit der Gesellschaft ist – auch ganz besonders in Anbetracht der Geschichte vor 1990 und individueller Lebensläufe – eine wichtige Voraussetzung dafür, die Herausforderungen der demografischen und regionalstrukturellen Umbrüche zu bestehen: Zum einen ist die Brandenburger Bevölkerung seit 1990 von knapp 2,6 auf etwa 2,5 Millionen zurückgegangen und wird bis 10
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2030 noch um etwa zwölf Prozent sinken – deutlich mehr als in den vergangenen 20 Jahren. Zum anderen aber – und einschneidender noch – ändert sich die Alterszusammensetzung der Bevölkerung drastisch: Die Jungen werden immer weniger und die Älteren immer älter. Dass Menschen – in historischer Perspektive – bei immer besserer Gesundheit ein immer höheres Lebensalter erreichen können, ist eine großartige Entwicklung. Heute geborene Kinder haben eine beträchtliche Chance, das 100. Lebensjahr zu erreichen. Zugleich jedoch wird die absolute Zahl der Geburten in Brandenburg von heute noch 18.000 auf voraussichtlich 10.000 im Jahr 2030 sinken. Das ist das „demografische Echo“ auf die geburtenschwachen Jahrgänge nach 1990. Die Auswirkungen auf die Alterszusammensetzung unserer Gesellschaft sind beträchtlich. Während noch Im Jahr 1990 auf 100 Menschen im erwerbsfähigen Alter nur 20 im Rentenalter kamen, standen zwanzig Jahre später 100 Erwerbstätigen bereits 34 Rentner gegenüber, und im Jahr 2030 werden es – so die Schätzungen – 78 sein. Die Zu- und Wegzüge nach und aus Brandenburg halten sich zwar bezogen auf Brandenburg insgesamt die Waage, aber hinter diesem Saldo verbergen sich extrem divergierende regionale Trends. Noch immer verliert Brandenburg vor allem junge, gut ausgebildete Frauen. In den Orten um Berlin wird die Bevölkerung noch weiter anwachsen, aber in den berlinfernen Räumen teilweise drastisch abnehmen und zugleich stark altern. Frankfurt (Oder) beispielsweise wird 2030 voraussichtlich deutlich weniger Einwohner haben als 1990 (von 88.000 auf 48.000), das an Berlin angrenzende Falkensee wird sich in diesem Zeitraum mehr als verdoppelt haben – von 23.000 auf 48.000 Einwohner. Die Regionen des Landes werden sich weiter unterschiedlich entwickeln: Es besteht die Gefahr, dass manche Menschen den Anschluss verlieren und sich Ungleichheiten bei Bildung, Arbeit, Einkommen und Gesundheit gegenseitig bedingen und verfestigen. Dem muss entgegengewirkt werden. Es müssen – insbesondere in den ländlich strukturierten Regionen – professionelle und zivilgesellschaftliche Strukturen noch stärker kooperieren, um die Versorgung gewährleisten zu können. Die besonderen Verhältnisse des ländlichen Raumes verlangen einen Mix zentraler Angebote und kleinteiliger Strukturen. Ihr Kennzeichen ist die Verknüpfung von Selbsthilfe mit formeller und informeller Unterstützung. Zugleich bedarf es aber auch Entwicklungskonzepte für den berlinnahen Raum. perspektive21
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b] Land, Kommunen und Finanzen Solide Finanzen und eine leistungsfähige Verwaltung sind Grundbedingung für einen funktionierenden Staat, für starke Kommunen, für öffentliche Daseinsvorsorge, für öffentliche Sicherheit, für gute Infrastruktur und gute Bildung. Politik und Verwaltung müssen deshalb laufend pro-aktiv und vorausschauend agieren, um auf zu erwartende Entwicklungen – demografischer Wandel, veränderte finanzielle Situationen oder technische Neuerungen – vorbereitet zu sein. Reagieren allein wäre zu spät. So haben sich auch Brandenburgs Strukturen seit 1990 immer wieder erneuert: Aus 44 Landkreisen und kreisfreien Städten wurden 18, viele kleine märkische Dörfer schlossen sich zu größeren Gemeinden zusammen, Verwaltungsstrukturen von Bildung über Forst bis Polizei wurden und werden erneuert. All dies oft gegen erheblichen Widerstand, aber im Interesse der Funktionsfähigkeit und Entwicklung des Landes notwendig und richtig. Die Veränderungen machten es notwendig und möglich, das Personal in der Landesverwaltung (von 70.000 auf unter 50.000) sowie in den Städten, Ämtern, Gemeinden und Kreisen erheblich zu verringern. Der Landeshaushalt blieb dennoch bei jährlich etwa zehn Milliarden Euro relativ konstant, zugleich summierten sich die Schulden allein des Landes bis Ende 2010 auf mehr als 18 Milliarden Euro. Sie kosten jährlich etwa 700 Millionen Euro Zinsen – Geld, das damit für Bildung, Kultur oder Infrastruktur fehlt. Die Einnahmen des Landes und der Kommunen u. a. aus EU-Förderung und auslaufendem Solidarpakt und rückläufigem Länderfinanzausgleich werden allein bis zum Jahr 2019 um etwa zwei Milliarden Euro sinken. Inwiefern dieser Verlust ausgeglichen werden kann, ist die große Unbekannte. Sicher ist jedoch, dass künftig deutlich weniger Geld zur Verfügung stehen wird. In zehn der heute 18 Kreise und kreisfreien Städte werden im Jahr 2030 voraussichtlich weniger als 150.000 Menschen leben. Sinkende Einwohnerzahlen, geringere Zuweisungen, veränderte Ansprüche von Wirtschaft und Bürgern sind enorme Herausforderungen für die Brandenburger Kommunen. Hinzu kommt ein steigender Anteil für Personalausgaben aufgrund steigender Löhne. Aufgrund dieser absehbaren Entwicklungen muss die Politik vorausschauend agieren. Die Leistungsfähigkeit des öffentlichen Sektors muss verbessert werden. Deshalb müssen die Aufgabenverteilung der öffentlichen Verwaltung, die interne Organisation von Behörden, die Möglichkeiten der Zusammenarbeit sowie der Umfang der öffentlichen Verwaltung verändert werden. Bis zum Jahr 2030 muss und wird sie in Brandenburg deutlich anders aussehen als heute. 12
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c] Wirtschaft, Arbeit, Infrastruktur, ländlicher Raum, Regionen Wirtschaftliche Betätigung mit ihrer Wertschöpfung ist Grundbedingung für staatliche Leistungen; Arbeit ist nicht nur Gelderwerb, sondern bedeutet zugleich auch Lebenserfüllung. Beides sind wesentliche Voraussetzungen für eine gute gesellschaftliche Entwicklung. Notwendig sind Rahmenbedingungen, die „Gute Arbeit“ ermöglichen. Brandenburgs Wirtschaft hat in den vergangenen 20 Jahren ein eigenes Profil entwickelt. Das Land erhielt in jüngster Vergangenheit – auch als Ergebnis der Neustrukturierung der Wirtschaftspolitik („Stärken stärken“) – Auszeichnungen als „dynamischste Wirtschaftsregion“, als „europäische Unternehmerregion“ und als Spitzenreiter bei regenerativen Energien („Leitstern“). Von der sich weiter vertiefenden Kooperation mit Berlin gehen zusätzliche Impulse für die wirtschaftliche Entwicklung Brandenburgs aus. Damit ist Brandenburg gut aufgestellt für die Ökonomie der Zukunft: In den nächsten 20 Jahren werden sich die Wirtschaftskreisläufe noch stärker globalisieren mit Wachstumschancen vor allem für wissensbasierte Produkte und Dienstleistungen, die nicht zuletzt die Bedarfe einer älter werdenden Gesellschaft in den Blick nehmen. Dabei können in Brandenburg der Energiesektor, Automobil- und Raumfahrtindustrie, Logistik, Biotechnologie, Gesundheitswirtschaft, Medien sowie die Tourismusindustrie eine starke Rolle spielen. Die Verkehrsinfrastruktur (Bahn und Straße) ist für diese Wirtschaftsprozesse gut ausgebaut, die Breitband-Versorgung teilweise noch nicht. Gleichzeitig müssen in Brandenburg strukturelle Schwächen überwunden werden: Denn es gibt nur wenige große Unternehmen, einen niedrigen Industriebestand und eine relativ schwache Exportquote. Das Bruttoinlandsprodukt pro Einwohner lag im Jahr 2010 mit 22.258 Euro weiterhin deutlich unter dem Bundesdurchschnitt (30.566 Euro). Die Förderung der vergangenen Jahre nach Branchenkompetenzen und Regionen hat sich gut bewährt. Aber die bisher starke Förderung von Unternehmen muss aufgrund des künftig geringeren Gesamthaushalts sukzessive verringert und die Förderpolitik neu strukturiert werden. Brandenburg soll auch im Jahr 2030 ein modernes Industrieland sein, auch um das heutige Wohlstandsniveau halten zu können. Das wird nur gelingen, wenn die Exportquote deutlich ansteigt. Voraussetzung dafür ist die Unterstützung bestehender industrieller Strukturen, aber auch die Förderung neuer industrieller Produktion etwa im Bereich erneuerbarer Energien, der Bio- und der Verkehrstechnologie. Daperspektive21
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mit Brandenburg Industrieland bleibt, ist auch in Zukunft ein vernünftiger Energiemix unabdingbar, der Versorgungssicherheit, Preisstabilität und wachsende ökologische Verträglichkeit gewährleistet. Dies setzt voraus, dass, im Land eine Akzeptanz für Energieanlagen gibt, da ohne Anlagen für Erzeugung, Transport und Speicherung kein sinnvoller Energiemix zu gewährleisten ist. Brandenburg wird auch künftig die Verantwortung auf sich nehmen müssen, zur sicheren Energieversorgung unserer Bundeshauptstadt Berlin beizutragen. Wir werden deshalb den Ausbau regenerativer Energien weiter vorantreiben und dafür arbeiten, dass Brandenburg in deutschem wie in europäischem Maßstab seine Vorreiterrolle auf diesem Gebiet beibehält. Gegenwärtig ist noch nicht absehbar, wann die regenerativen Energien die notwendige Grundlast absichern können. Solange das nicht gewährleistet ist, erbringt die Lausitzer Braunkohle einen notwendigen Beitrag im Brandenburger Energiemix. Parallel zur Wirtschaft hat sich die Situation auf dem Arbeitsmarkt drastisch verbessert. Seit 2005 stieg die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Arbeitsverhältnisse auf heute 764.000 deutlich an. Zugleich sank seitdem die Arbeitslosenquote auf etwa elf Prozent erheblich. Bisher ist es jedoch noch nicht gelungen, die Sockelarbeitslosigkeit (Langzeitarbeitslose) nachhaltig abzusenken oder ausreichend Menschen mit Behinderung in Arbeit zu bringen. Zudem bestehen große Unterschiede zwischen den starken Regionen im Berliner Umland und den äußeren Kreisen mit teilweise nach wie vor hoher Arbeitslosigkeit. Das Lohnniveau liegt noch immer bei nur knapp 80 Prozent Westdeutschlands. 69.000 Menschen erhalten – obwohl sie arbeiten – „aufstockende“ Leistungen vom Staat. Die Zahl der Brandenburgerinnen und Brandenburger im erwerbsfähigen Alter wird bis zum Jahr 2030 von derzeit rund 1,7 auf 1,2 Millionen sinken. Aufgrund von Abwanderung und demografischem Wandel besteht zumindest in einigen Regionen die Gefahr eines erheblichen Fachkräftemangels, der zur existentiellen Gefahr für Unternehmen werden kann. Der Brandenburger Arbeitsmarkt ist damit einer dreifachen Polarisierung ausgesetzt: Zum einen zwischen dem berlinnahen und -fernen Gebieten, zum anderen zwischen weiterhin verfestigter Langzeitarbeitslosigkeit und deutlicher werdendem Fachkräftemangel und drittens zwischen dem normalen und dem prekären Beschäftigungssektor. Diese Situation positiv zu verändern stellt die Arbeitspolitik, deren Ziel „Gute Arbeit“ ist, in Zeiten sinkender öffentlicher Mittel vor große Herausforderungen. Zugleich ist die geringe Bindung von Arbeitgebern und Arbeitnehmern in ihren jeweiligen Interessengruppen zu beiderlei Nachteil; die Sozialpartnerschaft muss deshalb gestärkt werden. 14
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Die Umweltsituation ist auf hohem Niveau stabil, Umweltbelastungen durch Stoffeinträge haben sich seit 1990 radikal verringert. Die Entsorgung von Abfällen und Abwasser erfolgt auf technisch hohem Niveau. Zugleich ist es gelungen – ein Brandenburger Markenzeichen – große Schutzräume für Flora und Fauna zu schaffen und die Naturräume für den Tourismus attraktiv zu machen. Die Landwirtschaft ist im ländlichen Raum weiterhin maßgeblicher Arbeitgeber; der Produktivitätsfortschritt hat jedoch zu einem erheblichen Arbeitsplatzabbau geführt. Die Ökolandwirtschaft ist zugleich zu einem auch arbeitsplatzintensiven Faktor geworden. d] Bildung Bei der Bildung kommt es auf den Anfang an. Bildung ist ein Emanzipationsprozess und ein Angebot für sozialen Aufstieg. Sie ist Kern einer vorsorgenden Gesellschaftspolitik, die Spaltung und Ausgrenzung verhindern will. Seit 1990 ist es gelungen, in Brandenburg ein flächendeckend gutes und vielfältiges Schulsystem aufzubauen. Dafür waren zahlreiche Reformen notwendig, die aber nur langfristig wirken. Weitere Arbeit, insbesondere zur Stärkung der Selbständigkeit der einzelnen Schulen und zum Abbau von Bürokratie, ist notwendig. Das pädagogische Personal wird systematisch verjüngt. Bewährt haben sich das zweigliedrige Schulsystem, das Festhalten an der sechsjährigen Grundschule und der Aufbau von Ganztagsschulen. Das pädagogische Personal wird systematisch verjüngt. Aufgrund der demografischen Entwicklung ist der Schulbereich jedoch mit erheblichen Herausforderungen konfrontiert. Von den heute insgesamt rund 120.000 Brandenburger Kindern im Alter von null bis sechs Jahren besuchen mehr als 75 Prozent Kindertagesstätten. Im Jahr 2030 werden nur noch etwa 80.000 in diesem Alter in Brandenburg leben. Derzeit lernen etwa 269.000 Schülerinnen und Schüler an 929 Schulen, darunter 167 private Einrichtungen. 2030 werden es voraussichtlich nur noch etwa 240.000 Schülerinnen und Schüler sein, denn die Zahl der Einschulungen nimmt sukzessive ab: Von heute knapp 20.000 auf unter 15.000. Ein Viertel weniger! Dabei wird sich die Schere zwischen metropolennahen und metropolenfernen Regionen Jahr für Jahr immer stärker öffnen. Bisher erreichen 10 Prozent der Jugendlichen eines Jahrgangs keinerlei Schulabschluss. Bis zu 20 Prozent eines Jahrgangs gelingt kein Berufsabschluss in einer Erstprüfung. Damit besteht die Gefahr, dass Zehntausende junger Menschen kaum perspektive21
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in der Lage sein werden, ihr Leben selbstbestimmt in die Hand zu nehmen. Diese Menschen brauchen Lebenschancen – auch weil Brandenburg auf sie als Fachkräfte der Zukunft nicht verzichten kann. Niemand darf zurückgelassen werden. Mit ihrer vielfältigen Hochschul- und Forschungslandschaft ist die Metropolregion Berlin-Brandenburg ein vorzüglicher Wissenschaftsstandort. An den neun Brandenburger Hochschulen sind derzeit rund 50.000 Studierende eingeschrieben – mit deutlich steigender Tendenz. Diese Tatsachen machen deutlich, dass es im Bildungs- und Wissenschaftssystem insgesamt bis zum Jahr 2030 zu erheblichen Verwerfungen kommen kann – wenn nicht konsequent gegengesteuert wird. Deshalb müssen alle Potentiale genutzt werden, denn die Gesellschaft kann es sich nicht leisten, jungen Menschen Lebenschancen zu verbauen, aus Bequemlichkeit oder der Unfähigkeit, Zukunft zu gestalten. Kultur und Sport sind wichtige Identitätsanker für das Land Brandenburg und bedeuten für viele Menschen Lebensglück. Sport fördert soziale Kompetenzen wie Teamfähigkeit und faires Verhalten. Aber auch sie stehen unter erheblichem Anpassungsdruck. Geringer werdende finanzielle Mittel und absehbar sinkende Mitgliederzahlen in vielen Vereinen erfordern Ideenreichtum und Kooperationen.
II. BRANDENBURG 2030: THESEN a] Gesellschaft und Soziales Der demografische Wandel wird die Gesellschaft und die sozialen Sicherungssysteme in den nächsten 20 Jahren stark verändern. Es ist notwendig, sich darauf einzustellen und Veränderungen positiv zu nutzen. Die Weichen müssen so gestellt werden, dass die Lebensqualität, der gesellschaftliche Zusammenhalt, die soziale Sicherheit in Brandenburg nicht nur gehalten werden, sondern insgesamt sogar zunehmen. SOZIALE SICHERHEIT I
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Der vorsorgende Sozialstaat setzt sich immer stärker durch. Wer Hilfe benötigt erhält sie. Aber immer mehr Menschen werden durch aktivierende Strukturen befähigt, überhaupt keine Hilfe in Anspruch nehmen zu müssen. Grundbedingung für soziale Sicherheit – auch im Alter – ist ein auskömmliches Einkommen auf der Grundlage guter und bedarfsgerechter Ausbildung; es wernovember 2011 – heft 50
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den armutsfeste Löhne gezahlt. Es gibt einen bundesweit einheitlichen Mindestlohn. Dadurch gewinnt auch die Gesellschaft insgesamt, denn bei geringeren öffentlichen Kosten für Grundsicherung entstehen durch die Erwerbstätigkeit der Menschen zugleich höhere Steuereinnahmen. Die Grundversorgung wird in ländlichen Regionen teilweise durch gebündelte und mobile Leistungs- und Nahversorgungsangebote gewährleistet. Mobilitätsangebote, die freiwilliges Engagement und finanzielle öffentliche Unterstützung verknüpfen, werden bedarfsorientiert eingesetzt. Daraus ergeben sich auch neue Beschäftigungsfelder. Ausgangspunkt der ärztlichen Versorgung besonders im ländlichen Raum sind medizinische Ärzte- und Gesundheitszentren, die den mobilen Einsatz von Pflege- und Hausarztdiensten, z.B. „Gemeindeschwestern“, koordinieren und die fachärztliche Versorgung gewährleisten. Schnelle und barrierefreie Kommunikationsmittel tragen landesweit zur Lebensqualität bei. Waren des täglichen Bedarfs und andere Konsumgüter können im ländlichen Raum vielfach über Bestell- und Lieferservice bezogen werden.
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Wohnortnahe Kinderbetreuungs- und Bildungseinrichtungen tragen zu einem familien- und kinderfreundlichen Umfeld bei. Neben den Erwerbsmöglichkeiten sind dies Voraussetzungen dafür, dass Menschen sich auch in den dünner besiedelten Gebieten wohl fühlen und in ihrer Region bleiben. Die Netzwerke „Gesunde Kinder“ sind landesweit fester Bestandteil der Kinderund Familienbegleitung. Das gilt auch für die „Bündnisse für Familien“ und Eltern-Kind-Gruppen. Viele Eltern arbeiten ganztags, da es immer besser gelingt, Familie und Beruf zu vereinbaren; diese Vereinbarkeit ist auch eine große Ressource zur Deckung des Fachkräftebedarfs. Die Unternehmen setzen deshalb mit Unterstützung des Staates Maßnahmen zur Vereinbarkeit von Beruf & Familie sowie Beruf & Pflege um. Auf die Erfahrung älterer Menschen wird großer Wert gelegt. Sie werden dabei unterstützt, sich zu engagieren und aktiv zu bleiben. Sie wollen später in der gewohnten Umgebung weiterleben und auch dort gepflegt werden. Das Prinzip ambulant vor stationär hat deshalb – aber auch aus ökonomischen Gründen – Vorrang. Das Zusammenleben Älterer in alternativen Wohn- und Betreuungsformen, wie zum Beispiel Wohngruppen, wird unterstützt. Auch an Demenz Erkrankte perspektive21
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finden hier bedarfsgerechte Betreuung. Die Menschen sollen so lange wie möglich selbstbestimmt leben können. Um dies möglichst umfassend zu gewährleisten, sind baurechtliche Vorschriften und die Regelungsdichte vereinfacht. EHRENAMT I
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Das Ehrenamt spielt eine immer stärkere Rolle. Es entwickelt sich eine starke lokale Verantwortungsgemeinschaft; sie aktiviert die Bevölkerung. Neben den bürgernahen Verwaltungsstrukturen und dem Sozialraummanagement sind ehrenamtliche „Soziallotsen“ aktiv, die als örtliche Ansprechpartnerinnen und -partner für die Einwohnerinnen und Einwohner wirken. Sie besitzen bei den Bürgerinnen und Bürgern das Vertrauen, um in vielen Belangen des sozialen und gesellschaftlichen Miteinanders, bei einzelnen Problemstellungen oder bei strukturellen Fragen unterstützend agieren zu können. Sie bieten Hilfe zur Selbsthilfe. Ehrenamtliche Tätigkeiten werden in der Regel ohne finanzielle Gegenleistung erbracht und dienen dem Gemeinwohl. Vor allem im ländlichen Raum wäre ohne Ehrenamt vieles nicht möglich: Ob in der Feuerwehr, im Sportverein, lokalen Kulturinitiativen oder Kirchengemeinden. Die Notwendigkeit dafür führt die Gesellschaft jedoch zugleich zusammen. Es bestehen viele immaterielle (zum Beispiel Auszeichnungen) und materielle (zum Beispiel Ehrenamtspass mit lokalen und regionalen Vergünstigungen) Formen der Anerkennung. Die vielfältigen Möglichkeiten des Freiwilligen Jahres nutzen Jugendliche, um einen Einblick in die sozialen, kulturellen oder ökologischen Tätigkeitsfelder zu bekommen. Sie werden damit für das Ehrenamt gewonnen.
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Menschen mit Behinderungen, kranke und hilfebedürftige Menschen sind selbstverständlicher Teil des Gemeinwesens. Gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaften sind fester Bestandteil der offenen Gesellschaft und im ganzen Land akzeptiert. In Brandenburg wird deshalb Offenheit und Respekt gelebt vor der Vielfalt möglicher Interessen und unterschiedlicher Bedürfnisse, für eine selbstbestimmte Lebensführung, für neue intergenerative und interkulturelle Lebensentwürfe und Lebensmodelle, die auch die Vielfalt in den Regionen repräsentieren. Im Jahr 2030 haben Frauen viele Führungspositionen inne. Dies ist möglich durch die Unterstützung der Arbeitgeber und durch die gesellschaftliche Anernovember 2011 – heft 50
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kennung familienbezogener Tätigkeiten der Männer als aktive Familienväter und Hausmänner. Die Gehälter von Frauen entsprechen denen der Männer in gleicher Beschäftigung. Menschen aus anderen Teilen Deutschlands, dem Ausland und fremden Kulturen sind willkommen in Brandenburg. Sie bereichern das wirtschaftliche, soziale und kulturelle Leben und sind wichtig für den Arbeitsmarkt. Brandenburg hat dafür eine „Willkommenskultur“. Asylbewerberinnen und -bewerber sowie Geduldete erhalten erleichterte Bedingungen zur Arbeitsaufnahme. Aufgenommene werden bei der Integration unterstützt. Sie leisten hierzu auch einen entscheidenden eigenen Beitrag im Interesse der Gesellschaft.
b] Staatswesen Brandenburg wird auch 2030 ein freiheitliches, demokratisches und sicheres Land mit starken Kommunen und leistungsfähigen Polizei- und anderen Kommunalund Landesbehörden sein. Notwendig dafür sind klare – teilweise auch neue – Regeln aber auch veränderte Strukturen. Um in allen Teilen des Landes die Daseinsvorsorge abzusichern, müssen insbesondere die Kommunen in dünn besiedelten Gebieten gestärkt werden. Der zurückgehende Landeshaushalt erfordert Umstrukturierungen. Eine engere Zusammenarbeit (kooperative Partnerschaft) von Brandenburg und Berlin bleibt das Ziel. BÜRGERBETEILIGUNG, TRANSPARENZ, DEMOKRATIE I
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Brandenburg 2030 ist ein Land der Transparenz. Jede Bürgerin und jeder Bürger hat grundsätzlich gegenüber den Behörden einen Anspruch auf Zugang zu amtlichen Informationen. Die Informationsansprüche sind in einem einheitlichen und verständlichen Informationsfreiheitsgesetz geregelt. Die Verwaltungen informieren von sich aus aktiv über wesentliche Angelegenheiten und stellen dazu Informationen in das Internet. Brandenburg 2030 ist ein Land der aktiven Bürgerbeteiligung. Bürgerinnen und Bürger können sich in das gesellschaftliche und politische Leben einbringen und ihr Recht auf politische Mitgestaltung wahrnehmen. Bei Planungen von lokalen Infrastrukturvorhaben initiieren die Kommunen, ergänzend zu den Entscheidungen durch die gewählten Kommunalvertreterinnen und -vertreter, bei Bedarf auch direkte Entscheidungen durch die Einwohnerinnen und Einwohner. perspektive21
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Das Recht, an kommunalen Wahlen und Abstimmungen teilzunehmen, wird nicht durch Staatsangehörigkeit eingeschränkt: Alle können wählen und die örtliche Gemeinschaft mitgestalten. Der Landtag ist der zentrale Ort politischer Entscheidungen; ergänzend können die Bürgerinnen und Bürger jederzeit eine direkte Abstimmung des Volkes initiieren und ein Volksbegehren auch per Briefabstimmung unterstützen. In Brandenburg gibt es keine rechtsextremistische Partei mehr, die sich gegen Demokratie und Rechtsstaat wendet. Politischer Extremismus spielt keine Rolle mehr in der Gesellschaft.
ÖFFENTLICHE AUFGABENERLEDIGUNG, E-GOVERNMENT I
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Die öffentlichen Aufgaben werden effizient, hochwertig und bürgernah erfüllt. Sie werden so weit wie möglich vor Ort wahrgenommen. Die staatlichen Vollzugsaufgaben werden weitestgehend von den Landkreisen und der Landeshauptstadt Potsdam durchgeführt. In den Ministerien des Landes werden keine Vollzugsaufgaben erledigt. Die bürgerfreundliche Aufgabenbearbeitung zeichnet sich in erster Linie durch eine schnelle Erledigung und die hohe fachliche Qualität aus. Der ortsnahe Zugang zu den Leistungen der Kommunen und staatlichen Verwaltungen wird gewährleistet, indem den Bürgerinnen und Bürgern – neben den Standorten von Behörden – mobile Angebote (mobiler Bürgerservice etc.), E-Government, Post etc. zur Verfügung stehen. Brandenburg ist E-Government-Land. Alle Dienstleistungen des Landes und der Kommunen werden, da wo es möglich ist, elektronisch und barrierefrei erledigt. Die Bürgerinnen und Bürger werden vor Ort bei der elektronischen Abwicklung unterstützt. Es kann aber auch auf die Papierform zurückgegriffen werden. Land und Kommunen verwenden landeseinheitliche E-Government-Standards und ein einheitliches landesweites elektronisches Verwaltungsverfahren.
STARKE KOMMUNEN, KOMMUNALE SELBSTVERWALTUNG I
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Die kommunale Daseinsvorsorge ist auf Gemeindeebene – auch in sehr dünn besiedelten Gebieten – langfristig gesichert. Die Städte, Gemeinden und Ämter haben im Jahr 2030 in der Regel mindestens 12.000 Einwohner. Aufgrund freiwilliger Fusionen ist die Leistungsfähigkeit der Gemeindeebene gestärkt und mit den Effizienzgewinnen können – gerade in dünn besiedelten Gegenden – neue Formen der Daseinsvorsorge angeboten werden. november 2011 – heft 50
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Die Landkreise und die Landeshauptstadt Potsdam arbeiten so effizient, dass die Verwaltungsausgaben pro Kopf trotz teilweise neuer Formen der Daseinsvorsorge kontinuierlich gesunken sind. Sie können ihre Aufgaben ohne strukturelle Defizite finanzieren. Es besteht Planungssicherheit und politischer Gestaltungsspielraum für die kommunale Daseinsvorsorge. Die Kreisstrukturen sind zukunftsfest und langfristig tragfähig: Alle Landkreise haben mehr als 200.000 Einwohnerinnen und Einwohner. Der erste Schritt bei der Veränderung der Kreisstrukturen wurde 2015 mit einer kleinen Kreisgebietsreform vollzogen: Insbesondere die Kreise ohne Grenze zu Berlin haben sich zu leistungsstarken Strukturen zusammengeschlossen, wobei diese freiwilligen Fusionen von einer teilweisen Entschuldung durch das Land unterstützt wurden. Zuvor könnten bereits die früher kreisfreien Städte Brandenburg an der Havel, Cottbus und Frankfurt (Oder) gestärkt worden sein, indem sie vom Land teilweise entschuldet wurden, freiwillig mit einem Landkreis fusionierten und Oberzentrum blieben. Die Kommunale Selbstverwaltung ist gestärkt. Es gibt vielfältige Gestaltungsspielräume in der Kommunalpolitik. Bei Kommunalwahlen kandidieren viele Bürgerinnen und Bürger für ehrenamtliche und hauptamtliche Funktionen, um ihre örtliche Gemeinschaft zu gestalten.
LANDESVERWALTUNG I
Die Landesverwaltung ist stark verkleinert und leistungsstark. In der Fläche gibt es mobile Ansprech- und Beratungsstellen. Die Verwaltungsvorschriften sind reduziert und vereinfacht. Die verschiedenen Verwaltungen arbeiten eng zusammen und nutzen Synergieeffekte.
BÜRGERRECHTE, SICHERHEIT UND SCHUTZ DER BEVÖLKERUNG I
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In Brandenburg gilt die Maxime einer grundrechtsorientierten Innen- und Rechtspolitik, die den Freiheitsrechten Geltung verschafft und die richtige Balance zwischen Freiheit und Sicherheit hält. Die Polizei wägt in jedem Einzelfall genau zwischen einer effizienten Prävention und dem Eingriff in die Freiheitsrechte der Bürgerinnen und Bürger ab. Bei der Strafverfolgung setzt die Polizei auch neueste Technik und Methoden zur Datensammlung und -beschaffung ein. Präventiv darf die Polizei dagegen – trotz modernster und sehr effektiver technischer Möglichkeiten – die Daten nicht sammeln und auswerten. perspektive21
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Die Polizei ist in allen Teilen des Landes präsent. Insbesondere die Arbeit der Revierpolizei als lokaler Ansprechpartner trägt dazu bei, das Vertrauen in die Polizei zu erhalten. Neue Formen der Kriminalität, die sich aufgrund des Internets und neuer mobiler Kommunikationsformen entwickelt haben, werden neben sehr gut ausgebildeten und motivierten Kriminalisten durch Informatiker und andere Spezialisten effektiv verfolgt. Unternehmen sowie Bürgerinnen und Bürger sind vor Wirtschaftsspionage im Internet, Angriffen auf die Datennetze und Datenmissbrauch so weit wie möglich geschützt. Brandenburg und Berlin sind zur Gewährleistung der inneren Sicherheit eng vernetzt und haben gemeinsame Institutionen (z.B. Verfassungsschutz und Bereitschaftspolizei). Brand- und Katastrophenschutz sind in gemeinsamen Strukturen organisiert. Die ehrenamtlichen örtlichen Strukturen werden durch hauptamtliche regionale Strukturen unterstützt, da sich aufgrund des demographischen Wandels, der flexibleren Erwerbsbiographien und des Wegfalls von Wehrpflicht und Wehrersatzdienst die Zahl der Mitglieder im einsatzfähigen Alter bei den Freiwilligen Feuerwehren und den Hilfsorganisationen verringert. Die Würde des Menschen ist auch nach dem Tod unantastbar. Neben der traditionellen Bestattung gibt es weitere Formen der Totenruhe entsprechend dem letzten Wunsch der Verstorbenen, die mit Traditionen, der Würde des Menschen und dem Gedenken zu vereinbaren sind.
FINANZEN I
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Das Land ist weitgehend auf eigene Einnahmen angewiesen. Es nimmt seit 2014 keine neuen Kredite mehr auf. Trotz Schuldentilgung in den letzten Jahren liegt der Schuldenstand noch über den jährlichen Gesamtausgaben des Landes. Es gibt einen rechtsverbindlichen Schuldenabbauplan, so dass jedes Jahr der finanzielle Gestaltungsspielraum für die Landespolitik wieder wächst. Ziel ist, dass im frühen 22. Jahrhundert die Schulden völlig abgebaut sind. Bis dahin werden weitestgehend alle Einnahmen, die über den planmäßigen Ausgaben liegen, für die Schuldentilgung verwendet. Berlinferne Regionen werden mittels eines horizontalen Finanzausgleichs aus Wachstumsgewinnen im Berliner Umland stabilisiert. Er lässt die aus ökonomischer Sicht geografisch benachteiligten Gemeinden effektiv am größeren Wohlergehen von Kommunen mit deutlich höherem Steueraufkommen teilhaben. november 2011 – heft 50
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c] Wirtschaft, Arbeit und Energie Brandenburg ist ein modernes und nachhaltig wirtschaftendes Industrieland dessen Unternehmen erfolgreich auf den Zukunftsmärkten vertreten sind. „Gute Arbeit“, Produktivität und Innovationskraft der Unternehmen entwickeln sich weiter. Damit ist die Basis für materiellen Wohlstand, soziale Beteiligung und einen handlungsfähigen Staat gelegt. Zur Stärkung der Leistungsfähigkeit der Brandenburger Wirtschaft ist es notwendig, die Attraktivität des Arbeitsmarktes und die konkreten Arbeits- und Entlohnungsbedingungen sowie die Verbindung von Arbeit und Lebenswelt zu verbessern. Die Förderpolitiken zwischen Berlin und Brandenburg werden zur Entwicklung der Metropolregion weiter verstärkt und zu einem organischen Miteinander verflochten. WIRTSCHAFT UND ENERGIE I
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Brandenburg hat seinen Platz im Wirtschaftsgefüge Deutschlands und Europas mit gezielten Exporten hochwertiger Komponenten sowie Finalerzeugnissen gefunden. Dazu sind regionale Wertschöpfungsketten komplettiert und stabile internationale Zuliefer- und Abnehmer-Beziehungen etabliert, auch um künftige Ansiedlungen ausländischer Firmen in Brandenburg zu initiieren. Wirtschaftspolitik und Wirtschaftsförderung sind vorrangig an Wertschöpfung und Zukunftsfähigkeit der Produkte und Dienstleistungen orientiert. Dazu gehören auch Nachhaltigkeit und Ressourcenschonung. Herausragende Wirtschaftsbereiche sind Luft- und Raumfahrt, regenerative Energien, Biotechnologie, Dienstleistungen und (Umwelt-)Tourismus. Es erfolgt eine branchenübergreifende Förderung von Unternehmen aus den Bereichen CleanTec/GreenTec-Technologien, die in den regionalen Wachstumskernen angesiedelt sind. Brandenburg ist auch dadurch führend in Forschung, Entwicklung und Produktion im Bereich der Energieerzeugung, Energieweiterleitung und Energiespeicherung. Brandenburg wirtschaftet in weitgehend geschlossen Stoffkreisläufen, vermeidet die Entstehung neuer und forciert die Auflösung bzw. den Rückbau vorhandener Mülldeponien u. a. zur Gewinnung von (Alt-)Rohstoffen. Biomasse wird eingebunden. Brandenburg entwickelt sich als logistische Drehscheibe zwischen West und Ost, zwischen Ostsee und Adria im Herzen Europas. Dadurch wird zusätzliche Wertschöpfung geschaffen. Der Flughafen „Willy Brandt“ dient als dynamische Infrastruktur der Internatioperspektive21
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nalisierung und guten Erreichbarkeit der Wirtschaft in Brandenburg und Berlin. Dadurch unterstützt er neben der weiteren Etablierung der Luft- und Raumfahrtbranche auch die peripheren Regionen. Zudem sichert er den Zugang zu den internationalen Zuliefer- und Absatzmärkten und sorgt mit seiner guten Erreichbarkeit für vielfältige wirtschaftliche Kooperationen. Brandenburg hat seine Stellung als wichtiger Energielieferant in der Bundesrepublik weiter entwickelt. Dafür sind einerseits die Forschung, Entwicklung und Produktion im Bereich der Energieerzeugung und Energiespeicherung gestärkt. Andererseits ist der Energiemix den veränderten Verhältnissen nach dem Ausstieg aus der Atomkraft angepasst. Dafür ist die Energiegewinnung durch Braunkohle eine notwendige, auf höchstem technologischen Niveau weiter zu entwickelnde „Brückentechnologie“. Parallel dazu werden alternative Energieträger forciert gefördert. Künftig dient Braunkohle verstärkt der chemischen Industrie als Rohstoff. Kleine und mittlere Unternehmen, darunter das Handwerk, sind zuverlässige Arbeitgeber und Stabilitätsfaktoren auch im ländlichen Raum. Viele der Betriebe haben neue Führungen, die teilweise auch aus anderen Bundesländern und dem Ausland nach Brandenburg gekommen sind. Die flächendeckende Versorgung mit schneller Datenübertragung ist Standard und dient landesweit einer guten wirtschaftlichen Entwicklung, so sind hochwertige Arbeiten fernab der Städte für Arbeitgeber in den Städten möglich.
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Durch eine positive ökonomische Entwicklung, eine erfolgreiche Arbeitsmarktpolitik und den demografischen Wandel herrscht in vielen Regionen Brandenburgs Vollbeschäftigung. Der Fachkräftebedarf kann gedeckt werden; gelegentliche Engpässe können schnell ausgeglichen werden. Zahlreiche unfreiwillige Teilzeit-Arbeitsverhältnisse sind zu Vollzeitstellen aufgewertet worden; mehr Ältere nehmen aktiv am Erwerbsleben teil. Männer und Frauen sind gleichermaßen erwerbstätig. Brandenburg ist attraktiv zum Leben und Arbeiten für qualifizierte Zuwanderinnen und Zuwanderer aus Deutschland und der Welt. Die Durchschnittslöhne in Brandenburg entsprechen dem Bundesdurchschnitt. Die bessere Entlohnung, auch aufgrund eines bundesweit verbindlichen gesetzlichen Mindestlohns, stärkt die Binnennachfrage, vermeidet Abwanderung und wirkt gegen den Fachkräftemangel. Aufgrund des Mindestlohns müssen weniger november 2011 – heft 50
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staatliche Gelder als Lohnergänzung gezahlt werden. Die erheblichen Einsparungen werden u. a. investiert in Weiterbildung und öffentliche Beschäftigung. Die Verbände der Sozialpartner sind gestaltungsfähige Akteure. Die erreichte Verzahnung der Aktivitäten zwischen den Sozialpartnern, den Kammern und der Landesregierung stärkt Arbeitgeber und Arbeitnehmer im gemeinsamen Bemühen um eine innovative wirtschaftliche Entwicklung. Zugleich wird so die Attraktivität des brandenburgischen Arbeitsmarktes nachhaltig erhöht. Es ist zu verbesserten Arbeitsbedingungen, vor allem zu guten Löhnen gekommen („Bündnis für gute Arbeit und neues Wachstum“). Das Land begleitet die Entwicklung aktiv. Die schulischen Leistungen haben sich ebenso nachhaltig verbessert wie die quantitativen und qualitativen Strukturen der dualen Ausbildung. Vor allem haben die Unternehmen erkannt, dass ihre eigene Ausbildungsbereitschaft in starkem Maße über ihre zukünftige Wettbewerbsfähigkeit entscheidet. Damit werden einerseits die betrieblichen Bedarfe gestillt und andererseits die individuellen Karrieren in Brandenburg gesichert. Zur Begrenzung des Fachkräftemangels trägt die Strategie von Landesregierung und Sozialpartnern des Bildens, Haltens und Gewinnens bei. Neben der verbesserten dualen Ausbildung, erheblich ausgeweiteter Weiterbildung ist es durch höhere Löhne und eine positive Verzahnung von Arbeits- und Lebenswelt gelungen, einen attraktiven Arbeitsmarkt zu errichten, der auch über die Landesgrenzen hinaus anziehend wirkt. Viele ausländische Arbeitskräfte verhindern Fachkräftemangel. Sie sind in Brandenburg willkommen. Neben verbesserter Entlohnung in attraktiven Wirtschaftsbereichen dienen gute soziale Strukturen und Freizeitangebote sowie erhaltene Naturräume als „Haltefaktoren“. Gesellschaftliche (zum Beispiel Ganztagsschulen) sowie unternehmerische Angebote verbessern die Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Im Einvernehmen von Arbeitnehmer und Arbeitgeber ist es möglich, auch über das 67. Lebensjahr hinaus zu arbeiten. Dies ist im Interesse der Vermittlung von Kompetenz, der Fachkräftesicherung und individueller Lebensplanung.
d] Infrastruktur, Landesplanung, Regionen, ländlicher und städtischer Raum Eine leistungsfähige, sozial- und umweltverträgliche Infrastruktur ist die Grundlage für die wirtschaftliche Wertschöpfung, den materiellen Wohlstand und die soziale Basis der Gesellschaft. Sie muss bis 2030 der demografischen Entwicklung perspektive21
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mit neuen Modellen angepasst werden. Brandenburg besteht aus Regionen, die ihre Stärken entwickeln und das Land unabhängig von Verwaltungsgrenzen prägen. Die Umweltsituation ist auf hohem Niveau stabil. Die Landwirtschaft ist im ländlichen Raum weiterhin maßgeblicher Arbeitgeber. INFRASTRUKTUR I
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Die beitrags- und gebührenfinanzierte Infrastruktur, insbesondere kommunale Straßen, Wasser- und Abwasseranlagen, ist in allen Teilen des Landes sozial verträglich, ökologisch und wirtschaftsfreundlich ausgestaltet. Die Infrastruktur ist flexibler geworden: Rückbau- und Erweiterungsmöglichkeiten von Anlagen machen eine Anpassung an wirtschaftliche oder demografische Veränderungen finanzierbar. Der „Demografie-Check“ hat die Anpassung an die demografischen Entwicklungen möglich gemacht. Brandenburg hat dezentrale und flexible Lösungen erprobt, Angebote kombiniert und Standards in bestimmten Regionen gelockert. Es ist deshalb Modell innovativer und weitgehender Ansätze für Regionen, die besonders vom demografischen Wandel betroffen sind. Das Verkehrssystem bietet der Wirtschaft und den Menschen gute Bedingungen in allen Teilen des Landes. Alle Verkehrsträger haben gleiche Chancen. Die Standortvorteile Brandenburgs werden genutzt, um ein hochwertiges ausgebautes trimodales Verkehrsnetz – Schiene, Straße, Wasser – zu erhalten. Die Elektromobilität und die Teilhabe an Verkehrsträgern (car sharing) spielt eine immer größere Rolle. Der öffentliche Verkehr kommt den Bedürfnissen der Menschen nahe und ist sozial verträglich ausgestaltet. Er verbindet alle Regionen des Landes – trotz der teilweise geringeren Bevölkerungsdichte – mit der Metropolregion Berlin und anderen Metropolregionen Europas (Warschau etc.). Sein Anteil hat sich gegenüber dem Individualverkehr deutlich erhöht. In allen Teilen des Landes ist eine Grundversorgung sichergestellt, die sich nicht allein nach der Nachfrage richtet. Den Bürgerinnen und Bürgern kann ein Nahverkehr auf der Schiene (SPNV) angeboten werden, da ein Großteil des Güterverkehrs auf der Schiene abgewickelt wird und der SPNV daher wirtschaftlicher betrieben werden kann. Bürgerbusse, Kombibusse und Ruftaxis ersetzen im ländlichen Raum teilweise öffentlichen Schienen- und Busverkehr und übernehmen Linienverkehr, Postfahrten sowie Kurier- und Fahrdienste, soweit die Versorgung nicht durch private Anbieter abgesichert ist. november 2011 – heft 50
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LANDESPLANUNG, REGIONEN, LÄNDLICHER UND STÄDTISCHER RAUM I
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Die Landesplanung unterstützt die Landesentwicklung und Standortplanung; sie ist Grundlage für den kommunalen Finanzausgleich. Die Ober- und Mittelzentren sind die zentralen Orte der Entwicklung und Versorgung. Es gibt starke Regionen mit eigenem Profil, die durch Kooperation und Netzwerke, unabhängig von Verwaltungsgrenzen, nachhaltige Entwicklungen und Innovationen vorantreiben. Die Menschen sind stolz auf ihre Region, bodenständig und weltoffen. Es herrscht ein Klima, in dem nicht nur „Zugezogene“ schnell zu „Einheimischen“ werden und damit dem Fachkräftemangel und der Abwanderung entgegenwirken, sondern in dem auch neue Ideen reifen und regionale Profile entwickelt und grenzüberschreitende wirtschaftliche Kooperationen nach Nord-, Mittel- und Osteuropa aufgebaut werden. Die Regionen nutzen die einzigartigen Chancen, die in den Verflechtungsräumen jenseits der brandenburgischen Landesgrenzen liegen: die EnergieRegion Lausitz-Spreewald; die östliche Uckermark im Szczeciner Einzugsbereich; die Prignitz im weiten Einzugsbereich der Metropolregion Hamburg; die Seenlandschaft in der Niederlausitz in der Nähe zu erfolgreichen Industrieunternehmen in Senftenberg und Spremberg, zur Universitätsstadt Cottbus, zur sächsischen Landeshauptstadt Dresden, bis hin zur schlesischen Metropole Wroclaw und die Millionenstadt Berlin, die von Brandenburg ringsum umschlossen wird. Auch soziale Netzwerke, kulturelle Einrichtungen, gemeinsame Erholungsräume, ökonomische Verflechtungen haben alle Partner gestärkt und Berlin-Brandenburg zu einem Bindeglied des regen Austauschs von Gütern und Dienstleistungen, von Wissen und Kultur zwischen den Regionen in Nord-, Mittel- und Osteuropa gemacht. Die Landwirtschaft ist entscheidender Faktor zur Stabilisierung ländlicher Räume und zum Erhalt und zur Entwicklung der Kulturlandschaft. Sie produziert vielfach nach biologischen und ökologischen Kriterien und fügt sich so in das Profil Brandenburgs als nachhaltiges Wirtschaftsland ein. Der Ökolandbau ist ein wichtiger Arbeitgeber im ländlichen Raum. Natur- und Umweltschutz und damit verbunden der Umwelt-Tourismus spielen eine zentrale Rolle im ländlichen Raum. Die Urbanisierung wird sozial gestaltet. Der kommunale soziale Wohnungsbau sichert mit seiner dauerhaften Mietpreisvorgabe sozial und kulturell ausgewogene Stadtquartiere im Berliner Umland. perspektive21
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e] Bildung, Wissenschaft, Kultur und Sport Der demografische Prozess erfordert Veränderungen in allen Bildungsbereichen von der Kita bis zur Hochschule – bei gleichzeitiger Verbesserung der Bildungsqualität. Deshalb müssen alle Potentiale genutzt werden, denn die Gesellschaft kann es sich nicht leisten, jungen Menschen Lebenschancen zu verbauen. Bildung muss immer stärker lebensbegleitend sein. Kultur und Sport sind wichtige Identitätsanker für das Land Brandenburg und bedeuten für viele Menschen Lebensglück. Aber auch sie stehen unter erheblichem Anpassungsdruck. FRÜHKINDLICHE BETREUUNG, BILDUNG UND ERZIEHUNG I
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Im Jahr 2030 soll jeder junge Mensch einen Schul- und Berufsabschluss erreichen. Die Voraussetzungen dafür werden früh geschaffen: Der Anteil der KitaKinder (insbesondere bis zum vollenden 2. Lebensjahr) ist – vom Elternwunsch abhängig – erhöht und die Gruppengrößen sind verkleinert. Eine wohnortnahe Betreuung im ländlichen Raum ist durch kleine Kindertagesstätten oder Tagesmütter und -väter möglich. Für diese gelten neue Qualifizierungsstandards. Eine gerechte Bezahlung ist gewährleistet. Die Fachschulausbildung der Erzieherinnen und Erzieher ist reformiert. Im Jahr 2030 gibt es eine gute Mischung von an der Fachhochschule und an der Fachschule ausgebildeten Erzieherinnen und Erziehern an den Kindertagesstätten, etwa im Verhältnis von 30 zu 70. Pädagogik und Vorbereitung auf die Schule sind an den Kitas intensiviert; der Übergang Kita – Schule ist auch durch Partnerschaften verbessert. Die Übergänge sind fließend. Zwischen Kitas und Grundschulen bestehen Bildungsverbünde. Der Anteil der männlichen Erzieher und Lehrer ist deutlich erhöht; Jungen haben damit männliche Bezugspersonen.
SCHULE I
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Im Jahr 2030 besteht ein einfaches und übersichtlich strukturiertes zweigliedriges Schulsystem. Alle Schülerinnen und Schüler haben sowohl auf dem gymnasialen wie auch nichtgymnasialen Weg Gelegenheit, die Hochschulreife zu erlangen. Das Schulsystem ist durchlässig. Weitgehend alle öffentlichen Schulen sind Ganztagsschulen: für gemeinsames Lernen und Leben. Sie sind von großer Bedeutung und insbesondere für den ländlichen Raum auch im Interesse der Vereinbarkeit von Beruf und Familie unerlässlich. Die Ganztagsschulen arbeiten mit Lernbeauftragten aus Kultur, november 2011 – heft 50
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Sport, Handwerk oder Wirtschaft zusammen. Sie sind auch ein Beitrag zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie. In Orten mit Schulen ab der 7. Klasse werden an gefährdeten Standorten Schulverbünde oder die Zusammenlegung von Gymnasium und Oberschule zur Gesamtschule geprüft. Mancherorts sind Internatsangebote sinnvoll. Im Interesse von kurzen (Schul-)Wegen werden Grundschulen im ländlichen Raum möglichst erhalten bzw. Bildungsverbünde von Kitas, Grundschulen und weiterführenden Schulen geschaffen; dadurch kann das Personal optimal eingesetzt werden. Wo sinnvoll erfolgt jahrgangsübergreifender Unterricht bis einschließlich der 4. Klasse. Aufgaben der Schulämter sind auf das Ministerium, die Landkreise und die Landeshauptstadt Potsdam sowie die Schulen übertragen. Die Schulen erhalten mit größerem eigenem Budget mehr Verantwortung; sie bekommen ein stärkeres Mitspracherecht bei der Auswahl des Personals. Der unverminderte bundesweite Wettbewerb um gut ausgebildete Lehrkräfte erfordert, ihnen gute Arbeitsbedingungen mit größtmöglicher Eigenständigkeit zu bieten. Im Interesse der Chancengleichheit in allen Regionen Brandenburgs werden alle Anstrengungen unternommen, um auch für berlinferne Regionen qualifizierte (Fach-) Lehrkräfte zu gewinnen. Schülerinnen und Schüler mit Defiziten in den Bereichen Lernen und Soziales, mit geistigen oder körperlichen Einschränkungen, besuchen eine Regelschule, sofern dies im Interesse ihrer geistigen oder körperlichen Entwicklung ist und der Besuch einer Regelschule von ihnen geleistet werden kann (Inklusion). Dadurch wird auch die Zahl der Jugendlichen ohne Schulabschluss verringert. An diesen Schulen ist dafür die technische und personelle Infrastruktur geschaffen. Deshalb ist an der Universität Potsdam ein besonderer Schwerpunkt auf sonderpädagogische Qualifikationen gelegt.
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Zweite Chance: Jede und jeder hat die Möglichkeit zum Nachholen eines Schulabschlusses und eines Berufsabschlusses. Die Angebote sind vielfältig und auf den Einzelnen zugeschnitten. Weiterbildung in und aus der Arbeitslosigkeit sowie beständige berufliche Qualifikation sind gesellschaftliche Standards, um die Parallelität von Arbeitslosigkeit und Fachkräftemangel zu vermeiden und berufliche Weiterentwicklung zu ermöglichen. perspektive21
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Berufliche Qualifikation beginnt bereits in der sechsten Klasse durch schrittweise Berufsorientierung und Praxislernen. Notwendig ist ein Übergang von der Schule in die Berufsausbildung ohne Reibungsverluste. Die Betriebe setzen in Zusammenarbeit mit den Oberstufenzentren und den Kammern Bildungsprozesse fort. Jeder Jugendliche erhält ein Ausbildungsangebot – auch Jugendliche mit schlechten Startchancen.
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Die Brandenburger Universitäten und Fachhochschulen präzisieren ihre Profile laufend weiter und sind damit für Lehrende und Lernende auch aus anderen Bundesländern und dem Ausland attraktiv, z. B. in den Bereichen (frühkindliche) Bildung, Pflege, Gesundheitsberufe, Energiesystemtechnik, Bioökonomie oder technischer Umweltschutz. Die demografische Entwicklung sowie geänderte Ausbildungswünsche und Bedarfe führen im Rahmen der finanziellen Notwendigkeiten zu einem Umbau der Hochschullandschaft. Dabei sind die Kooperationen untereinander und mit den außeruniversitären Forschungseinrichtungen ausgebaut und bei den Planungen die Hochschulstandorte in Berlin und in den Nachbarländern berücksichtigt. Der Technologie- und Innovationstransfer zwischen Hochschulen, Forschungseinrichtungen und Unternehmen ist ein ständiger Prozess, der die Wettbewerbsfähigkeit der Brandenburger Unternehmen aber auch die Hochschulen und Forschungseinrichtungen durch die Einnahme von Drittmitteln stärkt. Die Kooperation von Hochschulen mit Unternehmen ist verbessert z. B. durch berufsbegleitendes Studium, mehr Drittmittel, Stiftungsprofessuren und gemeinsame Laboratorien. Durch Praktika und Stipendien werden Studierende langfristig an Unternehmen und damit an Brandenburg gebunden. Im Jahr 2030 erhalten etwa 60 Prozent der jungen Brandenburgerinnen und Brandenburger eines Jahrgangs die Hochschulberechtigung; mindestens jeder zweite eines Jahrgangs nimmt ein Studium auf. Die Möglichkeiten des Studienbeginns mit einem qualifizierten Berufsabschluss sind erweitert und werden gut genutzt. Der Frauenanteil bei den Studierenden liegt bei mehr als 50 Prozent; es gelingt, den Frauenanteil auch auf allen Karrierestufen bis hin zur Professur deutlich zu erhöhen. Die Vereinbarkeit von Studium bzw. wissenschaftlicher Arbeit und Familie ist eine wesentliche Voraussetzung dafür. Dazu dient auch die weitere Einführung von Teilzeitstudien, um eine flexiblere Lebensplanung zu ermöglichen. november 2011 – heft 50
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Fast alle Studierenden absolvieren ein Auslandssemester und Auslandspraktikum, um sich sprachlich, kulturell und fachlich zu bilden und bestmöglich zur internationalen Zusammenarbeit beitragen zu können. Wissenschaft ist zentraler Standortfaktor für die langfristige Entwicklung Brandenburgs. Ihr Anteil an den Arbeitsplätzen wird sich kontinuierlich erhöhen.
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Allen Brandenburgerinnen und Brandenburgern wird auch unter erschwerten finanziellen Bedingungen kulturelle Teilhabe ermöglicht. Das schließt die Hochkultur ebenso wie die Soziokultur und populäre Kultur ein. Kultur kann so ihre Integrations- und soziale Bindungskraft entfalten. Kulturelle Bildung richtet sich an alle Generationen, auch an die zunehmende Gruppe der Älteren. Dafür ist jedoch verstärkt privates finanzielles Engagement, ehrenamtlicher Einsatz und die Nutzung öffentlicher Beschäftigung notwendig. Eine kommunale Gebietsreform bietet die Chance für eine Verbreiterung der finanziellen Basis von Kultureinrichtungen. Ensembles und Einrichtungen suchen dabei auch „auf dem Land“ ihre Verankerung, um ihre Aufgaben der kulturellen Bildung und beim Kulturtourismus wahrzunehmen. Kultur für alle setzt bei den Jüngsten an. Voraussetzung für die kulturelle Bildung ist die enge Vernetzung von Musikschulen, Künstlerinnen und Künstlern, Orchestern und Theatern mit den Kindertagesstätten und den Schulen. Dafür sind Ganztagsschulen der geeignete Ort. Natur, Kultur und brandenburgisch-preußische Geschichte stiften Identität nach innen und schaffen Attraktion nach außen. Kulturtourismus setzt auf Qualität aber auch auf Erlebnis und Atmosphäre. Musikfestivals, Open-AirKonzerte, Sommertheater und Seefestspiele sind Angebote in der Mitte der Brandenburger Kultur- und Naturlandschaft. Kulturmarketing muss angesichts der Konkurrenz innovativ und professionell sein.
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Gesundheit und Fitness sind für die Menschen im Jahr 2030 sehr wichtig. Der enge Zusammenhang von körperlicher und geistiger Fitness wird an den Kindertagesstätten, Schulen und Hochschulen intensiv vermittelt. Sport leistet im Sportland Brandenburg 2030 einen wichtigen Beitrag zur Identifikation. Brandenburg bietet beste Voraussetzungen für den Spitzensport, zum Beispiel an den Sportschulen und an den Olympiastützpunkten. Aufgrund der teilweise stark abnehmenden Bevölkerung, insbesondere junger perspektive21
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Menschen, wird der Konkurrenzkampf der Vereine im Breitensport um aktive Mitglieder härter. Um zu vermeiden, dass regional oder lokal Angebote gestrichen werden müssen, spezialisieren sich die Vereine teilweise noch stärker und unterbreiten Verbundangebote. Die Kooperation mit den Schulen wird weiter verstärkt. I
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Die Mittelschicht ist überrepräsentiert ÜBER DEN ZUSTAND DER DEMOKRATIE IN DEUTSCHLAND UND EUROPA SOWIE DIE PARTEIREFORM DER SPD SPRACH MICHAEL MIEBACH MIT WOLFGANG MERKEL PERSPEKTIVE 21: Gemäß der von der SPDFührung angestrebten Organisationsreform sollen künftig auch Nichtmitglieder über die Aufstellung von sozialdemokratischen Kandidaten mitbestimmen dürfen. Die Idee ist innerparteilich heftig umstritten. Treibt es Parteichef Sigmar Gabriel mit der demokratischen Öffnung zu weit? WOLFGANG MERKEL: Nein. Zwar ist verständlich, dass Funktionäre und Parteimitglieder für sich ein Monopol bei der Kandidatenaufstellung reklamieren, schließlich haben sie auch eine stärkere Verantwortung gegenüber ihrer Partei und investieren häufig Zeit und Energie – wer etwas leistet, muss davon auch profitieren. Aber im 21. Jahrhundert können Parteien nun mal nicht mehr mit den Organisationsstrukturen aus der Mitte des 20. Jahrhunderts bestehen. Die Volksparteien als Mitgliederparteien werden kaum überleben. Außerdem hat das Ansehen von Parteien, Politikern und Funktionären einen historischen Tiefpunkt erreicht, weil unterstellt wird, dass sich die politischen Eliten abschotten und Parteien
„closed shops“ sind. Auch deshalb ist die Öffnung hin zur Gesellschaft überlebenswichtig. Nichtmitgliedern Stimmrechte zu geben, ist nur ein erster Schritt. Aber sofern solche öffentlichen Wahlversammlungen gut laufen und die Partei demonstriert, dass sie zuzuhören vermag, lernwillig ist und inspirieren kann, werden sie zu mehr gesellschaftlicher Demokratie beitragen. Es geht nicht nur um Ergebnisse Welche weiteren Schritte der Öffnung sind notwendig? MERKEL: Parteien sind auf enge Kooperationsbeziehungen mit Organisationen in ihrem Umfeld angewiesen. Sie sollten heute aber nicht mehr die dominante Stellung beanspruchen, die sie noch über weite Teile des 20. Jahrhunderts einnehmen konnten. Anstatt sie nur instrumentell als kollaterale Organisationen zu begreifen, müssen Parteien stärker auf unabhängige Nichtregierungsorganisationen wie Attac, perspektive21
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thema – engagement wagen
Amnesty International, Umweltschutzverbände oder Transparency International hören – und von den vielen kreativen jungen Menschen lernen, die sich dort engagieren. Derzeit debattieren Sozialdemokraten in verschiedenen Gremien grundsätzlich über das Thema Demokratie, etwa in der „Zukunftswerkstatt Demokratie und Freiheit“ des Parteivorstandes. Lockt eine solche Expertendebatte heute noch irgendjemanden hinter dem Ofen hervor? MERKEL: Der sozialdemokratische Slogan „Mehr Demokratie wagen“ aus den siebziger Jahren würde heute nicht mehr verfangen, dafür ist die öffentliche Sache zu stark den privaten Interessen gewichen. Aber gerade weil das so ist, müssen wir darüber nachdenken, wie man die Demokratie unter neuen Bedingungen mit neuem Leben erfüllt. „Mehr Demokratie wagen“ ist ja unverändert richtig. Ein wichtiger Anknüpfungspunkt könnte sein, dass es in der Mitte der Gesellschaft durchaus einen Wunsch nach mehr Mitsprache gibt, etwa bei großen Infrastrukturprojekten. Diese Debatte findet bisher allerdings eher außerhalb von Parteien, Parlamenten und Exekutiven statt. Das würde der verbreiteten These widersprechen, dass für die meisten Bürger vor allem der Output – also die Ergebnisse – demokratischer Entscheidungsprozesse zählt, während die Input-Dimension, 34
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sprich der demokratische Prozess als Wert an sich, seine Bedeutung eingebüßt hat. MERKEL: Ich bestreite, dass sich die Bürger nur um die Ergebnisse von Politik scheren. Im Gegenteil: Alle Proteste, die wir heute erleben – von den „Wutbürgern“ in Stuttgart bis zu den Empörten in Griechenland oder Spanien – richten sich stark auf die demokratischen Entscheidungsmechanismen. Die Menschen wollen nicht, dass Planungsfeststellungsverfahren nur hinter verschlossenen Türen durchgeführt werden. Sie erwarten, in die einzelnen Planungsstufen eingebunden zu werden. Weil das zu wenig geschieht, blühen übrigens die Nichtregierungsorganisationen, in denen man sich unmittelbar und unbürokratisch aktiv beteiligen kann. Demokratie als soziale Frage Andererseits zeigen Länder wie China, dass auch autokratische Staaten wirtschaftlich erfolgreich sein können. MERKEL: In der Tat ergeben ökonometrische Analysen, dass Demokratien keineswegs mehr wirtschaftliches Wachstum erzeugen als Diktaturen. Jedoch sind Demokratien viel besser, wenn es um die Verteilung des erwirtschafteten Reichtums geht. Das gilt selbst für defekte Demokratien, etwa in Lateinamerika. Die Demokratie leistet einen Beitrag zur langfristigen Stabilisierung der ökonomischen Entwick-
wolfgang merkel – die mittelschicht ist überrepräsentiert
lung – und schafft natürlich größere Zufriedenheit mit dem sozialen, wirtschaftlichen und politischen System. Hingegen prognostizieren Modernisierungstheoretiker, dass in China der Knoten irgendwann platzen wird und die neuen Mittelschichten auf mehr politische Mitspracherechte drängen werden. Allerdings ist die Modernisierungstheorie blind gegenüber den Zeithorizonten und kann nicht sagen, ob dies in 5 oder 25 Jahren geschieht. Welche Rolle sollten Volksentscheide künftig spielen? MERKEL: Wichtiger ist die frühzeitige Einbindung von Bürgern in deliberative Prozesse. Bei Volksentscheiden gilt: Es ist ein naiver Mythos, dass das Volk als Ganzes entscheidet. In aller Regel beteiligen sich die gut situierten Mittelschichten überproportional, was der Demokratie sogar noch einen zusätzlichen Klassencharakter einhaucht, der sich mit dem fortschreitenden Ausstieg der unteren Schichten aus der politischen Beteiligung schon länger abzeichnet. Das haben die Linken oder die Grünen, die Referenden als Kernelement einer demokratischen Erneuerung betrachten, überhaupt noch nicht zur Kenntnis genommen. Ich erinnere nur an die Referenden gegen den Bau von Minaretten in der Schweiz, die „Ausschaffung“ straffällig gewordener Einwanderer oder an die Steuersenkungen in Kalifornien –
zugunsten der Besitzenden, zulasten derjenigen, die auf Steuertransfers angewiesen sind. Referenden sind sozial hoch selektiv und tendieren zu konservativen Politikresultaten. Optimist oder Pessimist? Unter Demokratieforschern scheint es zwei Lager zu geben: Die Optimisten verweisen auf den globalen Siegeszug der Demokratie und betrachten eine gewisse Unzufriedenheit mit ihr als gesellschaftlichen Normalzustand. Pessimisten wie Colin Crouch meinen, wir würden uns in Richtung einer „Postdemokratie“ entwickeln: Politische Akteure und Institutionen werden zunehmend von Privatund Partikularinteressen beeinflusst, Wahlen verkommen zur PR-Farce, die Medien verhindern vernünftige demokratische Diskurse, globale Unternehmen bestimmen die Politik. Auf welcher Seite stehen Sie? MERKEL: Beide Seiten haben Recht – aber jeweils nur teilweise. Zum Beispiel war der Siegeszug der Demokratie in den vergangenen drei Jahrzehnten weniger global, als die Optimisten behaupten. Viele neue Demokratien haben trotz formal korrekter Wahlen erhebliche Defekte im Hinblick auf Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte – etwa in Lateinamerika, im östlichen Osteuropa oder in Afrika. Hingegen hat Crouch komplett Unrecht, wenn er behauptet, in den vierziger oder fünfziger perspektive21
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thema – engagement wagen
Jahren hätten wir den demokratischen Moment gesehen, und seitdem folge eine permanente Degeneration der Demokratie. Aber die Krisensymptome sind doch eindeutig. Um nur zwei zu nennen: Die Wahlbeteiligung sinkt seit Jahren und die Zustimmungswerte für Parlamente und Parteien sind im Keller. MERKEL: Das allgemeine Krisengejammer lässt sich wissenschaftlich nicht begründen. Die Demokratie in Deutschland ist heute in einem besseren Zustand als Ende der fünfziger und Anfang der sechziger Jahre. Ich erinnere nur an die damalige gesellschaftliche Diskriminierung von Minderheiten oder die Position der Frauen: Heute beteiligen sich Frauen genauso häufig wie Männer an Wahlen, und in den Parlamenten sind sie immer mehr repräsentiert. Gleichzeitig sind Politikbereiche wie die Gleichstellungspolitik oder die Vereinbarkeit von Familie und Beruf verstärkt in das Zentrum der Politik gerückt. Auch eine SpiegelAffäre wäre heute so nicht mehr denkbar. Unsere westlichen Demokratien sind sensibler, responsiver, egalitärer geworden. Und dass die Wahlbeteiligung sinkt, ist noch kein Problem per se, zumal sie in Deutschland vergleichsweise hoch liegt. Problematisch ist nur, dass mit dem Rückgang der Wahlbeteiligung eine soziale Selektivität einhergeht: Je geringer die Wahl36
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beteiligung, desto niedriger die Beteiligung der unteren Schichten – mit der Folge, dass deren Interessen nicht mehr effektiv repräsentiert werden. Dagegen sind die Mittelschichten in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft überrepräsentiert. So marschieren wir in Richtung einer Zweidrittel-Demokratie. Das Aufstiegsversprechen fehlt Die SPD hat seit 1990 fast die Hälfte ihrer Mitglieder verloren – ist auch das kein Krisensymptom? MERKEL: Doch, aber erstens ist der Mitgliederschwund ein europaweites Phänomen, und zweitens betrifft er nicht nur die Parteien, sondern auch Gewerkschaften, Kirchen oder Vereine. Er geht auf die gesellschaftliche Individualisierung zurück und kann von Parteien kaum gesteuert werden. Wurden die unteren Schichten in früheren Jahrzehnten denn demokratischer repräsentiert? MERKEL: Mitte des 20. Jahrhunderts bestanden die Unterschichten überwiegend aus ungelernten Arbeitern. Es herrschte häufig Vollbeschäftigung, und sie waren über den Arbeitsmarkt in Wirtschaft und Gesellschaft integriert. Zudem waren viele Mitglieder in den Gewerkschaften, in Vereinen und in der SPD zugleich. Heute sind die unteren Schichten gesellschaftlich und ökonomisch marginalisiert: Die
wolfgang merkel – die mittelschicht ist überrepräsentiert
Prekarisierten sind häufig arbeitslos, vereinzelt und an die großen sozialen Organisationen kaum noch angebunden. Sie haben es aufgegeben, sich eine organisierte kollektive Stimme zu geben. Die Volksparteien sind für diese Menschen nicht mehr attraktiv. Auch deshalb werden die unteren Schichten häufig advokatorisch an einer falschen Ecke repräsentiert. Die Debatte, ob das Arbeitslosengeld II um 20 Euro erhöht werden soll, ist einfach daneben. 10 oder 20 Euro mehr werden nichts am Lebensschicksal der Hartz-IV-Empfänger und deren Kinder ändern. Stattdessen brauchen diese Gruppen einen aktivierenden Sozialstaat und ein Bildungssystem, das Chancengleichheit zum Ziel hat. Wir brauchen mehr Angebote für den sozialen Aufstieg – gerade aus Hartz-IV-Familien. Die sozialdemokratische Vorstellung von Demokratie umfasst Indikatoren, die über das Verfahren zur pluralistischen Meinungsbildung hinausgehen – soziale Rechte, Gleichheit, Chancengerechtigkeit. Aber was setzen wir dem entgegen, wenn sich eine Mehrheit auf demokratischem Wege für weniger soziale Rechte oder weniger Gleichheit entscheidet? MERKEL: In einer nachhaltigen Demokratie dürfen notwendige, manchmal sogar kreative ökonomische und soziale Unterschiede nicht auf politische Ungleichheit hinauslaufen. Es gibt drei Kernprinzipien der Demokratie: politi-
sche Gleichheit, Freiheit und Kontrolle – Kontrolle derer, die regieren. Am meisten gefährdet ist gegenwärtig das Prinzip der Gleichheit: Die sozioökonomischen Differenzen haben sich in den vergangenen 25 Jahren in allen westlichen Gesellschaften vertieft und schlagen immer mehr in politische Ungleichheit um. Es gibt keine gleichen Chancen mehr für alle Bürger, sich zu beteiligen. Früher hätte man das die Brasilianisierung der demokratischen Politik genannt. Stand- und Spielbein der SPD Hat die SPD den Kontakt zu den sozial Schwächeren auch deshalb verloren, weil sie sich wahltaktisch zu stark zur Mitte hin orientiert hat? MERKEL: Eine Volkspartei muss möglichst alle Segmente der Gesellschaft ansprechen. Die SPD ist auf die Arbeiter angewiesen – gelernte wie ungelernte – und auf diejenigen, die aus dem Arbeitsprozess hinausgedrängt wurden. Sie muss ein Standbein im linken Lager haben und die weniger Privilegierten prononciert vertreten. Zugleich braucht sie auch ein bewegliches Spielbein in der Mitte, weil der so genannte Medianwähler ausschlaggebend ist, um Wahlen zu gewinnen. Auch die Union orientiert sich in die Mitte. Mit der Folge, dass bestimmte Meinungen großer Minderheiten – zum perspektive21
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Beispiel beim Thema Atomenergie – parlamentarisch überhaupt nicht mehr vertreten werden. MERKEL: Ja, aber längerfristig setzt sich der Mittelwahn in freien demokratischen Gesellschaften nicht durch. Tendieren die Parteien zu stark in die Mitte, werden auf dem linken und rechten Flügel politische Räume frei, die politische Unternehmer besetzen können. In Deutschland ist der linke und rechte Rand in den vergangenen 15 Jahren zwar etwas geräumt worden, aber nicht in dem Ausmaß, dass es ein Problem für die Demokratie ist. Sobald die großen Parteien in der Mitte zu wenig Wähler gewinnen, greifen sie wieder aus auf die Ränder des Parteienspektrums. Das hat die SPD in den letzten Jahren allerdings etwas vernachlässigt; sie hatte allerdings auch zu kämpfen mit dem Sonderfall der deutschen Wiedervereinigung und mit der Existenz einer starken Regionalpartei im Osten, die plötzlich auch im Westen attraktiv wurde. Populismus hilft nicht René Cuperus, Intellektueller im Umfeld der holländischen Partij van de Arbeid, vertritt die Auffassung, Sozialdemokraten müssten populistischer werden, um die sozial schwächeren Milieus noch erreichen zu können. MERKEL: Dieser Ratschlag ist falsch. Populismus umfasst immer demagogische Elemente, er reduziert komplexe Pro38
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bleme auf einfache Lösungen, und er hat eine Tendenz zum Autoritären und zum Ausschluss bestimmter gesellschaftlicher Gruppen. Das kann keine progressive Politik sein. Allerdings dürfen sich Sozialdemokraten nicht im Namen der politischen Korrektheit verbieten lassen, über bestimmte Probleme in der Gesellschaft offen zu diskutieren. Das betrifft zum Beispiel Themen wie Einwanderung oder Geschlechteremanzipation, die große Teile der Bevölkerung bewegen. Es geht um einen Mittelweg zwischen der bleiernen politischen Korrektheit und populistischem Zündeln. Wie die innerparteilichen Konflikte um Thilo Sarrazin zeigen, hat die SPD diese Balance bisher noch nicht gefunden. Ein weiterer Bestandteil der Postdemokratie-These ist die Kritik an den schnelllebigen Medien, die angeblich einen vernünftigen demokratischen Diskurs unterbinden. War es früher wirklich besser? MERKEL: Zumindest haben Medien heute einen stärkeren Einfluss auf die öffentliche Meinung und damit auf die Politik. Die zunehmende Skandalisierung und Personalisierung in der politischen Berichterstattung kann man beklagen, sie ist aber angesichts der kapitalistischen Verwertungsbedingungen der Medien nicht verwunderlich: Das Interesse an politischen Diskursen lässt nach, aber zugleich sind die Medien gezwungen, ihre Produkte weiter
wolfgang merkel – die mittelschicht ist überrepräsentiert
zu verkaufen. Die Medien beeinflussen die politische Agenda und greifen bisweilen tief in die Politik ein. Das gilt nicht nur für Berlusconis Italien, sondern etwa auch für Großbritannien, als Rupert Murdoch 1997 einen impliziten Pakt mit Tony Blair und New Labour schloss. In Deutschland profitierte Gerhard Schröder 1998 von einem Medien-Hype; im Jahr 2005 drängten die großen Medien auf einen Regierungswechsel in Deutschland. All diese Trends lassen sich nicht mehr zurückdrehen. Bundestag muss stärker werden Die aktuelle europäische Staatsschuldenkrise ist auch eine Demokratiekrise: Die Menschen haben das Gefühl, dass über ihre Köpfe hinweg entschieden wird. Getrieben von den Finanzmärkten und an den nationalen Parlamenten vorbei entscheiden die Regierungschefs über technokratische Monstren wie die „European Financial Stability Facility“. Begründung: Das Vorgehen sei alternativlos. Was muss in Europa geschehen, damit der Souverän wieder das Gefühl bekommt, tatsächlich souverän zu sein? MERKEL: Die Staaten der Eurozone befinden sich in einem demokratischen Dilemma. Einerseits müssen sie mit den in Not geratenen Staaten solidarisch sein, damit diese aus der Haushaltskrise herausfinden. Andererseits sind die Bürger der meisten Geberländer mehrheit-
lich gegen eine solche Solidaritätsleistung – und Regierungen müssen in einer Demokratie vor allem die Interessen ihrer Bevölkerungen repräsentieren, die sie nur in gewissen Grenzen selbst formen können. Nun war die europäische Integration bislang stets ein elitengetriebener Prozess, der aber äußerst positive Ergebnisse zeitigte und deshalb von den Bürgern nachträglich auch akzeptiert wurde. Jetzt aber delegitimiert die Bundesregierung die EU hierzulande: Erst zettelt Angela Merkel einen populistischen Diskurs über die angeblich faulen Südeuropäer an, um billige Punkte zu machen. Anschließend macht sie Schritt für Schritt neue Zusagen mit dem Argument, es gebe dazu nun einmal keine Alternative. Stattdessen hätte sie genau erklären müssen, dass Deutschland ökonomisch der größte Nutznießer der Währungsunion ist. Kein Wunder, dass die Deutschen sich als reine Zahlmeister empfinden. Negativ verstärkend kommt hinzu, dass der Deutsche Bundestag in die europapolitischen Entscheidungen kaum – und wenn, nur nachtrabend ratifizierend – eingebunden wird. Wieso gelingt es den EU-Mitgliedsländern nicht, weitere Integrationsschritte zu vereinbaren? MERKEL: Die europäische Integration war immer ein neoliberales Projekt: die Schaffung eines freien Wirtschafts- und gemeinsamen Währungsraums. Die poperspektive21
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litische Union in Form einer Wirtschaftsregierung haben die Franzosen spätestens seit Mitterand immer wieder vorgeschlagen. Deutschland und Großbritannien haben stets abgewunken. Einen letzten großen Versuch unternahmen Oskar Lafontaine und Dominique Strauß-Kahn im Jahr 1999: Sie wollten dem ECOFIN, dem Rat für Wirtschaft und Finanzen, gegenüber den nationalen Zentralbanken und der Europäischen Zentralbank mehr Kontrollrechte geben und die Steuerpolitik stärker harmonisieren. Dass auch das nicht gelang, ist eine der größten Versäumnisse sozialdemokratischer Europapolitik um die Jahrtausendwende. Wir sind gewissermaßen in eine selbstgestellte Falle gelaufen: Sozialdemokraten selbst haben ja das Wettbewerbsrecht dereguliert – und müssen heute mit den Folgen zurechtkommen. Nun stecken sie in der Zwickmühle zwischen mehr gebotener Solidarität und wachsender Europaskepsis in der Bevölkerung. Und welche Auswege gibt es aus diesem Dilemma? MERKEL: Im Mehrebenensystem der Europäischen Union erwächst demokratische Legitimität nicht in erster Linie aus den europäischen Organen und Insti-
tutionen, sondern immer noch primär aus den national legitimierten Regierungen oder den gewählten Abgeordneten der nationalen Parlamente. Nach wie vor ist die demokratische Legitimität der Regierungen im Europäischen Rat und in den Ministerräten wesentlich stärker als diejenige der europäischen Abgeordneten, die in Ländern wie Polen oder Großbritannien mit Wahlbeteiligungen von weniger als 20 Prozent gewählt werden. Deshalb ist es legitimatorisch ein problematischer Weg, dem Europäischen Parlament mehr Kompetenzen zu geben. Ich glaube, dass nationale Parlamente stärker eingebunden werden müssen. Sowieso erleben wir gerade nicht den richtigen Zeitpunkt, um auf europäischer Ebene weitere Demokratisierungsschritte voranzutreiben. In nahezu allen Mitgliedsstaaten wäre die Bevölkerung extrem skeptisch, wenn Kompetenzen aus dem demokratisch einigermaßen gesicherten nationalen Raum in den ungesicherten europäischen Raum abgegeben würden. Wer mehr Demokratie für die EU fordert, wird sich in politikwissenschaftlichen Oberseminaren Freunde machen. Aber er blendet vollkommen aus, was der Souverän will. Dies kann schwerlich als Demokratie bezeichnet werden. I PROF. DR. WOLFGANG MERKEL
ist Direktor der Abteilung „Demokratie: Strukturen, Leistungsprofil und Herausforderungen“ am Wissenschaftszentrum Berlin sowie parteiloses Mitglied der Grundwertekommission der SPD. 40
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Die Welt ist aus den Fugen WÄHREND FINANZWIRTSCHAFT POLITIK UND ELITEN VORFÜHRT, OFFENBART SICH DER DESASTRÖSE ZUSTAND UNSERER DEMOKRATIEN VON TISSY BRUNS
a geht der Kaiser, in die schönsten Kleider gehüllt, die je ein Schneider geschaffen hat. Sie sind aus feinem Lügengespinst und doch aus dem stärksten Gewebe, das die menschliche Gemeinschaft kennt, der Angst nämlich, nicht dazuzugehören. Wer des Kaisers neue Kleider nicht sieht, ist ja dumm und taugt nicht für seine Ämter. Der Konformitätsdruck in Andersens Märchen scheitert bekanntlich am unbefangenen Kind. „Aber er hat ja gar nichts an!“ ruft zuletzt das ganze Volk. So weit sind wir noch nicht. Im Sommer 2011 sind wir vollends in den Bann geraten, der uns nach Art der Schlange Kaa die Köpfe dumm und schwindelig macht. Täglich schalten die Fernsehsender zu den Börsen, um die unausweichliche Frage zu stellen: Wie reagieren „die Märkte“ – jene nervösen und unruhigen Sensibelchen, auf die es vor allen anderen ankommt? Dabei müsste es Politikern und Bürgern doch darum gehen, deren Macht zu brechen. Seit dem Crash von 2008 wissen wir, dass nichts
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so irrational, gefährlich und unproduktiv ist wie das Meuteverhalten der Finanzakteure, die keinem anderen als dem eigenen Nutzen folgen. Die Finanzwirtschaft durchdringt die Welt nun seit einem Vierteljahrhundert. Nicht finstere Diktaturen haben sie geschaffen. Sie ist ein originäres Kind der demokratischen, westlichen Nationen, die am Ende des letzten Jahrhunderts den ökonomisch Mächtigen die Fesseln ersparen wollten, die der Wohlstandskapitalismus ihnen auferlegt hatte. Verständlich. Neue Konkurrenzverhältnisse zeichneten sich ab. Jeder Staat meinte, „seine“ Wirtschaft optimal in Stellung bringen zu müssen, indem Kosten gesenkt, Verpflichtungen gelöst und außerdem sagenhaft viel Geld verdient werden konnte. Dieser neue Kapitalismus hat die Ideale und Stärken der Demokratien in einem Maß untergraben, wie kein äußerer Feind es gekonnt hätte. Die „Märkte“ sind zur Parallelgesellschaft des 21. Jahrhunderts geworden. Sie können jenseits der für alle anderen gültigen Maßstäbe perspektive21
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von Haftung und Verantwortung handeln. Sie sind im Vorteil, denn sie kennen die Regeln der Vielen und nutzen sie zu ihrem Zweck, während die Vielen die Mechanismen weder durchschauen noch beherrschen können, mit denen Ratingagenturen ganze Staaten abstufen oder Hedgefonds mit Leerverkäufen auf Verlust und Niedergang von Nationen wetten. Sie sind immer im Vorteil, denn sie verdienen nicht nur an konstruktiven Erfolgen, sondern auch an Niederlagen und Pleiten. Die Krisen, die nach den Explosionen privater und öffentlicher Schulden heute auszubaden sind, bestimmen die Debatten Europas und der USA. Schlimmer aber als alle Handlungszwänge sind die Gedankengefängnisse, in denen Politik und Eliten stecken. Die Demokratien haben sich vom neuen Finanzkapitalismus ihr Selbstbewusstsein abkaufen lassen. Der Aufstieg der Demokratie war nicht möglich ohne die soziale und rechtliche Zivilisierung des Kapitalismus, ohne die Zurücksetzung der Macht der ökonomisch Stärkeren. Die alternden Demokratien kapitulieren vor ihr. Unfähigkeit zur Konsequenz Man kann sagen: kein Wunder, denn wer müsste sonst nicht mächtig Asche auf sein Haupt streuen. Erst die Deregulierungseuphorie demokratischer Regierungen hat den sagenhaften Auf42
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stieg der Finanzoligarchie möglich gemacht, und die Nebenwirkung trat sofort ein – die abrupt sinkende Fähigkeit zur politischen Selbstkorrektur. Noch eindrucksvoller als die Liste der zahlreichen Finanzcrashs ist die Unfähigkeit, daraus Konsequenzen zu ziehen. Denn anstelle der demokratietypischen Kontroversen trat ein seltsamer Konformismus des Diskurses um Markt und Staat. Letzterer galt und gilt in einem Maß als dumm, dass man fast vergessen könnte, dass gerade Händler des großen Geldes auf die Rechts- und Eigentumsgarantien von Staaten und Notenbanken vollständig angewiesen sind. Gegen die Märkte kann man nicht Privatisierung und Deregulierung gewannen, pragmatisch getarnt, die Macht von Dogmen. „Gegen die Märkte kann man nicht“, befand Margaret Thatcher. Ihr Credo „there ist no alternative“ wurde zum Schlachtruf des neoliberalen, aber parteiübergreifenden Mainstreams. Die westliche Welt, Politiker nicht weniger als Ökonomen oder Philosophen, hatte beim Übergang von der alten Systemkonkurrenz in die Globalisierung „die Märkte“ mit dem höchsten Gütesiegel der Demokratie geadelt. Das Freiheitsbanner wurde an die siegreiche Marktwirtschaft übergeben. Denn die „Freiheit der Märkte“ garantiere Erfolg und Chancen in der globalisierten Weltwirtschaft.
tissy bruns – die welt ist aus den fugen
Diese Art Freiheit lehrte die Menschen schnell das Fürchten. Sie nahmen die radikale Marktfreiheit als drastische Verschiebung der Kräftekonstellation zwischen Politik und Wirtschaft wahr, zu ihren Lasten. Aber der Geist der neuen Zeit fiel auf den fruchtbaren Boden einer hoch individualisierten Gesellschaft, in der jeder seine Chancen selbst suchen will. So weit wie Thatcher ging niemand in Europa, die nur noch Familien und Individuen kannte: „There is no such thing like society.“ Aber als Staatsverachtung machte die Geringschätzung von „society“ überall Karriere – eine ideologische Wunderwaffe zur Rechtfertigung aller möglichen Einschränkungen öffentlicher Leistungen, inklusive der Polizei. So weit wie in Großbritannien ist der Zerfall nirgendwo sonst in Europa gegangen. Aber überall, auch in Deutschland, hat die soziale Ungleichheit in einem Maß zugenommen, das zu Beginn des Jahrtausends schwer vorstellbar war – ein großes Thema ist sie nicht, auch nicht für die Volksparteien. Der Finanzkapitalismus hat den Anspruch paralysiert, auf dem Primat der Politik zu bestehen. Wer glaubt noch daran, dass legitimierte Politik dem Gemeinwohl im Zweifel Vorrang verschaffen kann vor Partikularinteressen aller Art? Schlimmer als die Handlungszwänge sind die Gedankengefängnisse, in die sich die demokratischen Öffentlichkeiten begeben haben.
Es wird kaum gedacht und selten gesagt, dass es weiter schieflaufen wird, wenn die Politik ihre Handlungsfreiheit gegenüber den „Märkten“ nicht zurückerobern will. Stattdessen bedient sie mit ihren Gipfeln die medialen Aufmerksamkeitsregeln, obwohl das Volk sich längst nicht mehr davon beeindrucken lässt –, und wartet dann zitternd auf die Reaktion anonymer Heckenschützen. Den Medien ist nicht selten Schadenfreude anzumerken, wenn es wieder heißt: „Weltmärkte reagieren enttäuscht“. So wird die Politik immer wieder auch als der unpopuläre Hauptfeind präsentiert, der einfach zu beschränkt ist, die coolen Märkte zu verstehen. Leitartikel und Wirtschaftsseiten geben vor, die Mechanismen von Leerverkäufen, Derivaten, Hegden oder Outperformen zu verstehen. Tatsächlich beeindrucken sie nur mit dem Insiderbluff, der alle zum Schweigen bringen kann, weil sich niemand mit dummen Fragen blamieren will. Das Vertrauen sinkt In ihrer Geringschätzung der Politik können die Medien sich großer Zustimmung sicher sein. Nicht aber in in ihrem Respekt für die Raffinesse der Märkte. Denen trauen die meisten Bürger nur noch das Schlechteste zu. Den Medien übrigens auch. Man muss, um das zu verstehen, nicht erst nach Italien oder England sehen. Das Verperspektive21
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trauen breiter Bevölkerungsschichten ist dramatisch gesunken, dass die öffentlichen Eliten, dass Politik, Medien, Wirtschaft ihre Rollen im demokratischen Gefüge so spielen, wie es die Verfassungen vorsehen. Nicht gegenseitige Kontrolle im Interesse des Gemeinwohls sehen die Bürger, sondern abgehobene und untereinander verbandelte Kasten, Reiche und Einflussreiche, die am großen Rausch partizipieren. Schirrmacher und die Linke Der Krisensommer 2011 legte den Blick frei auf einen desaströsen Zustand der westlichen Welt. Die Weltfinanzkrise ist als Schuldenkrise zurückgekehrt, die, wie es scheint, nur die Staaten und ihre begehrlichen Bürger zu verantworten haben. Mit einer erstaunlichen Neigung zur Selbsterniedrigung machen Politiker diese eindeutige Zuteilung der Verantwortung mit. Es ist nicht einmal mehr marktwirtschaftliche Selbstverständlichkeit, dass auch die Gläubiger haften und draufzahlen, wenn sie allzu locker Kredit gewährt haben. Die Politik wird eingeholt von ihrem Versagen nach 2008. Da war sie zwar gut genug, mit dem Geld der Steuerzahler die Banken zu retten. Aber zu feige, um den Stier bei den Hörnern zu packen. „Too big to fail“? Das sind die großen Banken immer noch. Sie haben aus dem Krisenmanagement von 2008 die anti44
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marktwirtschaftliche Lehre gezogen, dass sie im Zweifel eine Vollkaskoversicherung bei den Staaten haben. Die Bürger lernten das Gegenteil. Die Milliarden, die aufgebracht werden mussten, haben die Staatsschulden erhöht. Verdoppelt in Spanien, vervierfacht in Irland, um 20 Prozent gesteigert in Deutschland. Auf Kredite und Konjunkturpakete für die Bankenkrise folgt der Sachzwang: Sparen für solide Haushalte. Wieder nicht zu zahlen von Bankern, sondern von Rentnern, Familien, Normalos. Wenn dieser Krisensommer Anlass zu Hoffnungen gibt, dann sind es die Risse im Gewebe jenes Konformismus, der uns in seinen Bann geschlagen hat. In ihrer Not verbieten vier Staaten Aktienleerverkäufe, und niemand beklagt einen Anschlag auf die Freiheit. Die Finanztransaktionssteuer wird diskutabel. Die „Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“ macht das Bekenntnis des altgedienten britischen Thatcher-Biographen Charles Moore groß auf: „Ich beginne zu glauben, dass die Linke recht hat“. Herausgeber Frank Schirrmacher parallelisiert den britischen Widerruf mit den aktuellen Wertediskussionen in der CDU. Durch die unverständlichen Tagesdebatten um Euro-Bonds, Rettungsmechanismen, Schuldenbremsen dringen neue Töne. „Tax me“ – „Besteuert mich“ rufen in Frankreich, den USA oder Deutschland die Reichen, die am Steueraufkommen ihrer Länder immer weniger beteiligt sind.
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Je größer die Vermögen in einem Land, desto höher die Schulden, sagen die Ökonomen Peter Bofinger und Max Otte der „Süddeutschen Zeitung“. Otte befüchtet, dass die Inflationsangst begründet ist. Denn: „Die Staaten haben die Schulden nicht im Griff, und gleichzeitig wird die Finanzoligarchie begünstigt. Wir schützen die Reichen, die den Staat gekapert haben.“ Längst kursiert im Alltagsbewusstsein eine Liste offener Geheimnisse, die angestrengt vertuscht werden, weil sie jeder kennt. Dass die Politik nicht mehr viel zu bestellen hat, wissen die gebildeten Bürger, die deshalb laut für ihren Nahbereich kämpfen, für die gute Schule, gegen Flugschneisen und Bahnhöfe. Das wissen die 30, 40, 50 Prozent der europäischen Bevölkerungen, die gar nichts mehr von der Politik erwarten. Jahrelang haben sie zugeschaut, wie sozialdemokratische, liberale und konservative Regierungen den öffentlichen Sektor abgebaut haben, weil „Privat vor Staat“ zum Dogma ihrer Regierungen wurde. Diese Bürger sind fertig mit ihren Parteien, beinah fertig aber auch mit einer Demokratie, die sie als Veranstaltung wahrnehmen, die nur noch von und für die Besserverdienenden gemacht wird.
Hätte das katastrophale Ausmaß der europäischen Jugendarbeitslosigkeit die Titelseiten deutscher Zeitungen ohne die britischen Jugend- und Kinderkrawalle je erreicht? Es war wirklich ein Urknall, der „Big Bang“, mit dem Margaret Thatcher vor 25 Jahren die regulierenden Fesseln gelöst hat, der die Londoner City zum größten Finanzplatz der Welt aufsteigen ließ. Die gediegenen britischen Geldhäuser wichen amerikanischen Banken und ihrer hektischen amerikanischen Finanzwelt. Die Citybanker verdienten bald das Zehnfache der früheren Gehälter. Der blendende Glanz aber wurde bezahlt mit dem Abstieg des ganzen Landes. Großbritannien hat der Finanzökonomie seine Realwirtschaft geopfert. Und seine Jugend. Am Ende ist es traurige Wirklichkeit: No Society. Die Welt ist aus den Fugen geraten. Denn Marktwirtschaft ist nicht mehr Marktwirtschaft, wenn der erpresserische Druck der Finanzakteure groß genug ist, ihre Risiken immer wieder bei den Steuerzahlern abzusichern. Und Demokratie ist nicht mehr Demokratie, wenn sie nicht mehr hält, was sie verspricht, nämlich eine gesellschaftliche Ordnung, in der die ganz normalen Leute über ihr Leben mitbestimmen und mitreden können. I
TISSY BRUNS
ist politische Chefkorrespondentin des Tagesspiegels, wo der Beitrag auch bereits erschienen ist. perspektive21
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Erfolgsstory mit Risiken und Nebenwirkungen ÜBER DIE EXPORTFÄHIGKEIT DER SCHWEIZER DIREKTEN DEMOKRATIE VON KLAUS ARMINGEON
n der Schweiz versteht man unter direkter Demokratie die abschließende Entscheidungsfindung über staatliche Politiken durch eine Mehrheitsentscheidung der Bürgerinnen und Bürger. Direktdemokratisch wird auf der Ebene des Bundes, der 26 Kantone und der fast 3.000 Gemeinden abgestimmt. Um die Beschreibung übersichtlich zu gestalten, konzentriere ich mich im Folgenden auf die Bundesebene. Wichtigste Formen dieser direktdemokratischen Entscheidung sind das obligatorische und fakultative Referendum sowie die Volksinitiative. Obligatorische Referenden müssen abgehalten werden bei einer Änderung der Bundesverfassung, dem Beitritt zu Organisationen für kollektive Sicherheit oder zu supranationalen Gemeinschaften sowie über dringlich erklärte Bundesgesetze, die keine Verfassungsgrundlage haben und deren Geltungsdauer ein Jahr übersteigt. Über diese Bundesgesetze müssen die Stimmberechtigten innerhalb eines Jahres nach Annahme durch das Parlament entscheiden. Bei obligatorischen Referen-
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den muss eine Mehrheit des Volkes und der Kantone („Stände“) zustimmen. Ein Kanton hat zugestimmt, wenn mehr Stimmende des Kantons ein „Ja“ als ein „Nein“ angekreuzt haben. Da Kantone unterschiedliche Bevölkerungsgrößen haben – der Kanton Zürich hat beispielsweise hundertmal mehr Einwohner als der Kanton Glarus – gibt dies den kleinen Kantonen einen historisch entstandenen und politisch gewollten Minderheitenschutz. Volksinitiativen dienen der Verfassungsänderung und müssen von mindestens 100.000 Stimmberechtigten durch ihre Unterschrift eingefordert werden. Sie sind angenommen, wenn eine Mehrheit des Volkes und der Stände zustimmt. Das fakultative Referendum wird von 50.000 Stimmberechtigten verlangt und bezieht sich auf ein parlamentarisch verabschiedetes Gesetz. Spricht sich eine Mehrheit des Volkes gegen dieses Gesetz aus, ist es gescheitert. In der Schweiz wurden zwischen 1848 und 2009 auf Bundesebene mehr als 200 obligatorische Referenden perspektive21
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durchgeführt, von denen drei Viertel angenommen wurden. Hinzu kamen 165 fakultative Referenden mit einer Annahmequote von 55 Prozent und 165 Volksinitiativen, von denen allerdings 90 Prozent scheiterten. Freilich trügt der Eindruck, in der Schweiz werde alles an der Urne entschieden. So wurden von allen Möglichkeiten ein Referendum zu ergreifen – also Gesetze, die vom Parlament verabschiedet wurden – in den vergangenen 150 Jahren 92 Prozent nicht genutzt: Nur über zehn von hundert Gesetzen wird überhaupt abgestimmt und von diesen zehn Gesetzen scheitern dann etwa vier. Anders ausgedrückt: In 96 Prozent aller Gesetzes-Entscheidungsverfahren wird die parlamentarische Entscheidung nicht korrigiert. Freilich muss hinzugefügt werden, dass bei großen Entscheidungen über den Wohlfahrtsstaat oder die Wirtschaftspolitik regelmäßig abgestimmt wird. Weniger Distanz Direkte Demokratie wird zunehmend genannt, wenn es darum geht, die Funktionsprobleme moderner repräsentativer Demokratien zu mindern. Dazu gehören politisches Desinteresse, Politikverdrossenheit, die Skepsis und wachsende Distanz der Bürgerinnen und Bürger gegenüber den Akteuren der Politik – Parteien, Parlamente, Eliten –, die Erosion der Wählerbasis der etab48
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lierten Parteien und die wachsende Isolierung der „politischen Klasse“ von den „Menschen draußen im Lande“. Dazu gehört auch die Ausgabenfreudigkeit, die man den Parlamentariern zuspricht, die auf Wiederwahl bedacht sind und die die Kosten auf zukünftige Generationen auslagern können. Ein Allheilmittel für Demokratien? In der Tat sind die Schweizer Europameister, wenn es um die Zufriedenheit mit der nationalen Demokratie geht – noch vor den Nordeuropäern und mit einem weit abgeschlagenen Kontinentaleuropa. Das Vertrauen in die Politiker ist im internationalen Vergleich weit überdurchschnittlich. Und schließlich verdienen nicht nur die Stabilität der seit 1848 bestehenden Demokratie, sondern auch der ausgeglichene Staatshaushalt und die Großzügigkeit und Nachhaltigkeit des klassischen Wohlfahrtsstaates Bestnoten im europäischen Vergleich. All dies wird häufig der direkten Demokratie zugeschrieben. Sie mache die Bürgerinnen und Bürger nicht nur zufriedener, sondern führe zu weisen Entscheidungen über Steuern und Ausgaben, weil die Stimmenden jeweils sehr genau wissen, dass sie die Zeche wuchernder Staatsintervention zu bezahlen haben. Schließlich demonstriert die Schweiz, dass hierzulande eine Sorge nicht berechtigt scheint, die in Deutschland in
klaus armingeon – erfolgsstory mit risiken und nebenwirkungen
der Rolle der Volksabstimmungen beim Niedergang der Weimarer Republik wurzelt: Einem Diktum des ersten Bundespräsidenten, Theodor Heuss, zufolge offeriere die direkte Demokratie eine Prämie für Demagogen. Es ist durchaus umstritten, wie folgenreich Plebiszite für die Machtübernahme der Nationalsozialisten waren. Aber es dürfte kaum strittig sein, dass Volksabstimmungen demagogisch missbraucht werden können. In der Schweiz ist dies meist nicht passiert. Im Vorfeld von Volksabstimmungen werden durchaus sachliche Argumente ausgetauscht. Nur wenige nehmen teil Könnte man nicht durch die Einführung der direkten Demokratie einen Teil der Malaise der deutschen Politik beheben? Diese Frage haben verschiedentlich deutsche Politikerinnen und Politiker gestellt und dabei sehnend über den Bodensee geschaut. Schon auf den ersten Blick fallen einige unschöne Flecken auf der eidgenössischen Hochglanzbroschüre auf. Die Beteiligung der Bürger ist trotz vielfältiger Einflusschancen gering. Im Jahresdurchschnitt nehmen in den letzten zwei Dekaden zwischen einem Drittel und der Hälfte der Stimmberechtigten an Abstimmungen teil. Einzelne Abstimmungskampagnen hatten durchaus auch demagogische
Aspekte. Und der Schweizer Fall zeigt auch, dass politische Kenntnisse und Interesse in der Schweiz zwar im internationalen Vergleich stark ausgeprägt sind – aber dies liegt in der gleichen Größenklasse wie Deutschland, in den Niederlanden oder Skandinavien. Weniger politische Institutionen, sondern die sozio-ökonomischen Ressourcen scheinen die zentrale Erklärungsgröße für Interesse und Kenntnisse zu sein. Eine Neigung zum Nein Die Hoffnung, die direkte Demokratie würde die Deutschen politisch aktivieren, dürfte auf Sand gebaut sein. Zudem werden in der Schweiz häufig Entscheidungen getroffen, indem sich Bürger am bewährten status quo orientieren („Nein-Sager-Tendenz“) oder der Empfehlung der Partei folgen, der sie nahe stehen. Nicht zu groß ist der Anteil der Stimmenden, die Argumente selbständig abwägen, Informationen verarbeiten und dann zu einer gut begründeten Entscheidung kommen. Durch die direkte Demokratie verwandelt man wahrscheinlich nicht im großen Stile „Wutbürger“ und ihre Gegner in nachdenklich-deliberative, sorgfältig argumentierende und zuhörende sowie ernsthaft-nüchtern abwägende Bürgerinnen und Bürger. Nicht genug damit. Die direkte Demokratie hat einige Nebenwirkungen, die bei jedem Importversuch mit zu perspektive21
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bedenken sind. Sie hat in der Schweiz zunächst konservativ gewirkt. Der Wohlfahrtsstaat wurde spät eingeführt und den Frauen wurde bis 1971 das Stimmrecht auf Bundesebene vorenthalten – weil sich die direkte Demokratie als Reformbremse auswirkte. Noch 1959 votierten zwei Drittel der Schweizer Männer gegen das Frauenstimmrecht auf Bundesebene. Und noch im Frühling 1990 wiesen die Männer im Kanton Appenzell Innerrhoden das kantonale Frauenstimmrecht mehrheitlich ab und mussten erst vom Bundesgericht in die Knie gezwungen werden. Allen Freunden der Volksabstimmung muss klar sein, dass die Neigung zum „Nein“ unter den Stimmenden die nächstliegende Lösung ist – vor allem dann, wenn sie nicht sicher die Voraussetzungen und Folgen einer Reform einschätzen können. Spaltungen bleiben Darüber hinaus können Spaltungen zwischen Landesteilen akzentuiert werden. In der Schweiz ist der bekannteste Fall der Rösti-Graben, der die deutschund französischsprachige Schweiz bei der Frage der Öffnung gegenüber der EU spaltete. Die Romandie musste wiederholt lernen, dass sie bei dieser Schicksalsfrage überstimmt wurde und keine Chance hatte, sich gegen das Nein der anderen Kantone durchzu50
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setzen. In Deutschland könnte man sich eine ähnliche Spaltung zwischen den neuen und den alten Bundesländern, zwischen Nettozahlern und -empfängern oder zwischen Nord und Süd vorstellen. Hilfreich für die Integration des Landes wäre dies nicht. Parteien erweitern ihre Optionen Ganz im Gegensatz zur Intention der Abstimmungsbefürworter hat die direkte Demokratie eine Neigung zu weniger Transparenz und zu Verhandlungen hinter geschlossenen Türen. In der Schweiz wissen alle Politiker, die sich an ein großes Reformprojekt machen, dass veränderungsskeptische oder schlecht informierte Bürger ein sorgfältig entwickeltes und wichtiges Projekt zwischen dem sonntäglichen Morgenspazierung und dem Mittagsbraten wirsch und mit schlechter Begründung vom Tisch wischen können. Diese Gefahr besteht, wenn es einer größeren politischen Gruppe gelingt, die 50.000 Stimmen zusammenzubekommen, die man für ein Referendum benötigt. Deshalb ist es eine rationale Strategie, alle größeren und referendumsfähigen Gruppen wie die Bauern, die Gewerkschaften, die Unternehmerverbände und die großen Parteien mit ins Boot zu nehmen. Mit diesen Akteuren wird dann eine Reformstrategie entwickelt, gegen die diese Beteiligte nicht zur Waffe des Referendums greifen.
klaus armingeon – erfolgsstory mit risiken und nebenwirkungen
Der Blick in die Schweiz lehrt den deutschen Parteien auch, dass sie sich mit der Einführung der direkten Demokratie selbst schaden könnten. Denn das Quasi-Monopol, politische Themen zu setzen und darüber im Parlament verbindlich zu beschließen, geht verloren, wenn die Bürger selbst direkt entscheiden dürfen. Dies klingt dramatischer, als es ist, weil ein direktdemokratisches System ohne ein entwickeltes Parteiensystem kaum funktionieren kann. Zudem erweitern Parteien zuweilen auch ihren Optionsraum, weil sie sowohl das direktdemokratische wie das parlamentarische System nutzen können. Dies ändert jedoch nichts daran, dass die institutionellen Bastionen der Parteien durch die direkte Demokratie geschliffen oder zumindest beschädigt werden. Schließlich kann die direkte Demokratie auch aktive Bürger frustrieren, weil sich angenommene Initiativen als undurchführbar erweisen. Beispielsweise wurde 1994 die Verfassung um den Artikel erweitert, den alpenquerenden Gütertransitverkehr von Grenze zu Grenze innerhalb von zehn Jahren vollständig auf die Schiene zu verlegen. Obwohl dies nunmehr in der Verfassung festgeschrieben ist, quälen sich weiterhin LKWs auf den Pässen über die Berge, weil keine wirksame und umfassende Umsetzung des Beschlusses erreicht wurde. Die ungebremste Souveränität des Volkes kann zu Verletzungen der
Grund- und Menschenrechte führen. In den vergangenen zehn Jahren wurden in der Schweiz vier grundrechtswidrige Initiativen angenommen. Sie verstoßen zwar nicht gegen zwingendes Völkerrecht, wohl aber aller Wahrscheinlichkeit nach gegen die Europäische Menschenrechtskonvention. Dazu gehört beispielsweise die Minarett-Initiative. Sie schuf den Verfassungsartikel, demzufolge in der Schweiz keine Minarette gebaut werden dürfen. Dieser Artikel dürfte fallen, wenn ein Kläger den langen Instanzenzug bis zum Europäischen Menschenrechtsgerichtshof einmal in einigen Jahren durchgezogen haben wird. Hätte die Schweiz einen besseren Menschenrechtsschutz – wie zum Beispiel durch ein Verfassungsgericht, das grundrechtswidrige Verfassungsartikel ungültig erklären kann – dann wäre zumindest diese bedenkliche Nebenwirkung der direkten Demokratie vermeidbar gewesen. Dennoch eine Erfolgsstory Die meisten Schweizerinnen und Schweizer betrachten ihre direkte Demokratie als Erfolgsstory und möchten unter keinen Umständen darauf verzichten. Dies ist erstaunlich, weil die direkte Demokratie theoretisch zu einer Tyrannei der Mehrheit führen kann. Bekanntlich hat Alexis de Tocqueville in seiner Analyse über Die Demokratie perspektive21
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in Amerika das Problem auf den Punkt gebracht: Demokratie strebe nach unumschränkter Herrschaft der Mehrheit. Außerhalb der Mehrheit könne sich in der Demokratie nichts behaupten. Sobald einmal die Mehrheit entschieden habe, könne sich ihr nichts mehr in den Weg stellen und nichts veranlasse sie dazu, die Klagen der unterdrückten Minderheiten anzuhören. Genau dies ist in der Schweiz aber nicht geschehen. Dafür lässt sich eine Reihe von Gründen angeben. Zunächst gibt es neben der direkten Demokratie auf der Bundesebene auch noch Abstimmungen in Kantonen und Gemeinden. Volksentscheide auf der Bundesebene können also durch konterkarierende Regelungen und Entscheidungen auf den anderen Ebenen modifiziert werden. In dieselbe Richtung wirkt der ausgeprägte Föderalismus, der darauf setzt, dass das Volk die regionalen Lebensbedingungen selbst bestimmt. Eine Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse – wie in Deutschland – ist in der Schweiz nicht akzeptabel. Deshalb besteht auf der Kantonsebene zuweilen die Chance, die Folgen von Bundesregeln durch kantonale oder lokale Regeln abzuschwächen. Der Bund ist nur für einige, in der Verfassung aufgelistete Politikbereiche zuständig. Die breite Verteilung von Zuständigkeit und Macht über viele Akteure hilft eine Mehrheitstyrannei durch Abstimmungen auf Bundesebene zu verhindern. 52
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Zu dieser Verteilung von Entscheidungsmacht gehört auch eine ausgeprägte gesellschaftliche Selbstorganisation durch Verbände. Viele staatliche Aufgaben werden durch Verbände übernommen. Dies betrifft die Regelsetzung und noch viel mehr die Umsetzung der Regeln. Damit sind der direktdemokratischen Entscheidung zahlreiche Politikbereiche faktisch entzogen und eine eventuelle Mehrheitstyrannei ist auch aus diesen Gründen auf einige Politikfelder begrenzt. Der Entscheid gilt Zum Erfolg der direkten Demokratie tragen auch die politischen Eliten bei, die sich an einen ungeschriebenen Satz von Regeln halten. Die erste dieser Regel lautet, niemanden zum Rücktritt aufzufordern, wenn dessen Projekt in der Abstimmung scheitert. Damit wird ein Sprengsatz aus dem politischen System genommen, der sonst eine immense Instabilität von Regierung und Parlament bedeuten würde. Die zweite Regel lautet, ein Volksentscheid sei ohne Wenn und Aber zu akzeptieren. Das Volk weiß, es wird von den Eliten Ernst genommen. In der Europäischen Union ist es zuweilen nicht gelungen, diesen Eindruck zu erwecken. Fielen Abstimmungen gegen die Elitenprojekte aus, wurden beispielsweise die Iren so oft an die Urne geschickt, bis Argumente oder äußerer Druck die gewünschte Ent-
klaus armingeon – erfolgsstory mit risiken und nebenwirkungen
scheidung brachte. Das ist selbstverständlich Gift für eine legitimierte Direktdemokratie und dieser Giftbecher bleibt in der Schweiz aufgrund der historisch erworbenen politischen Kultur im Schrank. Schließlich wird der direkten Demokratie der mehrheitstyrannische Zahn gezogen, weil das System auf Konsens und Verhandeln ausgerichtet ist – eben weil man soweit wie möglich Abstimmungen vermeiden möchte. Vieles, was nach einer Abstimmung zu bitteren Konflikten führen könnte, wird durch Konsenssuche und Kompromisse in einem frühen Stadium der Politikentwicklung aktiv vermieden. Dies gilt allerdings nicht immer und ganz besonders nicht für die jüngste Zeit, in der die größte Partei des Landes (Schweizerische Volkspartei) konfliktuelle Strategien verfolgt und Verhandlungslösungen viel weniger anstrebt als in der Vergangenheit. Das Gemeinwohl zählt Ferner gibt es wenige regionale Verteilungskonflikte sowie eine ausgeprägte Solidarität und ein starkes, belastbares Zusammengehörigkeitsgefühl. Die Bürger unterwerfen sich einer Entscheidung, wenn sie dem Gemeinwohl zu dienen verspricht, selbst dann, wenn der Stimmende dagegen war und dies Opfer von ihm abverlangt. Man kann sich hingegen unschwer ausmalen, wie
in der Europäischen Union regionale Verteilungskonflikte beispielsweise über Gelder des Strukturfonds durch regionales Abstimmungsverhalten bis zur Unerträglichkeit geschürt würden und damit zentrifugale Tendenzen befördern würden. Diese würden nicht durch eine starke und belastbare europäische Identität gebremst. Ein Vorbild für Deutschland? Die direkte Demokratie in der Schweiz funktioniert auch deshalb so hervorragend, weil destruktive und destabilisierende Effekte durch die Einbettung in Institutionen und in die landesspezifische politische Kultur neutralisiert werden. Diese Voraussetzungen einer institutionellen und kulturellen Zähmung sind in dieser Weise in Deutschland nicht gegeben. Deshalb würde ein maßstabsgetreuer Import der Schweizer Regeln nicht zu den gleichen Folgen wie in der Eidgenossenschaft führen. Die angeführten Argumente und Beobachtungen machen jedoch den Erfolg der direkten Demokratie in Deutschland wahrscheinlicher als auf der Ebene der Europäischen Union – vorausgesetzt die politischen Parteien sind überhaupt ernsthaft bereit, sich selbst zugunsten der direkten Demokratie teilweise zu entmachten. Allerdings sind mit Ausnahme des richterlichen Grundrechtsschutzes die Vetopunkte des deutschen politischen perspektive21
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thema – engagement wagen
Systems (Föderalismus, verbandliche Selbstregierung, Verteilung von Macht und Entscheidungskompetenzen auf zahlreiche Akteure) schwächer ausgeprägt als in der Schweiz. Es kann nicht als sicher gelten, dass die Eliten noch stärker auf den Kurs und die Kultur des Verhandelns einschwenken, sobald einmal die Direktdemokratie installiert wird. Es wird für einige Politikerinnen und Politiker schwer sein, dem Reiz zu widerstehen, die direkte Demokratie einzusetzen um zu polarisieren – wie beispielsweise bei der schwierigen Frage der Bekämpfung der europäischen Schuldenkrise. Der Institutionenimport ist also eine riskante Sache und will gut überlegt sein. Das Risiko könnte erträglich werden, wenn man gleichzeitig Vetopunkte gegen die
direktdemokratische Entscheidung stärkt und kommuniziert, dass eine erfolgreiche direkte Demokratie und Verhandeln als dominante Entscheidungstechnik zusammengehören. Die Unfähigkeit Deutschlands, allein seinen Föderalismus grundlegend zu reformieren, macht jedoch skeptisch, wenn es um ein viel weitergehendes Reformvorhaben wie die Einführung der direkten Demokratie geht. Weitere substantielle institutionelle Reformen (Stärkung der Vetopunkte) und ein Ausbau der Verhandlungskultur zulasten der im Bundestag inszenierten konfrontativen Politik wären wünschenswert. Diese Veränderungen könnte die Reformkapazität des politischen Systems aber heillos überfordern. I
PROF. DR. KLAUS ARMINGEON
leitet das Institut für Politikwissenschaften der Universität Bern. 54
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Wer nicht wagt, der nicht gewinnt WIE DIE INSTRUMENTE DER DIREKTEN DEMOKRATIE IN BRANDENBURG GENUTZT WURDEN VON THOMAS KRALINSKI
ach der friedlichen Revolution und der Wiedergründung des Landes Brandenburg begann der frisch gewählte Landtag 1990 sofort mit der Ausarbeitung einer Landesverfassung. Diese Verfassung erhielt einige Aufmerksamkeit, enthielt sie doch umfangreiche soziale Rechte, weitgehende Mitbestimmungsrechte sowie einen erweiterten Gleichheitsgrundsatz – und lehnte sich so offensiv in vielen Teilen an den Verfassungsentwurf des Runden Tisches der DDR an. Damit hob sich Brandenburg von den anderen neuen Bundesländern deutlich ab. Ähnlich wie der Verfassungsentwurf des Runden Tisches enthielt die Landesverfassung auch weitgehende Bestimmungen zur Volksgesetzgebung und ergänzte damit die repräsentative Demokratie. Die Verfassung sieht drei Stufen der Volksgesetzgebung vor: zum einen die Volksinitiative, zum zweiten das Volksbegehren und drittens den Volksentscheid. Obligatorisch vorgeschrieben sind Referenden für eine Länderneugliederung und eine neue Landesverfassung.
N
Wie sehen nun die Regeln für die direkte Demokratie in Brandenburg aus? Für eine Volksinitiative genügen 20.000 Unterschriften, die frei auf der Straße gesammelt werden können. Kommen die Unterschriften zusammen, muss sich der Landtag mit dem Anliegen beschäftigen. Lehnt er die Volksinitiative ab, können die Initiatoren ein Volksbegehren veranlassen. Dazu müssen 80.000 Wahlberechtigte – also etwa 3,7 Prozent – innerhalb von vier Monaten in den kommunalen Ämtern für das Begehren unterschreiben. Kommt die Zahl der Unterschriften zusammen, erhält der Landtag erneut die Möglichkeit das Volksbegehren umzusetzen. Lehnt er dies ab, findet innerhalb von drei Monaten ein Volksentscheid statt. Der ist erfolgreich, wenn mindestens 25 Prozent der Wahlberechtigten mit Ja stimmen (und es mehr Ja- als Nein-Stimmen gibt). Die vorgeschriebene Mindestbeteiligung korrespondiert mit den niedrigen Unterschriftenquoren im Vorfeld von Volksentscheiden und sichert dem perspektive21
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thema – engagement wagen
Gesamtprozess damit ein Mindestmaß an Legitimität. Für alle Formen der direkten Demokratie gibt es Hürden – schlicht um zu verhindern, dass gut organisierte Minderheiten der Mehrheit ihren Willen aufzwingen. Über die Höhe der Hürden gibt es regelmäßig Streit – ein Streit, der sich jedoch nicht nach „gut“ oder „böse“ entscheiden lässt. Wenn man die Hürden für Volksinitiativen vergleicht, sind sie bundesweit in Brandenburg besonders niedrig. 20.000 Unterschriften entsprechen gerade mal etwa ein Prozent der Wahlberechtigten. Dementsprechend gibt es in Brandenburg so viele Volksinitiativen wie in keinem anderen Bundesland. Nirgendwo so niedrige Hürden Ferner gibt es in Deutschland kein Bundesland, das eine niedrigere Hürde für Volksbegehren hat. Gerade mal 80.000 Unterschriften genügen, um das Begehren zum Erfolg zu führen. Die Unterschriften müssen auf dem „Amt“ geleistet werden – und zwar innerhalb von vier Monaten. Die Amtseintragung ist regelmäßig umstritten, in der Hälfte der Bundesländer ist sie Standard, in der anderen Hälfte sind auch Unterschriftensammlungen auf der Straße möglich. Allerdings gelten dafür in allen Bundesländern zum Teil erheblich höhere Quoren. In den Flächenländern, wo Unterschriften für 56
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Volksbegehren auf der Straße gesammelt werden können, müssen in der Regel um die 10 Prozent der Wahlberechtigten unterzeichnen. Die Erfahrungen mit Straßen- und Amtseintragungen sind durchaus gemischt. In Bayern wurden mehrfach Volksabstimmungen erzwungen – und dass, obwohl 10 Prozent der Wahlberechtigten innerhalb von zwei Wochen (!) auf dem Amt ihre Unterschrift leisten müssen. Auf diese Weise wurde per Volksbegehren und -entscheid erst jüngst der Nichtraucherschutz deutlich ausgeweitet. In Berlin wiederum zeigt sich, dass gut organisierte Interessengruppen in Verbindung mit massiver medialer Unterstützung zwar die nötigen Unterschriften in Rekordzeit sammeln können, am Ende aber dennoch scheitern – wie bei der Abstimmung zum Religionsunterricht oder der Offenhaltung des Flughafens Tempelhof. Mehr Mitsprache eröffnen Angesichts solcher Erfahrungen ist es nicht erklärlich, warum die Frage von Straßensammlung oder Amtseintragung mittlerweile zur Glaubensfrage hochstilisiert wird und die Diskussion darüber bisweilen quasi-religiöse Züge annimmt. Thüringen hat mittlerweile einen Mittelweg eingeschlagen. Die Initiatoren eines Volksbegehrens können wählen, ob sie die
thomas kralinski – wer nicht wagt, der nicht gewinnt
Amtseintragung mit niedrigen Unterschriftenzahlen oder eine Straßensammlung mit höheren Quoren für ihr Anliegen bevorzugen. Im Vergleich der Bundesländer hat Brandenburg letztlich ausgesprochen niedrige Hürden für die Volksgesetzgebung. Die rot-rote Koalition diskutiert darüber hinaus, diese weiter abzusenken. Ziel ist es, den Bürgern die Mitsprache zu erleichtern, um Demokratie nicht nur zu wagen, sondern auch zu leben. So soll das Beteiligungs- und Abstimmungsalter von 18 auf 16 Jahre sinken. Der Eintragungszeitraum für Volksbegehren soll von vier auf sechs Monate ausgeweitet werden. Und um den Bedingungen eines dünn besiedelten Flächenlandes stärker Rechnung zu tragen, soll es in Zukunft auch möglich sein, die Unterschrift für ein Volksbegehren per „Briefwahl“ und – neben den Amtsstuben – auch in anderen öffentlichen Einrichtungen zu leisten. Bei Volksabstimmungen sollen die Bürger – nach Schweizer Vorbild – ein Informationsheft erhalten, in dem die Argumente für und wider kurz und knapp dargestellt werden. Wie sieht es aber nun, 20 Jahre nach ihrer Einführung, mit den realen Erfahrungen aus? Seit 1992 hat es im Land insgesamt 32 Volkinitiativen gegeben, zwei davon laufen derzeit noch, so dass ihr Ausgang noch nicht beurteilt werden kann. Die Zahl der direktdemokratischen Verfahren ist in keinem Bundes-
land so hoch wie in Brandenburg – ein Zeichen, dass die Bürger ihre demokratischen Rechte umfassend wahrnehmen und letztlich auch ein Zeichen großer demokratischer Reife. Der thematische Schwerpunkt der Brandenburger Volksinitiativen liegt bei kommunalen, bildungs- und verkehrspolitischen Themen. Aus diesen drei Bereichen kamen bisher zwei Drittel aller bisherigen Volksinitiativen. Themenbereiche der Volksinitiativen in Brandenburg
Demokratiefragen 6%
sonstige Themen 13%
Kommunalpolitik 25%
Energie 6%
Verkehr 22% Soziales 9%
Bildung & Kultur 19%
Allein im Zusammenhang mit der Kreisgebietsreform von 1993 gab es sechs Volksinitiativen, vier davon hatten rein regionalen Charakter, die dann aber auch spätestens auf der Ebene des Volksbegehrens mangels Beteiligung scheiterten. Volksinitiativen zu großen Verkehrsprojekten hatten deutlich bessere Chancen, die notwendigen Unterschriften zu erreichen. So waren die perspektive21
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thema – engagement wagen
Volksbegehren gegen den Bau des Transrapids von Berlin nach Hamburg sowie gegen den Ausbau des Verkehrsprojektes Deutsche Einheit Nr. 17 auch die bisher erfolgreichsten in Brandenburg. Zwar kamen letztendlich nicht genügend Unterschriften für den Erfolg des Volksbegehrens zusammen – doch Transrapid und Wasserstraßenausbau scheiterten dennoch, wenn auch aus Geldmangel (gleichwohl spielte die mangelnde Unterstützung der Bevölkerung zweifellos auch eine Rolle). Fast die Hälfte ist erfolgreich Von den bisher 30 abgeschlossenen erfüllten acht die Voraussetzungen für eine Volksinitiative nicht: sechs erreichten nicht die nötige Zahl von 20.000 Unterschriften. Lediglich eine Volksinitiative, zur Sicherung des Rechtsanspruches auf Kita-Plätze, wurde im Jahr 2000 vom Landtag mit Blick auf die entstehenden hohen Kosten für unzulässig erklärt. Die Landesverfassung sieht vor, dass Volksinitiativen nicht zulässig sind, wenn sie in den Landeshaushalt eingreifen. Dies klingt auf dem Papier härter als es sich in der Realität darstellt. Denn durch die Rechtsprechung des Verfassungsgerichts und das Agieren des Landtages ist diese „Sperrklausel“ nur eine relative. So hat das Verfassungsgericht drei Kriterien aufgestellt, an denen die Zulässigkeit einer Volksinitiative ge58
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messen werden kann. Entscheidend ist, ob eine Initiative zu „gewichtigen staatlichen Ausgaben“ führe, Auswirkungen auf das „Gesamtgefüge des Haushaltes“ habe oder das „parlamentarische Budgetrecht“ beeinträchtige. Eine Grenze sieht das Verfassungsgericht erreicht, wenn neue Ausgaben mehr als 12 Prozent der „freien Spitze“ eines Haushaltes überschreitet – das wären ca. 15 Millionen Euro im Jahr. Nicht unerheblich ist auch die Frage, ob es um einmalige oder dauerhafte Ausgaben gehe (wobei eine einmalige Ausgabe wesentlich höhere Chancen hätte, als Volksinitiative durchzukommen). Umgekehrt wäre demnach eine Volksinitiative zulässig, die zu Steuermehreinnahmen oder Ausgabensenkungen führt, da sie das Budgetrecht des Parlaments tendenziell erweitert und das Gesamtgleichgewicht des Haushaltes eher verbessert. Volksinitiativen, die nicht nur Mehrausgaben sondern gleichzeitig auch Minderausgaben oder Mehreinnahmen vorsehen, müssten dementsprechend ebenfalls zulässig sein. Mit Blick auf diese Kriterien wurde im Jahr 2000 die Volksinitiative gegen die Einschränkung des Rechtsanspruchs aller Kinder auf Kita-Betreuung vom Verfassungsgericht als unzulässig erklärt, weil die zu erwartenden Kosten sowohl dauerhaft gewesen wären als auch etwa 17 Prozent der frei verfügbaren Mittel im Haushalt gebunden hätten. Vor diesem Hintergrund ist der Landtag in den vergangenen 20 Jah-
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Ergebnisse von Volksinitiativen in Brandenburg seit 1992 unzulässig
2 6
22 mit mehr als 20.000 Unterschriften
10
6 6 (7)
mangelnde Unterschriftenzahl
ren insgesamt mit dem Finanzvorbehalt der Volksinitiativen gleichwohl eher liberal umgegangen, während auf der anderen Seite noch keine Volksinitiative einen Vorschlag zur Gegenfinanzierung mit vorgelegt hat. Eine hohe Unterschriftenzahl zu einem bestimmten Anliegen hat bisher noch jeden Abgeordneten ins Nachdenken gebracht. Insofern haben alle Volksinitiativen jenseits der Frage, ob sie formal erfolgreich waren oder nicht, politische Reaktionen hervorgerufen. Folgerichtig wurden von den 22 Volksinitiativen, mit denen sich der Landtag bisher beschäftigt hat, in der Vergangenheit zehn angenommen oder in modifizierter Form umgesetzt. Damit waren letztlich 45 Prozent der zulässigen Volksinitiativen erfolgreich. Das ist eine Quote, wie sie in der Schweiz bei den Volksinitiativen und fakultativen Referenden vergleichbar ist. Bundesweit liegt die Rate
Erfolg oder Teilerfolg
abgelehnt
Volksbegehren* * eine Volksinitiative führte trotz gescheitertem Volksbegehren zum Erfolg
der (teil-)erfolgreichen Volksinitiativen nur bei 33 Prozent.1 So wurden in Brandenburg über die Volksinitiative die kostenlose Schülerbeförderung (wieder) eingeführt, in einem anderen Fall erhöhte der Landtag die Auflagen für die Polizeireform. Obwohl die entsprechenden Volksinitiativen formal abgelehnt wurden, erhielt das Land letztendlich doch ein Musikschulgesetz, dessen Finanzierung 2009 nochmal (auch nach einer Volksinitiative) verbessert wurde. Der Erhalt der Alleen wurde so verbessert, dass die Initiatoren einer Volksinitiative 2010 kein Volksbegehren einleiteten. Auch die Initiative für ein Sozialticket gab sich mit der Einführung eines Mobilitätstickets für sozial Schwache zufrieden und leitete kein Volksbegehren ein.
1 Siehe dazu den Beitrag von Klaus Armingeon in diesem Heft sowie den Volksbegehrensbericht 2010 der Initiative „Mehr Demokratie e.V.“
perspektive21
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Sieben Volksbegehren wurden in Brandenburg bisher durchgeführt, von denen jedoch keines die erforderliche Unterschriftenzahl erreichte. Verhältnismäßig knapp scheiterten 1995 die Volksbegehren gegen den Wasserstraßenausbau (58.000 Unterschriften) sowie 1997 gegen den Bau des Transrapids (70.000 Unterschriften). Das Volksbegehren für ein Musikschulgesetz erreichte zwar nur 21.000 Unterschriften – dennoch beschloss der Landtag kurz darauf ein solches Gesetz. Weniger erfolgreich waren die Volksbegehren, die sich gegen Kommunalreformen richteten – offenbar weil die breite Bevölkerung letztendlich spürte, dass Veränderungen nötig sind und sich die Begehren allzu sehr auf lokale Interessen konzentrierten. Das deutlich gescheiterte Volksbegehren gegen die Braunkohle zeigt aber auch, dass die Brandenburger schnell skeptisch werden, wenn bezahlte „Kampaigner“ sie ideologisch aufmunitioniert von einer Sache überzeugen wollen. Zweimal wurden die Brandenburger bisher zu Volksabstimmungen an die Wahlurnen gerufen. Bei der Premiere von 1992 wurde die neue Landesverfassung mit einer Mehrheit von 94 Prozent angenommen. Nach ausführlicher Diskussion und breiter Zustimmung im Landtag hatte diese Abstimmung (nur) ratifizierenden Charakter – das mag auch die niedrige Wahlbeteiligung von 48 Prozent erklären. Wesentlich kontroverser ging es bei der zweiten Volks60
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abstimmung 1996 zu, die dann auch zu einer Wahlbeteiligung von 66 Prozent und einer breiten gesellschaftlichen Debatte führte. Die überwältigende Mehrheit der Brandenburger (63 Prozent) lehnte damals einen Zusammenschluss des Landes mit Berlin ab. Diese Abstimmung zeigt gleichfalls, dass Volksabstimmungen auch quer zu Parteilinien verlaufen können – schließlich erlebte das Land damals eine überwältigende „Ja-Kampagne“ von CDU, SPD, Gewerkschaften und Wirtschaftsverbänden, die jedoch am Ende nicht zum Erfolg führte. Welches Fazit lässt sich also aus fast 20 Jahren direkter Demokratie in Brandenburg ziehen? I
I
Erstens: Die direkte Demokratie wird angenommen. Die verschiedenen Instrumente kamen so oft wie in keinem anderen Bundesland zum Einsatz. Dabei ist die Themenvielfalt sehr breit und auch die Hürden für Volksinitiativen stellen in der Regel kein Problem dar. Zweitens: Die direkte Demokratie ergänzt die repräsentative. Mit Volksinitiativen wurden häufig Themen aufgegriffen, die von den Parteien vernachlässigt oder unterschätzt wurden (wie zum Beispiel der Bedarf an musischer Bildung oder einem Sozialticket für sozial Schwache). Sehr häufig äußerte sich regionaler Widerstand gegen Kommunalre-
thomas kralinski – wer nicht wagt, der nicht gewinnt
I
I
formen, der sich jedoch auf Landesebene nicht durchsetzen konnte. Drittens: Landtag und Parteien reagieren in hohem Maße responsiv. Zwar wurden nur zwei Volksinitiativen dem Wortlaut nach angenommen, gleichwohl wurde fast die Hälfte aller Volksinitiativen in der einen oder anderen Form umgesetzt. Das ist ein Zeichen für eine relativ hohe Durchlässigkeit der Landespolitik – Initiativen werden durch den Landtag nicht pauschal abgelehnt, sondern inhaltlich bewertet. Nicht zu unterschätzen ist dabei, dass Regierungsmehrheiten wenig Interesse haben, in einem möglichen Volksentscheid zu verlieren. Sie sind deshalb bemüht, Anliegen, bei denen Mehrheiten vermutet werden, frühzeitig anzunehmen oder modifiziert umzusetzen. Volksinitiativen konnten im Landtag dann erfolgreich sein, wenn sie auf partei- und blockübergreifendes Interesse stießen, von einer breiten sozialen Unterstützung getragen wurden und unter Beweis stellen konnten, dass sie Probleme ansprechen, die nicht nur lokal begrenzt sind. Viertens: Die Verfahren haben sich bewährt und schützen die direkte Demokratie vor sich selbst. Die verschiedenen Hürden für Unterschrif-
tenzahlen verhindern, dass rein lokal begrenzte Interessen zu starkes Gehör auf Landesebene erhalten. Sie sorgen gleichzeitig dafür, dass die Allgemeinheit vor Interessenkämpfen gut organisierter Gruppen um knappe Ressourcen geschützt wird. Gegenüber Minderheiten bietet die direkte Demokratie damit zum einen Schutz, zum anderen eröffnet sie ihnen auch Möglichkeiten, gehört zu werden. Die (vergleichsweise geringen) Hürden tragen so auch dazu bei, dass sich das Instrument der direkten Demokratie nicht selbst entwertet. In einer Anhörung im Landtag wurde von einer grünen Abgeordneten unlängst behauptet, direkte Demokratie sei nur erfolgreich, wenn es auch zu (erfolgreichen) Volksabstimmungen käme. Hier wurde das ganze Prinzip offenbar nicht verstanden. Direkte Demokratie heißt sich einzubringen, zu argumentieren, gehört zu werden – aber eben auch zu verlieren. Die Brandenburger Erfahrungen aus den vergangenen 20 Jahren zeigen, dass jenseits formaler Zustimmung oder Ablehnung viele Volksinitiativen Erfolg hatten – eben weil sie Interessen und Anliegen glaubwürdig vertreten haben. Kein schlechtes Ergebnis für „gewagte Demokratie“. I THOMAS KRALINSKI
ist Chefredakteur der Perspektive 21 und Geschäftsführer der SPD-Landtagsfraktion Brandenburg. perspektive21
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Pure Normalität ZUM ERSTEN MAL DURFTEN 2011 IN BREMEN 16-JÄHRIGE BEI EINER LANDTAGSWAHL WÄHLEN VON FRANK PIETRZOK
erder-Verteidiger Sebastian Prödl muss nun Schüler unterrichten. Der Grund: Er hat eine Wette gegen eine Vielzahl von Schulen verloren. Nämlich dass die Gruppe der 16- bis 18-Jährigen eine bessere Beteiligung bei der Bremischen Bürgerschaftswahl 2011 schafft als die Altersgruppe der WerderProfis. Die sind zwischen 21 und 35 Jahre alt. Aufhänger dieser Wette war, dass Prödl als gebürtiger Österreicher schon selbst Erfahrungen mit dem Wahlalter 16 gemacht hat. Er ist der Meinung, dass 16-Jährige sehr wohl eine politische Meinung haben und daher wahlberechtigt sein sollten. Die Bürgerschaftswahl vom Mai 2011 in Bremen hat also gezeigt: Das Wahlalter mit 16 funktioniert. Von der Gefahr des Niedergangs der Demokratie kann keine Rede sein. 48,6 Prozent der Erstwähler machten von ihrem Wahlrecht Gebrauch und traten so Kritikern entgegen, die ein Wahlalter mit 16 ablehnten. Seit vielen Jahren wird eine sinkende Wahlbeteiligung auf Bundes- und Landesebene beklagt. In Bremen lag die Wahlbeteiligung bei der Bürgerschaftswahl 2007 bei 57,3 Prozent und 2011
W
bei 53,7 Prozent. Dies ist zweifellos kein zufriedenstellender Wert. Mindestens zwei Fragen gilt es deshalb zu beantworten: Wo liegen die Ursachen für die kontinuierlich sinkende Wahlbeteiligung und wie kann dieser Trend gestoppt werden? Und wie gelingt es, junge Menschen an eine aktive Teilnahme an Politik heranzuführen? Die Absenkung des Wahlalters eröffnet hier ein Handlungsfeld, allerdings mit Kontroversen. Fahrrad ja, Wahlen nein Mit dem Ende der großen Koalition in Bremen und dem neuen rot-grünen Regierungsbündnis war ab 2007 – im Koalitionsvertrag festgeschrieben – die Bahn frei für eine Wahlrechtsreform. In parlamentarischen Beratungen wurde das Für und Wider des Wahlalters mit 16 Jahren noch einmal diskutiert. Kritiker merkten an, dass die Jugendlichen im Alter von 16 Jahren noch keine politische Reife erreicht hätten, um eine Wahlentscheidung treffen zu können. Gegensätzliches stellte die Shell-Jugendstudie fest, die besagt, dass sich der Reiperspektive21
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thema – engagement wagen
Bürgerschaftswahl Bremen 2011 Wahlbeteiligung 48,6% 39,8%
16- bis unter 21-Jährige
21- bis unter 35-Jährige
fegrad von Jugendlichen in den letzten Jahrzehnten immer weiter entwickelt habe und daher eine Absenkung des Wahlalters auf 16 durchaus angezeigt sei. Ebenso müsse das Wahlalter, so die wiederkehrende Kritik, mit der vollen rechtlichen Handlungs- und Geschäftsfähigkeit einhergehen. Sonst würden an das Abschließen eines Kaufvertrages für ein Fahrrad höhere Maßstäbe angesetzt als an das Wahlrecht. Politisches Bewusstsein und Teilhabemöglichkeit haben jedoch unmittelbar nichts mit Geschäftsfähigkeit oder strafrechtlicher Schuldfähigkeit zu tun. Schon bei der Absenkung des Wahlalters in den siebziger Jahren auf 18 Jahre hat der Bundestag zunächst die Volljährigkeit mit 21 Jahren beibehalten. 64
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Zudem verfügen junge Menschen ohnehin über weitreichende persönliche Rechte, die nicht an die Volljährigkeit gebunden sind. Erwähnt seien Religionsfreiheit und Parteirecht mit 14 Jahren sowie die Möglichkeit sich mit 17 Jahren bei der Bundeswehr zu verpflichten. Ein weiterer Vorbehalt: Jugendlichen fehle das nötige Wissen und Interesse, um sich für das Wahlrecht zu qualifizieren. Ebenso hätten die jungen Menschen noch keine verfestigte eigene Meinung und daher sei die Gefahr von Manipulation groß. Unterstützung bekommen die Skeptiker dabei gelegentlich sogar von den Jugendlichen selbst. Die Selbsteinschätzungen der 16- bis 18-Jährigen in vielen Gesprächen, die Abgeordnete in dieser Frage führten, ergaben keineswegs ein durchgängiges Votum für die Einführung des Wahlalters mit 16. Junge Menschen gaben zu Bedenken, dass politisches Interesse, Informationsstand und Analysefähigkeit vielleicht noch zu gering ausgeprägt sein könnten. Selbständig und verantwortlich Für das Wahlalter mit 16 spricht, dass die jungen Menschen mitbestimmen und Zukunft mitgestalten können. Viele haben durchaus eine politische Meinung, die sich durch Stimmabgabe bereits mit 16 Jahren ausdrücken kann. Für die Befürworter überwog das Argument, dass Identifikation mit unserem
frank pietrzok – pure normalität
parlamentarischen System von realen Teilhabemöglichkeiten abhängt und dass politisches Urteilsvermögen durch die Auseinandersetzung mit politischen Sachfragen entsteht und nicht altersabhängig erst ab 18 festgelegt sein dürfe. Zudem sind Jugendliche im Alter von 16 Jahren schon sehr selbstständig und selbstverantwortlich, so dass ihnen eine informierte Wahlentscheidung zugetraut werden kann. Als jemand, der selbst viele Jahre im Bereich der politischen Bildungsarbeit mit Jugendlichen tätig war, bin ich davon überzeugt, dass reale Teilhabechancen, politische Willensbildung und die Entwicklung politischen Urteilsvermögens in einer engen Beziehung stehen. Breite Info-Kampagne Neu war bei der Bremischen Bürgerschaftswahl nicht nur die Absenkung des Wahlalters auf 16 Jahre. Die Einführung eines personenbezogenen Stimmrechts mit insgesamt fünf Stimmen, das Häufeln und Verteilen der einzelnen Stimmen auf einzelne Kandidaten und Parteilisten standen auch im Fokus der Veränderung des Bremischen Wahlrechts. Diese grundlegenden Veränderungen für den Wahlvorgang aller Wähler spielten auch für die Einführung des Wahlalters mit 16 eine gewisse Rolle. Wahlbeteiligung für junge Wähler braucht Engagement und Ressourcen.
Mit der Einführung des neuen Wahlrechts bestand von Beginn an Einvernehmen unter den Beteiligten, dass breite Information der Bevölkerung Voraussetzung für eine erfolgreiche Einführung des neuen Wahlrechts sei. Eine Vielzahl von Maßnahmen zur Erläuterung des Wahlrechts war ohnehin unbedingt erforderlich, um alle Altersklassen der Bevölkerung ausreichend über ihre nunmehr fünf Stimmen zu informieren. Davon profitierte am Ende auch die Mobilisierung der Erstwähler. Der Bürgerschaftspräsident Christian Weber richtete einen Extratopf für die Kampagne „Gib mir fünf“ ein. Mit der Website www.5stimmen.de, Schnupperwahllokalen, einer Vielzahl Informations- und Diskussionsveranstaltungen wurde auf das neue Wahlrecht und den Wahltermin hingewiesen. Alle Wahlberechtigten erhielten Informationsschreiben mit Erläuterungen zum 5-Stimmen-Wahlvorgang. Plakatwände wurden schon Wochen vorher für die 5-Stimmen-Kampagne angemietet. Erstwähler wußten mehr Das neue Wahlrecht war in den Schulen ein besonderes Thema. Ein gutes Beispiel für die Informationskampagnen an den Schulen ist das Projekt „Juniorwahl“, das von dem Trägerverein Kumulus e.V., dem Landesinstitut für Schule und der Landeszentrale für perspektive21
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politische Bildung initiiert wurde. So konnten 87 von 90 Schulen für das Projekt „Juniorwahl“ begeistert werden. So wurden 97 Prozent der wahlberechtigten Schüler und Schülerinnen erreicht und über das neue Wahlrecht informiert. Neben einer umfassenden Information in den Schulen über das neue Wahlrecht war auch eine simulierte Bürgerschaftswahl Bestandteil der „Juniorwahl“. Unterstützung erhielt die „Juniorwahl“ auch durch das Projekt „Demokratie macht Schule“, in dem die wahlberechtigten Jugendlichen über ihr Wahlrecht informiert wurden. Zudem rief die Bildungssenatorin Renate Jürgens-Pieper und der Innensenator Ulrich Mäurer die Schülerschaft in Bremen dazu auf, als Wahlhelfer und Wahlhelferinnen tätig zu werden. Letztlich waren viele Erstwähler deswegen über den „neuen“ Wahlakt besser informiert als die eigenen Eltern, selbst wenn die Eltern bereits oftmals von ihrem Wahlrecht nach altem Muster Gebrauch gemacht hatten. Jugendthemen nur am Rande Im Rückblick ist festzustellen, dass der Wahlkampf 2011 insgesamt in Bremen nur durch wenige inhaltliche Auseinandersetzungen unter den Parteien geprägt gewesen ist. Die meisten Analysen gehen davon aus, dass die Bekanntheit und Kompetenzzuschreibung für den amtierenden Bürgermeister Böhrnsen 66
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ein zentraler Faktor für den Wahlerfolg der Sozialdemokraten waren. Jugendspezifische Themen haben im kleinsten Bundesland ebenfalls keine besondere Rolle gespielt. Dies gilt trotz der Tatsache, dass die Landtagswahlen in Stadtstaaten im Prinzip für Kommunalwahlen typische Ausprägung haben. Atomkraft mobilisierte Weder fanden sich in den Wahlprogrammen der Parteien bemerkenswerte „Jugendthemen“, noch haben derartige Fragestellungen in Diskussionsveranstaltungen eine besondere Rolle gespielt. Das „Verbot von Zirkustieren“ im Wahlprogramm der Grünen wäre möglicherweise das Bedeutendste, was junge Menschen besonders interessieren könnte. Große Bedeutung für die Wahlentscheidungen dürfte das Atomunglück von Fukushima für die Bremische Bürgerschaftswahl 2011 gut zwei Monate vor der Wahl gehabt haben. Die politische Diskussion über die Zukunft der Atomkraft stand in ihrem Zenit. Bremen galt schon in den siebziger Jahren als eine der Hochburgen der Antiatomkraftbewegung in der Bundesrepublik. Und so waren auf den gut besuchten Anti-AKW-Demos neben den erfahrenen Demonstranten auch zahlreiche jugendliche Atomkraftgegner. Dieser Mobilisierungseffekt dürfte als einer der wichtigsten Faktoren für das besondere Wahlverhalten der Erstwäh-
frank pietrzok – pure normalität
Bürgerschaftswahl Bremen 2011: Wie wählen die Erstwähler? 38,3%
I alle Wähler I Erstwähler 30%
30%
22,7% 20,1% 17% 14% 10,4% 5,9% 2,6%
SPD
B’90/Grüne
CDU
ler zugunsten der Grünen, aber auch der SPD darstellen. Immerhin hat sich auch die Bremer SPD mit ihrem ausgesprochen populären Bürgermeister stark mit Atomausstieg und Stopp der Atomtransporte über Bremische Häfen profiliert. Wenige Unterschiede Das Fazit der Bremischen Bürgerschaftswahl 2011 ist, dass das Wahlalter mit 16 durchaus der gegenwärtigen Lebenswirklichkeit der jungen Menschen entspricht. Die Wahlen haben gezeigt, dass die Absenkung des Wahlalters auf 16 eine richtige Entscheidung gewesen ist. Die Jüngsten unter den Wahlberechtigten nahmen zu 48,6 Prozent an der
7%
2%
FDP
Die Linke
sonstige
Wahl teil – das waren immerhin 10 Prozentpunkte mehr als in der Altersgruppe der 21- bis unter 25-Jährigen. Ihr Wahlverhalten unterschied sich zwar von dem aller Wähler, dennoch gibt es auch bei den Jungwählern einen Trend zur Mitte und keinen Hang zum (Rechts-)Extremismus. Die Erstwähler haben durch ihr Votum gezeigt, dass sie von ihrem Mitbestimmungsrecht Gebrauch machen und somit ihrer politischen Meinung mit 16 Jahren Ausdruck verleihen möchten. Dass fast die Hälfte aller 16- bis unter 21-Jährigen den Gang zur Urne angetreten ist, ist der Verdienst der umfassenden Informationskampagnen. Deshalb: Die Einführung des Wahlalters mit 16 sollte unbedingt mit perspektive21
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einer Vielzahl an jugendspezifischen Maßnahmen zur Steigerung der Wahlbeteiligung einhergehen. Für die Parteien ergibt sich daraus die verstärkte Herausforderung, „junge“ Themen
so zu bearbeiten, dass sich mehr junge Menschen mit den politischen Diskursen identifizieren können. Aber genau das ist mit der Einführung des Wahlalters mit 16 schließlich beabsichtigt. I
FRANK PIETRZOK
ist Geschäftsführer der SPD-Fraktion in der Bremischen Bürgerschaft. 68
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Feste oder flüssige Demokratie? VORZÜGE UND FALLSTRICKE DIGITALER PARTIZIPATION VON CARSTEN STENDER
ie Menschen wollen eine universelle Demokratie. „Alles, was das Leben ramponiert, verarmen lässt, beschränkt und denaturiert, ist dem Gewissen der Welt unerträglich geworden.“ So beschrieb der algerische Schriftsteller Boualem Sansal die Sehnsucht der Menschen nach wahrer umfassender Demokratie als er dieser Tage den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels entgegennahm. Folgt man Sansal, so haben wir es nicht nur mit einer Jagd auf bornierte Diktatoren zu tun: „Wir spüren alle, dass sich seit der tunesischen Jasmin-Revolution in der Welt etwas geändert hat. Was in der verknöcherten, komplizierten und schwarzseherischen arabischen Welt unmöglich schien, ist nun eingetreten: Die Menschen kämpfen für die Freiheit, sie engagieren sich für die Demokratie, sie öffnen Türen und Fenster, sie blicken in die Zukunft, und diese Zukunft soll erfreulich und ganz einfach menschlich sein.“ Diesen erwachenden emanzipatorischen Anspruch sieht Tobias Dürr sogar beim Urnengang zum Berliner
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Abgeordnetenhaus am Werk: Der Überraschungserfolg der Piratenpartei sei Symptom und Ausdruck einer im Zuge von Individualisierung und Internetrevolution gewachsenen radikaldemokratischen Sehnsucht. Dabei sind es offenbar vor allem die ambivalenten Wirkungen digitaler Technologien, die unsere politische Verfasstheit verändern. Es hat Klick gemacht Es wäre ungerecht der Sozialdemokratie vorzuwerfen, dass sie diese Wendung des Zeitgeistes verschlafen hätte. Das Gegenteil ist der Fall. War Matthias Machnigs Vision von der Netzwerkpartei um die Jahrtausendwende von Funktionären und Traditionalisten noch energisch bekämpft worden, so ist sie heute Gemeingut: Die SPD ist inzwischen eine Netzwerkorganisation inmitten einer Netzwerkgesellschaft. Rund um die dicht gewobenen Knotenpunkte von Parteizentrale und Bundestagsfraktion gruppieren sich Landesverbände und Landtagsfraktioperspektive21
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nen, Verbände, ehrenamtliche Funktionäre und Mandatsträger, aktive Mitglieder, Facebook-Freundeskreise und Twitter-Follower. Die formalen Strukturen der Partei entlang der Gliederung von Gebietsverbänden haben sich im Aufstieg der Netzwerkpartei als unverzichtbar erwiesen. Zugleich werden aber die Qualifikationen, Erfahrungs- und Wissensbestände der Mitglieder, Unterstützer, Sympathisanten und Aktivisten nicht mehr mit den Mitteln des Sitzungssozialismus erschlossen. Dieser strukturelle Wandel ermöglicht es der SPD auch mit weniger Mitgliedern den Anschluss an wichtige Erfahrungen und Wissensbestände zu behalten, um im digitalen Kapitalismus politikfähig zu bleiben. Die Sozialdemokratie lebt von dieser Organisationskompetenz. Gemeint ist die Fähigkeit, gesellschaftliche Veränderungen in institutionellen Strukturen abzubilden. Auf dem kommenden ordentlichen Bundesparteitag 2011 will sie diese Kompetenz erneut unter Beweis stellen. Ein Organisationspolitisches Grundsatzprogramm steht kurz vor der Beschlussfassung. Es will Wege zu einer neuen Qualität der politischen Mitwirkung weisen: „Mehr Menschen als je zuvor können sich an politischen Prozessen beteiligen. Die Kraft der Ideen und Worte wird zunehmend wichtiger als der Rang derjenigen, die sie äußern. Selbst Unbekannte können 70
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Umwälzendes bewegen. […] Für die Parteiarbeit eröffnen sich neue Möglichkeiten. Unsere Mitglieder können jederzeit untereinander in Kontakt treten, unabhängig davon, wann sie Zeit haben und wo sie wohnen. Für viele wird politische Arbeit dadurch erst möglich. Wer sich nicht im Ortsverein engagieren will, kann sich online ein geeignetes Mitmachangebot suchen. Dort lässt sich schnell und bequem herausfinden, mit wem es ,klick‘ macht.“ Demokratie ist vergänglich Zwölf Jahre nach Machnigs Thesen zur Netzwerkpartei werden Anträge und Initiativen heute im virtuellen Raum vorbereitet. Adhocracy – eine Sofware zur Online-Beteiligung für Organisationen und Institutionen – schafft die technischen Voraussetzungen, um alle Ebenen der Partei in die Lage zu versetzen, inhaltliche Positionen im Netz zu erarbeiten und zu diskutieren. Bald dürften Online-Anträge normaler Bestandteil der Parteitagsberatungen sein. Die Initiatoren von Online-Initiativen erhalten dort Antrags- und Rederechte. Die Brandenburger SPD bildet ihren vorbildlichen Zukunftsdiskurs bereits vollständig online ab. In der SPD-Bundestagsfraktion formiert sich unter der Führung von Hans-Peter Bartels eine AG Demokratie. Dort haben fünfzehn SPD-Bundestagsabgeordnete ein bemerkenswertes
carsten stender – feste oder flüssige demokratie?
Papier über die Demokratisierung unseres Landes erarbeitet. Sie machen klar, dass Demokratie nicht quasi naturgesetzlich herrscht: Demokratie ist vergänglich. Ihre Strukturen bedürfen der Pflege, um mit der gesellschaftlichen Modernisierung Schritt zu halten. Den Takt geben dabei das Web 2.0, Soziale Netzwerke oder Videoplattformen vor, die ein audiovisuelles Netz rund um den Globus gelegt haben. Wir alle knüpfen an diesem Netz täglich mit. In der Enquete-Kommission „Internet und digitale Gesellschaft“ des Deutschen Bundestages schlagen kompetente Netzpolitiker wie Lars Klingbeil eine Brücke zu den jungen, engagierten Netzaktiven. Hier entsteht tragfähige Programmatik zur Digitalen Teilhabe und neuen Formen einer digital vernetzten Demokratie. Die Medienkommission und der Gesprächskreis Netzpolitik beim SPD-Parteivorstand haben daran anknüpfend mit Hilfe der Liquid Democracy, also mit Instrumenten der neuen Medien, eine netzpolitische Grundsatzerklärung auf den Weg gebracht, in der sich Deutschlands älteste Partei als Ort der digitalen Demokratie neu erfindet. Eine abgeklärte Vision Lesenswert sind diese Papiere schon ihrer guten Mischung aus Abgeklärtheit und visionärem Geist wegen. Ganz ausgewogen heißt es dort: „Wir wissen:
Digitale Demokratie ist weder Selbstzweck noch ein von der sogenannten realen Welt abzutrennender Bereich der demokratischen Politik. Sie macht weder demokratische Entscheidungen in den Parteien überflüssig noch kann sie sie ersetzen.“ Begrüßenswert an dieser Haltung ist, dass man sich den demokratischen Potentialen der neuen Medien zuwendet, ohne sie zu überhöhen. Schließlich gehört zu den historischen Wahrheiten in der Tat auch, dass die Friedliche Revolution von 1989 noch ganz ohne das Internet auskam. Umgekehrt sind beeindruckende Online-Bewegungen, wie etwa die Kampagne für einen Bundespräsidenten Gauck, nicht automatisch erfolgreich. Facebook statt Schießpulver Immerhin hat der Aufstieg der Informationstechnologien in einigen Ländern mit dazu beigetragen, die Hochburgen des Nepotismus, der Misswirtschaft und der Unterdrückung zu schleifen. Neue Medien erleichtern schließlich den grenzüberschreitenden Dialog über Rechtsstaatlichkeit, Medienvielfalt und Demokratie. Dieser Dialog vermochte es, die sich entwickelnden Bürgergesellschaften des Maghreb zu stärken. Wir haben gesehen, wie soziale Netzwerke eine flexible Koordination von Protestbewegungen auf die Beine stellten und so den Umbruch beschleunigten. Facebook gibt den Demonstranten die perspektive21
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Gewissheit, nicht der Einzige zu sein, der sich auf dem Kasbahr-Platz in Tunis und auf dem Tahrir-Platz in Kairo einem autoritären Regime entgegenstellt. Dennoch gilt: So wenig der Sturm auf die Bastille der alleinige Verdienst des Schießpulvers ist, so wenig ging der arabische Frühling letztlich von Facebook aus. Ein noch so rascher Informationsfluss ersetzt nicht Deutung, Sinnstiftung und Ideenpolitik. Demokratie braucht Zeit Das Internet hält einer oberflächlichen und gierigen Gesellschaft den Spiegel vor. Zwar sinken die Kosten für Rechnerleistung, Speicherplatz und Breitbandversorgung. Zugang zu sinnvollen Inhalten wird aber nur denjenigen gewährt, die sich mit endloser Reklame berieseln lassen. Eine Gesellschaft, deren Charakter eigennützig und kommerziell ist, bringt auch eine Mediennutzung hervor, die Madonnas Material Girl in den Fokus nimmt: „Cause the boy with the cold hard cash is always Mister Right.“ Insgesamt leidet der netzpolitische Diskurs darunter, dass das Gerede von der globalen, jederzeitigen Verfügbarkeit von Informations- und Kommunikationstechnologien zu unkritisch hingenommen wird. Wer benennt das uncoole Faktum, dass der Fernsehsender Al Jazeera in der arabischen Welt 72
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immer noch viel verbreiteter ist als Facebook? Die rasante Verbreitung neuer Medien in den Industriestaaten und in den riesigen Schwellenländern Asiens verstellt den Blick darauf, dass der größte Teil der Welt von traditionellen Medien beherrscht wird. In Wahrheit gibt es selbst in den USA Bundesstaaten, in denen über zehn Prozent der Haushalte nicht einmal ein Telefon besitzen. Da die Demokratie aber von gleichen Zugangsmöglichkeiten zu Diskurs und Entscheidung lebt, ist die Reichweite einer technologiegetriebenen Transformation der Volkswillensbildung beschränkt. Daneben gibt es andere ungelöste Fragen: Der technologische Need for Speed fordert die sachrationale Seite der Demokratie heraus. Demokratie braucht Zeit zum Überlegen und für wiederholtes Nachdenken. In analogen Zeiten ist deshalb eine Kultur demokratischer Beratung gewachsen, deren entspanntes Zeitmaß durchaus des Verteidigens wert erscheint. Statt überstürzte Maßnahmen zu ergreifen, wäre „runter vom Gas“ das Gebot der Stunde. Der Zugang entscheidet Dort, wo das Prinzip der geheimen Wahl im virtuellen Raum abgebildet werden soll, stellen sich plötzlich ungeahnte technische Schwierigkeiten ein. Ein digitales Wählerregister müsste sicherstellen, dass nur Legitimierte
carsten stender – feste oder flüssige demokratie?
Zugang zum Abstimmungsprozess erhalten und niemand doppelt abstimmt. Die Frage nach der sicheren, allgemeinverfügbaren und akzeptierten Authentifizierung des Bürgers im virtuellen Raum, harrt aber noch einer befriedigenden Antwort. Kommt es dann zur Stimmabgabe im Netz, so genügt es nicht, dass der Wahlakt einigermaßen diskret gehalten wird. Allein die prinzipielle Möglichkeit, durch IPAdresse, Logfiles und andere Datenspuren das Wahlgeheimnis zu durchbrechen, verbannt E-Voting in den Bereich der unverbindlichen Entscheidungsvorbereitung. Beim derzeitigen Stand der Technik erscheint die Gefahr eines Verlustes an Vertraulichkeit, Integrität und Authentizität zu groß, um den Verflüssigungseffekt von Liquid Democracy auch auf die Staatswillensbildung anzuwenden. Das gilt jedenfalls dort, wo die strengen Wahlrechtsgrundsätze des Grundgesetzes den Maßstab bilden. Zu bedenken ist auch, dass die virtuellen Formen der Gemeinschaft im Cyberspace in sozialer Hinsicht ärmer sind, als das traditionelle Miteinander. Physisch betrachtet sitzen wir überwiegend allein vor unseren Tastaturen und Bildschirmen. Wo Cicero noch bedeutungsvoll mit seiner Toga rascheln konnte, vollführen wir nur noch eine müde Wischbewegung auf unseren Touchscreens. Öffentlichkeit als Funktionsbedingung von Demokratie, setzt
aber mehr als bloße technische Präsenz voraus. Sie hat auch einen Bezug zu persönlicher Chemie und sozialer Kontrolle: Idealerweise erfolgt Meinungsbildung mit offenem Visier und in freier öffentlicher Rede unter Anwesenden. Ein Schwachpunkt der e-democracy liegt mithin darin, dass uns die digitale Abgeschiedenheit ein Stück dieser sozialen Kontrolle vorenthält: Wir haben das Recht in die Gesichter derjenigen zu sehen, die Steuersenkungen für Reiche oder militärische Interventionen fordern. Eine Phase des Umbruchs Michelle Obama unterhält eine Facebook-Community mit über sechs Millionen Nutzern. Der digitale Freundeskreis ihres Ehegatten ist sogar viermal so groß. Auch wenn Ratschläge aus Griechenland derzeit nicht allzu hoch im Kurs stehen: Aristoteles hatte gefordert, dass eine politische Gemeinschaft nicht größer sein soll als das Gebiet, das man in einer Tagesreise durchqueren kann. Auch die Demokratie kennt offenbar so etwas wie eine mindestoptimale technische Betriebsgröße. Lebendige politische Teilnahme basiert auf sozialem Kapital, dass in überschaubaren Gemeinschaften besser gedeiht als auf einem Linux-Server in den Wäldern Oregons. Unsere Demokratie befindet sich in einer Phase des Umbruchs. Neue Medien entfalten ihr Potential. Sie perspektive21
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bringen wachsende Ansprüche an politisches Engagement hervor. Die Chancen von e-democracy verdienen große Sympathie. Zugleich hat die digitale Mitwirkung so ihre Tücken. Etwas mehr Abgeklärtheit täte gut. Technologie tritt mal als Verbündeter der demokratischen Bürgergesellschaft auf, mal als Alliierter eines weitgehend ungeregelten Finanzmarktkapitalismus. Das Internet ist einerseits der Kristallisationspunkt der Wissensgesellschaft und andererseits zugleich Nährboden für Desinformation, Kinderpornografie, verblendete Djihadisten und brutale Neonazis. Weil Technologien
der Welt der Instrumente zuzuordnen sind, ist ihr Einsatz an die Verhältnisse gebunden, die sie hervorgebracht haben. In dem Maße, in dem die Gesellschaft demokratisch und zivil ist, können die neuen Technologien den Diskurs stärken und zur Plattform einer zweiten Aufklärung reifen. Nicht das Internet, als Informationsinfrastruktur, ist das Entscheidende, sondern die Kommunikationsarenen, die dort neu entstehen und sich in den hergebrachten Medien spiegeln. Die Technologie kann uns nicht vor uns selber retten. Uns aus dem Elend zu erlösen, können wir nur selber tun. I
DR. CARSTEN STENDER
ist Politikwissenschaftler, Jurist und Scholar der Hertie School of Governance. 74
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Keine Angst vor Demokratie WIE DIE AKZEPTANZ FÜR INFRASTRUKTURPROJEKTE ERHÖHT WERDEN KANN VON REINHOLD DELLMANN
anch ein Infrastrukturplaner sehnt sich in die neunziger Jahre zurück. In ganz Brandenburg gab es den Ruf nach Autobahnen, Ortsumgehungen und großen Firmenansiedlungen. Widerstand war kaum zu spüren, Bauprojekte konnten nicht schnell genug vonstatten gehen. Heute ist dies deutlich anders. Es gibt kein Infrastrukturvorhaben mehr, welches nicht unter starker Beteiligung der interessierten Öffentlichkeit, wenn nicht sogar unter Protest, vorbereitet werden kann. Akzeptanz ist ein überall zu hörendes Wort geworden. Wird es geschafft, Bürger ausreichend in Prozesse einzubeziehen und gleichzeitig notwendige Entscheidungen zu treffen, die für ein ganzes Land von großer Bedeutung sind? Bei einer Fahrt durch Europa stellen wir fest, dass sich die Infrastruktur in Deutschland, gerade auch in Brandenburg, in einem vergleichsweise guten Zustand befindet. Grundlage hierfür ist ein ausgeprägtes Planungsrecht und natürlich auch der gesellschaftliche
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Konsens, dass Infrastruktur vorzuhalten und zu entwickeln ist. Dieser Vorsprung, der auch ein entscheidender Standortvorteil ist, gerät jedoch immer mehr in Gefahr. Bürger sollen mitentscheiden Die Aufgabe lautet deshalb: Wichtige und für den Standort Deutschland notwendige Entscheidungen treffen und trotzdem das Maß an Akzeptanz für diese Projekte erhöhen. Der Neubau des Hauptstadtflughafens in Schönefeld, die Planungsentscheidung und folgende Gerichtsprozesse sowie die öffentliche Diskussion um Standort, Flugrouten etc. ermöglichen es uns, fünf Schlussfolgerungen für die Zukunft zu ziehen. Bürger wollen gerade in ihrer Region mitentscheiden, denn von diesen Entscheidungen sind sie meist unmittelbar betroffen. ERSTE SCHLUSSFOLGERUNG: Die Öffentlichkeit muss zukünftig über die Planung von Großvorhaben deutlich frühzeitiger und umfangreicher inforperspektive21
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miert werden, beispielsweise im Rahmen des Raumordnungsverfahrens. Es reicht nicht aus, nur auf der Ebene von Planfeststellungsverfahren auf die förmliche Beteiligung von Betroffenen zu verweisen. Notwendig ist es, bereits in der Konzipierungsphase einen breiten öffentlichen Diskurs über Alternativen und Alternativstandorte etc. zu führen. Das heißt Ziele und Zwecke des Vorhabens sowie die voraussichtlichen Auswirkungen und vor allem auch Planungsalternativen darzustellen. Nur so kann die öffentliche Diskussion in die Grundsatzentscheidungen der politisch Verantwortlichen einfließen. Eine deutlich intensivere Nutzung des Internets als Kommunikationsmedium ist in sehr guter Weise geeignet, politische Kommunikation bürgernah zu gestalten. So ist Bürgerbeteiligung über partizipative Verfahren möglich. Gesetze reichen aus Die Brandenburger Landesregierung ist hier aufgefordert, den Aufbau einer Landesplattform (Projektportal) für die Bereitstellung von Informationen zu regionalen und überregionalen Projekten zu prüfen. Hiermit sollte es möglich sein, Informationen verschiedener Vorhabenträger zu Projekten in Brandenburg zu veröffentlichen. Gleichzeitig ist zu prüfen, ob diese Plattform auch zur Kommunikation von Bürgerinnen und Bürgern, Vorhabensträgern und gege76
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benenfalls Planungsbehörden genutzt werden kann. Zwischenfrage: Würde es den Standort Schönefeld geben, wenn zum Zeitpunkt des sogenannten Konsensbeschlusses zum Bau des Flughafen BER/BBI bereits die öffentliche Diskussion zu den Flugrouten stattgefunden hätte? Sicherlich wäre die Meinungsbildung, vor allem in Berlin und seinen südwestlichen Bezirken, anders verlaufen. Die Bürger in Lichtenrade, Zehlendorf und Wannsee hätten dann mit hoher Wahrscheinlichkeit für einen Standort weit jenseits der Berliner Stadtgrenzen plädiert. In Sperenberg wäre der Flughafen dann schon heute 24 Stunden in Betrieb und DHL wäre wahrscheinlich nicht nach Leipzig gegangen. ZWEITE SCHLUSSFOLGERUNG: Neben den Bedarfsanalysen für große Infrastrukturprojekte müssen Akzeptanzanalysen durchgeführt werden. Diese sind in die Planungs- und Entscheidungsprozesse einzuführen. Diese umfassende Analyse ist wichtig, um Konsequenzen unterschiedlicher Ansprüche an das Projekt festzustellen und um angemessene Informations-, Kommunikationsund Beteiligungsmaßnahmen zu entwickeln. Sicherlich wird zu prüfen sein, ob rechtliche Regelungen, wie zum Beispiel im Verwaltungsverfahrensgesetz, angepasst werden können. Grundsätzlich ist jedoch zu sagen, dass die heute geltenden rechtlichen Rahmen-
reinhold dellmann – keine angst vor demokratie
bedingungen ausreichen, um deutlich mehr Informationen und Bürgerbeteiligung zu ermöglichen. So haben beispielsweise Kommunen schon heute die Möglichkeit zur Durchführung von Einwohnerversammlungen, Bürgerbefragungen, Anhörungen von Betroffenen etc., einschließlich der Möglichkeit der Nutzung von Bürgerentscheiden. Wer darf abstimmen? Zu fragen ist jedoch immer, wie weit Bürgerbeteiligung tatsächlich gehen kann? Häufig hört man die Forderung, doch Bürgerentscheide – zum Beispiel über den Bau von neuen Hochspannungsleitungen – durchzuführen. Aber wie sollen diese tatsächlich funktionieren? Wer darf dann abstimmen? Nur die Bürger und Bürgerinnen, die in unmittelbarer Nähe der neuen Hochspannungsleitungen wohnen oder dürfen auch alle potentiellen Kunden mitwirken? Alle Fragen können hier noch nicht beantwortet werden, neue Beteiligungsmöglichkeiten sind auszuprobieren, nicht jeder ist ständig online und vielleicht ist das Medium Internet auch manchmal kontraproduktiv. DRITTE SCHLUSSFOLGERUNG: Um Antworten darf sich Politik nicht drücken. Es werden immer Entscheidungen zu fällen sein, die auch auf Widerstand stoßen. In unserer Demokratie muss auch zukünftig das Prinzip gel-
ten: Gemeinwohl geht vor Eigennutz. Deshalb werden verantwortliche Politiker nicht umhin kommen, auch zukünftig unpopuläre Entscheidungen zu treffen, denn gerade dies ist Aufgabe von Politik: Entscheidungen vorzubereiten, zu treffen und letztendlich auch zu tragen. VIERTE SCHLUSSFOLGERUNG: Demokratische Spielregeln müssen von allen eingehalten werden. Bürgerinitiativen sind in der Regel bestens informiert. Mit allen Mitteln und auch manchmal an der Grenze des Zulässigen vertreten sie ihre Interessen. Nicht selten wird Verwaltungen und politischen Entscheidungsträgern vorgeworfen, dass diese gegen rechtsstaatliche Prinzipien verstoßen, obwohl dies nachweislich nicht der Fall ist. Solange wir uns in einem demokratischen Rechtsstaat befinden, müssen alle Beteiligten die Spielregeln anerkennen; dies gilt gerade für Befürworter und Gegner von Projekten des Infrastrukturausbaus. In den Darstellungen der Medien sind Verwaltungen und Politik nicht selten Transparenzmuffel und Rechtsbrecher, das Gegenteil ist meist der Fall. FÜNFTE SCHLUSSFOLGERUNG: Entscheidend ist die Fähigkeit von Politik und Verwaltung, notwendige Infrastrukturprojekte zu vermitteln, fähig zu sein für Kommunikation mit den Bürgerinnen und Bürgern, offen zu sein für die Diskussion von Alternativen, aber auch Entscheidungsstärke zeigen. perspektive21
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thema – engagement wagen
Hierbei müssen Politik und öffentliche Verwaltung zukünftig deutlich mehr Augenmerk darauf legen, dass verfahrensbeteiligte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Lage sind, solche Prozesse zu führen und zu gestalten. Mehr Bürgerbeteiligung und mehr Demokratie bedeuten nämlich auch einen deutlich höheren Aufwand im Bereich der öffentlichen Verwaltung. Ausreichendes und ausreichend geschultes Personal muss zur Verfügung stehen. Jede Einwohnerversammlung kostet Arbeitszeit und Engagement. Je größer die Projekte, desto aufwändiger die Beteiligungsverfahren. Hier gehen die nötigen Arbeitsstunden schnell in die tausende. Bei allen Diskussionen zu Personalbeständen der öffentlichen Hand muss uns allen klar sein, dass ein Mehr an Beteiligung und Demokratie
auch automatisch einem höheren Personalbedarf der öffentlichen Verwaltungen entspricht. Das Land Brandenburg und seine nachgeordneten Behörden sollten immer beispielgebend sein, sofern sie selbst Vorhabenträger von Projekten sind. Maßnahmen für mehr Transparenz und Beteiligung sind hier modellhaft umzusetzen. Es lohnt sehr, sich auf den Weg für ein höheres Maß an Bürgerbeteiligung zu begeben. Vor lebendiger Demokratie braucht man sich nicht zu fürchten. Ein mehr an Bürgerbeteiligung führt zwangsläufig zu mehr Akzeptanz, hierum lohnt es sich zu kämpfen. Fazit: Franz Münteferings Diktum „Politik ist Führen und Sammeln“ gilt uneingeschränkt auch bei der Realisierung großer Infrastrukturprojekte. I
REINHOLD DELLMANN
ist Hauptgeschäftsführer der Fachgemeinschaft Bau Berlin Brandenburg e. V. und war von 2006 bis 2009 Infrastrukturminister des Landes Brandenburg. 78
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Direktwahl für Ministerpräsidenten? FÜR EINEN UMBAU DES REGIERUNGSSYSTEMS GIBT ES MEHR VOR- ALS NACHTEILE VON FRANK DECKER
ie sechzehn Bundesländer brauchen nicht notwendig Regierung und Opposition; vielmehr ist ihnen eine anständige Verwaltung notwendig und ebenso ein Landtag, der die Verwaltung sorgfältig überwacht. Das Problem der Koalitionsbildung stellt sich dagegen im Bund, denn in Berlin muss wirklich regiert werden.“1 Was Helmut Schmidt hier in gewohnt schnoddriger Prägnanz formuliert, ist nichts anderes als ein Plädoyer für die Abkehr der Gliedstaaten von der parlamentarischen Regierungsform. Verfassungsrechtlich wäre ein Wechsel zum präsidentiellen System ohne weiteres möglich. Herzstück wäre eine direkte Wahl der Ministerpräsidenten, also die getrennte Bestellung von Exekutive und Legislative nach US-amerikanischem Vorbild. Nirgendwo steht geschrieben, dass die Regierungssysteme auf Länderebene genauso beschaffen sein müssen wie das Regierungssystem
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1 „Auf eine Zigarette mit Helmut Schmidt. Über Koalitionen und italienische Zustände“, ZEIT-Magazin Nr. 9 vom 21. Februar 2008, S. 54.
des Bundes. Der sogenannte Homogenitäts-Artikel 28 bindet die Länderverfassungen lediglich an die Grundsätze des „republikanischen, demokratischen und sozialen“ Rechtsstaates. Eine andere Frage ist, ob ein solcher Wechsel auch sinnvoll wäre und angestrebt werden sollte. Sieht man von dem nicht umgesetzten Verfassungsentwurf einmal ab, den Theodor Eschenburg 1952 für das neu geschaffene Land BadenWürttemberg vorgelegt hatte, hat es politische Vorstöße in dieser Richtung bislang nicht gegeben. Auch die Verfassungsgebungen in den neuen Ländern sind allesamt dem parlamentarischen Regierungsmodell verhaftet geblieben. Dabei würde eine nüchterne Analyse zeigen, dass das präsidentielle System der Politik in den Ländern im Grunde gemäßer ist als der parteiendemokratische Parlamentarismus. Eine institutionelle Affinität der Länderverfassungen zum Präsidentialismus besteht insofern, als hier die Funktionen des Staatsoberhauptes und Regierungschefs im Amt des Ministerpräsiperspektive21
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denten vereinigt werden; dies ist in parlamentarischen Regierungssystemen auf nationaler Ebene normalerweise nicht der Fall (Ausnahme: Südafrika). Auch in der Verfassungspraxis spielen die Länderregierungschefs heute eine herausgehobene Rolle (nicht zuletzt dank ihrer bundespolitischen Präsenz), weshalb sich die Landtagswahlen immer mehr zu persönlichkeitsorientierten Ministerpräsidentenwahlen herausgebildet haben. Die Einführung der Direktwahl würde daraus die ehrliche Konsequenz ziehen. Was in Kommunen funktioniert Im Übrigen stützt sich die Argumentation für das präsidentielle System vor allem auf den unterschiedlichen Charakter von Bundes- und Landespolitik. Nachdem die Gesetzgebungskompetenzen überwiegend auf der Bundesebene angesiedelt bzw. dorthin abgewandert sind, verfügen die Länder heute nur noch in wenigen Bereichen – etwa der Schul- und Hochschulpolitik – über wirkliche Gestaltungsautonomie. Der Verbundstruktur des deutschen Föderalismus entsprechend liegen ihre Hauptaufgaben in der nachgelagerten Durchführung der Bundesgesetze als eigene Verwaltungsangelegenheiten. Die Länderpolitik weist so betrachtet eine größere Nähe zur kommunalen als zur Bundesebene auf. Wäre es für die Länder da nicht folgerichtig, sich auch bei 80
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der Gestaltung ihrer Regierungssysteme an den Kommunen zu orientieren und die Demokratisierungsbemühungen unmittelbar bei der mit den Verwaltungsaufgaben betrauten Exekutive anzusetzen? Die Analogie liegt insbesondere mit Blick auf die Stadtstaaten nahe. Auf der örtlichen Ebene ist die Direktwahl der Bürgermeister, die früher nur in Bayern und Baden-Württemberg vorgesehen war, nach dem Siegeszug der Süddeutschen Ratsverfassung inzwischen überall eingeführt worden. Warum sollte das, was in München oder Köln möglich ist und sich offenbar bewährt hat, nicht auch in Hamburg oder Bremen funktionieren? Der Hinweis auf die verbliebenen Restposten in der Gesetzgebung taugt hier als Gegenargument ebenso wenig wie die Mitregierung der Länder im Bundesrat. Letztere wird ja bereits heute ausschließlich durch die Exekutiven wahrgenommen wird, was sich auch nach der Einführung der Direktwahl nicht ändern würde. Stärkeres Parlament Die präsidentielle hat gegenüber der parlamentarischen Regierungsform den Vorteil, dass sie auf organisatorisch und ideologisch festgefügten Parteien nicht zwingend angewiesen ist. Werden Exekutive und Legislative getrennt voneinander bestellt, müssten sie auch bei abweichenden Mehrheitsverhältnissen
frank decker – direktwahl für ministerpräsidenten?
zusammenarbeiten. Die Erfahrungen aus vielen deutschen Kommunen zeigen, dass solche Konstellationen durchaus keine Seltenheit sind und vom Wähler mitunter ganz bewusst herbeigeführt werden. Ihr Nutzen läge auf beiden Seiten. Der Ministerpräsident und seine Regierung würden über eine vom Parlament unabhängige Legitimation verfügen, und ein populärer Amtsinhaber müsste nicht fürchten, bei einer Direktwahl durch einen weniger populären Kandidaten verdrängt zu werden. Die Abgeordneten wiederum wären von der Notwendigkeit befreit, die Regierung entweder bedingungslos zu unterstützen oder sie ebenso schonungslos zu kritisieren. Die Folge wäre also auch eine Revitalisierung des unter dem Druck der Fraktionsdisziplin „verkümmerten“ freien Mandates und damit zugleich eine Stärkung des Parlaments im Ganzen. Dies könnte der verbreiteten Klage über den Bedeutungsverlust der Landtage entgegenwirken. Die gleichzeitige Besserstellung von Regierung und Parlament hat natürlich ihren Preis. Sie erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass beide Akteure politisch aufeinanderprallen und sich in ihren Handlungen gegenseitig blockieren. Gewaltentrennung und die Gefahr des Stillstands (deadlock) stellen im präsidentiellen System zwei Seiten derselben Medaille dar. Der daraus resultierende permanente Kompromisszwang ist nicht nur unter Effizienzgesichtspunk-
ten, sondern auch in demokratischer Hinsicht prekär, weil er die Zurechnung politischer Verantwortung erschwert. Während der Dualismus von Regierungsmehrheit und Opposition im parlamentarischen System für klare Fronten sorgt, bleibt der Regierungschef im präsidentiellen System auf das Wohlwollen der gesamten Legislative angewiesen, hinter deren Rücken er sich notfalls verstecken kann. Amerika ist anders Ob und in welchem Maße die Funktionsfähigkeit des präsidentiellen Systems dadurch beeinträchtigt wird, hängt unter anderem von der Rolle der Parteien ab. Handelt es sich bei den Parteien um wenig festgefügte Vereinigungen mit flexiblem Abstimmungsverhalten, dürfte die Gefahr einer dauerhaften Blockade eher gering und das Regieren selbst bei divergierenden Mehrheitsverhältnissen möglich sein – in den USA stellt diese Konstellation bekanntlich fast schon den Regelfall dar. Anders verhält es sich in den parlamentarischen Demokratien Westeuropas: Die Parteien weisen hier einen weitaus größeren (weltanschaulichen und organisatorischen) Zusammenhalt auf, der auch bei einem Übergang zum präsidentiellen System nicht ohne weiteres verschwinden würde. Dies gilt zumal in der Bundesrepublik, wo sich die Strukturen des nationalen Parteienwettperspektive21
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bewerbs bis auf die kommunale Ebene hinuntergebrochen haben und die Vertreter der Parteien heute in den größeren Städten nahezu sämtliche Mandate der Vertretungskörperschaften und Schlüsselpositionen der Verwaltung besetzen. Auf der Länderebene wird die parteipolitische „Durchwirkung“ durch den unitarischen Charakter des Föderalismus noch wesentlich verstärkt: Einerseits sind die Landesregierungen über den Bundesrat an der Gesetzgebung des Gesamtstaates beteiligt, andererseits haben die Landtagswahlen immer mehr den Charakter von Zwischenwahlen angenommen, die von bundespolitischen Themen beherrscht werden. Ein reines Präsidialsystem, in dem der Ministerpräsident unter Umständen gegen eine ihm feindlich gesinnte Parlamentsmehrheit regieren muss, dürfte unter diesen Bedingungen nur schwer zu verwirklichen sein. Ministerwahl im Landtag Die Funktionsweisen des „Parteienbundesstaates“ haben zur Folge, dass die parlamentarische Abhängigkeit der Regierung auch bei einer Direktwahl des Ministerpräsidenten nicht restlos beseitigt werden kann. Die anzustrebende Regierungsform in den Bundesländern weist insofern in Richtung eines präsidentiell-parlamentarischen „Mischsystems“. Ihr Ziel ist es, durch geeignete 82
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institutionelle Vorkehrungen einen annähernden politischen Gleichklang zwischen Exekutive und Legislative zu ermöglichen. Der Regierungschef wird zwar direkt gewählt, bleibt aber in den Willen der jeweiligen Parlamentsmehrheit eingebunden. Auf der kommunalen Ebene kommen Hessen und Nordrhein-Westfalen diesem Modell zur Zeit am nächsten. Im nationalen Rahmen hat sich bisher nur Israel daran versucht, wo man aber nach kurzer Zeit zum vertrauten parlamentarischen System wieder zurückkehrte. Die parlamentarische Anbindung des direkt gewählten Regierungschefs erfolgt zum einen dadurch, dass die Legislative das Recht behält, die Regierung(smitglieder) vor ihrem Amtsantritt zu bestätigen. In Eschenburgs Verfassungsentwurf für Baden-Württemberg war sogar eine förmliche Wahl der Minister durch das Parlament vorgesehen, was die Stellung des Ministerpräsidenten innerhalb der Exekutive geschwächt und in die Nähe der schweizerischen Kollegialregierungen geführt hätte. So wie das Bestätigungsrecht weisen auch die Modalitäten der Abwählbarkeit der Regierung über die Usancen eines (rein) präsidentiellen Systems hinaus. Anders als beim US-amerikanischen impeachment kann der Ministerpräsident im präsidentiellen Parlamentarismus auch aus politischen Gründen abgelöst werden – dies allerdings unter höheren Hürden als im normalen parlamentarischen System.
frank decker – direktwahl für ministerpräsidenten?
Vorstellbar wären zum Beispiel ein spezielles Quorum und/oder eine automatische Verknüpfung von Abberufung und Parlamentsauflösung (mit anschließenden Neuwahlen). Letztere Vorkehrung, die zu den Kernbestandteilen der israelischen Reform gehörte, findet man ebenfalls bereits bei Eschenburg. Koalitionen blieben nötig Die Gleichzeitigkeit von Abberufung und Parlamentsauflösung verweist auf ein weiteres Schlüsselmerkmal des präsidentiellen Parlamentarismus. Dessen Funktionieren setzt offenbar voraus, dass die Amtszeiten von Regierung/Regierungschef und Parlament parallel laufen, das heißt die Bestellung beider Organe zum selben Zeitpunkt erfolgt. Finden die Landtagswahlen getrennt von der Direktwahl des Ministerpräsidenten statt, wächst die Wahrscheinlichkeit abweichender Mehrheiten. Die Synchronisierung der Amtszeiten ist allerdings noch kein Garant für das Gegenteil. Das israelische Beispiel hat gezeigt, dass unter den Bedingungen eines Verhältniswahlrechts die Wähler in diesem Fall dazu neigen, ihre Stimme zu splitten. Sie votieren bei der Parlamentswahl anders als bei der Wahl des Ministerpräsidenten, wovon in Israel insbesondere die kleineren, radikalen Parteien profitiert haben. Die Möglichkeit des Ministerpräsidenten, eine tragfähige Regierungsmehrheit zustandezu-
bringen, wird dadurch geschmälert. Der Zwang zur Koalitionsbildung bleibt ja im präsidentiellen Parlamentarismus weiter erhalten. Dass die Koalitionen weniger förmlich und somit auch weniger stabil sind als im parlamentarischen System, macht das Regieren dabei nicht gerade bequemer. Präsidentialismus und Vielparteiensystem stellen also, wie es ein Beobachter mit Verweis auf die lateinamerikanischen Staaten einmal ausgedrückt hat, eine „schwierige Kombination“ dar. Gesetzesarbeit geht zurück Autoren, die das bestehende parlamentarische System gegen den Direktwahlvorschlag verteidigen, stellen vor allem auf die Output-Seite des Regierens ab, auf Kriterien der Funktionsfähigkeit und Effizienz. Sie argumentieren also aus einer gouvernementalen Perspektive heraus, während bei den Befürwortern demokratiepolitische Überlegungen im Zentrum stehen. Dies bedeutet nicht, dass das präsidentielle System unter Demokratiegesichtspunkten per se vorzugswürdig wäre. Seine Funktionsprobleme fallen aber auf der Länderebene, wo die Gesetzgebungstätigkeit gegenüber den Verwaltungsaufgaben quantitativ wie qualitativ in den Hintergrund tritt, vergleichsweise wenig ins Gewicht und werden durch die systemischen Vorteile allemal aufgewogen. Auf der nationalen Ebene steht das parlamentaperspektive21
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rische System dagegen nicht zur Disposition. Weil im Bund, wie Altkanzler Schmidt treffend sagt „wirklich regiert werden muss“, kann es seine Stärken hier voll ausspielen. Für eine Abkehr vom parlamentarischen System sprechen auch die in den Ländern inzwischen flächendeckend eingerichteten Verfahren der direkten Demokratie. Bei der parlamentarischen Regierungsform handelt es sich bekanntlich um ein System der Gewaltenfusion. Die Regierung geht aus der Mehrheit des Parlaments hervor, die sie politisch trägt und mit ihr eine Einheit bildet. Zwischen regierender Mehrheit und Opposition besteht eine klar festgelegte Aufgabenteilung: Der Regierung gebührt das Monopol der politischen Gestaltung, während die Opposition als parlamentarische Minderheit ganz auf ihre Kontroll- und Alternativfunktion zurückgeworfen bleibt, die sie mit dem Ziel wahrnimmt, die Regierung nach der kommenden Wahl abzulösen. Gewaltenfusion stößt an Grenzen Die in den Ländern vorhandenen Instrumente der Volksinitiative und des Volksbegehrens unterlaufen dieses Prinzip. Mit ihrer Hilfe kann die Opposition von der Regierungsmehrheit beschlossene Gesetze schon im Vorfeld einer Wahl zu Fall bringen. Es entsteht also eine Konkurrenz von parlamentarischem Mehrheits- und Volkswillen, die dem Konzept 84
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der Gewaltenfusion widerspricht. Von daher lässt sich gut nachvollziehen, warum die alten parlamentarischen Demokratien (mit Ausnahme Italiens) sämtlich darauf verzichtet haben, die Initiative in ihre nationalen Verfassungen einzubauen. Der Föderalismus profitiert Der Präsidentialismus ist demgegenüber – wie gesehen – ein System der Gewaltentrennung. Präsident und Parlament werden unabhängig voneinander bestellt und können sich in ihrem wechselseitigen Bestand nichts anhaben. Die Regierungsmacht ist zwischen beiden Organen geteilt, die im Gesetzgebungsprozess gleichermaßen über pro-aktive und reaktive Kompetenzen verfügen, auf deren Basis sie die Gesetzesvorhaben untereinander aushandeln. Opposition wird dabei fallweise ausgeübt; es gibt keine dauerhaft festgefügten Koalitionen. Tritt das Volk als weiterer Vetospieler hinzu, wird die Funktionslogik dieses Systems nicht prinzipiell gestört, auch wenn die Komplexität des Verhandlungsprozesses weiter zunimmt. Die plebiszitären Verfahren können sogar eine ausgesprochen nützliche Rolle spielen, wenn sie dazu beitragen, Blockaden zwischen Präsident und Parlament aufzulösen. Ein Wechsel zum präsidentiellen System in den Ländern wäre nicht nur für deren politischen Systeme selbst von
frank decker – direktwahl für ministerpräsidenten?
Nutzen. Er käme dem Föderalismus in unserem Lande insgesamt zugute, würde er doch dazu beitragen, die notorische Überlagerung der Landes- durch die Bundespolitik wenigstens ein Stückweit zurückzudrängen. Diese Überlagerung hat nicht nur mit dem Verbundsystem, also der engen Verflechtung der beiden Ebenen zu tun, sie stellt auch eine Konsequenz der Gleichförmigkeit der Regierungssysteme in Bund und Ländern dar. Welche absurden Konsequenzen das haben kann, zeigte sich zum Beispiel nach der Landtagswahl in Hessen 2008, als die Republik über mehrere Monate von der Debatte in Atem gehalten wurde, ob die SPD-Spitzenkandidatin Andrea Ypsilanti sich mithilfe der Linken zur Ministerpräsidentin wählen lassen dürfe. Dass eine Mehrheitsbildung unter präsidentiellen Vorzeichen ähnliche Aufmerksamkeit auf sich ziehen könnte, erscheint kaum vorstellbar. Eine Abkehr der Gliedstaaten von der parlamentarischen Regierungsform des Bundes hätte also zur Folge, dass sie die Eigenständigkeit der Länderpolitik – unabhängig von der föderalen Aufgabenverteilung – automatisch stärker hervorheben würde. Bleibt die Frage, ob die Debatte nicht ohnehin müßig ist, weil es keine realistischen Chancen gibt, die Direktwahl in absehbarer Zeit einzuführen? Bis vor einigen Jahren hätte man darauf mit einem klaren Ja antworten müssen. Dass das heute nicht mehr geht, liegt
wiederum an den Einrichtungen der direkten Demokratie. So wie die Bürger mit deren Hilfe Wahlrechtsreformen und erleichterte Anwendungsbedingungen für die Plebiszite zum Teil gegen den Widerstand der Regierenden durchgesetzt haben, so könnten sie als Gesetzgeber irgendwann auch die parlamentarische Regierungsform ins Visier nehmen. Diese, vom Verfasser schon früher geäußerte Vermutung scheint sich inzwischen zu bewahrheiten, nachdem die Ökologisch-Demokratische Partei (ödp) in Bayern erwägt, ein Volksbegehren für die Einführung der Direktwahl anzustrengen. Die Entscheidung darüber soll Ende Oktober 2011 auf ihrem Parteitag fallen. In Bayern bald Realität? Der Freistaat wäre für einen solchen Vorstoß in der Tat prädestiniert. Zum einen steht dort mit der Nominierung des populären Münchener Oberbürgermeisters Christian Ude als SPDSpitzenkandidat bei der kommenden Landtagswahl ein äußerst spannendes Rennen um die Regierungsmacht bevor, das durch die Direktwahlforderung zusätzliche Brisanz erlangen würde. Zum anderen haben die Bayern mit einer unangenehmen Begleiterscheinung des parlamentarischen Systems zuletzt gleich zweimal Bekanntschaft gemacht: 2007 wurde CSU-Ministerpräsident Edmund Stoiber während der laufenperspektive21
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thema – engagement wagen
den Legislaturperiode von seiner Partei gestürzt, für die er bei der Landtagswahl 2003 noch ein Rekordwahlergebnis erzielt hatte. Und 2008 erhielt das Land einen Regierungschef, der bei der Wahl als Spitzenkandidat gar nicht angetreten war, als Horst Seehofer den wegen der hohen CSU-Verluste zurückgetretenen Stoiber-Nachfolger Günther Beckstein kurzerhand ersetzte. Sollte der Wechsel zum präsidentiellen System in den Ländern tatsächlich in den Bereich des Möglichen rücken, würde es sich rächen, dass Politikwissenschaft und Staatsrechtslehre diesem Thema in den letzten Jahren keine Beachtung geschenkt haben. Selbst wenn unter dem Strich mehr Argumente für als gegen die Direktwahl sprechen, müssen institutionelle Folgewirkungen und mögliche Dysfunktionalitäten sorgfältig analysiert werden.
Ähnlich wie bei den plebiszitären Sachentscheidungen kommt es entscheidend auf die Ausgestaltung der Reform an. Die Direktwahl lässt sich ja den bestehenden parlamentarischen Strukturen nicht einfach aufsetzen. Ihre Einführung bedarf einer kompletten Reorganisation des Regierungssystems, deren Ziel es sein muss, die neu einzubringenden präsidentiellen mit den übernommenen und modifizierten parlamentarischen Elementen in eine funktionsfähige Balance zu bringen. Die Erfahrungen mit den präsidentialisierten Regierungssystemen auf kommunaler Ebene dürften dabei eine nützliche Rolle spielen. Der Wechsel zum präsidentiellen System birgt mit anderen Worten jede Menge Fallstricke. Dass die Bevölkerung, wenn sie die Wahl hätte, mehrheitlich für die Direktwahl votieren würde, erscheint dagegen relativ gewiss. I
PROF. DR. FRANK DECKER
lehrt Politikwissenschaft an der Universität Bonn. 86
november 2011 – heft 50
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