perspektive21 - Heft 51

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HEFT 51 DEZEMBER 2011 www.perspektive21.de

BRANDENBURGISCHE HEFTE FÜR WISSENSCHAFT UND POLITIK

BRANDENBURG 2030

Die Zukunft der Kommunen HELMUT SCHMIDT: Mit mitfühlendem Herz MATTHIAS PLATZECK: Konzentration und Innovation DIETMAR WOIDKE: „Das Einfache, das schwer zu machen ist …“ CHRISTIAN MAAß: Mutig reformieren JOHN SIEGEL: Neue Herausforderungen am Horizont RALF REINHARDT: Wir brauchen schnell Klarheit HEINZ MÜLLER: Größer als das Saarland FRANK PFEIL: Die Heimat verschwindet nicht TILL MEYER: Stärken stärken 2030


Eine persรถnliche Bestandsaufnahme

20 Jahre nach der friedlichen Revolution von 1989: Wie viel Einheit haben wir erreicht? Welchen Aufbruch braucht Deutschland jetzt?

224 Seiten, gebunden

| Hoffmann und Campe | Das will ich lesen


vorwort

Die Zukunft der Kommunen as Land Brandenburg hat sich seit seiner Wiedergründung im Jahr 1990 deutlich verändert. Eine Reaktion auf Wanderungsbewegungen und demografischen Wandel waren die Kreisgebietsreform im Jahr 1993 und die Gemeindegebietsreform 2003. Diese Reformen waren schmerzlich und schwierig, aber auch dringend notwendig. Seit gut einem Jahr findet in unserem Bundesland unter der Überschrift „Brandenburg 2030“ eine von Ministerpräsident Matthias Platzeck angestoßene Debatte statt, die unter anderem auch die Frage aufwirft, ob die bestehenden Gemeinde- und Kreisgebietsstrukturen wirklich zukunftsfest sind.

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Ein Blick in unsere Nachbarländer Sachsen und Mecklenburg-Vorpommern zeigt, dass diese Frage nicht nur bei uns aktuell ist, sondern dort auch schon beantwortet wurde. In dieser Perspektive 21 berichten Heinz Müller und Frank Pfeil in sehr interessanten Beiträgen über die dabei gemachten Erfahrungen, von denen wir in Brandenburg sicherlich lernen können und müssen. Mit dem parteilosen Landrat Ralf Reinhard aus dem Landkreis Ostprignitz-Ruppin erläutert ein kommunalpolitischer Praktiker, wie er sich künftig Gemeinde- und Kreisgebietsstrukturen in Brandenburg vorstellt. Vielen Lesern werden seine Vorstellungen zu radikal vorkommen. Eine Diskussion sind sie trotzdem wert. Besonders stolz sind wir auf den Beitrag von Helmut Schmidt in diesem Heft, der auf seiner historisch bedeutsamen Rede auf dem vergangenen SPD-Bundesparteitag beruht. Helmut Schmidt hat eine riesige politische Lebenserfahrung und ein profundes historische Wissen. Das macht diesen Beitrag zu einem Lesegenuss. Erkenntnisgewinn garantiert! IHR KLAUS NESS


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HERAUSGEBER I I

SPD-Landesverband Brandenburg Wissenschaftsforum der Sozialdemokratie in Berlin, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern e.V.

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Klaus Ness (V.i.S.d.P.), Thomas Kralinski (Chefredakteur), Ingo Decker, Dr. Tobias Dürr, Klaus Faber, Tina Fischer, Klara Geywitz, Lars Krumrey, Christian Maaß, Till Meyer, Dr. Manja Orlowski, John Siegel ANSCHRIFT

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inhalt

Die Zukunft der Kommunen BRANDENBURG 2030

MAGAZIN HELMUT SCHMIDT: Mit mitfühlendem Herz

........................................................ 7 Über Deutschland mit Europa und Deutschland für Europa MATTHIAS PLATZECK: Konzentration und Innovation

........................................ 21

Bausteine einer progressiven Wirtschaftspolitik

THEMA DIETMAR WOIDKE: „Das Einfache, das schwer zu machen ist …“ .......................... 31

Über die Zukunftsfähigkeit der Verwaltungsstrukturen in Brandenburg CHRISTIAN MAAß: Mutig reformieren

.................................................................. 41 Drei Thesen zur Zukunft der lokalen Demokratie in Brandenburg JOHN SIEGEL: Neue Herausforderungen am Horizont .......................................... 51

Ausgangslage, Entwicklungen und Perspektiven der Kommunalfinanzen in Brandenburg RALF REINHARDT: Wir brauchen schnell Klarheit

................................................ 63 Über seine Erfahrungen als Landrat und Bürgermeister sowie nötige Kommunalreformen sprach Thomas Kralinski mit Ralf Reinhardt HEINZ MÜLLER: Größer als das Saarland

.............................................................. 71 Wie die Kreisgebietsreform in Mecklenburg-Vorpommern gelang FRANK PFEIL: Die Heimat verschwindet nicht

.................................................... 79 Über sächsische Erfahrungen mit Funktional- und Kreisgebietsreformen sprach Thomas Kralinski mit Frank Pfeil TILL MEYER: Stärken stärken 2030

...................................................................... 85 Internationalisierung und Europäisierung schaffen das moderne Brandenburg

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Mit mitfühlendem Herz ÜBER DEUTSCHLAND MIT EUROPA UND DEUTSCHLAND FÜR EUROPA VON HELMUT SCHMIDT

m Blick auf alle Parteipolitik bin ich altersbedingt schon jenseits von Gut und Böse angekommen. Schon lange geht es mir in erster und in zweiter Linie um die Rolle unserer Nation im unerlässlichen Rahmen des europäischen Zusammenschlusses. Als inzwischen sehr alter Mann denkt man naturgemäß in langen Zeiträumen – sowohl nach rückwärts in der Geschichte als ebenso nach vorwärts in die erhoffte und erstrebte Zukunft. Gleichwohl habe ich vor einigen Tagen auf eine sehr einfache Frage keine eindeutige Antwort geben können. Wolfgang Thierse hatte mich gefragt: „Wann wird Deutschland endlich ein normales Land?“ Und ich habe geantwortet: In absehbarer Zeit wird Deutschland kein „normales“ Land sein. Denn dagegen steht unsere ungeheure, aber einmalige historische Belastung. Und außerdem steht dagegen unsere demografisch und ökonomisch übergewichtige Zentralposition inmitten unseres kleinen aber vielfältig nationalstaatlich gegliederten europäischen Kontinents.

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Auch wenn in einigen wenigen der rund 40 Nationalstaaten Europas das heutige Nationenbewusstsein sich erst verspätet entfaltet hat – so in Italien, in Griechenland und in Deutschland – so hat es doch überall und immer wieder blutige Kriege gegeben. Man kann diese europäische Geschichte – von Mitteleuropa aus betrachtet – auch auffassen als eine schier endlose Folge von Kämpfen zwischen Peripherie und Zentrum und umgekehrt zwischen Zentrum und Peripherie. Dabei blieb das Zentrum immer wieder das entscheidende Schlachtfeld. Wenn die Herrscher, die Staaten oder die Völker im Zentrum Europas schwach waren, dann stießen ihre Nachbarn aus der Peripherie in das schwache Zentrum vor. Die größte Zerstörung und die relativ größten Verluste an Menschenleben gab es im ersten 30-jährigen Krieg 1618 bis 1648, der sich im Wesentlichen auf deutschem Boden abgespielt hat. Deutschland war damals bloß ein geographischer Begriff, unscharf definiert allein durch den deutschen Sprachraum. Später kamen die Franzosen wieder unter Louis XIV und abermals unter Napoleon. Die Schweden sind nicht ein zweites Mal gekommen; wohl aber mehrfach die Engländer und die Russen, beim letzten Mal unter Stalin.

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Wenn aber die Dynastien oder die Staaten im Zentrum Europas stark waren – oder wenn sie sich stark gefühlt haben! – dann sind sie umgekehrt gegen die Peripherie vorgestoßen. Das galt bereits für die Kreuzzüge, die gleichzeitig Eroberungszüge waren, nicht nur in Richtung Kleinasien und Jerusalem, sondern ebenso in Richtung Ostpreußen und in alle drei heutigen baltischen Staaten. In der Neuzeit galt es abermals für den Krieg gegen Napoleon – und es hat gegolten für die drei Kriege Bismarcks 1864, 1866, 1870/71. Das Gleiche gilt vor allem für den zweiten dreißigjährigen Krieg von 1914 bis 1945. Es gilt insbesondere für Hitlers Vorstöße bis an das Nordkap, bis in den Kaukasus, bis auf das griechische Kreta, bis nach Südfrankreich und sogar bis nach Tobruk an der libysch-ägyptischen Grenze. Die Katastrophe Europas, durch Deutschland provoziert, hat die Katastrophe der europäischen Juden eingeschlossen und die Katastrophe des deutschen Nationalstaates. Die Erinnerung an die Weltkriege ist noch wach Zuvor hatten aber die Polen, die baltischen Nationen, die Tschechen, die Slowaken, die Österreicher, die Ungarn, die Slowenen und Kroaten das Schicksal der Deutschen geteilt, insofern sie alle seit Jahrhunderten unter ihrer geopolitisch zentralen Lage in diesem kleinen europäischen Kontinent gelitten haben. Oder anders gesagt: Mehrfach haben wir Deutschen andere unter unserer zentralen Machtposition leiden lassen. Heutzutage sind die konfligierenden territorialen Ansprüche, die Sprach- und Grenzkonflikte, die noch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts im Bewusstsein der Nationen eine sehr große Rolle gespielt haben, de facto weitgehend bedeutungslos geworden, jedenfalls für uns Deutsche. Während im Bewusstsein der öffentlichen Meinung und in der veröffentlichten Meinung in den Nationen Europas die Kenntnis und die Erinnerung der Kriege des Mittelalters weitgehend abgesunken sind, so spielt jedoch die Erinnerung an die beiden Weltkriege des 20. Jahrhunderts und an die deutsche Besatzung immer noch eine sehr große Rolle. Für uns Deutsche scheint mir entscheidend zu sein, dass fast alle Nachbarn Deutschlands – und außerdem fast alle Juden auf der ganzen Welt – sich des Holocaust und der Schandtaten erinnern, die zur Zeit der deutschen Besatzung in den Ländern der Peripherie geschehen sind. Wir Deutschen sind uns nicht ausreichend im Klaren darüber, dass bei fast allen unseren Nachbarn wahrscheinlich noch für viele Generationen ein latenter Argwohn gegen die Deutschen besteht. 8

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Auch die nachgeborenen deutschen Generationen müssen mit dieser historischen Last leben. Sie können ihr nicht entgehen. Und die heutigen dürfen nicht vergessen: Es war der Argwohn gegenüber einer zukünftigen Entwicklung Deutschlands, der 1950 den Beginn der europäischen Integration begründet hat. Ich erinnere an Winston Churchill und seine große Rede 1946 in Zürich. Er hatte zwei Motive, die Franzosen aufzurufen, sich mit den Deutschen zu vertragen. Das eine Motiv war die als bedrohlich empfundene Sowjetunion und das andere Motiv war die weise Voraussicht einer künftigen abermaligen Stärkung Deutschlands in der Mitte des Kontinents. Wer dieses Ursprungsmotiv der europäischen Integration, das immer noch ein tragendes Element ist, wer dies nicht verstanden hat, dem fehlt eine unverzichtbare Voraussetzung für die Lösung der gegenwärtig höchst prekären Krise Europas. Je mehr im Laufe der sechziger, der siebziger und achtziger Jahre die damalige Bundesrepublik ökonomisch, militärisch und politisch an Gewicht zugenommen hat, um so mehr wurde in den Augen der westeuropäischen Staatslenker die europäische Integration zu einer Rückversicherung gegen eine abermals denkbare machtpolitische Verführbarkeit der Deutschen. Der anfängliche Widerstand zum Beispiel Margret Thatchers oder Mitterands oder Andreottis 1989/90 gegen eine Vereinigung der beiden deutschen Nachkriegsstaaten war eindeutig begründet in der Besorgnis vor einem allzu starken Deutschland im Zentrum dieses kleinen europäischen Kontinents. Ich erlaube mir an dieser Stelle einen kleinen persönlichen Exkurs. Ich habe Jean Monnet zugehört, als ich an Monnet’s Komitee „Pour les États-Unis d’Europe“ beteiligt war. Das war 1955. Für mich ist Jean Monnet einer der weitestblickenden Franzosen geblieben, die ich in meinem Leben kennengelernt habe – übrigens auch wegen seines Konzepts des schrittweisen Vorgehens bei der Integration Europas. Ich bin seither aus Einsicht in das strategische Interesse der deutschen Nation, nicht aus Idealismus, ein Anhänger der europäischen Integration, ein Anhänger der Einbindung Deutschlands geworden und geblieben. De Gaulle und Pompidou haben in den sechziger und frühen siebziger Jahren die europäische Integration fortgesetzt, um Deutschland einzubinden – nicht aber wollten sie auch ihren eigenen Staat auf Gedeih und Verderb einbinden. Danach hat das gute Verständnis zwischen Giscard d’Estaing und mir zu einer Periode französisch-deutscher Kooperation und zur Fortsetzung der europäischen Integration geführt, eine Periode, die nach dem Frühjahr 1990 zwischen Mitterand und Kohl erfolgreich fortgesetzt worden ist. Zugleich ist

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seit 1950/52 die europäische Gemeinschaft bis 1991 schrittweise von sechs auf zwölf Mitgliedsstaaten gewachsen. Dank der weitgehenden Vorarbeit durch Jacques Delors, damals Präsident der Europäischen Kommission, haben Mitterand und Kohl 1991 in Maastricht die gemeinsame Euro-Währung ins Leben gerufen, die dann zehn Jahre später im Jahre 2001, greifbar geworden ist. Zugrunde lag abermals die französische Besorgnis vor einem übermächtigen Deutschland – genauer gesagt: vor einer übermächtigen D-Mark und dem damit verbundenen politischen Gewicht. Inzwischen ist der Euro zur zweitwichtigsten Währung der Weltwirtschaft geworden. Diese europäische Währung ist nach innen wie auch im Außenverhältnis bisher stabiler als der amerikanische Dollar – und sie ist in den zehn Jahren ihrer Existenz stabiler als die D-Mark in ihren letzten zehn Jahren gewesen ist. Alles Gerede und Geschreibe über eine angebliche „Krise des Euro“ ist in Wahrheit leichtfertiges Geschwätz von Medien, von Journalisten und von Politikern. Seit Maastricht 1991/92 hat sich aber die Welt gewaltig verändert. Wir haben die Befreiung der Nationen im Osten Europas und die Implosion der Sowjetunion erlebt. Wir erleben den phänomenalen Aufstieg Chinas, Indiens, Brasiliens und anderer so genannter „Schwellenländer“, die man früher pauschal „Dritte Welt“ genannt hat. Gleichzeitig haben sich die tatsächlichen Volkswirtschaften und damit große Teile der Welt „globalisiert“, auf Deutsch: Fast alle Staaten der Welt hängen heute wirtschaftlich von einander ab. Vor allem haben die Akteure auf den globalisierten Finanzmärkten sich eine einstweilen ganz unkontrollierte Macht angeeignet. Man kann auch sagen: Die Politiker haben zugelassen, dass andere sich die Macht angeeignet haben. Von zwei auf sieben Milliarden innerhalb eines Lebens Aber zugleich – und fast unbemerkt – hat sich die Menschheit explosionsartig auf sieben Milliarden Menschen vermehrt. Als ich geboren wurde, waren es gerade mal zwei Milliarden gewesen. Alle diese enormen Veränderungen haben gewaltige Auswirkungen auf die Völker Europas, auf ihre Staaten und auf ihren Wohlstand. Auf der anderen Seite überaltern alle europäischen Nationen – und schrumpfen nach der Zahl ihrer Bürger. Der ganze Rest der Welt ist explodiert, aber die Europäer überaltern und schrumpfen. In der Mitte dieses 21. Jahrhunderts werden vermutlich sogar neun Milliarden Menschen auf der Welt leben, während 10

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dann die europäischen Nationen zusammen nur noch ganze sieben Prozent der Weltbevölkerung ausmachen. Sieben Prozent von neun Milliarden Menschen im Jahr 2050! Bis an das Jahr 1950 waren die Europäer über zwei Jahrhunderte lang über 20 Prozent der Weltbevölkerung gewesen und sie haben die Welt regiert. Aber seit 50 Jahren schrumpfen wir Europäer – nicht nur in absoluten Zahlen sondern vor allem schrumpfen wir in Relation zu Asien, zu Afrika und Lateinamerika. Ebenso schrumpft der Anteil der Europäer am globalen Sozialprodukt oder anders gesagt: Unser Anteil an der Wertschöpfung und der ganzen Menschheit schrumpft und schrumpft und schrumpft. Er wird bis 2050 auf etwa zehn Prozent der Wertschöpfung absinken; 1950 hatte er noch bei 30 Prozent gelegen. Integration oder Marginalisierung Jede einzelne der europäischen Nationen wird 2050, und das ist keine 40 Jahre mehr weg von heute, nur noch einen Bruchteil von ein Prozent der Weltbevölkerung ausmachen. Das heißt: Wenn wir die Hoffnung haben wollen, dass wir Europäer eine Bedeutung für die Welt haben, dann können wir das nur gemeinsam. Denn als einzelne Staaten – ob Frankreich, Italien, Deutschland oder ob Polen, Holland oder Dänemark oder Griechenland – kann man uns am Ende nicht mehr in Prozentzahlen messen, sondern nur noch in Promillezahlen. Daraus ergibt sich das langfristige strategische Interesse der europäischen Nationalstaaten an einem integrierenden Zusammenschluss. Dieses strategische Interesse an der europäischen Integration wird zunehmend an Bedeutung gewinnen. Es ist bisher den Nationen weitestgehend noch nicht bewusst. Es wird ihnen durch ihre Regierungen auch nicht bewusst gemacht. Falls jedoch die Europäische Union im Laufe der kommenden Jahrzehnte nicht zu einer – wenn auch begrenzten – gemeinsamen Handlungsfähigkeit gelangen sollte, so ist eine selbstverursachte Marginalisierung der einzelnen europäischen Staaten und der europäischen Zivilisation insgesamt nicht auszuschließen. Ebenso wenig kann in solchem Falle das Wiederaufleben von Konkurrenz- und Prestigekämpfen zwischen den Staaten Europas ausgeschlossen werden. In solchem Falle könnte die Einbindung Deutschlands kaum noch funktionieren. Das alte Spiel zwischen Zentrum und Peripherie könnte abermals Wirklichkeit werden. Der Prozess der weltweiten Aufklärung, der Ausbreitung der Rechte des einzelnen Menschen und seiner Würde, der rechtsstaatlichen Verfassung und der Demokratisierung würde aus Europa keine wirksamen Impulse mehr erhalten. Unter perspektive21

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diesen Aspekten wird die europäische Gemeinschaft zu einer Lebensnotwendigkeit für die Nationalstaaten unseres alten Kontinents. Diese Notwendigkeit reicht über die Motive Churchills und de Gaulles hinaus. Sie reicht aber auch über die Motive Monnets und über die Motive Adenauers hinaus. Sie überwölbt heute auch die Motive Ernst Reuters, Fritz Erlers, Willy Brandts und ebenso Helmut Kohls. Und ich füge hinzu: Gewiss aber geht es dabei auch immer noch um die Einbindung Deutschlands. Deshalb müssen wir Deutschen uns Klarheit verschaffen über unsere eigene Aufgabe, unsere eigene Rolle im Rahmen der europäischen Integration. Wenn wir am Ende des Jahres 2011 Deutschland von außen betrachten mit den Augen unserer mittelbaren und unmittelbaren Nachbarn, dann löst Deutschland seit einem Jahrzehnt Unbehagen aus – neuerdings auch politische Besorgnis. In den allerletzten Jahren sind erhebliche Zweifel in die Stetigkeit der deutschen Politik aufgetaucht. Das Vertrauen in die Verlässlichkeit der deutschen Politik ist beschädigt. Dabei beruhen diese Zweifel und Besorgnisse auch auf außenpolitischen Fehlern unserer deutschen Politiker und Regierungen. Sie beruhen zum anderen Teil auf der für die Welt überraschenden ökonomischen Stärke der vereinigten Bundesrepublik. Unsere Volkswirtschaft hat sich – beginnend in den siebziger Jahren, damals noch zweigeteilt – zur größten in Europa entwickelt. Sie ist technologisch, sie ist finanzpolitisch und sie ist sozialpolitisch heute eine der leistungsfähigsten Volkswirtschaften auf der ganzen Welt. Unsere wirtschaftliche Stärke und unser seit Jahrzehnten vergleichsweise sehr stabiler sozialer Friede haben auch Neid ausgelöst – zumal unsere Arbeitslosigkeitsrate und auch unsere Verschuldungsrate durchaus im Bereich der internationalen Normalität liegen. Allerdings ist uns selbst nicht ausreichend bewusst, dass unsere Wirtschaft in hohem Maße sowohl in den gemeinsamen europäischen Markt integriert als auch zugleich in hohem Maße globalisiert und damit von der Weltkonjunktur abhängig ist. Wir werden im kommenden Jahr erleben, dass die deutschen Exporte nicht mehr sonderlich wachsen können. Gleichzeitig hat sich aber eine schwerwiegende Fehlentwicklung ergeben, nämlich anhaltende enorme Überschüsse unserer Handelsbilanz und unserer Leistungsbilanz. Die Überschüsse machen seit Jahren etwa fünf Prozent unseres Sozialproduktes aus, sie sind ähnlich groß wie die Überschüsse Chinas. Das ist uns nicht bewusst, weil es sich nicht mehr in DM-Überschüssen niederschlägt, sondern in Euro-Überschüssen. Es ist aber notwendig für unsere Politiker, sich der enormen deutschen Zahlungsbilanzüberschüsse bewusst zu sein.

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Denn alle unsere Überschüsse sind in Wirklichkeit die Defizite der anderen europäischen Staaten. Die Forderungen, die wir an andere haben, sind deren Schulden – oder anders gesagt: Ihre Schulden sind unsere Forderungen. Es handelt sich um eine ärgerliche Verletzung des 1967 zum gesetzlichen Ideal erhobenen „außenwirtschaftlichen Gleichgewichts“. Diese Verletzung musste unsere Partner beunruhigen. Und wenn es neuerdings ausländische, meistens amerikanische oder englische Stimmen gibt – inzwischen kommen sie von vielen Seiten – die von Deutschland eine europäische Führungsrolle verlangen, so weckt all dies zusammen bei unseren Nachbarn zugleich zusätzlichen Argwohn. Und es weckt böse Erinnerungen. Diese ökonomische Entwicklung und die gleichzeitige Krise der Handlungsfähigkeit der Organe der Europäischen Union haben Deutschland abermals in eine zentrale Rolle gedrängt. Gemeinsam mit dem französischen Staatspräsidenten hat die Bundeskanzlerin diese Rolle willig akzeptiert. Aber es gibt in vielen europäischen Hauptstädten und ebenso in den Medien mancher unserer Nachbarstaaten abermals eine wachsende Besorgnis vor deutscher Dominanz. Dieses Mal handelt es sich nicht um eine militärisch und politisch überstarke Zentralmacht, wohl aber um ein ökonomisch überstarkes Zentrum! An dieser Stelle ist eine sorgfältig abgewogene Mahnung an die deutschen Politiker, an die Medien und an unsere öffentliche Meinung insgesamt notwendig. Deutschland hat Grund zur Dankbarkeit Wenn wir Deutschen uns verführen ließen, gestützt auf unsere ökonomische Stärke, eine politische Führungsrolle in Europa zu beanspruchen oder doch wenigstens den Primus inter pares zu spielen, so würde eine zunehmende Mehrheit unserer Nachbarn sich wirksam dagegen wehren. Die Besorgnis der Peripherie vor einem allzu starken Zentrum Europas würde ganz schnell zurückkehren. Die wahrscheinlichen Konsequenzen solcher Entwicklung wären für die EU verkrüppelnd. Und Deutschland würde in Isolierung fallen. Die sehr große und sehr leistungsfähige Bundesrepublik Deutschland braucht – auch zum Schutze vor uns selbst – die Einbettung in die europäische Integration. Weil man das schon vor 20 Jahren erkannt hat, gilt seit Helmut Kohls Zeiten, seit 1992 der Artikel 23 des Grundgesetzes, der uns zur Mitwirkung „... bei der Entwicklung der Europäischen Union“. Der Artikel 23 verpflichtet uns für diese Mitwirkung auch zu dem „Grundsatz der Subsidiarität...“. Die gegenwärtige Krise der Handlungsfähigkeit der Organe der EU ändert nichts an diesen Grundsätzen des deutschen Grundgesetzes. perspektive21

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Unsere geopolitische Zentrallage, dazu unsere unglückliche Rolle im Verlaufe der europäischen Geschichte bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts, dazu unsere heutige Leistungsfähigkeit, all dies zusammen verlangt von jeder deutschen Regierung ein sehr hohes Maß an Einfühlungsvermögen in die Interessen unserer EUPartner. Und unsere deutsche Hilfsbereitschaft ist unerlässlich. Wir Deutschen haben doch unsere große Wiederaufbauleistung der letzten sechs Jahrzehnte auch nicht allein und nur aus eigener Kraft zustande gebracht. Sondern sie wäre nicht möglich gewesen ohne die Hilfen der westlichen Siegermächte, nicht ohne unsere Einbettung in die europäische Gemeinschaft und in das atlantische Bündnis, nicht ohne die Hilfen durch unsere Nachbarn, nicht ohne den politischen Aufbruch im Osten Mitteleuropas und nicht ohne das Ende der kommunistischen Diktatur. Wir Deutschen haben Grund zur Dankbarkeit. Und zugleich haben wir die Pflicht, uns der empfangenen Solidarität würdig zu erweisen durch unsere eigene Solidarität mit unseren Nachbarn! Dagegen wäre ein Streben nach einer eigenen Rolle in der Weltpolitik und das Streben nach weltpolitischem Prestige ziemlich unnütz, wahrscheinlich sogar schädlich. Jedenfalls bleibt die enge Zusammenarbeit mit Frankreich und mit Polen unerlässlich, mit allen unseren entfernten Nachbarn und Partnern in Europa. Keine Kraftmeierei, sondern mitfühlendes Herz Nach meiner Überzeugung liegt es im kardinalen, langfristig-strategischen Interesse Deutschlands, sich nicht zu isolieren und sich nicht isolieren zu lassen. Eine Isolation innerhalb des Westens wäre gefährlich. Eine Isolation innerhalb der Europäischen Union oder des Euro-Raumes wäre hoch gefährlich. Für mich rangiert dieses Interesse Deutschlands eindeutig höher als jedwedes taktische Interesse aller politischen Parteien. Die deutschen Politiker und die deutschen Medien haben die verdammte Pflicht und Schuldigkeit, diese Einsicht nachhaltig in der öffentlichen Meinung zu vertreten. Wenn aber jemand zu verstehen gibt, heute und künftig werde in Europa Deutsch gesprochen; wenn ein deutscher Außenminister meint, fernseh-geeignete Auftritte in Tripolis, in Kairo oder in Kabul seien wichtiger als politische Kontakte mit Athen, Lissabon, mit Madrid, mit Warschau oder Prag, mit Dublin, Den Haag, Kopenhagen, Oslo oder Helsinki; wenn ein anderer meint, eine europäische „Transfer-Union“ verhüten zu müssen – dann ist das alles bloß schädliche deutsche Kraftmeierei. 14

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Tatsächlich ist Deutschland doch über lange Jahrzehnte ein Nettozahler gewesen! Wir konnten das leisten und haben es seit Adenauers Zeiten getan. Und natürlich waren Griechenland, Portugal oder Irland immer Netto-Empfänger. Diese Solidarität mag heute der deutschen politischen Klasse nicht ausreichend bewusst sein. Aber bisher war sie selbstverständlich gewesen. Ebenso selbstverständlich – und außerdem seit Lissabon vertraglich vorgeschrieben – ist das Prinzip der Subsidiarität: Das, was ein Staat nicht selbst regeln oder bewältigen kann, das muss die Europäische Union übernehmen. Alle parteipolitische, alle innenpolitische, alle außenpolitische Taktik hat nie das langfristig-strategische Interesse der Deutschen in Frage gestellt. Deshalb konnten alle unsere Nachbarn und Partner sich jahrzehntelang auf die Stetigkeit der deutschen Europapolitik verlassen. Diese Kontinuität und Stetigkeit bleibt uns auch in Zukunft geboten. Konzeptionelle deutsche Beiträge waren immer selbstverständlich. Das sollte auch künftig so bleiben. Dabei sollten wir allerdings nicht der fernen Zukunft vorgreifen. Vertragsänderungen könnten ohnehin die vor zwanzig Jahren in Maastricht und später in Lissabon geschaffenen Tatsachen, die Unterlassungen und Fehler nur zum Teil korrigieren. Die heutigen Vorschläge zur Änderung des geltenden Lissaboner Vertrages erscheinen mir für die unmittelbare Zukunft als wenig hilfreich, wenn man sich nämlich an die bisherigen Schwierigkeiten mit allseitiger nationaler Ratifikation erinnert oder an die negativ ausgegangenen Volksabstimmungen. Ich stimme deshalb dem italienischen Staatspräsidenten Napolitano zu, wenn er Ende Oktober 2011 in einer bemerkenswerten Rede verlangt hat, dass wir uns heute auf das konzentrieren müssen, was heute notwendig zu tun ist. Und dass wir dazu die Möglichkeiten ausschöpfen müssen, die der heute geltende EUVertrag uns gibt – besonders zur Stärkung der Haushaltsregeln und der ökonomischen Politik im Euro-Währungsraum. Die gegenwärtige Krise der Handlungsfähigkeit der in Lissabon geschaffenen Organe der Europäischen Union darf nicht Jahre andauern! Mit der Ausnahme der Europäischen Zentralbank haben die Organe – das Europäische Parlament, der Europäische Rat, die Brüsseler Kommission und die vielen Ministerräte – sie alle haben seit Überwindung der akuten Bankenkrise 2008 und besonders der anschließenden Staatsverschuldungskrise nur relativ wenig an heute wirksamen Hilfen zustande gebracht. Für die Überwindung der heutigen Führungskrise der EU gibt es kein Patentrezept. Man wird mehrere Schritte benötigen, zum Teil gleichzeitig, zum Teil

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nacheinander. Man wird nicht nur Urteilskraft und Tatkraft benötigen, sondern auch Geduld. Dabei dürfen konzeptionelle deutsche Beiträge sich nicht auf Schlagworte beschränken. Sie sollten nicht auf dem Fernseh-Marktplatz, sondern stattdessen vertraulich im Rahmen der Gremien der Organe der EU vorgetragen werden. Dabei dürfen wir Deutsche weder unsere ökonomische noch unsere soziale Ordnung, weder unser föderatives System noch unsere Haushalts- und Finanzverfassung den europäischen Partnern als Vorbild oder als Maßstab vorstellen, sondern lediglich als Beispiele unter mehreren verschiedenen Möglichkeiten. Für das, was Deutschland heute tut oder unterlässt tragen wir alle gemeinsam die Verantwortung für die zukünftigen Wirkungen in Europa. Wir brauchen dafür europäische Vernunft. Wir brauchen aber Vernunft nicht allein, sondern ebenso ein mitfühlendes Herz gegenüber unseren Nachbarn und Partnern und das gilt ganz besonders für Griechenland. Das Parlament muß sich mehr Gewicht nehmen In einem wichtigen Punkt stimme ich mit Jürgen Habermas überein, der jüngst davon gesprochen hat, dass „...wir tatsächlich jetzt zum ersten Mal in der Geschichte der EU einen Abbau von Demokratie erleben!!“ In der Tat: Nicht nur der Europäische Rat inklusive seiner Präsidenten, ebenso die Europäische Kommission inklusive ihres Präsidenten, dazu die diversen Ministerräte und die ganze Brüsseler Bürokratie haben gemeinsam das demokratische Prinzip beiseite gedrängt! Ich bin damals, als wir die Volkswahl zum Europäischen Parlament einführten, dem Irrtum erlegen, das Parlament würde sich schon selbst Gewicht verschaffen. Tatsächlich hat es bisher auf die Bewältigung der Krise keinen erkennbaren Einfluss genommen, denn seine Beratungen und Entschlüsse bleiben bisher ohne öffentliche Wirkung. Deshalb wird es höchste Zeit, dass die sozialdemokratischen, christdemokratischen, sozialistischen, liberalen und grünen Kollegen sich gemeinsam, aber drastisch zu öffentlichem Gehör bringen. Wahrscheinlich eignet sich das Feld der seit der G20 im Jahre 2008 abermals völlig unzureichend gebliebenen Aufsicht über Banken, Börsen und deren Finanzinstrumente am besten für einen solchen Aufstand des Europäischen Parlaments. Tatsächlich haben einige zigtausend Finanzhändler in USA und in Europa, dazu einige Ratingagenturen, die politisch verantwortlichen Regierungen in Europa zu Geiseln genommen. Es ist kaum zu erwarten, dass Barack Obama viel dagegen ausrichten wird. Das Gleiche gilt für die britische Regierung. Tatsächlich haben 16

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zwar die Regierungen der ganzen Welt im Jahr 2008/2009 mit Garantien und mit dem Geld der Steuerzahler die Banken gerettet. Aber schon seit 2010 spielt diese Herde von hochintelligenten, zugleich psychose-anfälligen Finanzmanagern abermals ihr altes Spiel um Profit und Bonifikation. Ein Hazardspiel zu Lasten aller Nicht-Spieler, das Marion Dönhoff und ich schon in den neunziger Jahren als lebensgefährlich kritisiert haben. Wenn sonst keiner handeln will, dann müssen die Teilnehmer der EuroWährung gemeinsam handeln. Dazu kann der Weg über den Artikel 20 des geltenden EU-Vertrages von Lissabon gehen. Dort ist ausdrücklich vorgesehen, dass einzelne oder mehrere EU-Mitgliedsstaaten „...untereinander eine verstärkte Zusammenarbeit begründen“. Jedenfalls sollten die an der gemeinsamen Euro-Währung beteiligten Staaten gemeinsam für den Euro-Raum durchgreifende Regulierungen ihres gemeinsamen Finanzmarktes ins Werk setzen. Von der Trennung zwischen normalen Geschäftsbanken und andererseits Investment- und Schattenbanken bis zum Verbot von Leerverkäufen von Wertpapieren auf einen zukünftigen Termin, bis zum Verbot des Handels mit Derivaten, sofern sie nicht von der offiziellen Börsenaufsicht zugelassen sind – und bis hin zur wirksamen Einschränkung der den Euro-Raum betreffenden Geschäfte der einstweilen unbeaufsichtigten Ratingagenturen. Ein fast unglaublicher Fortschritt Natürlich würde die globalisierte Bankenlobby abermals alle Hebel dagegen in Bewegung setzen. Sie hat ja schon bisher alle durchgreifenden Regulierungen erfolgreich verhindert. Sie hat für sich selbst ermöglicht, dass die Herde ihrer Händler die europäischen Regierungen in die Zwangslage gebracht haben, immer neue „Rettungsschirme“ erfinden zu müssen – und sie durch „Hebel“ auszuweiten. Es wird hohe Zeit, sich dagegen zu wehren. Wenn die Europäer den Mut und die Kraft zu einer durchgreifenden Finanzmarkt-Regulierung aufbringen, dann können wir auf mittlere Sicht zu einer Zone der Stabilität werden. Wenn wir aber hier versagen, dann wird das Gewicht Europas weiter abnehmen – und die Welt entwickelt sich in Richtung auf ein Duumvirat zwischen Washington und Peking. Für die unmittelbare Zukunft des Euro-Raumes bleiben gewisslich all die bisher angekündigten und angedachten Schritte notwendig. Dazu gehören die Rettungsfonds, die Verschuldungsobergrenzen und deren Kontrolle, eine gemeinsame ökonomische und fiskalische Politik, dazu eine Reihe von jeweils nationalen perspektive21

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steuerpolitischen, ausgabenpolitischen, sozialpolitischen und arbeitsmarktpolitischen Reformen. Aber zwangsläufig wird auch eine gemeinsame Verschuldung unvermeidbar werden. Wir Deutschen dürfen uns dem nicht national-egoistisch versagen. Wir dürfen aber auch keineswegs für ganz Europa eine extreme Deflationspolitik propagieren. Vielmehr hat Jacques Delors recht, wenn er verlangt, mit der Gesundung der Haushalte zugleich wachstumsfördernde Projekte einzuleiten und zu finanzieren. Ohne Wachstum, ohne neue Arbeitsplätze kann kein Staat seinen Haushalt sanieren. Wer da glaubt, Europa könne durch Haushaltseinsparungen oder Steuererhöhungen allein gesund werden, der möge gefälligst die schicksalhafte Wirkung von Heinrich Brünings Deflationspolitik der Jahre 1930/32 studieren. Sie hat eine Depression und ein unerträgliches Ausmaß an Arbeitslosigkeit ausgelöst und sie hat damit den Untergang der ersten deutschen Demokratie eingeleitet. Eigentlich muss man nicht so sehr den Sozialdemokraten Solidarität predigen. Denn die deutsche Sozialdemokratie ist seit anderthalb Jahrhunderten internationalistisch gesonnen gewesen – in viel höherem Maße als Generationen von Liberalen, von Konservativen oder von Deutsch-Nationalen. Wir Sozialdemokraten haben zugleich an der Freiheit und an der Würde jedes einzelnen Menschen festgehalten. Wir haben zugleich festgehalten an der repräsentativen, der parlamentarischen Demokratie. Diese Grundwerte verpflichten uns heute zur europäischen Solidarität. Gewiss wird Europa auch im 21. Jahrhundert aus Nationalstaaten bestehen, jeder mit seiner eigenen Sprache und mit seiner eigenen Geschichte. Deshalb wird aus Europa gewiss kein Bundesstaat werden. Aber die Europäische Union darf auch nicht zu einem bloßen Staatenbund verkommen. Die Europäische Union muss ein dynamisch sich entwickelnder Verbund bleiben. Es gibt dafür in der ganzen Menschheitsgeschichte kein Beispiel. Wir Sozialdemokraten müssen zur schrittweisen Entfaltung dieses Verbundes beitragen. Auch als alter Mann halte ich immer noch fest an den drei Grundwerten des Godesberger Programms der SPD: Freiheit, Gerechtigkeit, Solidarität. Dabei denke ich übrigens, dass heute die Gerechtigkeit vor allem auch Chancengleichheit für Kinder, für Schüler und für junge Leute insgesamt verlangt. Wenn ich zurückschaue auf das Jahr 1945 oder zurückschauen kann auf das Jahr 1933 – damals war ich gerade 14 Jahre alt geworden –, so will mir der Fortschritt, den wir bis heute erreicht haben, als fast unglaublich erscheinen. Der

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helmut schmidt – mit mitfühlendem herz

Fortschritt, den die Europäer seit dem Marshall-Plan 1948, seit dem SchumanPlan 1950, den wir dank Lech Walesa und Solidarnosz, dank Vaclav Havel und der Charta 77, den wir dank jener Deutschen in Leipzig und Ostberlin seit der großen Wende 1989/91 heute erreicht haben. Wenn heute der größte Teil Europas sich der Menschenrechte und des Friedens erfreut, dann hatten wir uns das weder 1918 noch 1933 noch 1945 vorstellen können. Lasst uns deshalb dafür arbeiten und kämpfen, dass die historisch einmalige Europäische Union aus ihrer gegenwärtigen Schwäche standfest und selbstbewusst hervorgeht! I Dies ist die Rede, die Helmut Schmidt auf dem Bundesparteitag der SPD am 4. Dezember 2011 in Berlin gehalten hat.

HELMUT SCHMIDT

war von 1974 bis 1982 Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland. perspektive21

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Konzentration und Innovation BAUSTEINE EINER PROGRESSIVEN WIRTSCHAFTSPOLITIK VON MATTHIAS PLATZECK

Wir leben in sehr ernsten Zeiten. Die Weltwirtschaft wackelt. Ob den USA angesichts ihrer gefährlichen politischen Selbstlähmung eine nachhaltige Erholung gelingt, ist völlig ungewiss. Zugleich steckt unser vereinigtes Europa mitten in einer schweren Krise – der schwersten seit der Gründung der Europäischen Union. Wie diese Krise ausgehen wird – wirtschaftlich, sozial und gesellschaftlich –, das ist am Ende des Jahres 2011 völlig offen. Wir haben es genau genommen mit einem ganzen Krisensyndrom zu tun, das etliche Bestandteile hat: eine Finanzkrise, eine Bankenkrise, eine Wachstumskrise, eine Staatsschuldenkrise, aber auch eine Krise des gegenwärtigen Liberalkapitalismus insgesamt. Damit verbunden ist, vielleicht am schlimmsten von allem, eine moralische Krise, nämlich eine tiefe Krise des Vertrauens der Menschen in die Leistungsfähigkeit der Demokratie, eine Krise des Vertrauens in die Fähigkeit demokratischer Politik, ihren Vorrang gegenüber den Finanzmärkten durchzusetzen.

I.

An einer Weggabelung Dabei scheint die Lage auf den ersten Blick paradox: Wir hier in Deutschland – auch hier im Land Brandenburg – haben in den letzten paar Jahren eine durchaus günstige wirtschaftliche Entwicklung erlebt: mit ordentlichem Wachstum und sinkenden Arbeitslosenzahlen. Auch Polen und einige andere Länder in Nord- und Mittelosteuropa sind gut über die Runden gekommen. Trotzdem: Diejenigen, die bereits gemeint haben, das Schlimmste liege hinter uns, könnten sich schwer getäuscht haben. Ich wünsche mir eine Verschärfung der Lage selbstverständlich nicht, aber wir können diese Möglichkeit keineswegs ausschließen. Auch im Jahr 1931 gab es Optimisten, die meinten, zwei Jahre nach dem „Schwarzen Freitag“ von 1929 gehe es nun endlich wieder aufwärts. Sie behielten perspektive21

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bekanntlich nicht recht, die Krise ging gerade erst so richtig los. Die Vereinigten Staaten beschritten damals mit Franklin D. Roosevelts New Deal eine beispiellose – und erfolgreiche – Politik der staatlichen Intervention, die das Vertrauen in die Demokratie und ihre Institutionen wieder herstellte. Deutschland und weite Teile Europas schlugen einen anderen Weg ein – und versanken in Faschismus und Krieg. Historische Analogien stimmen nie so ganz. Aber immer klarer wird in diesen Tagen doch, dass wir wieder auf eine entscheidende Weggabelung zusteuern, auf eine „existenzielle Bewährungsprobe“, wie die Financial Times Deutschland schrieb. Das betrifft zum einen die Zukunft Europas und seiner gemeinsamen Währung, das betrifft aber zum anderen auch die Zukunft unseres marktwirtschaftlichen Systems. Schon im Mai 2010, in der Bundestagsdebatte um das Rettungspaket für Griechenland, warnte Bundeskanzlerin Merkel: „Europa steht an einem Scheideweg“. Und sie mahnte an, Europa müsse Handlungsfähigkeit beweisen. Das ist nun fast mehr als anderthalb Jahre her. Inzwischen – nach weiteren Rettungspakten und -schirmen sowie zahllosen Krisengipfeln – machen sich deutliche Zweifel aus, ob Europa in der Krise tatsächlich Handlungsfähigkeit beweist. Kleinteilige Lösungen genügen nicht Worin besteht die Entscheidung, vor der wir stehen? Polens Finanzminister Jacek Rostowski sagte vor kurzem: „Wir haben die Wahl zwischen viel tieferer makroökonomischer Integration innerhalb der Euro-Zone – oder ihrem Kollaps. Einen dritten Weg gibt es nicht.“ Ich glaube, das stimmt. Kleinteilige technokratische Lösungen genügen nicht mehr. Der Zerfall der Europäischen Währung und der Europäischen Union wären verheerend für uns alle. Wenn er verhindert werden soll, dann muss jetzt der große Schritt zur Europäischen Wirtschafts- und Finanzunion getan werden. Aber wenn das so ist, dann muss man in der jetzigen Lage energisch in diese Richtung vorangehen. Die Agenda der Krisenbewältigung ist klar: Sie heißt Wirtschaftsregierung, sie heißt Schuldenbremse, sie heißt Transaktionssteuer. Was Europa jetzt in der Krise braucht, sind Mut und das klare Bekenntnis, das europäische Projekt fortzuführen. Das heißt im Übrigen auch, dass neben die Wirtschafts- und Währungsunion mit gleichem Rang auch die europäische Sozialunion treten muss. 22

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An eine Weggabelung gekommen sind wir aber auch noch in einem weiteren, viel umfassenderen Sinne. Dass neuerdings sogar Konservative und langjährige Anhänger des „freien Marktes“ ins Grübeln geraten, ob dieses System zukunftsfähig ist, mag aus sozialdemokratischer Perspektive erfreulich sein. Es ist andererseits aber auch ein absolutes Alarmsignal. Ein Aufsatz des einflussreichen britischen Publizisten Charles Moore hat jüngst hohe Wellen geschlagen. Moore war ein treuer Anhänger Margaret Thatchers und hat sogar ihre Biografie verfasst. Jetzt schreibt er: „Es hat mehr als dreißig Jahre gedauert, bevor ich mir als Journalist selbst diese Frage gestellt habe, aber in dieser Woche muss ich es einfach tun: Hat die Linke nicht am Ende recht? Könnte das immer wieder von der Linken gebrauchte Argument tatsächlich stimmen, der von der Rechten so gefeierte ‚freie Markt‘ sei nur eine Fiktion?“

II.

Gestaltung statt Deregulierung Moores Antwort lautet: Ja, so ist es! „Es hat sich nämlich herausgestellt“, schreibt er, „dass es stimmt, was die Linke immer behauptet hat: Ein System, das vorgibt, vielen Vorteile zu bringen, wurde so pervertiert, dass es nur noch der Bereicherung weniger dient.“ Die Menschen, so Moore weiter, hätten den Glauben an den freien Markt und die westliche Demokratie verloren. „Sie haben sich, Gott sei Dank, noch keinem neuen Glauben zugewandt, wie sie das in den dreißiger Jahren taten, als sie dem Totalitarismus verfielen. Bisher sind sie nur besorgt und misstrauisch geworden. Aber sie stellen sich die einfache Frage: ‚Was bleibt denn da für mich übrig?‘ Und sie erhalten keine gute Antwort.“ Gute Antworten werden jedenfalls nicht von denen kommen, die den Scherbenhaufen des entfesselten Finanzkapitalismus angerichtet haben. Diese Leute sind heute erstens ratlos und desorientiert, und zweitens will von ihnen sowieso niemand mehr irgendwelche Rezepte hören – das zeigen beispielsweise die katastrophalen aktuellen Ergebnisse der marktliberalen FDP hier bei uns in Deutschland. Aber haben wir Sozialdemokraten selbst gute Antworten? Besitzen wir Ideen und Leitlinien für eine bessere und nachhaltigere Wirtschaftspolitik? Formulieren wir bereits eine sozialdemokratische Wirtschaftspolitik, die sich klar unterscheidet vom gescheiterten Wirtschaftsliberalismus, die aber auch nicht zurückfällt in abgestandene linke Dogmen der Vergangenheit?

III.

perspektive21

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Ich will im Folgenden versuchen, stichwortartig zumindest einmal fünf wirtschaftspolitische Leitlinien oder Prinzipien zu benennen, die für uns Progressive und Sozialdemokraten Gültigkeit besitzen sollten: 1. PROGRESSIVE WIRTSCHAFTSPOLITIK IST GESTALTUNGSPOLITIK UND BLICKT VOR-

Der Vorrang der demokratischen Politik gegenüber den Märkten ist unerlässlich, spätestens die Weltfinanzkrise seit 2008 hat das erneut klar gemacht. Wir müssen also demokratische Gestaltungsmacht zurückzugewinnen. Und das ist auch möglich! Ja, die Politik ist zwar langsamer als die Märkte. Aber: Sie sitzt am längeren Hebel – „sie muss ihn bloß benutzen.“ Auf diese Formel hat es unlängst unser Altkanzler Gerhard Schröder gebracht. Wirtschaftspolitik setzt Anreize für Zukunftsinvestitionen der Unternehmen, und sie investiert selbst in Bildung, in Forschung und in Infrastruktur. Zentrale Standortvorteile einer Volkswirtschaft sind heute: Qualifikation und Innovationsfähigkeit, der soziale Zusammenhalt und die Qualität der öffentlichen Daseinsvorsorge. Darum brauchen wir Investitionen vor allem in Bildung, in Forschung und Entwicklung sowie in die öffentliche Infrastruktur. Das geht nicht auf nationaler Ebene. Dafür für brauchen wir ein vereintes und ein handlungsfähiges Europa. Wir alle in unseren jeweiligen Staaten werden nur dann erfolgreich sein, wenn die EU als handlungsfähiger globaler Akteur die Ziele der Marktwirtschaft, der Sozialstaatlichkeit und der Demokratie erfolgreich miteinander verbindet.

AUS.

Im Gegenteil: Wirtschaftlicher Erfolg und sozialer Zusammenhalt sind zwei Seiten ein und derselben Medaille. Die Ausgrenzung ganzer Bevölkerungsgruppen von Arbeit, Bildung und Teilhabe können wir uns ökonomisch nicht leisten, auch nicht nationalistische Borniertheit und fehlende Weltoffenheit. Richard Florida hat recht mit seinen „Drei großen T’s“: Talente, Technologien und Toleranz sind die entscheidenden Zutaten, die Gesellschaften in der Ära der Wissensökonomie zu erfolgreichen Gesellschaften machen.Politik, Wirtschaft, Arbeitnehmerschaft und Verbände müssen – und können – zum gemeinsamen Nutzen an einem Strang ziehen. Bei allen legitimen Interessenunterschieden: Notwendig ist ein Grundkonsens der wesentlichen wirtschaftlichen Akteure über die zentralen wirtschaftspolitischen Aufgaben und Ziele der Gesellschaft. Nur so werden wir unseren Fachkräftebedarf sichern, nur so bekommen wir die Energiewende hin, nur so können wir gesellschaftliche Zustimmung zu notwendigen großen Infrastrukturprojekten zustande bringen.

2. FÜR PROGRESSIVE SIND WIRTSCHAFT UND SOZIALES KEINE GEGENSÄTZE.

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3. PROGRESSIVE WIRTSCHAFTSPOLITIK SETZT AUF SOLIDE UND VERANTWORTLICHE FINANZPOLITIK. Es geht zugleich um Konsolidierung, um Investitionen und um Gestaltung. Dafür brauchen wir eine Fiskalpolitik, die wirtschaftliche Dynamik unterstützt, die Sanierung der öffentlichen Haushalte ermöglicht und auf diese Weise Spielräume für Zukunftsinvestitionen schafft. Die Subventionierung einzelner Interessengruppen und Steuersenkungen auf Pump sind dabei fehl am Platz. Stattdessen achtet progressive Wirtschaftspolitik darauf, dass alle Bürger und Unternehmen gemäß ihrer Leistungsfähigkeit an der Finanzierung des Staates beteiligt sind – und dass sie sich im Gegenzug auf die Leistungsfähigkeit ihres Staates verlassen können. Im Godesberger Programm der SPD hieß es im Jahr 1959: „So viel Markt wie möglich, so viel Staat wie nötig“. Das bleibt eine gute Maxime. Progressive Wirtschaftspolitik bekennt sich zu marktwirtschaftlichen Prinzipen. Sie träumt nicht von politischer Allzuständigkeit und Steuerung. Aber: Märkte brauchen klare Regeln, sonst funktionieren sie nicht. Wenn viele Bürgerinnen und Bürger das Vertrauen in die Zukunftsfähigkeit unserer wirtschaftlichen, sozialen und demokratischen Ordnung verlieren, dann müssen wir reagieren. Sonst wird dieser Vertrauensschwund zur Gefahr für Wirtschaft, Gesellschaft und Demokratie. 4. PROGRESSIVE WIRTSCHAFTSPOLITIK VERLANGT ORDNUNG AUF DEN MÄRKTEN. Diese müssen so gestaltet werden, dass sie ihrer dienenden Funktion für unsere Volkswirtschaften gerecht werden. Bei dieser Aufgabe sind wir bislang (zumeist unter konservativen und liberalen Regierungen) nicht gut vorangekommen – weder international noch in der EU oder in Deutschland. Ganz oben auf die Tagesordnung gehören deshalb die Rolle der Ratingagenturen, die Finanzaufsicht, der Kampf gegen Steuerbetrug und Begünstigung, aber auch die Beteiligung der Finanzwirtschaft an der Krisenbewältigung durch eine Finanztransaktionssteuer. Es geht um die Verbindung bürgerlicher Freiheitsrechte mit sozialen Bürgerrechten. Natürlich brauchen Menschen „Luft zum Atmen“ – ob als Staatsbürger, als Verbraucher, als Arbeitnehmer, als ehrenamtlich Tätige oder als Unternehmer. Aber: Freiheit bedeutet eben nicht nur die Freiheit der Menschen vor dem Staat. Zur Freiheit gehören auch die sozialen Voraussetzungen, die der Staat schaffen muss, damit Menschen selbstbestimmt leben können. Dafür müssen die großen Lebensrisiken verlässlich abgesichert sein, dafür müssen Chancen auf Teilhabe und Zugang bestehen – etwa zu Bildung, Arbeit und Gesundheitsversorgung. Klar ist heute mehr denn je: Der Sozialstaat ist kein ökonomisches Problem. Im Gegenteil, er ist ein entscheidender Bestandteil der Lösung. Gerade in der Wirtperspektive21

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schaftskrise haben wir in Deutschland erlebt, dass die antizyklischen Mechanismen unseres Sozialstaates einen positiven konjunkturellen Effekt hatten. Und wie der amerikanische Wirtschaftsnobelpreisträger Paul Krugman kürzlich anmerkte, kommen diejenigen europäischen Staaten, die über gut ausgebaute Wohlfahrtssysteme verfügen, in der Krise wirtschaftlich deutlich besser über die Runden als die Länder mit nur rudimentären Sozialsystemen: „Schweden mit seinen bekanntlich hohen Sozialleistungen geht es hervorragend; das Land ist eines der wenigen, in denen das Bruttoinlandsprodukt heute höher ausfällt als vor der Krise. Und die sozialstaatlichen Aufwendungen als prozentualer Anteil am Nationaleinkommen lagen vor Krise in allen Ländern, die heute in besonderen Schwierigkeiten sind, niedriger als in Deutschland und erst recht niedriger als in Schweden.“ Es kann kein Zufall sein, dass Schweden als Vorzeigeland des investiven Sozialstaates gilt. Aber: Nicht nur unser deutscher Sozialstaat weist, etwa im Vergleich zu den skandinavischen Ländern, noch immer große Defizite auf. Wir brauchen eine stärker präventive, eine vorsorgende Sozialpolitik. Das ist eine Sozialpolitik, die nicht erst dann eingreift, wenn Kindern aufgrund mangelnder Förderung bereits um vorentscheidende Chancen gebracht worden sind; die nicht erst dann eingreift, wenn Jugendliche die Schule abgebrochen haben; die von Anfang an verhindert, dass Menschen für viele Jahre in die Langzeitarbeitslosigkeit versinken. Progressiver Wirtschaftspolitik geht es um gute Arbeit, um leistungsgerechte Löhne, um fairen Interessenausgleich, um soziale Sicherheit und Mitbestimmung, um die richtige Balance von sozialer Sicherheit und Flexibilität in der Arbeitswelt. Klar ist: Die fortschreitende Prekarisierung richtet verheerende wirtschaftliche, finanziellen und gesellschaftliche Schäden an. Zu einer fairen Ordnung am Arbeitsmarkt gehören Mindestlöhne, Maßnahmen gegen den Missbrauch von Leih- und Zeitarbeit, aber auch die Stärkung der verantwortungsbewussten Tarifpartner in den Gewerkschaften und Unternehmensverbänden. 5. PROGRESSIVE WIRTSCHAFTSPOLITIK BETREIBEN, HEIßT EINEN INTELLIGENTEN POLICY MIX ANPEILEN. Nötig ist eine vernünftige Kombination von Angebotsund Nachfragepolitik. Gerade für uns hier in Deutschland gilt: Wir brauchen internationale Wettbewerbsfähigkeit und einen starken Binnenmarkt – nicht in dogmatischer Verengung das eine oder das andere. Unseren Wohlstand werden wir nur dann erhalten können, wenn wir mit hochwertigen industriellen Produkten, Verfahren und Dienstleistungen auf den Weltmärkten erfolgreich bleiben. Gleichzeitig müssen wir die Inlandsnachfrage stärken und Beschäftigungspotenziale heben.

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Deutschland ist noch immer eine starke Exportnation. Andere Staaten haben in den vergangenen Jahrzehnten vor allem auf Dienstleitungen gesetzt (besonders auf Finanzdienstleistungen). Wir in Deutschland dagegen haben uns gerade nicht von der industriellen Wertschöpfung verabschiedet. Diese Entscheidung war richtig, das zeigt sich heute – und vielleicht liegt hier ja auch eine brauchbare Erkenntnis für andere Staaten. Aber: Gesellschaften in anderen Teilen der Welt haben rasend schnell aufgeholt. Darum wird kluge Strukturpolitik bei uns auch in Zukunft notwendig sein. Es geht um eine sichere und bezahlbare Energieversorgung; um größere Material-, Rohstoffund Energieeffizienz; um die Deckung des Fachkräftebedarfs unserer Wirtschaft; um die Sicherung der Innovationsfähigkeit unserer Ökonomie. Deutschland sollte also seine Stärken im Export nicht aufgeben; in der Mobilitätswirtschaft, in der Medizintechnik und in der Energietechnik besitzt Deutschland große Kompetenzen. Aber ebenso wichtig ist eben: Wir brauchen auch eine starke Binnennachfrage. Entscheidende Faktoren hierfür sind: Mindestlöhne; eine an der Produktivität ausgerichtete Lohnpolitik; eine klügere Steuer- und Abgabenpolitik. Schließlich brauchen wir Maßnahmen dafür, dass vor allem die weibliche Erwerbsbeteiligung steigt. Am deutschen Binnenmarkt gibt es noch große Beschäftigungspotentiale bei den industriebezogenen Dienstleistungen, aber gerade auch bei den auf Menschen bezogenen Diensten, in der Gesundheitswirtschaft, in der Pflege, in Bildung und Erziehung. Diesen Leitlinien versuchen wir in Brandenburg gerecht zu werden, wo immer wir nur können. Klar ist: Ein einzelnes Bundesland, eine einzelner föderaler Teilstaat innerhalb eines Mitgliedslandes der Europäischen Union betreibt keine Makroökonomie, keine Fiskal- oder Zinspolitik. Die großen Grundsatzentscheidungen werden anderswo getroffen. Das heißt aber nicht, dass auf der Ebene der Landespolitik – europäisch gesprochen: auf der Ebene der Regionen – keine wichtigen Stellschrauben existierten. Zwei zentrale strategische Entscheidungen will ich nennen, die unsere Entwicklung hier in Brandenburg in den vergangenen Jahren deutlich begünstigt haben: Zum einen: Wir in Brandenburg setzen auf Konzentration. Wir haben uns 2004 von einer Wirtschaftsförderpolitik nach dem „Prinzip Gießkanne“ verabschiedet und sind umgestiegen auf das Prinzip „Stärken stärken“, also darauf, bestehende räumliche und sektorale Stärken systematisch weiter auszubauen. Die Konzentration der Fördermittel wird begleitet von einem intensiven Dialog zwischen den so genannten regionalen Entwicklungskernen und der Landesregie-

IV.

perspektive21

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rung. Es zeigt sich, dass die regionalen Entwicklungskerne als wirtschaftsstrukturelle Anker im Raum von großer Bedeutung sind für die regionalen und lokalen Arbeitsmärkte. Zum anderen: Wir in Brandenburg arbeiten daran, eine weltweit wettbewerbsfähige wissensbasierte Wirtschaft aufzubauen. Brandenburg setzt systematisch auf Innovation, auf grüne Technologien, auf moderne Energie und Industrie, Wissenschaft und Forschung. Damit schließt sich der Kreis zum Thema Europa. Denn mit unserer Wirtschafts- und Strukturpolitik befinden wir uns – mit voller Absicht – im Einklang mit den strategischen Zielen, die die EU mit ihrer LissabonStrategie verfolgt hat bzw. mit ihrer Strategie 2020 verfolgt. Das sind technokratische Kategorien, ich weiß. In einfachen Worten lässt sich dies sagen: Dass Brandenburg in den vergangenen 20 Jahren weit voran gekommen ist, das verdanken wir nachdrücklich auch der Förderung durch die EU oder genauer: der Art und Weise, wie wir mit strategischer Weitsicht von den EU-Fördermöglichkeiten Gebrauch gemacht haben. Brandenburg verdankt Europa viel So haben die EU-Strukturfonds einen wichtigen Beitrag zum wirtschaftlichen Aufschwung in Brandenburg und den übrigen ostdeutschen Ländern geleistet. Und unsere Bemühungen haben durchaus Anerkennung gefunden: Im Januar 2011 hat die EU-Kommission Brandenburg (gemeinsam mit Wales und Litauen) als „Region of Excellence“ ausgezeichnet. Ebenfalls in diesem Jahr ist Brandenburg vom Ausschuss der Regionen (gemeinsam mit dem spanischen Murcia und dem irischen County Kerry) als „Europäische Unternehmerregion 2011“ ausgewählt worden. Mit dieser Auszeichnung sollen besonders dynamische und ökologisch vorbildliche europäische Regionen prämiert werden. Auf diese Auszeichnungen sind wir durchaus ein bisschen stolz. In diesen Stolz mischt sich allerdings eine Sorge: die Sorge darüber nämlich, dass dieses Europa, dem wir in Brandenburg und Ostdeutschland seit 1990 so viel zu verdanken haben, leichtsinnig und unbedacht aufs Spiel gesetzt werden könnte. Wer das Zeitgeschehen auch nur mit einem kleinen bisschen Aufmerksamkeit verfolgt, dem ist klar: Ohne dieses oft gedankenlos abgetane „Brüssel“, ohne diese Europäische Union wären wir in unserem Land in den vergangenen zwei Jahrzehnten nie und nimmer so weit gekommen, wie wir gekommen sind. Natürlich ist die Europäische Union alles andere perfekt, natürlich steckt sie heute in einer schweren Krise. Und natürlich müssen wir sie – im Einklang mit 28

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den skizzierten progressiven Prinzipien – in Zukunft besser machen. Aber wer heute seine Hoffnung auf den Fortschritt setzt, der muss zunächst dafür kämpfen, dass wir das in Europa ganz konkret Erreichte und Aufgebaute nicht wieder einbüßen. Wie viel wir verlieren könnten, das würden viele erst begreifen, wenn es bereits zu spät wäre. Und genau deshalb dürfen wir es so weit nicht kommen lassen. I

MATTHIAS PLATZECK

ist Ministerpräsident des Landes Brandenburg und Landesvorsitzender der SPD. perspektive21

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„Das Einfache, das schwer zu machen ist …“ ÜBER DIE ZUKUNFTSFÄHIGKEIT DER VERWALTUNGSSTRUKTUREN IN BRANDENBURG VON DIETMAR WOIDKE

eit einigen Jahren rückt die Frage der Zukunftsfähigkeit der Verwaltungsstrukturen in Brandenburg verstärkt in den Mittelpunkt der politischen und gesellschaftlichen Debatte. Betroffen sind dabei die Strukturen von Land und Kommunen gleichermaßen. Diesen Gesamtzusammenhang will ich ausdrücklich betonen. Es ist nicht so, dass allein auf kommunaler Ebene Reformbedarf besteht. Dieser Eindruck wäre nicht nur sachlich unzutreffend, er wäre auch für die Akzeptanz aller potenziellen Reformvorschläge schädlich. Auch das Land selbst hat noch genug zu tun, um sich in seinen staatlichen Strukturen wirklich zukunftsfähig aufzustellen. Auf diesen Umstand weisen die kommunalen Spitzenverbände in Brandenburg immer wieder hin. Und mit diesem Hinweis haben sie auch Recht. Auf dem Prüfstand stehen also die Verwaltungsstrukturen von Land und Kommunen insgesamt. Nun könnte man den Eindruck gewinnen, es verhalte sich mit der Verwaltungsreformdebatte in Bran-

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denburg ähnlich wie mit dem Ungeheuer von Loch Ness: Sie taucht in periodischen Abständen auf, sorgt für Diskussionen und Schlagzeilen, um danach für eine ganze Weile wieder von der Bildfläche zu verschwinden. Bis zum nächsten Mal. Doch dieser Eindruck täuscht. Auch wenn die tatsächlichen Fortschritte bei der Reform der Verwaltungsstrukturen von Land und Kommunen in Brandenburg bislang hinter den Notwendigkeiten zurückbleiben, ist in den letzten Jahren zumindest die Erkenntnis gewachsen, dass die bloße Fortschreibung des Bestehenden schon auf mittlere Sicht keine Zukunft mehr ergibt. Auf der Suche Diese zunehmende Erkenntnis betrifft breite Kreise der Verantwortlichen auf kommunaler und Landesebene, in allen politischen Parteien und von Regierung und Opposition gleichermaßen. Ich halte dies mit Blick auf die vor uns liegende Debatte für den entperspektive21

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scheidenden Befund. Es kommt deshalb darauf an, diesen grundsätzlich durchaus vorhandenen Konsens hinsichtlich der Reformbedürftigkeit der Verwaltungsstrukturen in Brandenburg in den nächsten Jahren in kluger und umsichtiger Weise politisch zu aktivieren. Die aktuell sehr unterschiedlichen Überlegungen – und mehr sind es nicht – in Parteien, Verbänden und Organisationen sind demgegenüber nachrangig. Tatsächlich befinden sich alle Beteiligten derzeit noch in einer Phase der Exploration und Reflexion. Diesem Stand der Debatte entspricht, dass sich der Landtag für die Einrichtung einer Enquete-Kommission zum Thema „Kommunal- und Landesverwaltung – Brandenburg 2020“ entschieden hat. Dies ist das geeignete Instrument, um in einem breit angelegten Prozess die Problemfelder zu beschreiben und mögliche Lösungswege aufzuzeigen. Gebietsreform reicht nicht Die letzte wesentliche regionale Veränderung in den brandenburgischen Verwaltungsstrukturen erfolgte 2003 mit dem Abschluss der damaligen landesweiten Gemeindegebietsreform. Der damaligen Koalition aus SPD und CDU war durchaus bewusst, dass dem bestehenden Handlungsbedarf mit einer kommunalen Gebietsreform allein nicht ausreichend Rechnung 32

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getragen werden konnte. Deshalb sollte der Gemeindegebietsreform eine Funktionalreform folgen. Im Hintergrund stand die auch heute noch zutreffende Erkenntnis, dass Verwaltungs-, Gebiets-, Aufgaben- und Funktionalreform untrennbar zusammengehören und nur ein umfassender Zugriff auf die Problemlagen durch ein entsprechendes „Gesamtpaket“ zu wirklich nachhaltigen Lösungen im Interesse von Land und Kommunen führen könnte. Heißes Eisen blieb liegen Deshalb vereinbarten die damaligen Koalitionspartner SPD und CDU für die Wahlperiode ab 2004 die Erarbeitung eines umfassenden Katalogs von Aufgaben, die vom Land auf die Kreise bzw. von diesen auf die Gemeinden übertragen werden könnten. Dieser Katalog sollte bis zum Ende der Wahlperiode 2009 vorgelegt werden und wurde verstanden als unabdingbare „Voraussetzung für eine mögliche umfassende Verwaltungsstrukturreform in der folgenden Legislaturperiode“. So jedenfalls sah es der Koalitionsvertrag vor. Bekanntlich kam es anders. Die Vorlage eines solchen Aufgabenkatalogs unterblieb. Der Reformeifer des damaligen Innenministers ließ gegen Ende der Wahlperiode spürbar nach; das „heiße Eisen“ Funktionalreform wurde nicht mehr angefasst. Die Voraussetzungen für die ursprünglich


dietmar woidke – „das einfache, das schwer zu machen ist …“

geplante umfassende Verwaltungsstrukturreform in der aktuellen Wahlperiode 2009 bis 2014 konnten somit nicht mehr zeitgerecht geschaffen werden. Ohnehin wurden nach den Landtagswahlen im Jahr 2009 die politischen Karten in Brandenburg neu gemischt. Brandenburg erhielt zwar mit der rot-roten Koalition aus SPD und Linke eine für das Land völlig neue Regierungskonstellation; diese musste sich jedoch selbstverständlich auch den alten Problemen und bekannten Herausforderungen stellen. Die entsprechenden Festlegungen des rotroten Koalitionsvertrages sind bei Lichte betrachtet eher sparsam und übersichtlich. Der Vertrag erhält zwar durchaus eine Reihe konkreter und sinnvoller Aufgabenstellungen zur Reform von Verwaltungsstrukturen in Brandenburg; von einer „umfassenden Verwaltungsstrukturreform“ noch in der aktuellen Wahlperiode ist jedoch keine Rede mehr. Das ist auch nicht zu kritisieren. Denn es dürfte einer durchaus realistischen Einschätzung des gegenwärtigen Diskussionsstands und darüber hinaus der politischen Durchsetzbarkeit eines derart weitreichenden Projekts bis 2014 entsprechen. Eine flächendeckende Kreisgebietsreform wird ausdrücklich als „nicht notwendig“ bezeichnet. Die Handschrift des Koalitionsvertrags ist eindeutig vom Machbaren geprägt. Gleichwohl enthält der Vertrag unterhalb des Zielhorizonts einer „gro-

ßen Lösung“ wichtige Ansätze für notwendige Maßnahmen kürzerer und mittlerer Reichweite, die bereits in der laufenden Wahlperiode in Angriff genommen werden sollen. Die strategische Absicht besteht dabei darin, den notwendigen Reformprozess überhaupt in Gang zu bringen, konkrete Fortschritte zu realisieren und Beispiele zu schaffen, die Vorbildwirkung entfalten und so mögliche Nachahmer motivieren können. Es kommt also schon aktuell auf tatsächliche politische Fortschritte an, um dem Handlungsbedarf Rechnung zu tragen. Debatte und Dialog allein sind nicht genug, wenn diese ansonsten auf längere Frist in der Praxis folgenlos blieben. Papier ist bekanntlich geduldig. Aber dies würde hinter den Notwendigkeiten zurückbleiben. Nicht alles selbst machen Zu diesen als richtig erkannten Maßnahmen gehört zunächst die Verstärkung der interkommunalen Zusammenarbeit. Nicht jede Gemeinde und nicht jeder Kreis muss alle Aufgaben auch selbst erledigen. Weder ist dies notwendig, noch ist es in zunehmendem Maße angesichts der bekannten personellen und finanziellen Restriktionen leistbar. Sinnvolle Kooperationen sind möglich und in diesem Bereich bestehen noch ganz erhebliche unerschlossene Reserven für eine effiziente und durchaus bürgerfreundliche perspektive21

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Organisation der Aufgabenwahrnehmung von Kreisen und Gemeinden. Freiwillige Fusionen fördern Freiwillige Zusammenschlüsse sollen unterstützt werden. Der Koalitionsvertrag nimmt hier zwar ausdrücklich die Ebene der Kreise und kreisfreien Städte in den Blick. Die Koalition hat sich jedoch verständigt, dass dies ebenso für die freiwilligen Zusammenschlüsse von Gemeinden gelten soll, wenn dabei eine Verwaltung zukünftig wegfällt. Hier bestehen derzeit mehrere erfolgversprechende Ansätze auf kommunaler Ebene, die das Land durch einen entsprechenden finanziellen Anreiz unterstützen will. Das ist ein Zeichen dafür, dass die Probleme von weitsichtigen Bürgermeistern und Kommunalpolitikern vor Ort durchaus erkannt werden. Allerdings sollte die Reichweite solcher Bestrebungen angesichts des flächendeckend vorhandenen Problemdrucks auch nicht überschätzt werden. Zu überzogenem Optimismus besteht keine Veranlassung. Aber jeder Schritt in die richtige Richtung ist ein Erfolg. Erfolgreich abgeschlossene freiwillige Fusionsvorhaben auf Ebene der Kreise oder kreisfreien Städte werden wir dagegen nach realistischer Einschätzung bis zum Ende dieser Wahlperiode wohl kaum erleben. Die heutigen Landkreise und kreisfreien Städte gehen zurück auf die 34

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Kreisgebietsreform im Jahr 1993. Damals würde die Zahl der Kreise von zuvor 38 auf 14 verringert, von sechs kreisfreien Städten behielten nur vier diesen Status. Zwar gehört auch die nachhaltige Zukunftsfähigkeit dieser Strukturen angesichts der Bevölkerungsentwicklung und der zunehmenden Disparitäten zwischen Zentrum und Peripherie im Flächenland Brandenburg auf den Prüfstand. Manche Landkreise haben mittlerweile seit 1990 ein Viertel ihrer Einwohnerzahlen verloren. Dies wird auf Dauer nicht ohne Konsequenzen bleiben können, zumal sich der Einwohnerrückgang in weiten Bereichen des Landes weiter fortsetzen wird. Mutige Kreisgebietsreform Andererseits ist anzuerkennen, dass sich der Gesetzgeber mit der Kreisgebietsreform 1993 durchaus für eine zukunftsorientierte und beherzte Lösung entschieden hatte. Es war eine mutige und weitblickende Reform. Immerhin bestehen die brandenburgischen Kreise trotz der beschriebenen Problemlagen heute seit fast zwanzig Jahren und haben sich in vielerlei Hinsicht als leistungsfähig und erfolgreich erwiesen. Dass die absehbar schwierigeren demografischen und finanzpolitischen Rahmenbedingungen dies in Zukunft jedenfalls teilweise ernsthaft in Frage stellen werden,


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ändert an diesem Befund zunächst einmal nichts. Weniger Glück hatte das Land demgegenüber mit der Gestaltung seiner Gebietsstrukturen auf gemeindlicher Ebene. Hier bestehen heute noch ungleich stärkere Disparitäten als dies auf Kreisebene der Fall ist. Und dies kann nicht mehr lange gut gehen. Zu kurz gesprungen Vor diesem Hintergrund kommt der ebenfalls im Koalitionsvertrag verabredeten Evaluierung der 2003 durchgeführten Gemeindegebietsreform eine besondere Bedeutung zu. Diese gründliche Evaluierung ist mittlerweile erfolgt und in einem entsprechenden Bericht des Innenministeriums nachlesbar. Entscheidend ging es bei dieser Untersuchung nicht darum, rückblickend festzustellen, ob die Reform die damals vorgefundenen Kommunalstrukturen verbessert hat – das ist sicherlich der Fall –, sondern ob die Ergebnisse der damaligen Gemeindegebietsreform auch auf mittlere und lange Sicht noch tragfähig sind. Der Befund der Evaluierung fällt eindeutig aus und wird von Politik und Experten jedenfalls im Grundsatz weitest gehend geteilt: Das Land ist mit der Gemeindegebietsreform 2003 zu kurz gesprungen. Die heute vorhandenen Kommunalstrukturen in Brandenburg sind perspektivisch nicht zukunftsfähig.

Im Rahmen der damaligen Reform wurde die Zahl der Gemeinden im Land von zuvor 1.479 auf 416 reduziert. Davon waren 144 amtsfreie Gemeinden und 272 amtsangehörige Gemeinden in 54 Ämtern. Die Anzahl der Gemeinden im Land Brandenburg sank somit um mehr als zwei Drittel. Seitdem hat es nur in Einzelfällen noch Veränderungen in den Gemeindestrukturen gegeben. Bei oberflächlicher Betrachtung erscheint die damals vorgenommene erhebliche Reduzierung der Gemeindezahl als beachtliches und weitreichendes Reformwerk. Aber dieser Eindruck täuscht und die mit der Reform verbundenen Hoffnungen haben sich schon heute als überzogen oder gar unzutreffend erwiesen. Dies konnte im Rahmen der Evaluierung eindrücklich nachgewiesen werden. Selbstständig nur auf dem Papier Schon heute ist die Einwohnerzahl zahlreicher Gemeinden und Ämter bereits wieder unter das Niveau der damaligen Richtgrößen von 5.000 Einwohnern für amtsfreie Gemeinden sowie 500 für amtsangehörige Gemeinden gesunken. Dabei ist die Reform nicht einmal ein Jahrzehnt in Kraft. Aktuell betroffen sind 27 amtsfreie Gemeinden, zehn davon verfügen heute sogar schon über weniger als 4.000 Einwohner. 15 amtsangehörige Gemeinden haben bereits die Grenze perspektive21

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von 500 Einwohnern unterschritten. Noch deutlicher wird der Handlungsbedarf, wenn man die Bevölkerungsprognosen für das Land Brandenburg bis zum Jahr 2030 berücksichtigt. Danach werden dann 28 Ämter und 35 amtsfreie Gemeinden unter 5.000 Einwohner aufweisen. Neun amtsfreie Gemeinden werden voraussichtlich sogar unter die Grenze von 2.000 Einwohnern sinken. Welche Lösungsvarianten man auch immer diskutieren mag, es liegt auf der Hand, dass bei derartig niedrigen Einwohnerwerten eine kraftvolle kommunale Selbstverwaltung nicht mehr vernünftig und effizient zu organisieren sein wird. Das ist einfach unmöglich. Die stolz verteidigte Selbstständigkeit von so kleinen Gebietskörperschaften stünde tatsächlich nur noch auf dem Papier, ohne dass sie in der Praxis der kommunalen Selbstverwaltung noch wirksam mit Leben erfüllt werden könnte. Gegensätzliche Trends Die gesellschaftlichen Entwicklungstrends, die diesen Reformbedarf bestimmen und in Zukunft noch wesentlich verstärken werden, sind oft beschrieben und diskutiert worden. Einige kurze Bemerkungen sollen daher genügen. Heute leben in Brandenburg knapp 2,5 Millionen Einwohner, im Jahr 2030 werden es voraussichtlich nur noch gut 2,2 Mil36

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lionen sein. Aber diese allgemeine Einwohnerentwicklung ist gar nicht das entscheidende Problem, weil sich dahinter sehr gegensätzliche regionale Trends verbergen. Das eigentliche und sehr viel schwierigere Problem sind die extremen regionalen Disparitäten in der Entwicklung von Berliner Umland und Peripherie, die es in dieser Schärfe in keinem anderen deutschen Bundesland gibt. Hoffnung contra Realität Insbesondere die peripheren Landesteile werden – teils deutlich – weiter an Einwohnerzahl verlieren, während die an Berlin und Potsdam angrenzenden Regionen sich entweder stabilisieren oder weiter wachsen werden. Im Übrigen vollzieht sich die Entwicklung auch im Berliner Umland bei näherer Betrachtung keinesfalls einheitlich. Auch der „Speckgürtel“ hat Löcher, die nicht übersehen werden sollten. Der ebenfalls beachtenswerte Umstand, dass die Bevölkerung in Brandenburg in den nächsten Jahren im Durchschnitt wesentlich altern und die Zahl der Erwerbsfähigen in den Kommunen um rund ein Drittel bis 2030 abnehmen wird, soll hier nur kurz erwähnt werden. Schon vor diesem Hintergrund völlig gegenläufiger Entwicklungstrends wird es eine enorme Herausforderung sein, auch auf lange Sicht überall im Land eine gute, wirtschaftliche und zugleich


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bürgerfreundliche Erledigung der öffentlichen Aufgaben sicherzustellen, auf die die Bürgerinnen und Bürger selbstverständlich ein Recht haben. Das ist die Kernfrage, vor der wir stehen. Hinzu kommt die absehbare finanzpolitische Entwicklung. Das Volumen des Landeshaushalts wird sinken, der Solidarpakt II läuft im Jahr 2019 aus und auch die sonstigen Zuweisungen von Bund und EU werden deutlich geringer ausfallen als bisher. Wir wären falsch beraten, hier auf das „Prinzip Hoffnung“ zu setzen. Stattdessen ist es erforderlich, sich auf diese – ja heute schon spürbare – Veränderung der Rahmenbedingungen rechtzeitig einzustellen. Die durchaus verständlichen Forderungen nach „mehr Geld“, „angemessener Finanzausstattung“ und „kommunalem Schuldenschnitt“ können diese reformpolitische Notwendigkeit weder dementieren noch ersetzen. Gegen die Realitäten kann man nicht protestieren. Gesamtkonzept erforderlich Für eine erfolgreiche und auf Ergebnisse orientierte Gestaltung der Debatte um die Zukunft der Verwaltungsstrukturen im Land Brandenburg möchte ich vor diesem Hintergrund folgende Gesichtspunkte besonders hervorheben: Erstens: Es ist unabdingbar, die Reformbedarfe von Land, Kreisen und Gemeinden im Zusammenhang zu dis-

kutieren. Denn dieser Zusammenhang besteht funktional in vielfältiger Weise. Eine Debatte über Gebietsgrenzen oder Gemeindegrößen allein greift zu kurz. Die Änderung etwa von Gemeindegrenzen führt an sich noch lange nicht zu einer leistungsfähigen Verwaltungsstruktur. Dazu gehört mehr. Sinnvolle Größen und Zuschnitte von Verwaltungen lassen sich nie im luftleeren Raum ermitteln, sondern hängen immer wesentlich ab von den jeweils zu erledigenden Aufgaben. Sorgfältig geprüft werden muss also zuvor die Zuordnung der öffentlichen Aufgaben auf die jeweiligen Verwaltungsträger. Die Koalition hat entsprechende Überlegungen zur Verlagerungen von Aufgaben vom Land auf die kommunale Ebene im Rahmen einer Funktionalreform vorgestellt, die in die Arbeit der EnqueteKommission des Landtages einbezogen werden sollen (so genannte „Liste 1“ der Modernisierungsvorhaben des Landes Brandenburg). Grundsätzlich erforderlich ist ein umfassender Zugriff auf das Problem der zukünftigen Verwaltungsstruktur von Land und Kommunen im Rahmen eines „Gesamtpakets“. Nur ein solcher Ansatz bietet die Gewähr dafür, dass das Land nicht erneut – wie bei der Gemeindegebietsreform 2003 – zu kurz springt. Zweitens: Schon immer gehörten Maßnahmen zur Verwaltungsmodernisierung oder im Zusammenhang mit einer Reform vorhandener kommunaler Strukturen zu den schwierigsten perspektive21

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und politisch umstrittensten Vorhaben auf der Ebene eines Bundeslandes. Die Beispiele dafür aus Brandenburg und aus anderen Bundesländern sind zahlreich und eindrucksvoll – ich nenne aus jüngster Zeit nur die Kreisgebietsreform in unserem Nachbarland Mecklenburg-Vorpommern. Nicht nur deshalb ist es ratsam, den Dialog und – wo immer möglich – auch den Konsens zwischen Regierung und Opposition, den verschiedenen Parteien, den Vertretern der Landkreise und Gemeinden und den weiteren Beteiligten zu suchen. Dies erfordert einen sachlichen Umgang miteinander; die Bereitschaft zum Dialog und zum Kompromiss. Es erfordert eine Politik der ausgestreckten Hand. Das ist auch deshalb richtig, weil die kommunale Verantwortung in Brandenburg bekanntlich auf vielen Schultern ruht und somit alle gleichermaßen betroffen sind. Konsens und Dialog suchen Nun ist bei diesem heißen Eisen ohnehin niemand besonders auf Alleingänge erpicht. Das darf aber andererseits nicht dazu führen, dass das Notwendige nicht getan wird. Der Weg von Dialog und Konsens kann nicht den berüchtigten kleinsten gemeinsamen Nenner zum Ziel haben. Damit würde niemand seiner politischen Verantwortung gerecht. 38

dezember 2011 – heft 51

Mit der Enquete-Kommission des Landtages bestehen gute Chancen, einen solchen konstruktiven Weg zu beschreiten. Hinzuweisen ist auch auf die in verschiedenen Parteien gestarteten breit angelegten Debatten zur Zukunft des Landes (zum Beispiel SPD: „Brandenburg 2030“, Die Linke: „Brandenburg 2020“, CDU: „Kommission zu Kommunalstrukturen“). Es kommt perspektivisch darauf an, diese verschiedenen Diskussionsstränge sinnvoll miteinander zu verbinden, um schließlich eine möglichst hohe politische und gesellschaftliche Akzeptanz zu erreichen. Denn diese wird für jedes ambitionierte Reformvorhaben unverzichtbar sein. Alle Optionen prüfen Drittens: Abzuraten ist von einer vorzeitigen Verengung der Debatte über die Lösungsvarianten für die beschriebenen Herausforderungen. Es stimmt schon, dass die Medien lieber schlagzeilenträchtig über neue Landkarten berichten, als über die weniger aufregenden Feinheiten einer verbesserten kommunalen Kooperation. Aber das kann nicht unser Maßstab sein. Grundsätzlich steht zur Lösung der Probleme unserer Verwaltungsstrukturen ein sehr breites Instrumentarium an Optionen zur Verfügung. Es reicht von der Optimierung des Status Quo über mehr interkommunale Koopera-


dietmar woidke – „das einfache, das schwer zu machen ist …“

tion bis hin zu punktuellen und selektiven Maßnahmen und schließlich einem Gesamtansatz, der auch umfassende Gebietsneugliederungen in der Zukunft nicht ausschließt. Alle diese Optionen sind auf ihre Wirksamkeit hin zu prüfen. Nichts sollte vorzeitig ausgeschlossen werden. Dies ist nicht nur aus politischen, sondern vor allem auch aus sachlichen und rechtlichen Gründen ratsam. Effizienz- und Rationalisierungsaspekte müssen abgewogen werden gegen die Wahrung von Bürgernähe, Identität und demokratischer Teilhabe. Auch das ist keine Kür, sondern Pflicht. Das Landesverfassungsgericht Mecklenburg-Vorpommern hat hierzu sehr beachtenswerte Ausführungen gemacht. Brandenburg ist gut beraten, diese Hinweise zu berücksichtigen. Reformen sind machbar Das Beispiel anderer Länder zeigt uns auch, dass weitreichende Reformen durchaus möglich sind. Man darf keine Angst vor der eigenen Courage haben. Der entsprechende Handlungsbedarf in Brandenburg kann vor dem Hintergrund des hier Dargestellten mit guten Gründen nicht ernsthaft bestritten werden. Auch die Entwicklungstrends der modernen Gesellschaft stellen uns keineswegs nur vor Herausforderungen, sondern zeigen auch Möglichkeiten zu ihrer erfolgreichen Bewältigung auf.

Die Möglichkeiten des E-Governments nehmen kontinuierlich zu. Praktische Lösungen sind in vielen Kommunen bereits am Start, ein gutes Beispiel ist das Projekt „Märker“. In Zeiten, als es noch kein Internet gab, war Bürgernähe der Verwaltung durchaus auch wörtlich als Nähe zum nächsten Amt oder der nächsten Behörde zu verstehen. Das ist heute völlig anders. Wer etwas online erledigen kann, wird es keinesfalls als „Abbau von Bürgernähe“ wahrnehmen, wenn er dafür nicht mehr auf ein Amt gehen muss. Der Erfolg der elektronischen Steuererklärung ELSTER spricht hier eine klare Sprache. Auch die Idee eines „rollenden Büros“ der Kommunalverwaltungen steht in einem solchen Zusammenhang. Es ist heute selbstverständlich möglich, mit weniger „Struktur“ dasselbe – oder sogar ein höheres – Maß an Bürgernähe zu gewährleisten. Vor allem für den ländlichen Raum ist das eine Chance. Über 2014 hinaus Eine durchgreifende Reform der Verwaltungsstrukturen von Land und Kommunen ist notwendig. In dieser Wahlperiode kommt es zunächst einerseits darauf an, den begonnenen Prozess voranzutreiben und Beispiele zu schaffen, die positiv ausstrahlen. Da sehe ich Brandenburg auf einem guten Weg. Andererseits muss die breite Reformperspektive21

39


thema – die zukunft der kommunen

debatte in Regierung und Koalition, Landtag und Parteien, Verbänden und bei Verantwortlichen vor Ort genutzt werden, um die Grundlagen für darüber

hinausgehende Entscheidungen ab 2014 zu schaffen. Denn auch diese weitergehenden Entscheidungen werden nötig sein. Daran habe ich keinen Zweifel. I

DR. DIETMAR WOIDKE

ist Innenminister des Landes Brandenburg. 40

dezember 2011 – heft 51


Mutig reformieren DREI THESEN ZUR ZUKUNFT DER LOKALEN DEMOKRATIE IN BRANDENBURG VON CHRISTIAN MAAß

Brandenburgs Kommunen brauchen eine starke Sozialdemokratie – für eine lebendige und leistungsfähige Demokratie. Die Lobbyisten sind überall. Auch auf dem SPD-Bundesparteitag trieben sie ihr Unwesen. Rechtzeitig zum Nikolaus verteilten zum Beispiel die privaten Krankenkassen Schokoladenosterhasen an die Delegierten und Parteitagsbesucher. Die simple Botschaft am Hasen lautete: „Heute schon an morgen denken.“ Dabei sehen sich die privaten Krankenversicherer entgegen der Beschlusslage der SPD zum Thema Bürgerversicherung mit ihren Angeboten auf der Seite derer, die für das Morgen stehen. Es ist zu hoffen, dass sie für ihren Stand eine entsprechende Miete entrichtet und so einen spürbaren Beitrag zur Finanzierung des Parteitages geleistet haben. Die AOK überließ indessen den Privaten nicht allein das Feld. Auch sie war vertreten. Zu den weiteren in Berlin aktiven Lobbyisten gehört der Verein „Mehr Demokratie“. Auf den ersten Blick erscheint es nicht ersichtlich, warum gerade die SPD als älteste demokratische Partei Deutschlands ausgesproche-

I.

ne Parteiengegner zum Parteitag einlud. In diesem Punkt ist Richard von Weizsäcker uneingeschränkt zu folgen, wenn er formuliert: „Parteienkritik hat eine alte, oft eine böse Tradition. Wir kennen dies schon aus der Kaiserzeit. Später war Parteienkritik oft nur Ausdruck einer Abneigung gegen die Demokratie.“ (Die Zeit, 10/2003) Wie immer sich auch die Demokratie in der Bundesrepublik insgesamt und im Speziellen in Brandenburg entwickeln wird, sie braucht eine starke und selbstbewusste Sozialdemokratie. Sie braucht eine SPD, die sich für das Wohl der Bürgerinnen und Bürger in unseren Städten, Gemeinden und Landkreisen einsetzt. Eine integrierende Kraft Dabei muss sich die SPD insbesondere mit den Akteuren auseinandersetzen, die sich – das Gemeinwohl aus den Augen verlierend – auf die Umsetzung eines einzelnen Instrumentes (wie „Mehr Demokratie“ mit der direkten Demokratie), die Nutzung einer einzelnen Kommunikationsform (wie die Piraten mit der elektronischen Demoperspektive21

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thema – die zukunft der kommunen

kratie) oder die Erreichung eines einzelnen politischen Ziels (Grüne mit der Ausschaltung der Energiewirtschaft in der Lausitz) beschränken. Die SPD wird als integrierende Kraft benötigt, die zugleich die in Teilen durchaus wichtigen und richtigen partikularen Ansätze aufgreift und sich dennoch immer für das Funktionieren der Gesamtgesellschaft einsetzt. Insofern ist es Aufgabe der SPD, möglichst viele Bürger sowohl mittels repräsentativer als auch direkter Demokratie und die heranwachsende technikaffine Generation in den Prozess der kommunalen Demokratie zu integrieren sowie einen Kompromiss zwischen den energiepolitischen Herausforderungen eines Industrielandes mit hohem Lebensstandard und der Bewältigung des Klimawandels zu finden. Die SPD darf sich diesen Trends und Diskussionen zudem aus einem einfachen Grund nicht entziehen. Nur wenn sie die entsprechende Beweglichkeit behält oder wieder herstellt, auf neue Entwicklungen positiv zu reagieren und deren Akteure möglichst einzubinden, bleibt oder wird sie für junge, aktive und innovative Menschen interessant und kann ihnen eine politische Heimat bieten. Sie braucht diese Menschen, um neue Politikangebote zu entwickeln und für die Gesellschaft attraktiv zu bleiben. Dies geschieht dabei nicht aus purem Selbsterhaltungswillen der Partei, sondern liegt in ihrer historischen Ver42

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antwortung für die Menschen begründet. Mit ihren Werten „Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität“ und ihrer konkreten und praktischen Erfahrung sowie ihrem großen kommunalpolitischen Know-how steht die SPD wie keine zweite Partei in der Pflicht, funktionierende Kommunen für alle Bürger zu organisieren. Dazu gehören nicht zuletzt auch sozial schwache Familien, deren Integration eine der größten Herausforderungen für unsere Gesellschaft darstellt. Soziale Probleme drängen In der Dezember-Ausgabe der Zeitschrift Der neue Kämmerer heißt es dazu: „Die Kommunen müssen für einen wachsenden Prozentsatz der Langzeitarbeitslosen nicht nur die Kosten für Unterkunft und Heizung aufbringen, sondern sehen sich immer öfter auch in der Pflicht, Kindern aus Hartz-IV-Haushalten mit einem ganzen Bündel von Maßnahmen zu helfen. Ein wachsender Anteil der Hartz-IV-Kinder weist Zeichen starker Vernachlässigung auf. Diese Kinder haben oft erhebliche Entwicklungsdefizite und später mehr Probleme in der Schule und mit der Polizei.“ So spannend Ansätze der „Liquid Democracy“ auch sein mögen, für unsere zukünftige Entwicklung ist die Lösung der sozialen Probleme in unseren Kommunen von größerer Bedeutung. Die Transparenz öffentlicher


christian maaß – mutig reformieren

Daten ist ein wichtiger Bestandteil unserer Demokratie. Kinder ohne Zugang zu ausreichenden Bildungsangeboten werden aber später Probleme haben, diese Transparenz nutzen zu können, wenn ihnen der Zugang zur Nutzung der Informationstechnologie sowohl aus finanziellen als auch aus Gründen fehlender Kompetenz verwehrt bleibt. Dorthin, wo es weh tut Die typische Sprache der Fußballer ist nicht immer besonders geschliffen, bringt aber vieles auf den Punkt. Wenn es heißt: „Dahin gehen, wo es wehtut“, wird deutlich, worum es für die SPD Brandenburgs gehen muss: Sie hat die Aufgabe, in der Fläche des Landes präsent zu sein. Bei allem Streben nach Potsdam oder gar Berlin wird die Zukunft des Landes nicht in der Landeshauptstadt entschieden. Dabei findet sie in Otto Braun, dem sozialdemokratischen Ministerpräsidenten Preußens in den zwanziger Jahren, ein gutes märkisch-preußisches Vorbild. Er erkannte die Bedeutung der Peripherie und konzentrierte sich in seiner politischen Arbeit auf die Gruppe der Landarbeiter, die von der SPD allzu lange vernachlässigt wurde. Die SPD muss heute wieder so agieren wie Otto Braun vor vielen Jahren. Sie darf keine Region und keine Bevölkerungsgruppe vernachlässigen.

Fest steht allerdings, dass die praktische Umsetzung dieses hehren Anspruchs insbesondere in den kommenden Jahren auf große praktische Herausforderungen stoßen wird. Die zentrale Restriktion stellt dabei die Mitgliederzahl der SPD dar. Zugleich sind die möglichen Folgen der demografischen Entwicklung (Alterung, Bevölkerungsabnahme, Zunahme des Ungleichgewichts zwischen Zentrum und Peripherie) auf die Mitgliederentwicklung der SPD zu beachten. Die SPD stellt gegenwärtig bei einer Zahl von insgesamt etwa 6.400 Mitgliedern 240 Kreistagsabgeordnete und Stadtverordnete in den kreisfreien Städten. Dazu kommen 971 Mandate in kreisangehören Städten und Gemeinden. Insgesamt sind das 1.211 Mandate in kommunalen Vertretungen. Hinzu kommen sechs von der SPD gestellte Mitglieder der Landesregierung, 36 Parlamentarier im Land und im Bund und mehr als 50 kommunale Hauptverwaltungsbeamte. Die Zahlen verdeutlichen, wie intensiv die an Mitgliedern eher schwache SPD in praktischer Verantwortung gebunden ist. Vertretungen ohne Parteien Ein weiteres Indiz für die Größe der zukünftigen Herausforderung ist der Umstand, dass die SPD im Ergebnis der letzten Kommunalwahl im Jahr 2008 in zahlreichen vor allem kleineperspektive21

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thema – die zukunft der kommunen

ren und amtsangehörigen Gemeinden nicht mehr in den Vertretungen präsent ist (im Landkreis Potsdam-Mittelmark stehen 23 Gemeinden mit sozialdemokratischen Vertretern 15 ohne SPD gegenüber, im Landkreis Barnim beträgt dieses Verhältnis 11 zu 15 und im Landkreis Dahme-Spreewald 19 zu 18). In der überwiegenden Zahl dieser Kommunen gab es dabei keine Kandidaten von der SPD. Dies war im Jahr 2011 auch in 15 von 37 Kommunen der Fall, in denen ein neuer hauptamtlicher Bürgermeister gewählt wurde. Die CDU und noch stärker Die Linke stehen allerdings vor demselben Problem. Der Generationswechsel kommt Darüber hinaus wird sich auch für die SPD der teilweise in den letzten Jahren schon begonnene Generationswandel noch verstärken. Nachdem insbesondere auf der Landesebene ein erster Generationswandel bereits vollzogen wurde, steht er in weiten Teilen des kommunalen Haupt- und Ehrenamtes noch an. Dabei wird abzuwarten sein, wie die Politik von einer kommenden Generation gestaltet wird, die nicht mehr in wesentlichen Jahren durch die DDR und die Erfahrung der Wende geprägt wurde. Waren bereits bei der Kommunalwahl 2008 die ersten nach der Wiedervereinigung geborenen Brandenburger wahlberechtigt, 44

dezember 2011 – heft 51

so nimmt ihr Anteil bei den Wahlen 2014, 2019 und ff. stärker zu. Mit Bezug auf die aktuelle Altersgrenze von 70 Jahren für das kommunale Hauptamt scheiden die letzten in der DDR geprägten Kommunalen (zur Wende etwa 28-jährig) 2020 ff. aus ihren Ämtern aus. Die SPD ist insofern aufgefordert, alle Anstrengungen zu unternehmen, die Zahl der eigenen Mitglieder möglichst stabil zu halten, um über eine Basis für die kommunale Arbeit zu verfügen. Zugleich muss sie möglichst alle verfügbaren Mitglieder und auch parteilosen Sympathisanten für eine Kandidatur für eine kommunale Vertretung gewinnen. Hier wird der Druck auf die einzelnen Gliederungen in der nächsten Zeit noch deutlich zunehmen. Dabei ist sowohl die Nachwuchsgewinnung und -qualifizierung zentraler Baustein einer Strategie für die kommenden Jahre als auch die Zusammenarbeit mit parteilosen Kandidaten in der Fläche des Landes. Eine lebendige Demokratie kann nur erhalten, wer Strukturen mutig reformiert. Es ist das besondere Verdienst von preußischen Sozialdemokraten wie Otto Braun und Albert Grzesinski, die Bedeutung eines funktionierenden öffentlichen Sektors für die erfolgreiche Umsetzung sozialdemokratischer Politik erkannt zu haben. Sie ließen dieser

II.


christian maaß – mutig reformieren

Erkenntnis, wo immer möglich, auch konkrete Taten folgen. So weist Hagen Schulze in seiner Braun-Biografie auf dessen Wirken als Kassenleiter der AOK Königsberg hin. Braun führte dort ein Leistungskontrollsystem ein. Die Beamten mussten Rechenschaft über ihre Arbeitsleistungen ablegen. Braun versah die Berichte dann oft mit der Bemerkung „zu wenig“.1 Eine im Hauptamt effektiv und effizient arbeitende und vom Ehrenamt beauftragte, begleitete und kontrollierte Kommunalverwaltung muss demnach immer wieder ganz oben auf der Agenda sozialdemokratischer Kommunalpolitik stehen. Viele Körperschaften Vor allem in Folge der letzten Gemeindegebietsreform verfügt Brandenburg über eine sehr umfangreiche und stark differenzierte Landschaft mit in sich selbst noch einmal dezentralisierten kommunalen Körperschaften. Diese Vielfalt steht häufig im Widerspruch zur Abnahme realer kommunaler Aufgaben (Schließung von Schulen, Kitas, Bibliotheken usw.) und Entscheidungsmöglichkeiten. Das Land Brandenburg kennt gegenwärtig amtsfreie Gemeinden. Dabei handelt es sich um eine Stadt/Gemein1 Hagen Schulze, Otto Braun oder Preußens demokratische Sendung. Eine Biographie, Frankfurt am Main 1981, Seite 107

de mit einer von einem direkt gewählten Hauptverwaltungsbeamten (Bürgermeister) geleiteten Verwaltung und einer kommunalen Vertretung (Gemeindevertretung oder Stadtverordnetenversammlung), die darüber hinaus Ortsteile haben kann. Ortsteile können dabei auf die Einrichtung entsprechender Gremien verzichten. Sie können aber auch einen Ortsvorsteher direkt wählen. Die dritte Variante besteht in der Wahl eines Ortsbeirates durch die Wahlberechtigten und die indirekte Wahl eines Ortsvorstehers. Wie Ämter funktionieren Eine noch größere Binnendifferenzierung weisen die Ämter auf. Sie übernehmen die Aufgabe der hauptamtlichen Verwaltung für die amtsangehörigen Gemeinden (Städte). An der Spitze des Amtes steht der vom Amtsausschuss – also indirekt – gewählte Amtsdirektor. Die amtsangehörigen Gemeinden haben eine Gemeindevertretung und einen direkt gewählten ehrenamtlichen Bürgermeister. Sie können zusätzlich Ortsteile haben. Das Amt Brück wird zum Beispiel von den sechs Gemeinden Borkheide, Borkwalde, Brück, Golzow, Linthe und Planebruch gebildet. Drei der sechs Gemeinden haben noch einmal Ortsteile, in denen zum größeren Teil Ortsbeiräte und Ortsvorsteher gewählt werden. Bei einer Betrachtung der real vorhandenen Aufgaperspektive21

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thema – die zukunft der kommunen

ben zeigt sich, dass es im Amt noch vier Schulen gibt, die sich auf drei Gemeinden verteilen. Das Amt Brück hat aktuell etwa 10.000 Einwohner. Im Jahr 2030 soll die Einwohnerzahl auf etwa 8.600 sinken. Die Masse macht’s Hier stellt sich die Frage, ob und in welchem Umfang die bisherige Gremienzahl und Struktur aufrechterhalten werden kann und soll. Auch im Sinne der Wirksamkeit und Relevanz der lokalen Demokratie ist eine Stärkung durch eine Zusammenfassung anzustreben. Gerade wenn es gelingen soll, neben der Einheitsgemeinde eine zweite kommunale Einheit auf der gemeindlichen Ebene dauerhaft zu etablieren, ist diese in ihren demokratischen Entscheidungsstrukturen zu fokussieren. Auf die Bildung von Ortsteilen sollte zukünftig verzichtet werden. Die amtsangehörige Gemeinde/örtliche Ebene sollte zukünftig den Ansatzpunkt für die repräsentativ verfasste lokale Demokratie bilden. Gerade wenn es darum geht, jüngere und beruflich aktive Bürger für die Mitarbeit in den Vertretungen zu gewinnen, müssen sie wieder zu Orten wirklicher Entscheidungen werden. Zudem ist mit der kleinteiligen Gemeindestruktur Brandenburgs eine natürliche Untergrenze für die weitere Dezentralisierung politischer Entscheidungen er46

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reicht. Ohne eine ausreichende Masse an real zu fassenden Entscheidungen droht der lokalen Demokratie eine zunehmende Bedeutungslosigkeit. Die zunehmenden Herausforderungen – u. a. im Bereich der Finanzen – erfordern es zudem, dass auch und gerade in unseren kleinteiligen Strukturen alle für die Entwicklung der Kommunen vorhanden Kräfte gebündelt und für die kommunale Aufgabenerfüllung eingesetzt werden. Hier braucht es klare Strukturen und Abgrenzungen. Die Gemeindevertretung ist der Ort, wo die Entscheidungen für die Gemeinde getroffen werden. Mut zum Verzicht Auch in den amtsfreien Gemeinden ist eine Stärkung der Gesamtgemeinde erforderlich. Im Sinne effektiv und effizient arbeitender Kommunalverwaltungen verfügen sie bereits heute in der Mehrzahl nicht über eine ausreichende Größe und (Verwaltungs-)Kraft, um die Zersplitterungen der kommunalen Entscheidungsgremien tragen zu können. Im Sinne einer funktionierenden Gesamtsteuerung sollte hier der Grundsatz „eine Gemeinde, ein Hauptverwaltungsbeamter und eine Vertretung“ konsequent umgesetzt werden. Für die Bürger wäre dann auch wieder klar erkennbar, wo und von wem die Entscheidungen für das Gemeinwesen getroffen werden.


christian maaß – mutig reformieren

Wird der politische Mut für die Abschaffung der Ortsteile nicht aufgebracht, so ist zumindest der Verzicht auf die Ortsbeiräte anzustreben. Sofern die Ebene der Ortsteile weiterhin als erforderlich angesehen wird, sollte diese durch einen direkt zu wählenden Ortsvorsteher vertreten werden. Stadtbezirke für Potsdam? Zusätzlich ist die Möglichkeit zur Bildung von Ortsteilen in kreisfreien Städten kritisch zu hinterfragen. Dabei stellt sich die Frage, ob es auch unter demokratischen Gesichtspunkten gerechtfertigt ist, dass für (im Verhältnis zur Gesamtkommune) sehr kleine und randständige Ortsteile besondere Gremien installiert werden, während dies für große und relevante Teile der Kernstadt nicht der Fall ist. Die Landeshauptstadt Potsdam hat bisher sieben, Cottbus elf, Frankfurt neun Ortsteile und Brandenburg an der Havel hat zwei Ortsteile mit Ortsbeiräten. Mit der möglichen Zuordnung der Städte Cottbus, Frankfurt und Brandenburg zum kreisangehörigen Raum sind hier zukünftig die entsprechenden Regelungen zur Anwendung zu bringen. Sollte Potsdam sein Wachstum bis auf die prognostizierte Größe von etwa 180.000 Einwohnern fortsetzen, könnte hier über eine Einführung von Stadtbezirken nachgedacht werden.

Die großen Erfolge kann nur erzielen, wer die Details im Auge behält. Wer in den Landtag möchte, muss nicht im Wahlkreis wohnen. Dies gilt auch für den Bundestag. Wer hauptamtlicher Bürgermeister werden möchte, muss ebenfalls nicht in seiner Kommune wohnen. Warum schreiben wir dies jedoch bei den allgemeinen Kommunalwahlen vor? In der Kommentierung wird darauf verwiesen, dass der, der in der Gemeinde kandidiert, durch eine „zeitliche Mindestverbundenheit“ Kenntnisse über die örtlichen Verhältnisse erlangt und dadurch für das Amt qualifiziert ist. Das kann, aber muss nicht der Fall sein.

III.

Mobilität berücksichtigen Als zusätzlich problematisch erweist sich zudem der Umstand, dass mit einem Wegzug aus dem Wahlgebiet diese Wählbarkeitsvoraussetzung wegfällt und der Verlust des Mandates folgt. Dies erweist sich gerade in den Zeiten, in denen von „normalen“ Berufstätigen eine hohe Mobilität erwartet wird als besondere Hürde für die Besetzung kommunaler Mandate. Hier sollte zumindest darüber nachgedacht werden, dass das Mandat auch nach Wegfall der Wählbarkeitsvoraussetzung „Wohnen im Wahlgebiet“ zumindest bis zum Ende der laufenden Wahlperiode ausgeübt werden kann. In diesen perspektive21

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thema – die zukunft der kommunen

Fällen könnte auch unterstellt werden, dass die notwendige Kompetenz und Sachkunde nicht im Moment des Umzuges verloren geht. Zudem bieten die gegenwärtig vorhandenen elektronischen Informationsmöglichkeiten die Voraussetzung, um sich auch außerhalb des Wahlgebietes umfassend über alle relevanten Ereignisse zu informieren. Eine solche Regelung wäre eine längst überfällige Anpassung an die realen Lebensumstände. Welcher Berufstätige kann heute schon für die Dauer einer Kommunalwahlperiode von immerhin zumindest fünf Jahren voraussehen, dass er seinen Wohnort nicht wechseln muss? Doppik und neue Steuerung Die Einführung der Doppik kann auch für die Kommunalpolitik zu einer deutlichen Verbesserung der Steuerungsmöglichkeiten und somit zu einer verbesserten Arbeit in den lokalen Vertretungen führen. Produktkataloge, Ziele und Kennzahlen bieten die Grundlage für eine zeitgemäße Steuerung unserer Städte, Gemeinden und Landkreise. Sie ermöglichen es, sich auf die Umsetzung zentraler kommunalpolitischer Ziele zu konzentrieren und wirksame Erfolgskontrollen durchzuführen. Dafür ist indessen auch an das Ehrenamt die Forderung zu stellen, sich intensiv mit der neuen Steuerung auseinanderzusetzen. Viel zu oft geht 48

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es noch darum, einfach nur über etwas zu reden oder etwas zu zerreden. Auch um die oftmals ausufernde zeitliche Belastung durch das kommunale Ehrenamt zu beschränken, ist es erforderlich, sich auf wesentliche Entscheidungen zu konzentrieren. Hierfür bietet der neue kommunale Haushalt einen wirksamen Ansatzpunkt. Dabei muss die Kommunalpolitik aber den Mut aufbringen, auch unpopuläre Entscheidungen zu treffen, wenn beispielsweise deutlich wird, dass bestimmte Institutionen ihre Aufgaben nicht wirkungsvoll erfüllen oder für bestimme öffentliche Angebote keine Nachfrage besteht. Zu oft orientiert sich die Kommunalpolitik hier noch an den Interessen der – zugegebener Maßen oft öffentlichkeitswirksamen – Anbieter von Leistungen und nicht am realen Bedarf. Auf der Grundlage von Kennzahlen zur Zielerreichung kann hier ein Umsteuern erfolgen. Auf in die neue Zeit Darüber hinaus bietet die Entwicklung der Kommunikations- und Informationstechnologie sehr gute Möglichkeiten, die Arbeit der Kommunalpolitik effektiver und effizienter zu gestalten. So sollte im Gegenzug zur Straffung der kommunalen Gremien eine durchgehende technikbasierte Ausstattung des kommunalen Ehrenamtes gesichert werden. Dabei kann es sein, dass die


christian maaß – mutig reformieren

bisher für diese Zwecke verwendeten Laptops immer mehr durch TabletGeräte abgelöst werden. Über diese Geräte wird nicht nur der Zugang zu den Sitzungsunterlagen und notwendigen Informationen ermöglicht. Zugleich können die Mitglieder der Vertretung so im Kontakt mit den Bürgern bleiben und sich auf Sitzungen entsprechend vorbereiten. Verfahrensabläufe können vereinfacht werden, wenn zum Beispiel im Vorfeld von Sitzungen geklärt werden kann, wo Konsens zwischen den verschiedenen politischen Kräften besteht. Eine solche technische Ausstattung kann zugleich Menschen mit hoher beruflicher und familiärer Belastung den Einstieg in die Kommu-

nalpolitik erleichtern, ermöglicht sie doch zeitversetztes Arbeiten. Einige der vor uns liegenden Herausforderungen mögen uns als schwierig und anspruchsvoll erscheinen. Die SPD kann sich diesen Aufgaben in Brandenburg jedoch in dem Wissen stellen, dass sie als Brandenburgpartei einen wesentlichen Beitrag beim Aufbau der Demokratie, des Rechtsstaates und einer zunehmend erfolgreichen Wirtschaft in Brandenburg geleistet hat. Zudem ist es ein wesentliches Verdienst der SPD, die Menschen mit in die neue Zeit genommen zu haben. Insofern sollte sich die SPD zutrauen, auch die vor ihr liegenden Aufgaben zu meistern. I

CHRISTIAN MAAß

ist Geschäftsführer der Sozialdemokratischen Gemeinschaft für Kommunalpolitik Brandenburg. perspektive21

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Neue Herausforderungen am Horizont AUSGANGSLAGE, ENTWICKLUNGEN UND PERSPEKTIVEN DER KOMMUNALFINANZEN IN BRANDENBURG VON JOHN SIEGEL

ie kommunale Finanzsituation ist – nicht nur in Brandenburg – angesichts der Finanz- und Schuldenkrise seit 2009 Besorgnis erregend. Die Krise hat tiefe Lücken in die kommunalen Haushalte gerissen. Wenn auch der Einbruch der Einnahmen die westdeutschen Bundesländer härter trifft als Brandenburg, ist die Frage bislang weitgehend unbeantwortet, ob und wie die Auswirkungen der Krise ohne substantielle Beeinträchtigung der kommunalen Handlungs- und Leistungsfähigkeit bewältigt werden können. Die gegenwärtige Diskussion über die Neugestaltung der kommunalen Strukturen in Brandenburg ist insofern auch im Zusammenhang mit der Entwicklung der Finanz- und Schuldensituation zu sehen. Für die Situation vor der Finanzkrise hat die Bertelsmann-Stiftung in einem „Kommunalen Finanz- und Schuldenreport“ eine umfassende Analyse der Kommunalfinanzen in Brandenburg vorgelegt. Diese brachte unter anderem folgende Ergebnisse hervor:

D

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Zwischen 2000 und 2007 lag Brandenburg beim Jahresergebnis der kommunalen Kernhaushalte im Durchschnitt mit -8 Euro je Einwohner auf den fünften Platz der 13 Flächenländer – hinter Sachsen, Thüringen, Baden-Württemberg und Bayern. Die Gesamtschulden der brandenburgischen Kommunen (inkl. Beteiligungen, Kassenkredite usw.) nahmen im gleichen Zeitraum nicht nennenswert zu und bewegten sich mit 3.500 Euro pro Einwohner im Mittelfeld aller Bundesländer. Das Volumen der Kassenkredite und der fundierten Schulden der Kernhaushalten war dabei im bundesweiten Vergleich leicht unterdurchschnittlich. Rund 72 Prozent der Gesamtschulden waren in den ausgelagerten Bereichen der Kommunen verortet – in öffentlich bestimmten Fonds, Einrichtungen, Betriebe und Unternehmen. Die Kassenkredite konzentrierten sich 2007 noch vor allem auf die perspektive21

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thema – die zukunft der kommunen

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I

I

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kreisfreien Städte, wo sie ca. ein Fünftel der Gesamtschulden ausmachten. Angesichts der Finanzkrise dürfte sich diese Situation jedoch – teilweise deutlich – verschärft haben. Zwischen 2000 und 2007 konnten insbesondere amtsfreie Gemeinden und Landkreise Schulden abbauen, während diese in den kreisfreien Städten zunahmen. Dabei wurde die Zunahme zu zwei Dritteln durch investive Schulden und zu einem Drittel durch Kassenkredite verursacht. Während 2007 die vier kreisfreien Städte mit Jahresergebnissen zwischen 78 und -110 Einwohner pro Einwohner relativ eng beieinander lagen, war die Spannbreite bei den amtsgehörigen Gemeinden vergleichsweise extrem: sie reichte von -5.648 bis 12.557 Euro pro Einwohner. Ähnlich groß ist die Bandbreite bei den Steuereinnahmen und den allgemeinen Deckungsmitteln. Bei den meisten amtsfreien und amtsangehörigen Gemeinden lag das Jahresergebnis jedoch zwischen 100 und 250 Euro pro Einwohner und entsprach damit ungefähr dem landesweiten Mittelwert von 108 Euro pro Einwohner. Die Ausgaben für soziale Leistungen waren in den kreisfreien Städten höher als in den Landkreisen (durchschnittlich 414 bzw. 310 Euro pro Einwohner). Während Frankfurt (Oder) und Brandenburg an der dezember 2011 – heft 51

I

Havel mehr als 500 und OstprignitzRuppin über 460 Euro pro Einwohner aufwenden mussten, lagen die Ausgaben in vier Landkreisen unter 350 Euro pro Einwohner. Der Anteil des in den Auslagerungen beschäftigten Personals am „Konzern Kommune“ insgesamt beträgt durchschnittlich 44 Prozent, in den kreisfreien Städten sind es jedoch 62 Prozent! Ähnlich ist es bei den Anteilen am Umsatz (35 bzw. 54 Prozent) und Investitionen (38 bzw. 46 Prozent).

Inzwischen liegen aktuelle Statistiken vor (bis Ende 2010), die eine Analyse der Ausgangslage unter Berücksichtigung der Auswirkungen der Finanzkrise ermöglichen. Betrachtet man die langfristige Entwicklung der kommunalen Finanzierungsalden im bundesweiten Vergleich, lassen sich einige wesentliche Feststellungen machen: In der ersten Hälfte der letzen zwanzig Jahre arbeiteten die Brandenburger Kommunen durchschnittlich defizitär. Um die grundlegenden Missstände in der kommunalen Infrastruktur beheben zu können, gaben alle ostdeutschen Flächenländer mehr aus, als sie einnahmen. Die Verschuldung der kommunalen Kernhaushalte geht auf diese Periode des Wiederaufbaus zurück und diente der Finanzierung der teilweise vollständig erneuerten Infrastruktur. Von den fünf ostdeutschen


john siegel – neue herausforderungen am horizont

Jahresergebnisse der kommunalen Kernhaushalte für die Zeiträume 1991 bis 2000 und 2001 bis 2010 nach Flächenländern in Euro pro Einwohner

Flächenländer insgesamt Sachsen Thüringen Brandenburg Bayern Baden-Württemberg Mecklenburg-Vorpommern Sachsen-Anhalt Schleswig-Holstein Niedersachsen Nordrhein-Westfalen Hessen Saarland Rheinland-Pfalz westdt. Flächenländer ostdt. Flächenländer

I Durchschnitt 1991-2000 -43

I Durchschnitt 2001-2010

-29

-123

84 -101

45 -58

16 -38

14 10 7

-104

4 -95 -35 -29

-77

-44 -49

-11

-84 -103 -114

-43 -53 -42

-99

-13 -14

-30 36

Quelle: G. Micosatt nach Angaben des Statistischen Bundesamts

Flächenländern (Durchschnitt -99 Euro pro Einwohner) lag das durchschnittliche Finanzierungssaldo in Brandenburg mit -57 Euro pro Einwohner allerdings am niedrigsten. Dritter Platz in Deutschland Hinsichtlich der Entwicklung in den letzten zehn Jahren, stellt sich das Bild deutlich anders dar. In der Periode von 2001 bis 2010 erwirtschafteten die Kommunen in den ostdeutschen Flächenländern durchschnittlich Überschüsse von 36 Euro pro Einwohner. Brandenburg lag mit einem durchschnittlichen Jahresergebnis von 16

Euro pro Einwohner hinter Sachsen und Thüringen auf dem dritten Platz – deutschlandweit. In dieser Phase konnten die ostdeutschen Kommunen auch einen Teil der Schulden abtragen, die sich in den neunziger Jahren angehäuft hatten. Im Jahr 2010 lag das kommunale Jahresergebnis angesichts der Auswirkungen der Finanzkrise wieder im negativen Bereich; Brandenburg liegt in dieser Hinsicht nunmehr auf dem sechsten Platz hinter den anderen ostdeutschen Flächenländern und Bayern. Betrachtet man den aktuellen Stand der Verschuldung in den Kommunen, bietet sich ein differenziertes Bild. Hinperspektive21

53


thema – die zukunft der kommunen

Verschuldungsstruktur der Kommunen 2010 nach Flächenländern in Euro pro Einwohner

I Kassenkredite I Kredite u. Wertpapierschulden I kreditähnl. Rechtsgeschäfte I Schulden der sonst. FEUs

(öff. Fonds, Einrichtungen, Unternehmen)

Flächenländer Baden-Württemberg Bayern Brandenburg Hessen Mecklenburg-Vorpommern Niedersachsen Nordrhein-Westfalen Rheinland-Pfalz Saarland Sachsen Sachsen-Anhalt Schleswig-Holstein Thüringen 1.000

2.000

3.000

4.000

5.000

6.000

Quelle: Eigene Berechnungen, Angaben des Statistischen Bundesamts

sichtlich der kommunalen Kernhaushalte ist die Verschuldung der Brandenburger Kommunen gering, bei den Krediten und Wertpapierschulden der Kommunen weist Brandenburg mit 652 Euro pro Einwohner einer der niedrigsten Wert aller Flächenländer auf. Bezieht man die Kassenkredite und die Schulden der Beteiligungen mit in die Betrachtung ein, liegen die Brandenburger Kommunen auf einem mittleren Platz, allerdings unter dem Durchschnitt der Flächenländer und ungefähr auf demselben Niveau wie Sachsen, dessen Kommunen sich in den neunziger Jahren deutlich höher 54

dezember 2011 – heft 51

verschuldet hatten, im folgenden Jahrzehnt aber auch erhebliche Schulden abgebaut haben. Auf eine einzelgemeindliche Analyse muss hier verzichtet werden. Allerdings ist der Hinweis geboten, dass diese aggregierten Zahlen über erhebliche Unterschiede zwischen den Kommunen in Brandenburg hinwegtäuschen, die eingangs bereits angesprochen wurden. So lässt sich beispielsweise feststellen, dass die Verschuldung der kreisfreien Städte von sehr unterschiedlicher Struktur und Höhe ist. Letztlich kann die Analyse der Verschuldung der Kommunen nicht von der entsprechenden Situation der Län-


john siegel – neue herausforderungen am horizont

der getrennt betrachtet werden. Bezieht man diese Ebene mit ein, wird schnell deutlich, dass die relativ geringe Verschuldung der Kommunen in Brandenburg mit recht hohen Landesschulden erkauft wurde. Der Vergleich zeigt, dass Brandenburg zu den sechs Ländern mit den höchsten Schulden gehört, wenn man auch die Beteiligungen einbezieht. Nur das Land Sachsen-Anhalt ist in Ostdeutschland ähnlich hoch verschuldet.

Auslaufen des Solidarpakts II und die Neuregelung des Länderfinanzausgleichs. Alle drei Ereignisse lassen sich mit dem Jahr 2020 in Verbindung bringen: I

I

Grundlegende Änderungen Jenseits der aktuellen Finanzlage in Land und Kommunen stellt sich im Hinblick auf die zukünftige Entwicklung die Frage nach wesentlichen Einflussfaktoren, die es zu berücksichtigen gilt. Dazu gehören die Einführung der sogenannten Schuldenbremse, das

I

Ab Anfang 2020 ist die Schuldenbremse wirksam und eine Nettokreditaufnahme ist den Ländern verfassungsrechtlich untersagt. Ab 2020 stehen dem Land keine Sonderbedarfs-Bundesergänzungszuweisungen mehr zum Abbau teilungsbedingter Sonderlasten durch den Bund zur Verfügung. Ab Anfang 2020 tritt eine noch zu vereinbarende Neuregelung des Länderfinanzausgleichs in Kraft.

Diese Entwicklungen beeinflussen direkt zunächst das Land, mittelbar jedoch auch die Kommunen:

Verschuldungsstruktur der kreisfreien Städte in Brandenburg 2009 in Euro pro Einwohner Verschuldung im Kernhaushalt

davon Kassenkredite

Verschuldung in den Beteiligungen

Verschuldung insgesamt*

Cottbus

633 2.132

0 1.741

4.158 5.942

4.578 6.103

Frankfurt (Oder)

1.299

1.011

2.975

4.273

Brandenburg an der Havel

2.149

1.475

2.120

4.261

Durchschnitt der kreisfreien Städte deutschlandweit

2.213

904

2.497

4.617

Potsdam

Quelle: www.wegweiser-kommune.de

* Verschuldung bereinigt um Schulden untereinander

perspektive21

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thema – die zukunft der kommunen

Verschuldungsstruktur der Bundesländer 2010 nach Flächenländern I Wertpapierschulden I Kredite I Kassenkredite I kreditähnl. Rechtsgeschäfte I Schulden sonst. FEUs (öff. Fonds, Einrichtungen, Unternehmen)

in Euro pro Einwohner

Flächenländer Baden-Württemberg Bayern Brandenburg Hessen Mecklenburg-V. Niedersachsen Nordrhein-Westfalen Rheinland-Pfalz Saarland Sachsen Sachsen-Anhalt Schleswig-Holstein Thüringen 2.000

4.000

6.000

8.000

10.000

12.000

14.000

Quelle: eigene Berechnungen, Angaben des Statistischen Bundesamts

Die Schuldenbremse impliziert, dass das Land ab 2020 mit den ihm zur Verfügung stehenden Einnahmen auskommen muss, also keine höheren Ausgaben machen darf. Der Ausgaberahmen ist also strikt an die Einnahmen gebunden und kann nicht flexibel durch Kreditaufnahme erweitert werden. Daraus resultieren hohe Anforderungen an die Planung, die Notwendigkeit der Bildung von Rücklagen und die neuerliche Erkenntnis der fehlenden Steuerautonomie des Landes – es kann (von der Grunderwerbsteuer abgesehen) keine Steuern erhöhen, um sich mehr finanziellen Spielraum zu verschaffen. Die finanzielle Leistungs56

dezember 2011 – heft 51

fähigkeit – eine wesentliche Grenze für die Verpflichtung des Landes zur Finanzierung der Kommunen – wird de facto damit maßgeblich verringert. Das Land könnte sich jederzeit gegen Forderungen aus der kommunalen Gemeinschaft nach höheren Zuweisungen mit dem Argument (oder der Behauptung) widersetzen, entsprechende Mehrausgaben würden zu einer verfassungswidrigen Neuverschuldung führen. Der planmäßige Rückgang der Solidarpaktmittel beschränkt den finanziellen Handlungsspielraum zusätzlich. Die Sonderbedarfs-Bundesergänzungszuweisungen zum Abbau teilungsbe-


john siegel – neue herausforderungen am horizont

dingter Sonderlasten beliefen sich für das Jahr 2011 noch auf 1.150 Millionen Euro, was mehr als 10 Prozent des Landeshaushalts entspricht. Diese Einnahmequelle entfällt ab 2020. Ob und wie es dafür einen Ersatz oder eine Anschlussregelung geben wird, ist bisher weitgehend unklar. Auch die Annahme, dass dieser Einnahmeverlust durch steigende Steuereinnahmen kompensiert werden kann, ist bestenfalls eine optimistische Spekulation – jedenfalls kann sie keine realistische Planungsgrundlage darstellen. Über die Verbundquoten werden die Kommunen direkt an den rückläufigen Einnahmen beteiligt – können also insgesamt mit (spürbar) geringeren Zuweisungen durch das Land rechnen. Es erscheint nicht ganz abwegig, das Ausmaß des Rückgangs analog zur Schrumpfung des Landeshaushalts zu schätzen. 10 Prozent weniger im Land ... Sinken beispielsweise die Gesamteinnahmen des Landes um 10 Prozent gegenüber dem gegenwärtigen Stand (unter anderem auch wegen der Auswirkungen des demografischen Wandels auf die Zahlungen aus dem Länderfinanzausgleich), würde dem auch eine proportionale Verringerung der Ausgleichsmasse entsprechen. Da dabei nominale Daten zugrundeliegen, wäre der reale (kaufkraftbereinigte) Einnah-

meverlust für die Kommunen noch größer. Auch hier kann bezweifelt werden, ob die Steigerung der eigenen Einnahmen der Kommunen ausreichen wird, um diese Verluste (real) zu kompensieren. bedeutet weniger ... bedeudet wenigerfür fürKommunen Kommune Hinsichtlich des Länderfinanzausgleichs ist bislang nicht absehbar, welche Auswirkungen die anstehende Neuregelung auf die Landes- (direkt) und Kommunalfinanzen (indirekt) haben wird. Zu bezweifeln dürfte jedoch sein, dass die sogenannten Geber-Länder und der Bund den Interessen der ostdeutschen Länder weit entgegenkommen werden. Auch die finanzstarken Bundesländer müssen angesichts der Schuldenbremse die Haushalte konsolidieren und werden um jeden Euro kämpfen; für den Bund tritt die Schuldenbremse sogar schon 2016 in Kraft, was dessen Kompromissbereitschaft ebenfalls nicht erhöhen dürfte. Jedenfalls sollten die Brandenburger Kommunen keine große Hoffnung auf die Neuordnung des Länderfinanzausgleiches richten. Dessen Beiträge zur Lösung finanzieller Probleme der Kommunen dürfte begrenzt sein – eher im Gegenteil. Angesichts der genannten Entwicklungen liegt die Vermutung nahe, dass Bund und Länder versuchen werden, ihre finanziellen Herausforderunperspektive21

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thema – die zukunft der kommunen

gen zumindest teilweise auf Kosten der Kommunen zu bewältigen. Fest steht, dass das Jahr 2020 zu einem wesentlichen Meilenstein für die föderale Finanzverfassung Deutschlands wird. Systemveränderungen auf europäischer Ebene, wie sie gegenwärtig diskutiert werden („Eurobonds“ usw.), sind dann zusätzlich zu berücksichtigen. Hinzu kommen Zinsrisiken, die Gefahr einer „kommunalen Kreditklemme“ sowie weiterhin steigende Anforderungen an die Kommunen, die zu höheren Ausgaben führen. Dass der finanzielle Druck auf die Kommunen (nicht nur) in Brandenburg sich – unter Umständen massiv – erhöhen wird, ist absehbar; in welchem Umfang und mit welchen spezifischen Auswirkungen, noch nicht.

I

Perspektive 2030 Blickt man über das für das öffentliche Finanzwesen in Deutschland so wichtige Jahr 2020 hinaus, gilt es vor allem, die Auswirkungen des demografischen Wandels auf die Kommunalfinanzen in den Blick zu nehmen. Relevant sind dabei unter anderen folgende Entwicklungen, die mit der jüngsten Bevölkerungsprognose der Bertelsmann-Stiftung für Brandenburg mit der Perspektive auf das Jahr 2030 einhergehen: I

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Die Einwohnerzahl wird in Brandenburg bis zum Jahr 2030 um 6 Prodezember 2011 – heft 51

I

zent auf 2,36 Millionen Menschen sinken. Damit ist eine ungünstigere Entwicklung als im Bundesgebiet zu erwarten (-4 Prozent). Während die Bevölkerung im Landkreis ElbeElster um fast ein Viertel schrumpfen wird, werden sich die an Berlin angrenzenden Kommunen deutlich anders entwickeln: Die „Berlin-Anrainer“ weisen entweder nur einen schwachen oder gar keinen Bevölkerungsrückgang auf. In Potsdam werden 2030 sogar rund 11 Prozent mehr Menschen leben als heute. Bis 2030 wird die Hälfte der Einwohner des Bundeslandes älter als 54 Jahre sein. Besonders stark bekommt der Landkreis Elbe-Elster den demografischen Wandel zu spüren. Hier wird die Hälfte der Bevölkerung bis 2030 älter als 60 Jahre sein. Das jüngste Medianalter – der Wert, der die Bevölkerung altersmäßig in zwei gleich große Gruppen teilt – wird mit 46 Jahren Potsdam haben. Durch die rasante Zunahme der hochbetagten Menschen stehen die Städte und Gemeinden vor großen Herausforderungen. So wird sich die Zahl der über 80-Jährigen in Brandenburg bis zum Jahr 2030 nahezu verdoppeln: Mit 93 Prozent verzeichnet Brandenburg die stärkste Zunahme in dieser Altersgruppe bundesweit. Im Landkreis Oberhavel werden 2030 sogar nahezu


john siegel – neue herausforderungen am horizont

2,5-mal so viele über 80-Jährige leben wie heute. Insgesamt wird der Anteil der über 80-jährigen Männer und Frauen in Brandenburg 9 Prozent im Jahr 2030 erreichen. Mit der Veränderung der Bevölkerungsstruktur („weniger“, „älter“, „bunter“) sind auch Anpassungen der kommunalen Leistungen und Infrastrukturen erforderlich. Während beispielsweise die Nachfrage nach Angeboten für Kinder- und Jugendliche in peripheren Kommunen weiter abnimmt, steigt sie bei Aufgaben wie Gesundheit, Pflege, ÖPNV und ggf. auch Soziales. Dabei sind Unterschiede zwischen Berlin-nahem und Berlinfernen Raum ebenso zu berücksichtigen wie zwischen Stadt und Land. Für die Kommunalfinanzen sind unter anderem folgende Aspekte von Bedeutung: I

I

Es entstehen sogenannte Kostenremanenzen bei Infrastrukturen und Leistungen – das sind Kosten, die bei einem Rückgang der Einwohnerzahl bzw. einer Veränderung der Bevölkerungsstruktur nicht automatisch (bzw. im gleichen Umfang) sinken wie die Fixkosten. Diese Kosten verteilen sich dann auf weniger Nutzer, womit für diese höhere Kosten entstehen. Die Veränderung der Altersstruktur der Bevölkerung führt zu einem

I

Anstieg der Einpersonenhaushalte mit Folgen für die Wohnungsnachfrage und die Infrastruktur zum Beispiel für Abfallentsorgung, Wasserver- und -entsorgung. Hiervon sind insbesondere die kommunalen Beteiligungen betroffen. Die Dauerarbeitslosigkeit wird voraussichtlich dazu führen, dass in Zukunft eine steigende Zahl älterer Menschen auf – ggf. ergänzende – Sozialhilfeleistungen angewiesen ist. Zwar übernimmt der Bund in den nächsten Jahren schrittweise die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung. Aber auch sonstige Sozialleistungen sind von dieser Entwicklung betroffen und werden zu steigenden Ausgaben führen.

Für die Brandenburger Kommunen sind diese Entwicklungen nicht neu. Gerade der rapide wachsende Anteil der Hochbetagten und die zunehmende demografische Spaltung des Landes stellen jedoch zusätzliche Herausforderungen dar, die aus fiskalischer Sicht adressiert werden müssen. Weniger Steuereinnahmen Auch auf der Einnahmeseite hat der demografische Wandel Auswirkungen. Da die Höhe der Einnahmen der Kommunen maßgeblich durch die Höhe des örtlichen Steueraufkommens bestimmt wird und die Zuweisungen perspektive21

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thema – die zukunft der kommunen

aus den kommunalen Finanzausgleichssystemen abhängt, sind Kommunen mit einer sinkenden Bevölkerungszahl mit einem rückläufigen Aufkommen aus Steuern sowie Finanzzuweisungen konfrontiert – auch wenn sich dabei nicht zwangsläufig die Höhe der Einnahmen je Einwohner verändern muss. Folglich muss jedoch das Gesamtausgabenvolumen entsprechend reduziert werden. Hinzu kommt, dass die Steuereinnahmen je Einwohner im Alter von über 65 Jahren deutlich geringer sind als jener in der Altersgruppe von 25 bis 64 Jahren, so dass ein Bevölkerungsrückgang in dieser Altersgruppe ebenfalls zu einem Rückgang des Steueraufkommens führt (absolut wie auch auch je Einwohner). Große Unterschiede Genau hiervon sind Brandenburgs Kommunen betroffen: Laut der Bevölkerungsprognose der BertelsmannStiftung sinkt die Zahl der potenziell Erwerbstätigen (25 bis 44 Jahre) bis 2030 um 27 Prozent. Davon sind alle Kreise und kreisfreien Städte betroffen; Potsdam weist mit -7 Prozent noch den geringsten Rückgang auf, die stärkste Abnahme wird für Elbe-Elster mit -47 Prozent erwartet. Die Altersgruppe der 45- bis 64-Jährigen geht landesweit um 15 Prozent zurück. Am deutlichsten wird voraussichtlich der Rückgang für Frankfurt (Oder) sein 60

dezember 2011 – heft 51

(-35 Prozent). In Potsdam kommt es hingegen zu einem Zuwachs von 12 Prozent. Zielgerichtete Evaluation Die Analyse der Ausgangslage zeigt, dass Brandenburg und seine Kommunen im Augenblick durchaus in der Lage sind, Strategien zur Bewältigung der absehbaren – wenn auch nicht immer exakt prognostizierbaren – Herausforderungen für die Kommunalfinanzen zu entwickeln, die sich aus den Änderungen im öffentlichen Finanzsystems ergeben oder die aus dem demografischen Wandel resultieren. Der gegenwärtige Diskussionsprozess im Land – nicht zuletzt im Rahmen der Enquete-Kommission „Kommunalund Landesverwaltung – bürgernah, effektiv und zukunftsfest – Brandenburg 2020“ oder der „Zukunftsdebatte Brandenburg 2030“ in der SPD deutet an, dass die Notwendigkeit rechtzeitigen Handels auf der Basis umfassender fachlicher Expertise und partizipativer Verständigungsprozesse erkannt wird. Diese müssen in konkrete Entscheidungen und letztlich praktisches Regierungs- und Verwaltungshandeln münden, wenn sie einen echten Problemlösungsbeitrag leisten sollen. Das gilt für die Landesebene ebenso wie für jede Kommune im Einzelnen. Fragen nach der Zukunft der Kommunalfinanzen können nicht isoliert, sondern


john siegel – neue herausforderungen am horizont

müssen im Zusammenhang mit der zukünftigen Ausgestaltung der Verwaltungsstrukturen, der Entwicklung der staatlichen und kommunalen Aufgaben einschließlich ihrer Verteilung zwischen den Ebenen und der Zukunft des öffentlichen Dienstes und seiner Leistungsfähigkeit betrachtet und beantwortet werden. Kernelement dieser Dis-

kussion wird jedoch die Reform des kommunalen Finanzausgleichs bleiben. Dabei ist eine zielgerichtete Evolution der erfolgversprechende Ansatz, dessen zentrales Kriterium die Erhaltung und Verbesserung der kommunalen Handlungs- und Leistungsfähigkeit und damit der demokratischen kommunalen Selbstverwaltung sein muss. I

DR. JOHN SIEGEL

ist Project Manager im Programm LebensWerte Kommune der Bertelsmann-Stiftung. perspektive21

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dezember 2011 – heft 51


Wir brauchen schnell Klarheit ÜBER SEINE ERFAHRUNGEN ALS LANDRAT UND BÜRGERMEISTER SOWIE NÖTIGE KOMMUNALREFORMEN SPRACH THOMAS KRALINSKI MIT RALF REINHARDT PERSPEKTIVE 21: Sie sind jetzt seit knapp 500 Tagen Landrat. Macht die Arbeit noch Spaß? RALF REINHARDT: Ja, sehr sogar. Die Arbeit füllt aus und ist nun wirklich nicht langweilig. Das Amt ist sehr vielseitig, aber auch der Takt ist schneller als im Bürgermeisteramt. In einer Gemeinde oder einer Stadt ist man noch dichter an den Menschen dran. Dafür geht es im Kreis um mehr Geld und damit auch um mehr Verantwortung.

Auch die Zahl der Mitarbeiter ist jetzt größer. REINHARDT: Ja, es ist eine große Herausforderung die Strukturen so zu gestalten, dass effizient gearbeitet werden kann und gleichzeitig nicht zu sehr ins Gefüge eingegriffen wird. In der Verwaltung gab es eine große Erwartungshaltung auf den „Neuen“ – auch wenn ich sicher nicht alle Hoffnungen erfüllen kann. Ich denke, dass wir langsam zueinander finden. Was macht Ihnen am meisten Freude im neuen Amt?

REINHARDT: Ich bin Jurist und in der normalen juristischen Laufbahn spezialisiert man sich eher intensiv auf einen Bereich, während viele von den anderen Fachgebieten und Themen meist nur noch selten zum Tragen kommen. Im Landratsamt ist das anders. Das ist die Vielfalt pur – mit allen Höhen und Tiefen. Man sagt ja, Bauarbeiter seien sehr glückliche Leute, weil sie am Ende eines Tages immer genau sehen können, was sie geschaffen haben. Als Landrat braucht man dazu viel Geduld. Aber auch zum Beispiel in den Bereichen Bauen, Verkehr, Umwelt, Naturschutz sowie Jugendarbeit oder Gesundheit, für die wir als Kreis zuständig sind, kann man sehr bleibende Werte schaffen. Das erfüllt mich.

Einer von denen da oben Wissen denn die Leute, was ein Landrat so macht? REINHARDT: Teilweise. Zuerst halten sie ihn verantwortlich für die „große schlimme Politik“, für viele ist er auch einer perspektive21

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thema – die zukunft der kommunen

von „denen da oben“. Die meisten wissen, dass er mit der KFZ-Zulassung, mit Baugenehmigungen und den Mülltonnen zu tun hat – und beschweren sich dann über die zu langen Bearbeitungszeiten. Dass die ganze Hartz IVAbwicklung zum Landkreis gehört, wissen auch die meisten, da wir als so genannte „Optionskommune“ auch ein Gesicht vor Ort haben. Aber Sie werden auf der Straße erkannt? REINHARDT: In meiner Heimatregion ja. Dort war ich auch Bürgermeister und in diesem Amt kennt einen fast jeder. Das ist der große Unterschied, denn als Landrat hat man nicht ganz soviel mit Bürgern direkt, sondern mehr mit Interessengruppen, Ministerien und Verwaltungen zu tun. Das finde ich eigentlich schade. Brauchen wir Landkreise? Identifizieren sich denn die Bürger mit dem Kreis Ostprignitz-Ruppin? REINHARDT: Schwer zu sagen. Mein Eindruck ist, dass die Menschen im Wesentlichen in kleineren regionalen Strukturen leben und sich austauschen. Die wirkliche Identifikation besteht aus dem Dorf oder Stadtteil, in dem man lebt. Die Zwischenformen, so auch die Großgemeinden, werden manchmal kritisch oder gar distanziert betrachtet. Allerdings im Umfeld der Städte, wo also ein Identifikationskern vorhanden 64

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ist, funktioniert die Bindung auch der Ortschaften an die größere Einheit mittlerweile eigentlich ganz gut. Die Landkreise hier bei uns wurden zusammengefügt – Ruppin zum Beispiel hat eine eigene lange Geschichte, von Schinkel, Fontane und Friedrich, während die Ostprignitz schon eher norddeutsch geprägt ist und gemeinsam mit der Westprignitz das historisch gewachsene stark landwirtschaftliche Gebiet der Prignitz repräsentiert. Braucht man überhaupt Landkreise wenn sie noch nicht einmal Identifikation schaffen? REINHARDT: Ich denke ja, denn man muss viele Themen auch regional verankern, abschichten und bearbeiten können, um auch die Spezifika der jeweiligen Gegenden abbilden zu können. Im Süden gibt es die Kohleproblematik, im Osten die Grenzproblematik, im Norden spielt die Windenergie eine viel größere Rolle. Mit diesen Unterschieden muss man umgehen und deshalb auch regional differenzieren. Das könnte man doch mit Regierungspräsidien machen. REINHARDT: Für die Verwaltung wäre das vielleicht ok, sicher auch für die Interessengruppen, die vorrangig mit Verwaltungen agieren. Ein Regierungspräsidium wäre aber eine rein hierarchisch organisierte Verwaltung. Das würde Mitgestaltung vor Ort verhin-


ralf reinhardt – wir brauchen schnell klarheit

dern. Dieser verlängerte Arm der Landesregierung würde dann weniger akzeptiert werden, als wenn es hier vor Ort demokratisch legitimierte Entscheidungen gäbe. Das ist ein großer Unterschied. Eine gute Mindestgröße In Brandenburg haben wir große, kleine, starke und schwache Kreise. Geht das auf Dauer gut? REINHARDT: Besser wäre eine größere Gleichmäßigkeit. Unser Problem ist, dass wir Kreise haben, die eine doppelt so große Einwohnerzahl haben wie andere. Meist sind die größeren Kreise in Brandenburg auch die finanzkräftigeren – und damit auch letztlich agiler und produktiver. Die kleineren Kreise mit geringerer Einwohnerzahl können mittlerweile nur noch marginal selbstständig entscheiden, wodurch eben auch Wahrnehmung und Identifikation schwächer werden. Im Papier der SPD-Zukunftskommission ist von mindestens 200.000 Einwohnern pro Kreis die Rede. Warum? REINHARDT: Man könnte sagen, das ist eine gute Betriebsgröße. Diese Größenordnung zeichnet sich gerade in demografisch gebeutelten Regionen als Tendenz ab. Mecklenburg-Vorpommern hat gerade Kreise gebildet, die sind sogar noch einmal deutlich größer. Auf der anderen Seite braucht man für eine

Kreisverwaltung eine gewisse Mindestgröße, um den Aufgabenkanon, den unsere Kreise derzeit und in der Zukunft vielleicht noch zusätzlich wahrnehmen, zu erfüllen. Bei der Vielzahl von Fach- und Teilbehörden braucht man jeweils zwei, besser drei Mitarbeiter um auch mal Elternzeit oder Krankheit abfedern zu können. Und ein echter Fachmann – und solche Leute braucht man heutzutage – möchte auch genügend Themen und Fachspezifika bearbeiten, die ihn ausfüllen sowie am Ende auch gut bezahlt werden. Und genau deswegen braucht man eine Mindestgröße für eine Verwaltungsstruktur, die sich dann auch noch selbst finanzieren kann. Wer kleinere Strukturen will, muss Abstriche bei der Verwaltungsleistung hinnehmen. Ein harter Schnitt ist besser Es gibt in der Kreisverwaltung Fachkräftemangel? REINHARDT: Ja. Wir haben schon heute Schwierigkeiten, IT-Fachleute zu gewinnen. Arztstellen sind unbesetzt und beim Bodenschutz zum Beispiel habe ich Schwierigkeiten, die Stellen so zu gestalten, dass sowohl Auslastung als auch Vertretung gewährleistet sind. Fachkräftemangel hat doch aber wenig mit Kreisgrößen zu tun. REINHARDT: Nicht direkt, aber indirekt. Der Fachkräftemangel verschärft das perspektive21

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thema – die zukunft der kommunen

Problem. Die Attraktivität einer Behörde steigt mit ihrer Größe, im übrigen auch die Bezahlung. Und hinzu kommt, dass man in größeren Behörden flexibler arbeiten und Arbeitsspitzen besser abfedern kann. Das Problem ist, dass auch kleinere Verwaltungen die gleichen Aufgaben erfüllen müssen und die gleiche Qualität liefern sollen wie große Verwaltungen. Vom Management her ist das aber schwieriger zu bewerkstelligen, weil man immer eine gewisse Grundstruktur braucht, die überall gleich ist. Die relativen Kosten für diese Grundstruktur sind für kleine Kreise aber einfach zu hoch.

Wenn, dann wären sie knapp darunter – und manche Prognose hat sich in der Vergangenheit überholt, im negativen wie im positiven. Wenn man diese Größe annäherungsweise hält, ist das in Ordnung.

Sollte denn eine Kreisreform Richtung 200.000 Einwohner eher schnell gehen oder sollte man sich besser Zeit lassen? REINHARDT: Ganz klar: Das sollte schnell gehen. Und zwar um Verunsicherung abzubauen, die nun mal da ist. Ein harter Schnitt ist besser, wenn man dann eine Aufbauphase hat, mit der eine dauerhafte und zukunftsfähige Struktur entsteht. Das motiviert am Ende auch die Mitarbeiter. Außerdem gehen in den nächsten Jahren viele Kollegen in Rente, so dass man auch Klarheit braucht, wie die Stellen in Zukunft aussehen und ob man sie auslasten kann.

Berlin für alle?

Die Bevölkerungsprognose für 2030 sagt auch den Berliner Umlandkreisen voraus, dass sie keine 200.000 Einwohner mehr haben werden. Was dann? 66

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REINHARDT:

Sollte man denn eher die bisherigen Kreise zusammenlegen oder völlig neu zuschneiden? REINHARDT: Man sollte Strukturen, die jetzt zwei Jahrzehnte zusammenarbeiten, nicht auseinanderreißen. Besser wäre es, bestehende Kreise zusammenzuführen und sich an historischen Regionen zu orientieren.

Sollten denn in Zukunft alle Landkreise einen Berlin-Zugang haben? REINHARDT: Das Tortenmodell der Kreisgebietsreform von 1993 war eine wirtschaftlich sinnvolle Entscheidung. Deshalb war bei uns der Druck auch nicht so groß wie in Sachsen-Anhalt oder Sachsen nach zehn Jahren schon wieder eine Kreisgebietsreform zu machen. Der Erfolg der Kreise im Berliner Umland gibt ihnen recht, denn der innerkreisliche Ausgleich zwischen Umland und Peripherie funktioniert dort gut. In DahmeSpreewald wird rund um Schönefeld das Geld verdient, mit dem man im Spreewald investieren kann. Dass aber alle Landkreise eine gemeinsame


ralf reinhardt – wir brauchen schnell klarheit

Grenze zu Berlin bekommen, kann ich mir kaum vorstellen. Stattdessen also eher mehr Ausgleich zwischen den Kreisen? REINHARDT: Ich denke nicht, dass wir ein Modell finden, das von allen dauerhaft akzeptiert wird. Was wir zumindest brauchen, sind leistungsstarke Kreise, die mit ihren Einnahmen auskommen können. Dazu gehört vor allem auch eine deutliche Entschuldung – sonst funktioniert die Reform nicht. Am Ende besser für alle Soll die Reform bei den Kreisen aufhören oder brauchen wir auch größere Gemeinden? REINHARDT: Viele Kommunen stellen sich heute schon die Frage, wie sie ihre Verwaltungen optimieren können. Mein Eindruck ist, dass es vielerorts bereits Diskussionen gibt, wie man sich besser und auch größer aufstellen kann. Diejenigen, die sich da bewegen, werden am Ende besser dastehen. Diejenigen, die vor dem demografischen Wandel und seinen Auswirkungen auf die Verwaltung auf Dauer die Augen verschließen, werden am Ende weniger selber entscheiden können. Der alleinige Ruf nach finanzieller Hilfe durch das Land ist aus meiner Sicht aufgrund der Schuldenbremse und des Schuldenstandes illusorisch. Auch in der Kommunalverwaltung ist immer ein Min-

destbesatz an Mitarbeitern nötig, um einen ordentlichen Betrieb zu gewährleisten. Das muss letztlich von den Bürgern bezahlt werden – und je mehr das sind, um so mehr kann sich eine Gemeinde auch an freiwilligen Aufgaben leisten. Im Zukunftspapier der SPD ist von mindestens 12.000 Einwohnern für eine eigenständige Gemeinde die Rede. REINHARDT: Das entspricht meiner Erfahrung als ehemaliger Bürgermeister. Ob das eine Einheitsgemeinde, ein Amt mit mehreren Gemeinden oder ganz andere Strukturen sind, darüber sollte man aber ruhig noch diskutieren. Rein betriebswirtschaftlich betrachtet, brauche ich etwa 12.000 Bürger um eine Verwaltung finanzieren zu können, die dann auch noch ausgelastet ist und ihre Arbeit in ordentlicher Qualität macht. Auch in den Kommunalverwaltungen brauchen wir zunehmend enormes Fachwissen und damit auch Fachkräfte mit Hochschulabschluss. Für die muss man ein attraktiver Arbeitgeber sein und außerdem muss man diese Leute auch bezahlen können. Halb so groß wie die Altkreise Die Prognose für 2030 sagt für den Kreis OPR etwa 80.000 Einwohner voraus. Das wären dann noch etwa sechs Kommunen. REINHARDT: Was wäre daran so schlimm? perspektive21

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thema – die zukunft der kommunen

Diese Kommunen wären dann etwa halb so groß wie die DDR-Kreise. REINHARDT: Die Verwaltung würde zwar für etwa 12.000 Menschen zuständig sein. Die Verwaltung kann aber auch für mehrere Orte arbeiten. Wichtig ist, dass sie für ihre Bürger gute Dienstleistungen erreichbar anbietet und aufrechterhält. In Kanada geht es auch Kriegt man da noch eine ordentliche demokratische Anbindung und Kontrolle hin? REINHARDT: Ja. Außerdem: Wenn eine Kommune in einer Haushaltsnotlage ist, wenn sie alle freiwilligen Leistungen streichen muss, weil die Kommunalaufsicht dies fordert, dann bleibt der Gemeindevertretung auch kaum noch Entscheidungsspielraum. Mangelverwaltung sorgt für politische Frustration. Ich denke, dass die großen Entfernungen im Flächenkreis mittlerweile zum Alltag gehören. In Skandinavien oder Kanada sind die Distanzen noch größer und trotzdem wird das Leben dort gut organisiert. Sollte man vielleicht unterschiedliche Strukturen im dicht besiedelten Berliner Umland und den dünn besiedelten äußeren Regionen einrichten? REINHARDT: Das fände ich weniger gut. Das sorgt für Unübersichtlichkeit und auch für ein Gefühl der Ungleichheit im Land und das kann nicht gut sein. 68

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Haben Sie denn einen bevorzugten Fusionspartner für Ostprignitz-Ruppin? REINHARDT: Meine Präferenz ist nicht ausschlaggebend. Wenn man OPR und die Prignitz zusammenlegen würde, käme man in Zukunft aber auch nicht auf 200.000 Einwohner. REINHARDT: Das mag sein. Aber die 200.000-Grenze sollte man eben auch nicht starr handhaben. In die Nähe sollte man kommen – und dabei auch natürliche und geschichtliche Zusammenhänge berücksichtigen. Sollte man vielleicht auch Havelberg zurück nach Brandenburg holen? REINHARDT: Von der Geschichte her wäre das sinnvoll und auch attraktiv. Aber das scheint mir doch eher unrealistisch. Wer, wo, was ist egal Verfolgen eigentlich die „normalen“Menschen diese Debatten oder ist das nur was für Experten? REINHARDT: Für „Lieschen Müller“ auf der Straße ist entscheidend, wo und wie sie schnell Kontakt mit der Verwaltung bekommt, ob ihr Problem schnell erledigt wird. Wer und wo was gemacht wird, ist den meisten relativ egal. Inzwischen geht ja auch viel über Telefon, E-mail oder Briefe. Der persönliche Kontakt ist nicht mehr zwingend notwendig. Früher haben die Leute im Büro des


ralf reinhardt – wir brauchen schnell klarheit

Bürgermeisters gesessen und ihm das Problem erklärt. Heute ist das kaum noch der Fall, weil auch der Bürgermeister viel unterwegs ist. Wichtig ist den Leuten, dass es noch Ansprechpartner in der Region gibt und dass sie nicht aus Potsdam oder Berlin fernge-

steuert werden. Die jetzt anstehenden Reformen werden lange nicht mehr so emotional diskutiert wie in den neunziger Jahren. Da war der Rückzug aus der Fläche für die Bürger viel stärker spürbar. Das Wichtigste ist: Wir brauchen schnell Klarheit, wo die Reise hingeht. I

RALF REINHARDT

ist Landrat des Kreises Ostprignitz-Ruppin. perspektive21

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Größer als das Saarland WIE DIE KREISGEBIETSREFORM IN MECKLENBURG-VORPOMMERN GELANG VON HEINZ MÜLLER

ecklenburg-Vorpommern, da sind sich die allermeisten Mecklenburger und Vorpommern, aber auch sehr viele Gäste völlig einig, ist das schönste Land der Bundesrepublik Deutschland. Endlose Ostseestrände, traumhafte Binnenseen – von denen die Müritz der größte ist, der ganz in Deutschland liegt – aber auch zahllose lauschige mittlere und kleinere Seen, das Peenetal, das viele als Amazonas Deutschlands bezeichnen, nahezu unberührte Wälder – und natürlich die dazu gehörige Tierwelt. Die wunderschöne Natur, die in vielen Bereichen nur selten durch menschliche Siedlungen unterbrochen wird, sie lässt den Naturfreund mit der Zunge schnalzen und trägt maßgeblich zum atemberaubenden Wachstum der Tourismuswirtschaft bei. Aber für den, der kommunale Daseinsvorsorge und der Dienstleistungen für die Bürgerinnen und Bürger zu organisieren hat, für den bereitet die Siedlungsstruktur ein großes Problem. Mecklenburg-Vorpommern ist eben auch das mit Abstand am dünnsten besiedelte Land Deutschlands. Nur etwa 70 Einwohner leben hier durchschnitt-

M

lich auf einem Quadratkilometer. Rechnet man noch die Hansestadt Rostock mit ihren rund 200.000 Einwohnern und die Landeshauptstadt Schwerin mit etwas unter 100.000 Einwohnern heraus, so kann man ermessen, wie dünn diese Besiedlung ist. In der Mehrzahl der bisherigen Landkreise liegt sie bei unter 50 Menschen pro Quadratkilometer. Will man also kommunale Einheiten formen, die über eine Bevölkerungszahl verfügen, die ein wirtschaftliches Handeln möglich macht, kommt man ganz automatisch zu sehr großen Flächen. Von 31 auf 12 Die demografische Entwicklung tut ein Übriges. Hatte das Land an der Ostsee zu Wendezeiten noch fast zwei Millionen Einwohner, so ist diese Zahl bis heute auf gut 1,6 Millionen Einwohner abgesunken. Wenn man also, wie 1994 in den politischen Diskussionen (allerdings nicht im Gesetzestext realisiert) geschehen, eine Richtgröße von 100.000 Einwohnern pro Landkreis annimmt, so sind in den 20 Jahren seit der Wende drei Landkreise komplett verschwunden. perspektive21

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thema – die zukunft der kommunen

Schon gleich nach der Gründung des Bundeslandes war klar, dass die aus der DDR übernommene Kommunalstruktur keinen Bestand haben könnte. Sie gliederte das Land in sechs kreisfreie Städte und 31 Landkreise, von denen etwa der Landkreis Röbel weniger als 18.000 Einwohner hatte. Eine erste Kreisgebietsreform formte 1994 daraus zwölf neue Landkreise, ließ dabei aber das Territorium und den Status der sechs kreisfreien Städte unangetastet, was bezüglich der Fläche von diesen Städten bis heute beklagt wird. Unmittelbar nach der Jahrtausendwende begann die Diskussion um die Kreisgrößen erneut. Eine ganze Reihe der bestehenden Kreise unterschritt die ursprünglich diskutierte Richtgröße von 100.000 Einwohnern deutlich und verloren weiterhin an Bevölkerung. Doch neben dieses demografische Argument trat zunehmend die Frage der finanziellen Ausstattung der kommunalen Ebene. Hier kam es zunehmend zu Problemen, insbesondere auch für den kreisangehörigen Raum, der unter ständig steigenden Kreisumlagen litt. Darüber hinaus wurde die seinerzeit bestehende Aufgabenverteilung zwischen der Landes- und der kommunalen Ebene, insbesondere auf der Ebene der Kreise und kreisfreien Städte, zunehmend kritisiert und eine weitgehende Kommunalisierung von Aufgaben gewünscht. Die Zusammenführung von Vollzugsaufgaben auf der 72

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Ebene der Kreise und kreisfreien Städte erschien vielen geradezu als ein zentrales Moment zur Schaffung einer zukunftsfähigen Verwaltungsstruktur. Andererseits, auch dies war vielen klar, konnte eine solche Zusammenführung von Aufgaben bei den damals bestehenden 18 Gebietskörperschaften – sechs kreisfreie Städte und zwölf Landkreise – kein Königsweg sein, da diese schlicht zu klein waren. Ohne kreisfreie Städte So kam es in der rot-roten Regierungszeit zu einem Gesetzentwurf der Landesregierung für eine Verwaltungsreform, die sowohl eine Kreisgebietsreform als auch eine Funktionalreform – und damit eine Aufgabenübertragung auf die kommunale Ebene – umfassen sollte. Die angestrebte Reform war außerordentlich weitgehend und unter dem Aspekt einer Verwaltungsmodernisierung konsequent. Kreisfreie Städte sollte es nicht mehr geben; das Gebiet des Landes wurde in fünf Landkreise eingeteilt. Staatliche Aufgaben wurden in ganz erheblichem Umfang auf diese Landkreise übertragen. Flankiert wurde dieses Vorhaben durch eine allerdings nur sehr schmale Aufgabenübertragung von der kreislichen Ebene auf die kreisangehörigen kommunalen Verwaltungen. Um diesen Entwurf, der mit dem Namen des sozialdemokratischen


heinz müller – größer als das saarland

Innenministers Gottfried Timm verbunden ist, gab es im Land eine Auseinandersetzung, die äußerst erbittert und mit extremer Härte geführt wurde. Der Widerstand kam zum einen aus den Landkreisen und kreisfreien Städten, die ihre Eigenständigkeit bzw. Kreisfreiheit erhalten wollten. Zum Anderen nutzte, parteipolitisch betrachtet, die CDU alle vorhandenen publizistischen und politischen Möglichkeiten für einen wahren Kreuzzug gegen diese Verwaltungsreform. Nach einem quälend langen und sehr kräftezehrenden parlamentarischen Verfahren wurde das Gesetz mit zahlreichen Änderungen letztlich 2006 vom Landtag beschlossen, wobei es zu der abstrusen Situation kam, dass die innerlich zerrissene damalige PDS zwar als Fraktion dem Gesetz zustimmte, die Mehrheit ihrer Parlamentarier es aber ablehnte. Stopp durch Verfassungsgericht Zu dem für 2009 zur Kommunalwahl geplanten Inkrafttreten kam es jedoch nicht. Eine Klage von 24 CDULandtagsabgeordneten und zahlreichen kommunalen Körperschaften endete im Jahre 2007 mit einem Urteil des Landesverfassungsgerichts, das diese Reform mit Ausnahme der Übertragung der Aufgaben vom Kreis auf den kreisangehörigen Raum kippte. Das Urteil hat in juristischen Fachkreisen

kontroverse Diskussionen ausgelöst und in seiner Massivität selbst die Kläger überrascht. Das Bild von Kommunalpolitik, das sich in Teilen dieses Urteils wiederfindet, geht wohl auch von Vorstellungen aus, die vielleicht den Idealbildern des Freiherrn vom Stein entsprechen, aber nicht mehr der Wirklichkeit des beginnenden 21. Jahrhunderts. Ein kluger Kritiker meinte daher auch, es handele sich nicht um ein Urteil, sondern um einen „demokratieromantischen Essay“. Ein neuer Anlauf Doch auch solche Urteile müssen in einem Rechtsstaat beachtet werden. Die politische Situation im Land hatte sich allerdings zwischen dem Beschluss 2006 und dem Urteil 2007 grundlegend verändert. Nach der Landtagswahl 2006 war eine Koalitionsregierung aus SPD und CDU gebildet worden. Im Koalitionsvertrag gingen diese Partner offenkundig davon aus, dass das Gericht vielleicht kleinere Reparaturen an dem Gesetz verlangen könnte, es aber nicht in Bausch und Bogen verwerfen würde. Konsequenterweise war also vereinbart worden, dass die Landesregierung gegebenenfalls den Entwurf für ein Reparaturgesetz vorlegen würde. So entstand die paradoxe Situation, dass jetzt Lorenz Caffier, einer der Kläger gegen das Gesetz, das sein Amtsvorgänger auf den perspektive21

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thema – die zukunft der kommunen

Weg gebracht hatte, als Innenminister ein neues Gesetz vorlegen musste, um die entstandene Lücke zu füllen. Dies hat er getan, was in der Folgezeit wiederum innerhalb der CDU zu massiven Auseinandersetzungen führte, nicht zuletzt, weil Landtagsabgeordnete, die nur wenige Jahre vorher eine solche Kreisgebietsreform mit Feuer und Schwert bekämpft hatten, jetzt fleißig an einer Neuauflage arbeiteten. Die Vokabel „Verräter“ gehörte in zahlreichen christdemokratischen Gliederungen zum alltäglichen Vokabular. In den öffentlichen Verlautbarungen der Christdemokraten zur Erklärung ihrer niederschmetternden Wahlniederlage des Jahres 2011 spielt deshalb die Kreisgebietsreform immer wieder eine herausragende Rolle. Der neue Anlauf setzte gleichfalls ein außerordentliches parlamentarisches Verfahren in Gang. Noch bevor die Landesregierung einen Gesetzentwurf vorlegte, beschäftigte sich eine Enquete-Kommission zur „Stärkung der kommunalen Selbstverwaltung“ mit den Zielen, dem Leitbild und den Leitlinien für die zu beschließende Reform. Bereits hier wurde erkennbar, dass die Euphorie, mit der beim ersten Versuch eine Aufgabenübertragung vom Land auf die Kreise gefeiert wurde, einer differenzierteren Einschätzung gewichen war. Jetzt war der Leitgedanke, dass eine Aufgabe dort erfüllt werden muss, wo sie am besten erfüllt wird. 74

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Und was „am besten“ bedeutet, wird auch gleich definiert: rechtssicher, in hoher fachlicher Qualität, wirtschaftlich, bürger- und wirtschaftsnah. So nimmt es nicht Wunder, dass die am Ende des Prozesses entstandenen Gesetzentwürfe keine so üppige Aufgabenübertragung auf die kommunale Ebene mehr vorsahen, sondern zum Leidwesen vieler kommunaler Vertreter nur noch eine sehr eingeschränkte Funktionalreform enthielten. Aus zwölf mach fünf Das parlamentarische Beratungsverfahren nach Einbringung der Gesetzentwürfe – Aufgabenübertragung und Kreisgebietsreform wurden in zwei zusammen beratenen Gesetzen vorgelegt – war außerordentlich umfangreich. Allein die mündliche Anhörung, in der 124 Stellungnahmen abgegeben wurden, dauerte mehrere Tage. Am Ende stand ein Paket, das der Landtag im Sommer 2010 beschloss und mit dem nicht wie beim ersten Versuch fünf Landkreise gebildet werden, sondern jetzt sechs und bei dem zwei Städte, Rostock und Schwerin, kreisfrei bleiben sollten. Die übrigen vier kreisfreien Städte – Neubrandenburg, Stralsund, Greifswald und Wismar – erhalten den neu geschaffenen Status einer „großen kreisangehörigen Stadt“. Der größte der Landkreise, der Landkreis Mecklenburgische Seenplatte, ist mit


heinz müller – größer als das saarland

5.468 Quadratkilometern der größte Landkreis Deutschlands und damit deutlich größer als das Saarland. Viele Gutachten, ein Ergebnis Auch gegen dieses Gesetz wurde eine Klage vor dem Landesverfassungsgericht, dessen personelle Zusammensetzung sich mittlerweile jedoch massiv verändert hatte, angestrengt. Die Klage scheiterte allerdings, so dass die Wahlen der Kreistage und Landräte wie vorgesehen am 4. September 2011 zusammen mit den Landtagswahlen stattfanden. Nach rund einem Jahrzehnt äußerst erbitterter Auseinandersetzungen ist also die zweite Kreisgebietsreform nach der Wende im Lande Mecklenburg-Vorpommern Wirklichkeit geworden. Dabei ist letztlich jedoch das Thema einer massiven Aufgabenübertragung deutlich in den Hintergrund getreten. Zentrales Argument für die Befürworter der Reform war neben der demografischen Entwicklung insbesondere die durch die Reform erhoffte Einsparung. Zahlreiche Gutachten, von unterschiedlichen Seiten und mit unterschiedlichem Ansatz angefertigt, kommen ausnahmslos zu dem Ergebnis, dass mit einer erheblichen Einsparung zu rechnen sei. Sie beruhten im Wesentlichen auf Skaleneffekten, die sich in der inneren Verwaltung noch wesentlich deutlicher bemerkbar

machen als in der nach außen gerichteten Leistungsverwaltung. Interessant auch, dass eines dieser Gutachten in der Kommunalen Gemeinschaftsstelle für Verwaltungsmanagement (KGSt) entstanden ist, einer von Kommunen und kommunalen Verbänden getragenen Einrichtung. Dies hinderte und hindert die Kritiker einer Reform nicht daran, immer wieder zu behaupten, Einspareffekte werde es nicht geben und sie seien nicht nachgewiesen. Die Befürworter allerdings haben irgendwann aufgehört, der Fülle von Gutachten weitere hinzuzufügen, weil dies zwar Geld gekostet, wohl aber die Überzeugungswirkung bei den Kritikern nicht erhöht hätte. Land und Kommunen sparen In welchem Umfang und vor allem wie schnell diese Einspareffekte in den nächsten Jahren realisiert werden, bleibt abzuwarten; dies hängt natürlich auch vom Verhalten der handelnden Personen ab, die den Prozess der Zusammenführung von Verwaltungen und des Hebens von Einsparpotentialen bewusst fördern, aber auch torpedieren können. Aber angesichts der Finanzsituation des Landes und der kommunalen Ebene kann ein Einsparbetrag, der nach Gutachtermeinung irgendwo zwischen 60 und 100 Millionen Euro jährlich liegen wird, nicht einfach liegen gelassen werden. Dies perspektive21

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gilt erst recht, wenn man sich die Situation der kreisangehörigen Städte und Gemeinden ansieht, die zunehmend unter einer erdrückenden Kreisumlage leiden und damit auch Handlungsmöglichkeiten einbüßen. In 13 Jahren einmal im Amt Die Einsparmöglichkeiten basieren hochgradig auf der Reduzierung von Personal. Ängste, dass Mitarbeiter entlassen werden müssen, sind jedoch nicht angebracht. Dennoch enthält das Gesetz, um hier ein klares Signal zu den Beschäftigten auszusenden, eine Kündigungsschutzklausel. Die Altersstruktur des vorhandenen Personals lässt jedoch klar erkennen, dass in den nächsten Jahren so viele Mitarbeiter altersbedingt ausscheiden, dass eher das umgekehrte Problem entstehen wird: Es müssen deutliche Anstrengungen unternommen werden, um in den nächsten Jahren noch den notwendigen Nachwuchs für gut funktionierende Verwaltungen zu gewinnen. Ein immer wieder diskutiertes Thema ist die Frage der weiten Wege. Hier wird von den Kritikern der Reform manche Mähr in die Welt gesetzt, was diese Kreisgebietsreform den Bürgern angeblich zumutet. Dabei bleibt in aller Regel außer Betracht, dass der durchschnittliche Bürger äußerst selten persönlich seine Kreisverwaltung aufsucht. Beim Autor die76

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ser Zeilen war dies in den 13 Jahren, in denen er an seinem jetzigen Ort wohnt, genau ein einziges Mal. Zudem soll die Kreisgebietsreform ja nicht isoliert stehen: Es geht um mehr, als nur die Kreisgebiete zu vereinen. Gleichzeitig soll und muss erreicht werden, dass Bürger ihre Anliegen, die sie mit kommunaler Verwaltung zu regeln haben, grundsätzlich in der örtlichen, und das heißt in Mecklenburg-Vorpommern in der Stadt- oder Amtsverwaltung, regeln können. Hier gibt es durchaus ermutigende Entwicklungen. Weite Wege für den Kreistag Etwas anders ist diese Frage für kommunalpolitisch Tätige und ihr Ehrenamt zu bewerten. Kreistagsmitglieder, aber auch Funktionsträger von kreisweit tätigen Organisationen, etwa im Sport- oder Sozialbereich, werden zukünftig in der Tat häufiger erhebliche Wege zurückzulegen haben. Hier ist am Ende eine Abwägung zu treffen, ob dies tatsächlich ausreicht, um eine solche Kreisgebietsreform abzulehnen. Deshalb gibt es eine Reihe von Möglichkeiten für Erleichterungen und für flankierende Maßnahmen. Eine Anpassung der Entschädigung für Kreistagsmitglieder, derzeit in Arbeit, und eine im Koalitionsvertrag von SPD und CDU 2011 vorgesehene Kommission zur Frage von Aufwandsentschädigungen insgesamt, werden sicherlich


heinz müller – größer als das saarland

nicht das Problem lösen, wohl aber deutlich mildern. Seit dem Urteil des Landesverfassungsgerichts ist diese Diskussion angesichts der Fakten auch deutlich zurückgegangen. Streit um Namen Dafür haben bei der Beschlussfassung und auch jetzt nach dem Inkrafttreten andere Themen die Öffentlichkeit sehr bewegt. Das erste war die Frage der Kreissitze. Insbesondere im Kreis Ludwigslust-Parchim mit den beiden im Kreisnamen auftauchenden heftig rivalisierenden Städten und in Vorpommern-Greifswald mit dem deutlich größeren, aber sehr peripher gelegenen Greifswald und dem zentral gelegenen, deutlich kleineren Anklam, schlugen die Wellen sehr hoch. Auch die Kreisnamen, die durch Bürgerentscheide

festgelegt wurden, waren teilweise heftig umstritten. Und jetzt, da die Kreise gebildet sind, geht es hochgradig um Deutschland liebstes Kind: um die Frage, welches Autokennzeichen der neue Kreis denn wohl bekommen möge. Solche Diskussionen mögen aus wissenschaftlicher Sicht uninteressant sein; für die Betroffenen sind sie es ganz offenkundig nicht. Aber solche Diskussionen werden abebben, wenn Entscheidungen getroffen sind. Was bleibt, ist eine unter großen Schmerzen geborene Strukturentscheidung, die ganz sicher nicht allein, aber als notwendiger Bestandteil eines umfassenden Konzeptes die Handlungsfähigkeit des Landes und der Kommunen nachhaltig stärken hilft und die bei aller Kritik im Detail für dieses Land unverzichtbar war. I

HEINZ MÜLLER

ist Parlamentarischer Geschäftsführer und kommunalpolitischer Sprecher der SPD-Landtagsfraktion in Mecklenburg-Vorpommern. perspektive21

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Die Heimat verschwindet nicht ÜBER SÄCHSISCHE ERFAHRUNGEN MIT FUNKTIONALUND KREISGEBIETSREFORMEN SPRACH THOMAS KRALINSKI MIT FRANK PFEIL PERSPEKTIVE 21: Mitte der neunziger Jahre gab es in Sachsen eine Kreisgebietsund Gemeindegebietsreform. Warum war ein Jahrzehnt später eine weitere nötig? FRANK PFEIL: Mit der Kreisgebietsreform von 1994/96 wurde die kleinteilige verwaltungsräumliche Gliederung (48 Landkreise und sechs kreisfreie Städte), die Sachsen von der DDR „geerbt“ hatte, auf 22 Landkreise und sieben kreisfreie Städte reduziert. In der weiteren Entwicklung zeigte sich bald, dass die Verwaltungsgliederung auf kreislicher Ebene auch angesichts eines rascher voranschreitenden demografischen Wandels, aber auch der notwendig werdenden Spezialisierung der Verwaltungen auf der Kreisebene den Anforderungen an eine zukunftsfähige und modernen Verwaltung nicht mehr genügten. Auch erschien es erforderlich, die staatliche Verwaltung, die bis dahin eine Aufbauverwaltung war, den künftigen Herausforderungen anzupassen. Diese Sachlage führte zu der Absicht, die Verwaltungsstruktur weiter zu optimieren.

Die Verwaltungsreform von 2008 bestand aus zwei Teilen: einer Funktionalund einer Gebietsreform. Hätte man das nicht besser nacheinander machen sollen? PFEIL: Das sind zwei Prozesse, die aufeinander zugelaufen sind. Auf der einen Seite ging es um Aufgabenübertragung – und zwar in hohem Maße auf die kreisliche Ebene. Auf der anderen Seite konnte man diese zusätzlichen Aufgaben nur mit größeren Struktureinheiten bewältigen. Deshalb war die Parallelität sehr wichtig. Vier Jahre Diskussion Wie lange hat der Prozess gedauert? PFEIL: Insgesamt waren das vier Jahre. Ausgangspunkt war der Koalitionsvertrag zwischen CDU und SPD aus dem Jahre 2004. Dort wurde verabredet, Staatsaufgaben auf die kreisliche Ebene zu verlagern, Kontrollaufgaben auf die mittlere Ebene – die es bei uns in Sachsen gibt – zu konzentrieren und das mit der Neuordnung der Kreise zu verbinden. In einem zweiten Schritt perspektive21

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sollte eine Expertenkommission Vorschläge erarbeiten… … die dann drei Eckpunkte definierte… PFEIL: Das tragende Prinzip sollte die Erstkompetenzvermutung auf der kommunalen Ebene sein. Zweitens sollten die verbleibenden staatlichen Aufgaben neu geordnet und auf wenige Behörden konzentriert werden. Entscheidungen sollten möglichst aus einer Hand getroffen werden. Und drittens sollte es eine Kreisgebietsreform nur geben, wenn es einen ausreichenden Aufgabenzuwachs bei den Kreisen gab. Nach dem Vorschlag der Expertenkommission haben wir genau geprüft, ob Aufgaben verzichtbar oder privatisierbar sind. Dann haben wir geschaut, ob die verbleibenden Aufgaben durch den Freistaat ausführbar sind oder ob man sie kommunalisieren kann. Danach haben wir einen Vorschlag unterbreitet und dazu mehr als 600 Institutionen und Verbände angehört. Anschließend wurde das Gesetzespaket Mitte 2007 vom Kabinett verabschiedet. Im Landtag gab es noch einmal umfangreiche Anhörungen. Das Gesetz wurde Anfang 2008 verabschiedet und trat am 1. August 2008 in Kraft. Bleiben wir erst mal bei der Kreisgebietsreform. Das Gesetz sieht eine Mindestgröße von 200.000 Einwohnern für die Kreise vor. Wie ist diese Größe zustande gekommen? 80

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Die erste Reform von 1994 sah eine Mindestgröße von 125.000 Einwohnern vor. Nun muss man zwei Punkte sehen. Ein erneuter gesetzlicher Eingriff konnte nur erfolgen, wenn substanziell Änderungsbedarf besteht. Und zweitens war klar, dass mit dem erheblichen Aufgabenzuwachs Landkreise nötig sind, die dieses neue Aufgabenvolumen auch tragen können. Das wurde abgewogen mit topografischen und geografischen Verhältnissen, so dass wir zu dem Schluss kamen, dass es keine komplette Neugliederung in der Fläche geben, sondern bestehende Strukturen möglichst in Gänze zusammengeführt werden sollten. Mit dieser Größenordnung haben wir ein vernünftiges Maß an Überschaubarkeit, Bürgernähe und Leistungskraft gefunden. PFEIL:

Nur 3 kreisfreie Städte Der absehbare Bevölkerungsrückgang wurde da bereits eingepreist? PFEIL: Im Prinzip ja, da eine Orientierung an der damals aktuellen Bevölkerungsprognose (2020) erfolgte. Nur einer der zehn Kreise überschreitet die Mindestgröße derzeit geringfügig. Alle anderen liegen deutlich über der Zahl von 200.000 Einwohnern. Mit der Reform wurde auch die Zahl der kreisfreien Städte stark von sieben auf drei reduziert. Gab es da Widerstand?


frank pfeil – die heimat verschwindet nicht

Nur noch Leipzig, Dresden und Chemnitz sind kreisfrei. Görlitz, Hoyerswerda, Zwickau und Plauen haben diesen Status verloren, wobei – bis auf Hoyerswerda – alle diese Städte jetzt Kreissitz sind. Der Widerstand war allerdings nur in Plauen so groß, dass man vor das Verfassungsgericht gezogen ist. Im Vogtland wurde mit dem „Vogtländischen Weg“ ein Kooperationsmodell als Alternative zur Einkreisung vorgeschlagen. Danach hätte die Stadt Plauen einen Teil der Aufgaben, der Vogtlandkreis den größeren Teil der Aufgaben für den jeweils anderen übernommen. Das Verfassungsgericht ist jedoch in der Bewertung dem Gesetzgeber gefolgt, dass die Ziele der Verwaltungsreform so nicht erreichbar wären.

PFEIL:

Haben Sie auch überlegt, die Zahl der Kreise sehr stark – zum Beispiel auf drei oder vier – zu reduzieren? PFEIL: Solche Überlegungen waren mit den Vorschlägen der Expertenkommission erledigt. Diese Kreise hätten dann um die 5.000 Quadratkilometer Fläche – das ist mit unserer kleinteiligen Siedlungsstruktur nicht vereinbar. Für jeden zu fusionierenden Kreis hat das Land eine Anschubfinanzierung von zehn Millionen Euro gegeben, insgesamt 260 Millionen. Was wurde mit dem Geld gemacht? PFEIL: Damit sollten die Einkreisung der bis dahin kreisfreien Städte, die Zusam-

menführung der Kreisverwaltungen und deren Umbau unterstützt, nötige Infrastruktur errichtet werden. Ferner wurde das Geld für Fortbildungen, sozialverträglichen Personalabbau und auch zur Schuldentilgung eingesetzt. 42 Behörden abgeschafft Gab es unterschiedliche Herangehensweisen für dünn besiedelte Regionen wie Nordsachsen oder Teile der Lausitz? PFEIL: Nein. Das zugrundeliegende Leitbild für die Kreisgebietsreform hat die unterschiedlichen Bedingungen insgesamt berücksichtigt und war flächendeckend Maßstab für die gesetzgeberische Entscheidung. Mit der Funktionalreform wurden in Sachsen 42 Behörden abgeschafft. Wurden damit auch Aufgaben reduziert oder wurden sie „nur“ verlagert? PFEIL: Aufgabenreduzierung hat es nicht in nennenswertem Umfang gegeben. … und Privatisierung? Auch nicht. Der Grundsatz war, die Aufgaben stärker zu den Betroffenen zu verlagern. Das sollte durch Behördenabbau und gleichzeitiger Bündelung der verbleibenden Aufgaben auf der Landesebene erfolgen. PFEIL:

Welche Aufgaben wurden auf die Kreise übertragen? perspektive21

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thema – die zukunft der kommunen

Zum Beispiel die Aufgaben, die bis dahin von den Staatlichen Vermessungsämtern wahrgenommen wurden. Damit fielen auf Landesebene zwölf Ämter weg. Im Bereich Soziales und Familie wurden wesentliche Aufgaben an die Kreise, kreisfreien Städte und den Kommunalen Sozialverband Sachsen gegeben. Die Zuständigkeiten der Ämter für ländliche Entwicklung sind ebenfalls im Wesentlichen auf die Kreise übergegangen.

PFEIL:

Wie groß sind die Einspareffekte sowohl der Funktional- als auch der Kreisgebietsreform? PFEIL: Das ist eine Frage, die immer wieder gestellt wird. Solche Einspareffekte lassen sich natürlich nicht in Euro und Cent berechnen, zumal die Reform ja erst vor kurzem in Kraft getreten ist. Professor Seitz hatte in einem Gutachten den Gesamtumfang der Einsparungen der Reform auf 260 Millionen Euro beziffert. Mit der Aufgabenübertragung hat es für die Kreise und die kreisfreien Städte – nach dem Konnexitätsprinzip – einen Mehrbelastungsausgleich gegeben. Das heißt, die Kommunen erhalten für die zusätzlichen Aufgaben einen finanziellen Ausgleich. PFEIL: Ja. Dieser Ausgleich war für die ersten drei Jahre jeweils gleich und schmilzt seitdem bis 2018 Schritt für Schritt ab – und zwar insgesamt um 82

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etwa 30 Prozent. Dieses Abschmelzen ist die sogenannte Effizienzrendite, das heißt, am Ende wird für die Aufgabenerledigung weniger Geld ausgegeben. Immerhin wurden parallel bis zu vier Kreisverwaltungen zu einer zusammengeführt, allein dadurch ergeben sich Einsparungen. Erklären, was passiert Die Kreise müssen also am Ende effektiver arbeiten. PFEIL: Ja. Hinzu kommt ein zweiter Effekt. Bei komplexen Entscheidungsprozessen, wie im Bau- und Planungsbereich, bündeln wir Verwaltungsprozesse auf der Landkreisebene. Da die Anforderungen an die Verwaltung steigen, wird auch die Spezialisierung zunehmen. Mit der jetzigen Kreisgröße haben wir ein Aufgabenvolumen, für das es sich lohnt, Spezialisten zu entwickeln. Das war vorher nicht in dem Maße der Fall. In den neunziger Jahren gab es bei den Kreisgebietsreformen ein hohes Maß an Emotionalität. War das diesmal ähnlich? PFEIL: Bei der Funktionalreform hat es nur wenig öffentliche Beteiligung und auch nur wenig Emotionalität gegeben. Bei den Kreiszusammenschlüssen war das schon etwas anders. Allerdings konzentrierte sich das im Wesentlichen auf Detailfragen, wie der, welche Stadt den neuen Kreissitz bekommt. Ansons-


frank pfeil – die heimat verschwindet nicht

ten war die öffentliche Anteilnahme und auch Emotionalität weitaus geringer als in den neunziger Jahren. Gab es denn eine Strategie, um das Reformvorhaben zu erklären, um die Leute mitzunehmen? PFEIL: Schon allein die Art und Weise, wie das Projekt angegangen wurde, war selbst eine Botschaft: Die Politik hat klar ihren Gestaltungswillen erklärt und gesagt, was sie will. Zweitens wurde der Prozess so transparent wie irgend möglich gestaltet, das ging los mit der Vorstellung der konzeptionellen Grundlagen der Reform. In Brandenburg berät dazu ja jetzt eine Enquete-Kommission. Das halte ich für ganz richtig, um Leute mitzunehmen. Kein Teufelswerk Begibt man sich nicht schnell in die Gefahr, missinterpretiert zu werden? PFEIL: Um das zu vermeiden, ist es sehr wichtig, dass man der Öffentlichkeit erklärt, was passiert. Man nimmt den Menschen ja nicht ihre Heimat, wenn man Verwaltungszuständigkeiten verändert. Deshalb muss man erklären, was man neu regelt und was nicht. Dazu gehört auch, ein Leitbild aufzustellen, mit dem konzeptionell deutlich wird, welches die Prämissen sind und welche Ziele man mit der Reform angehen will. Dafür muss man sich Zeit nehmen – allerdings muss man

trotzdem mit einer klaren Zeitperspektive arbeiten und nicht alles auf den St. Nimmerleinstag schieben. Solche Reformen sind kein Teufelswerk. Man kann den Prozess erfolgreich gestalten. Das kann gelingen, wenn man stärker an die Verantwortung aller für die Zukunft appelliert. Wenn man deutlich macht, dass es nicht um Veränderungen wegen der Veränderungen geht, sondern dass wir auf eine veränderte Welt zulaufen. Wenn man klar macht, dass die Kommunen in noch stärkerem Umfang unmittelbarer Ansprechpartner für die Bürger werden sollen – und damit sie das auch sein können, wir die Voraussetzungen dafür schaffen. Hält denn diese Reform jetzt länger als ein Jahrzehnt? Oder anders gesagt: Ist jetzt Schluss mit Verwaltungsreformen? PFEIL: Das ist eine schwierige Frage, denn die Erfordernisse der Anpassung der öffentlichen Verwaltung an die Anforderungen der Zukunft bestehen fortwährend. Natürlich gibt es die klaren Erklärungen, dass jetzt erst mal Schluss ist mit den Gebietsreformen. Auf der kreislichen Ebene sind wir auch an einem Punkt, wo man so schnell nicht nochmal die Möglichkeit hat, gesetzgeberisch einzugreifen. Bei den Gemeindestrukturen gestalten sich die Prozesse etwas anders. 1990 hatten wir in Sachsen 1.623 Gemeinden. In den Folgejahren wurde eine Vielzahl perspektive21

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thema – die zukunft der kommunen

von freiwilligen Gemeindezusammenschlüssen vollzogen. Der Gesetzgeber hat mit der Gemeindegebietsreform 1998 den verbliebenen unmittelbaren Handlungsbedarf geregelt. Dadurch wurde die Zahl von 773 auf 546 Städte und Gemeinden reduziert, im Moment sind wir bei 468. Das ist schon ganz erstaunlich, denn auch freiwillige Gemeindezusammenschlüsse sind häufig schmerzhaft und gehen mit viel Engagement und Emotionen einher. Besser mit größeren Einheiten Bei den Gemeinden sind Sie also noch nicht am Ende der Reformen. PFEIL: Was jetzt passiert, läuft freiwillig. Seit der Gemeindegebietsreform ist die Zahl der Gemeinden um knapp 80 zurückgegangen. Dass heißt, dass etwa ein Drittel der sächsischen Kommunen sich in den letzten zehn Jahren freiwil-

lig und erfolgreich an einem gemeindlichen Zusammenschluss beteiligt hat. Man kann also nicht sagen, dass da irgendwie Schluss ist. Ich bin der festen Überzeugung, dass wir bestimmte öffentliche Aufgaben auch auf der Gemeindeebene effizienter gestalten können und müssen. Deshalb wird es da auch weitere Anpassungen geben. Gesetzgeberisch soll da aber erst mal nicht flächendeckend eingegriffen werden. Warum schließen sich die Gemeinden denn zusammen? PFEIL: Das ist sehr unterschiedlich. Vielerorts gibt es aber die Einsicht, dass man eine hinreichende Leistungskraft als Kommune braucht, wenn man öffentliche Aufgaben ordentlich erledigen will. Anders kann man bei zurückgehender Bevölkerungszahl nicht alle Daseinsvorsorgefunktionen erfüllen. Mit größeren Einheiten geht das besser. I

DR. FRANK PFEIL

ist Abteilungsleiter im Sächsischen Staatsministerium des Inneren. 84

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Stärken stärken 2030 INTERNATIONALISIERUNG UND EUROPÄISIERUNG SCHAFFEN DAS MODERNE BRANDENBURG VON TILL MEYER

randenburg ist keine Insel. Sondern ein Schiff auf großer Fahrt. Internationalisierung und Europäisierung sind die treibenden Kräfte unserer Zeit. Sich ihnen zu entziehen, ist keine Option. Die Idee, diesen Kräften willkürlich ausgeliefert zu sein – wie ein kleines Schiff, das steuerlos im Meer der Globalisierung schwimmt – ist nichts anderes als ein Untergangsszenario. Aber wie kann es gelingen, in dieser immer globaler werdenden Welt, in einer EU mit 500 Millionen Einwohnern, mehr zu sein als nur ein Spielball der Wellen? Die Antwort liegt auf der Hand: Durch alles, was unsere Stärken weiter stärkt, und durch die Zusammenarbeit mit anderen. Um im Bild zu bleiben: Brandenburg muss im Konvoi starker Schiffe segeln, mit Kompass, Karte und Augenmaß, entschlossen und solidarisch, so dass man sich aufeinander verlassen kann, auch wenn die Wellen hoch schlagen. „Internationalisierung“ meint die Ausgestaltung der länderübergreifenden Kooperation unter strategischen Gesichtspunkten, den Prozess des grenzüberschreitenden Zusammen-

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wachsens. Es gibt in immer mehr Gesellschafts-, Wirtschafts- und Politikbereichen die Ausweitung von Tätigkeiten auf andere Staaten und die Erweiterung der Zuständigkeit auf mehrere Staaten. Die Welt wird kleiner. In Europa wächst die Verflechtung in allen gesellschaftlichen Bereichen. Die Beziehungen verdichten sich, Grenzen spielen kaum noch eine Rolle. Der Wind des Wandels Auf die Internationalisierung von Produktionskapazitäten folgen die Internationalisierung von Forschungs- und Entwicklungskapazitäten sowie die Internationalisierung des Arbeitsmarktes. Die Bedeutung dieses epochalen Wandels in ihrem ganzen Ausmaß ist vielen Menschen nicht bewusst. Selbst wer die ungeheuren ökonomischen, ökologischen und sozialen Transformationsprozesse nicht intellektuell wahrnimmt, ist doch von ihnen massiv betroffen. Deshalb muss jedes Bundesland selbst aktiv steuern, Interessen definieren, Schwerpunkte setzen – in einem neuen Maßstab. Wer nicht perspektive21

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thema – die zukunft der kommunen

Treiber der Internationalisierung ist, wird zum Getriebenen. Im Prozess der Internationalisierung lassen sich zwei Trends beobachten: VERWANDTE PROBLEMLAGEN. Ob man nach Stettin schaut oder nach Potsdam, Pasewalk oder Plauen, die Probleme sind bekannt. Die grand challenges (Energie, Klima, Demografie) betreffen ausnahmslos alle Menschen, ebenso die Frage, wie sich künftig unser europäischer Wohlstand halten lässt. Bei allen vorhandenen Unterschieden, Ausgangssituationen und Herangehensweisen zwischen den Regionen Europas besteht die Gemeinsamkeit in der Suche nach neuen, nachhaltigen Wertschöpfungsketten und den meist überall (gleich) geringen finanziellen Spielräumen.

Gerade bei Ländern, Einrichtungen und Unternehmen mit begrenzten Mitteln liegt in der Konzentration die große Chance. „Stärken stärken“ als Motto erfolgreicher Wirtschaftsentwicklung ist keine Brandenburger Erfindung und findet auch woanders statt. Im Koalitionsvertrag bekennt sich die Landesregierung dazu, „den Weg zur Wissensgesellschaft weiter zu gehen“, denn jede moderne Industrie muss wissensbasiert sein, will sie exportieren und expandieren. Die Diversifizierung der Wirtschaft erfolgt durch Innova-

VERWANDTE LÖSUNGSANSÄTZE.

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tion, weshalb Schulen und Hochschulen, Forschungseinrichtungen und dem Wissens- und Technologietransfer zentrale Bedeutung eingeräumt werden muss. „Higher education drives and is driven by globalisation“, heißt es bei der OECD. Höhere Bildung ist der Schlüssel für die Möglichkeit jedes einzelnen Brandenburgers, aber auch für das Land als Ganzes, die Chancen des Globalisierungsprozesses zu nutzen. Vorsorgende Sozial- und Bildungspolitik erreicht, dass mehr Jugendliche Abitur machen und mehr Menschen studieren. Es muss einen Sog an die Universitäten und Fachhochschulen geben, von Landeskindern und Zuwanderern aus allen Teilen der Welt. Brandenburg fehlen Zuzügler und Fachkräfte, das ist ein Manko bei Wissensakkumulation und Standortentscheidung von Gründern. Bildungssystem als Schlüssel Brandenburg im Jahre 2030 braucht keinen einzigen Schulabbrecher, darf keinen einzigen Lehrling zurücklassen, es braucht mehr wissenschaftlich und technisch gebildete Fachkräfte, mehr Hochschulabsolventen, mehr Meister. Anders als man vielleicht glauben möchte, nimmt der Bedarf an Hochschulbildung bei einem Rückgang der Geburtenraten nicht ab. Im Gegenteil: Nur durch eine massive Erhöhung der


till meyer – stärken stärken 2030

höheren Bildung kann die sozio-ökonomische Grundlage eines Landes gelegt werden, in dem weniger junge einer steigenden Zahl älterer Menschen gegenüberstehen. Bei der Neuausrichtung der Bildungsmobilisierung helfen internationalisierte Schulen und Hochschulen. Grenzenlos bilden In der Wissensgesellschaft steigt deren Bedeutung. Konzepte einer transnationalen (Aus-)Bildung, von bilingualen Schulen, der „Internationalization at home“ sind wichtig. Anders als man denken möchte, haben auch Fachhochschulen einen Bedarf für Internationalität, denn auch sie können sich dem Europäischen Hochschulraum und dem Zusammenwachsen von Wissen aus aller Welt nicht entziehen. Jede Hochschule der Zukunft wird international sein, aber nicht jede nach dem selben Muster. Strategien und Profilierung sind gefragt, sowie bewusstes Management statt planloser Betreuung bestehender Kontakte. „Eine ‚Entgrenzung‘ deutscher Hochschulen kann sich nicht darin erschöpfen, Bologna- und Lissabon-Standards in der Lehre zu erfüllen, Forschungsmittel in Brüssel zu akquirieren oder den internationalen Austausch von Studierenden bzw. Lehrenden im Rahmen nationaler oder europäischer Programme zu erweitern“, appelliert die

Hochschulrektorenkonferenz. Internationalisierung muss alle Bereiche erfassen, die Lehre, die Forschung und die Verwaltung, insbesondere die Rektorate und Präsidien. Internationalisierte Hochschulen können Innovations- und Inklusionsmotoren sein und somit die Attraktivität des Landes als Ganzes steigern – während andere Einrichtungen zur bloßen Diplomzertifizierung für den lokalen Arbeitsmarkt verkümmern. Wirtschaft neu denken Wie international ist Brandenburg? Bei Google stößt man auf „Berlin Brandenburg International (BBI)“, das große Infrastrukturprojekt, das jetzt Flughafen Berlin Brandenburg (BER) heißt. Und landet, via Links und Querverweisen, bei der Abkürzung „RWK“. Der Begriff Regionale Wachstumskerne meint aber nicht, dass Kerne regional wachsen; dass veraltete Schablonen der Landesentwicklung weder Halle-Wittenberg noch Nürnberg-Erlangen oder Krakau – geschweige denn europäische Metropolregionen – berücksichtigen. Brandenburgs kleine und mittlere Unternehmen (KMU) sind zu wenig exportorientiert und international nicht ausreichend vernetzt. Das ist keine Besonderheit Brandenburgs – aber eine Entwicklungschance. Diejenige Region, die ihre KMUs am schnellsten ertüchtigen, sich die internationalen Märkte zu erschließen, werden einen Startervorteil perspektive21

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haben. Deshalb ist es richtig, dass sich die Gemeinsame Innovationsstrategie (innoBB) in einem zweiten Schritt nicht mehr allein auf die verbesserte Zusammenarbeit der beiden Länder Berlin und Brandenburg (Hauptstadtregion) konzentrieren will. Stärken stärken 2030 impliziert, dass man auf die europäische und internationale Ausrichtung fokussiert. Bereits in der Internationalisierungsstrategie der Bundesregierung (BMBF 2008) wurde der internationalen Öffnung von Clustern eine große Bedeutung beigemessen. Wo Potentiale liegen Das Potential eines Zukunftsfeldes zum Cluster zu werden, liegt nicht zuletzt im Vorhandensein von Forschung und Entwicklung, die mit Unternehmen vernetzt werden muss. Diesen Forschungspart übernehmen in Brandenburg mangels in der Breite vorhandener Unternehmensforschung die Hochschulen und Forschungseinrichtungen. Für Brandenburg gilt: Ohne Wissenschaftspolitik kann es keine Wirtschaftspolitik geben und umgekehrt. Deshalb geht es darum, beide Bereiche gemeinsam auszurichten, zu einem neuen Verständnis, insbesondere in zwei Bereichen zu gelangen: Wachstumsaussichten haben technologiegetriebene Cluster dann, wenn sie eine Hochschu-

VERNETZTE CLUSTER.

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le oder eine Forschungseinrichtung, manchmal auch beides, oder mehrere auf einmal, beheimaten. Spezialisierung setzt eine Strategie voraus, zusammenwachsen zu wollen. Erstens wird es darum gehen, dass Wissenschaft und Wirtschaft im Cluster zusammenfinden. Die Hauptstadtregion verfügt über die größte Dichte an Forschungseinrichtungen in Deutschland, die Wissenschaft ist in manchem Bereich vielleicht internationalisierter und wettbewerbsfähiger als die Wirtschaft. So kooperiert der Technologiepark Adlershof mit etlichen Partnerparks, hat beispielsweise längst sein Verbindungsbüro im russischen Cluster Moskau-Zelenograd. Im dortigen Innovationszentrum Skolkovo werden bis 2013 etwa 2,8 Milliarden US-Dollar in Infrastruktur investiert, um ein führendes Wissenschafts- und Innovationszentrum zu bilden. Aber auch die besten Forschungseinrichtungen der Hauptstadtregion Berlin-Brandenburg mausern sich, beispielsweise in der Stiftung pearls – Potsdam Research Network. Zweitens wird es darum gehen, dass auch bestehende Hochschulen sich noch enger zusammenschließen, um gemeinsame Studiengänge, kooperative Forschungsprojekte und abgestimmte Infrastruktur- und Technologietransfermaßnahmen zu stemmen. Zum Beispiel vereint die „Internationale Bodenseehochschule (IBH)“ in


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einem grenzüberschreitenden Verbund 29 Hochschulen in vier Staaten. Beispielsweise setzt Niedersachsen zusammen mit Flandern, NRW und Bremen auf die grenzüberschreitende Hochschulkooperation GRECO. Wie die Motoren aussehen Die New York University versteht sich bereits als Global Network University, weil die Idee an sich global und der Campus geografisch beschränkt ist. Deshalb ist es gut, dass sich die mittelgroßen Universitäten vernetzen. Oder man an der Viadrina versucht, die im Oktober 2010 vereinbarte „Erklärung der Hochschulen im Gebiet der Oderpartnerschaft zur grenzüberschreitenden Zusammenarbeit im Bereich Wissenschaft und Forschung“ weiterzuentwickeln. Es gibt Ansätze, auch Forschungsverbünde mit Polen zu etablieren, zumal dort ganz erstaunliche Entwicklungen in Wissenschaft und Forschung ablaufen. VERNETZTE REGIONEN. Ein erfolgreicher Cluster orientiert sich nicht an Elbe und Spree, sondern zum Beispiel an Kerry und Murcia. Das sind zwei Regionen in Irland und Spanien, die zusammen mit Brandenburg als „Europäische Unternehmerregion 2011“ ausgezeichnet wurden. Ungeachtet ihrer Größe und Wirtschaftskraft überzeugen diese Vorbildregionen mit ihren

wirtschaftlichen Zielsetzungen. Vorsichtig werden die Fühler zur Zusammenarbeit ausgefahren, während Baden-Württemberg, Katalonien, die Lombardei und Rhône-Alpes im Bündnis „Vier Motoren für Europa“ seit 1988 am europäischen Haus bauen. Auch in Centrope, der „Europa Region Mitte“ rund um Wien, arbeiten 16 Städte und Regionen aus vier Staaten an einer gemeinsamen Zukunft. Wäre es nicht an der Zeit, die OderPartnerschaft zu institutionalisieren? Ihr endlich ein eigenes Büro und eigene Mitarbeiter zu geben? Segel setzen Brandenburg ist ein stabiles Schiff, aus gutem Holz gezimmert und mit fester Takelage. Verankert in der größten Volkswirtschaft Europas, im Vergleich innereuropäischer Dimensionen so groß wie Island und durch die Hauptstadtregion besser ausgerüstet als andere. Brandenburg hat viele Außenkontakte, doch der Aufbau hat die Identität nur schwach geprägt mit der Folge, dass sich ‚Internationales‘ mit dem Image des Landes nicht verbunden hat. Viele internationale Kooperationen und Vereinbarungen des Landes sind älteren Datums und ohne rechtliche Bindung, allgemein gehalten und als nette Geste zu werten. Es ist dringend an der Zeit, sich um den zielgerichteten Aufbau, die Pflege und perspektive21

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Intensivierung ausgesuchter Kooperationen zu bemühen. Zwei Baustellen sind auf der To-Do-Liste dieses Prozesses besonders fett markiert: I

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Die Einstellung zählt. Innovation ist nicht nur wirtschaftlicher Zwang. Sie ist vor allen Dingen ein soziales Phänomen. Gleiches gilt für die Internationalisierung. Sie beginnt im Kopf, mit Neugier, bei unserer Haltung zur Veränderung schlechthin. Es braucht Menschen, die im Neuen und Unbekannten mehr Chancen als Probleme sehen, Neugierige, die nicht von vornherein sagen, dass man es schon immer so und nicht anders gemacht habe, oder dass es zuhause doch am schönsten sei. Internationale Orientierung muss die Menschen erreichen und kann die junge Generation sogar begeistern. Wenn man ihnen nicht einzureden versucht, als wären Spreewald und Oberhavel das Maß aller Dinge. Viel zu lange überwog in Deutschland die Introspektion (Binnenblick), während sich Österreich ab 1990 gegenüber den Donau-Anrainern und ganz Mitteleuropa öffnete – mit sehr positiven wirtschaftlichen Auswirkungen. Brandenburg hat seine Grenzlage vor der EU-Erweiterung immer zu recht als Nachteil empfunden – nun, mitten im Herzen der EU angekommen, muss daraus etwas gemacht werden. Ziel dezember 2011 – heft 51

muss eine Willkommens- und Internationalisierungskultur auf allen Ebenen sein. High Potentials siedeln eher in Brandenburg, wenn der Ehepartner ein konkretes Jobangebot bekommt (dual career) und die Kinder eine bilinguale Schule besuchen können. Tandemmodelle sind gefragt, denn Menschen mit Migrationshintergrund werden zum Gewinn, sofern „Ausländerfragen“ kein Nischenthema von Beiräten und Integrationsbeauftragter bleiben. In einem Satz: Was wir sind, sind wir auch und gerade durch die anderen. I

Die Herangehensweise zählt. Europa- und Internationalisierungspolitik haben ressortübergreifende Bedeutung und waren aus gutem Grund bis 2009 in der Staatskanzlei angesiedelt. Es gilt den Ausschuss der Regionen zu nutzen, den Landtag europapolitisch aufzustellen und die Landesvertretung in Brüssel, bisher – im Gegensatz zur Landesvertretung in Berlin – als Referat geführt, aufzuwerten. Denn auf europäischer und internationaler Ebene passiert unglaublich viel – mit weit reichender Bedeutung für die Spielräume Brandenburgs. Es ist ein Nebeneinander von Spezialisierung, Differenzierung und Harmonisierung, eine Entgrenzung von Verwaltungs- und Wirtschaftsräumen, die ohnehin längst


till meyer – stärken stärken 2030

nicht mehr identisch sind. Teilhabe an den Prozessen bedeutet Angleichung und Anpassung, letztlich auch die Verpflichtung zu einem Lernprozess. Die lesson learned der großen Forschungsorganisationen Max-Planck-Gesellschaft, Fraunhofer-Gesellschaft und LeibnizGemeinschaft besteht darin, dass Internationalisierung der Profilierung dient, zugleich Leistung und Produktivität erhöht. Die Schaffung eines Mehrwertes durch Internationalisierung ermöglicht erst das Erreichen einer kritischen Masse, um global wahrgenommen zu werden. Das Fazit: „Brandenburg in Europa“ muss eine neue Gewichtung in der Landespolitik und -verwaltung erhalten. Brandenburg startete 1990 als „first generation international player“, hatte wenig internationale Erfahrung und kaum eingefahrene Programme. Das Land konnte weder eine erhebliche Anzahl an kleinen und mittleren Unternehmen noch eine ausgeprägte unternehmerische Tradition vorweisen. Nur 21 Jahre nach Gründung zeigt sich, dass der bisherige Brandenburger Weg erfolgreich war. Nun ist es Zeit, härter am Wind zu segeln. Die Kraft dazu, das zeigt die Bilanz des Erreichten, haben wir. Stärken stärken 2030, das ist der Prozess des Zusammen-Wachsens

durch Vernetzen und Verpartnern; der Prozess der verbindlichen Abstimmung und handfesten Zusammenarbeit von Regionen, in Ostdeutschland, in Europa und darüber hinaus. Nicht nur der Wert von sozialen Netzwerken steigert sich, auch der Wert der Vernetzung zwischen Staaten und Regionen, Städten und Menschen setzt neue Dynamik frei. Es macht aus vielen Gründen großen Sinn, nicht darauf zu warten, bis uns nichts mehr anderes übrig bleibt, als aktiv zu werden, sondern möglichst frühzeitig das Heft des Handelns gestaltend in die Hand zu nehmen. Nur Vorsorge hilft Erstens: Wir können uns nicht auf langfristige finanzielle Hilfen von außen verlassen. Aufgrund einer Vielzahl von Faktoren – die Stichworte sind Solidarpaktmittel, Bundeszuweisungen, Strukturfonds, Förderprogramme, Schuldenbremse – werden immer weniger Kofinanzierungen durch das Land realisiert werden können. Die Neuausrichtung der Kohäsionspolitik orientiert sich stärker an der EU 2020-Strategie. Die Mittel konzentrieren sich auf die ärmeren Länder, wie den erfolgreichen Nachbarn Polen, „Europas Musterschüler“ (Süddeutsche Zeitung). Mit dem Rückgang der Transfers droht ein strukturschwaches Land in seinen Strukturen wieder schwächer zu werperspektive21

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thema – die zukunft der kommunen

den. Zweitens, weil in alternden Gesellschaften Strukturreformen von Jahr zu Jahr schwieriger werden könnten, sich Menschen im Schatten der Ballungszentren neuer Wissens- und Wirtschaftsproduktion mit einem real sinkenden Lebensstandard einrichten. Drittens, weil unter Effizienzgesichtspunkten in der Zusammenarbeit der größere Gewinn und die höhere Nachhaltigkeit stecken; weil internationalisierte KMUs durch Exporte zusätzliche Absatzmärkte erschließen; weil Europäisierung und Internationalisierung die Teilhabe an einer sich mit großer

Geschwindigkeit verändernden Welt ermöglichen. Politisch und administrativ bleibt diese Veränderung nur mit voraussschauender, vorausgedachter und vorsorgender Politik beeinflussbar. Vorsorgende Politik begann beim Sozialstaat, aber darf dort nicht aufhören. Es geht um Bildung, um Ausbildung, um eine dynamische Wirtschaft, eine offene Gesellschaft, um unsere Bereitschaft, in Brandenburg das Beste unserer Tradition mit dem Besten der Moderne zu verbinden, – kurz gesagt darum – als märkische Landratten hochseetauglich zu werden. I

TILL MEYER

ist SPD-Ortsvereinsvorsitzender und Stadtverordneter in Potsdam. 92

dezember 2011 – heft 51


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Ende der Nachwendezeit. PDS am Ende? 18 Der Osten und die Berliner Republik 19 Trampolin oder Hängematte? 20 Der Letzte macht das Licht aus? 21/22 Entscheidung im Osten: Innovation oder Niedriglohn? 23 Kinder? Kinder! 24 Von Finnland lernen?! 25 Erneuerung aus eigner Kraft 26 Ohne Moos nix los? 27 Was nun Deutschland? 28 Die neue SPD 29 Zukunft: Wissen 30 Chancen für Regionen 31 Investitionen in Köpfe 32 Auf dem Weg ins 21.Jahrhundert

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