HEFT 52 JUNI 2012 www.perspektive21.de
BRANDENBURGISCHE HEFTE FÜR WISSENSCHAFT UND POLITIK
WIE WIR UNS IN ZUKUNFT INFORMIEREN WERDEN
Die Zukunft der Medien WOLFGANG SCHROEDER: KLAUS NESS:
Vorsorge 2.0
Es fährt ein Zug nach Nirgendwo
ENRICO SCHICKETANZ & DAVID KOLESNYK: ERADO C. RAUTENBERG: MANFRED GÜLLNER: MATTHIAS BEIGEL:
Demokratische Stolpersteine
Die Medien und das Volk
Neue Wege gesucht
ALEXANDER GAULAND:
Ein gewisser Machttrieb
THOMAS STEG & DANIEL WIXFORTH: ERHARD THOMAS:
Quo vadis?
Mut zur Lücke
Mehr als Kino und Fernsehen
Eine persรถnliche Bestandsaufnahme
20 Jahre nach der friedlichen Revolution von 1989: Wie viel Einheit haben wir erreicht? Welchen Aufbruch braucht Deutschland jetzt?
224 Seiten, gebunden
| Hoffmann und Campe | Das will ich lesen
vorwort
Die Zukunft der Medien ie Medienwelt ist im Auf- und Umbruch. Werden wir in fünf Jahren morgens noch zum Postkasten gehen und unsere Tageszeitung holen? Oder werden wir alle zum Frühstück unser iPad anmachen und das App unserer Tageszeitung anklicken? Wird es noch eine lokale Berichterstattung geben, wie sie heute die Regionalzeitungen leisten? Oder findet Lokalberichterstattung nur noch in Anzeigenblättern statt? Wird der Zwang zur Schnelligkeit durch das Internet die Qualität journalistischer Arbeit verschlechtern? Oder ist das Internet der Königsweg, demokratische Teilhabe zu verbessern? Sind Journalisten tatsächlich die vierte Gewalt im Staate? Entwickeln sich Journalisten möglicherweise immer mehr von Chronisten zu Politikberatern? Oder gar zu Entscheidern? Das sind einige der Fragen, denen wir uns mit dieser Ausgabe der Perspektive 21 widmen.
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So weist beispielsweise Manfred Güllner auf die wachsende Kluft zwischen veröffentlichter und öffentlicher Meinung hin. Hervorheben möchte ich den Beitrag von Matthias Beigel in diesem Heft. Er untersucht, wie sich der Zeitungsmarkt in Brandenburg in den vergangen Jahren entwickelt hat. Der rasante Rückgang aller Zeitungen wirft nicht nur ökonomische Fragen auf, sondern auch, ob der Niedergang der Auflagen nicht einhergeht mit dem Verlust an demokratischer Öffentlichkeit. Wenn heute nur noch jeder vierte Haushalt in Brandenburg morgens eine Tageszeitung im Postkasten hat, bedeutet das, dass mehr als die Hälfte der Brandenburger abgekoppelt sind von regionaler und landespolitischer Information? Steuern wir auf eine Situation zu, dass Politik immer komplexer wird, aber der Informationsstand in der Breite der Bevölkerung gleichzeitig immer geringer? Führt das zu einem fortschreitenden Verlust an Demokratie und wird dadurch letztlich die Akzeptanz des demokratischen Systems gefährdet? Kann das Internet einen Weg aus dieser Falle weisen? Abschließende Antworten werden sicherlich auch die Beiträge in diesem Heft nicht liefern. In diesem Heft beginnen wir auch eine Debatte um die Zukunft des Hochschulstandortes Brandenburg, die wir ausführlich in der nächsten Ausgabe fortsetzen werden. Besonders empfehle ich eine neue Rubrik: Das Straßenschild. Mit ihr wollen wir namhafte Persönlichkeiten vorstellen, von denen wir meinen, dass ihr Name eine größere Würdigung verdient. IHR KLAUS NESS
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inhalt
Die Zukunft der Medien WIE WIR UNS IN ZUKUNFT INFORMIEREN WERDEN
MAGAZIN WOLFGANG SCHROEDER: Vorsorge 2.0
................................................................ 7 Zehn Thesen zur vorsorgenden Sozialpolitik KLAUS NESS: Es fährt ein Zug nach Nirgendwo
.................................................. 17 Wie sich die Brandenburger CDU systematisch ins politische Aus manövriert ENRICO SCHICKETANZ & DAVID KOLESNYK: Quo vadis?
...................................... 21 Die Hochschulfinanzierung in Brandenburg zwischen Aufbau, Einfrieren, Abbau und Privatisierung
DAS STRASSENSCHILD ERADO C. RAUTENBERG: Demokratische Stolpersteine ......................................
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THEMA MANFRED GÜLLNER: Die Medien und das Volk
.................................................. 31
Eine wachsende Entfremdung MATTHIAS BEIGEL: Neue Wege gesucht
.............................................................. 39 Wie sich der Zeitungsmarkt in Brandenburg verändert ALEXANDER GAULAND: Ein gewisser Machttrieb .................................................. 47
Über das Regieren ohne Handys sowie Medien und Politik im Zeitalter des Internets sprach Thomas Kralinski mit Alexander Gauland THOMAS STEG & DANIEL WIXFORTH: Mut zur Lücke
.......................................... 55 Über die Gegenläufigkeit von Bürgererwartungen und politischen Sachzwängen in einer digitalisierten und europäisierten Mediengesellschaft ERHARD THOMAS: Mehr als Kino und Fernsehen
................................................ 65 Der Medienstandort Brandenburg hat solide Entwicklungsperspektiven, da mag Berlin noch so sexy sein
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Vorsorge 2.0 ZEHN THESEN ZUR VORSORGENDEN SOZIALPOLITIK VON WOLFGANG SCHROEDER
orsorgende Sozialpolitik ist das Programm der sozialen Demokratie. Dieses Programm liegt nicht in Utopia. Es ist hier und heute machbar. Es soll Armut verhindern und soziale Gerechtigkeit stärken. Menschen sollen so früh wie möglich gefördert werden und zwar unabhängig von den finanziellen und kulturellen Möglichkeiten ihrer Familien. Dieser proaktive Förderansatz setzt auf starke miteinander kooperierende Institutionen, Netzwerke und handlungsfähige Akteure. Dadurch können soziale Folgekosten reduziert und qualitativ hochwertige, befähigende Unterstützungsstrukturen vorangebracht werden. Eine übergreifende Sozialpolitik, die die Familien-, Gesundheits-, Bildungs-, und Arbeitsmarktpolitik umschließt, soll stärker befähigend und motivierend ausgerichtet sein, um individuell und lebenslagenspezifisch wirken zu können. Auch wenn die frühe Lebensphase der wichtigste Schwerpunkt für diese Politik sein muss, ist vorsorgende Sozialpolitik ein Angebot für alle Lebensalter vom Kleinkind bis zum Greis. Wichtig für dieses Programm ist eine konsequentere Orientierung an den Grundsätzen einer modernen Vorsorgepolitik.
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1. DIE NEUE SOZIALSTAATSDEBATTE IST EINE INTEGRATIONS- UND AUFSTIEGSORIENTIERTE DEBATTE UM WIRKSAMKEIT. Die neue Etappe der Sozialstaatsdebatte will Antworten auf die Gerechtigkeitslücke geben, die in den letzten Jahren gewachsen ist. Als Politikfeld, das wesentlich dazu beitragen könnte, wird allgemein eine sozialpolitisch integrierte Bildungspolitik gesehen, die verzahnt mit anderen Politikfeldern ein Kernpunkt der verbesserten Vorsorgepolitik ist. In diesem Sinne zielt die neue Sozialstaatsdebatte auf eine verbesserte Qualität und Wirksamkeit sozialstaatlicher Leistungen. Langfristig sollen so soziale Folgekosten aufgrund schlechter Startchancen durch frühzeitiges Investieren in die Menschen vermieden werden. Die meist allzu kurzfristig gedachte Kosteneffizienzlogik muss jedoch durch eine integrationsorientierte Logik der sozialpolitischen Wirksamkeit ergänzt werden. Das heißt, wir brauchen nicht alleine eine Kostenorientierung, sondern vor allem auch eine längerfristig ausgerichtete Orientierung an der Wirksamkeit der Integration, der sozialen Aufstiegsfähigkeit und der Lebensqualität. Zu dieperspektive21
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sem Zweck muss der für soziale Leistungen aufgebrachte Anteil des Bruttoinlandsproduktes nicht unbedingt erhöht, aber anders verteilt und investiert werden. 2. KEIN SYSTEMWECHSEL, SONDERN EINE STRATEGISCHE POLITIK FÜR EINEN KOOPERATIVEN, WIRKSAMKEITSORIENTIERTEN SOZIALSTAAT. Die
Debatte über die Wirksamkeit von Vorsorgepolitik intendiert keinen grundlegenden Systemwechsel. Dieser ist nicht notwendig, weil die Grundarchitektur des deutschen Sozialstaates einen hinreichend kreativen Rahmen für neue innovative Politiken bietet. Einerseits kann der Sozialstaat als Institutionenwerk auf festem Pfad gedacht werden, das – bei allem Wandel – beruhigend, vertrauensbildend und planungsermöglichend wirken kann. Andererseits ist der Sozialstaat sich verändernden, individuellen und kollektiven Herausforderungen, Bedarfen, Interessen- und Ideenlagen ausgesetzt. Deshalb werden die Standards, die Ressourcen und damit auch die Legitimation des Sozialstaats im öffentlichen Diskurs kontinuierlich neu verhandelt. Der Sozialstaat ist mithin „Work in Progress“. Noch weniger als das Steuersystem lässt sich die sozialstaatliche Ordnung gleichsam „auf dem Bierdeckel“ reformieren. Vielmehr muss in diesem komplexen Strukturrahmen genau geschaut werden welche einzelnen Instrumente leistungsfähig sind, ob sie Probleme lösen oder schaffen und was mögliche Ursachen und denkbare Konsequenzen sind. Und dann müssen die besten Instrumente und Praktiken identifiziert und praktiziert werden. Eine gewisse Entwicklung in die Richtung, wie sie hier im Sinne von Vorsorge- und Wirksamkeitspolitik verfochten wird, ist in Deutschland und Brandenburg durchaus schon auf den Weg gebracht; aber sie muss konsequenter und flächendeckend umgesetzt werden. Dabei geht es um die Verbindung zwischen Institutionen und Lebenslagen – also vor allem um kooperative soziale Netzwerke und motivierte sowie kompetente Akteure. Die Schnittstellen zwischen den Säulen, den verschiedenen Ebenen und Ressorts des Sozialstaates müssen strategisch ausgerichtet werden. Was wir brauchen ist ein kooperativer Sozialstaat. Das ist auch eine Haltungsfrage. Denn andernfalls besteht die Gefahr, dass auch zukünftig Ressortegoismen, Friktionen, Doppelaufgaben, Leerlauf und Unklarheiten das Verhältnis zwischen den Akteuren bestimmen. Das erfordert nicht zuletzt auch ein anderes Selbstverständnis der sozialstaatlichen Akteure. 8
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3. DIE SYNTHESE VON INKLUSIVER ARBEITSGESELLSCHAFT UND VORSORGENDER SOZIALPOLITIK IST EIN SOZIALDEMOKRATISCHES ALLEINSTELLUNGSMERKMAL.
Das Ziel vorsorgender Sozialpolitik ist, dass Menschen aus eigener Kraft in dieser Gesellschaft gut leben können. Der Normalfall, um solch ein Leben zu führen, realisiert sich über das Nadelöhr der Erwerbsarbeit. Um dorthin zu kommen, wird der erfolgreiche Besuch vorgelagerter Bildungsinstitutionen vorausgesetzt. Durch entsprechende Unterstützung im vorschulischen, aber auch beim schulischen Werdegang bis zum Übergang von der Schule in den Beruf können diese Voraussetzungen durch vorsorgende Sozialpolitik unterstützt und teure Übergangssysteme bis hin zur Arbeitslosigkeit vermieden oder weniger wahrscheinlich gemacht werden. Eine zweite und auch dritte Chance Für diejenigen, die es trotzdem aus individuellen oder strukturellen Gründen nicht schaffen, bedarf es auch in späteren Lebensphasen einer zweiten und – wenn möglich – auch einer dritten Chance bis hin zu öffentlich geförderter Beschäftigung, die nicht nur auf den ersten Arbeitsmarkt ausgerichtet ist, sondern auch sozial integrativen Charakter haben soll. Zu einer Politik der inklusiven Arbeitsgesellschaft gehört auch die Umgestaltung von einer Arbeitslosenversicherung hin zu einer Arbeitsversicherung, die frei wählbare, auf einem individuellen Rechtsanspruch aufbauende Fort- und Weiterbildungsmöglichkeiten anbietet. Erwerbsarbeit ist mehr als Broterwerb. Sie hat in der Regel etwas mit Sinnkonstruktionen und Integrationsperspektiven zu tun. Soziale Politik ist deshalb in einer modernen, säkularisierten Massengesellschaft gut beraten, die Erwerbsarbeit zum zentralen Ausgangspunkt ihrer Aktivitäten zu nehmen. Zugleich ist mit der starken Bezugnahme auf Erwerbsarbeit als Quelle der Integration angesichts eines gewachsenen Niedriglohnsektors, zuweilen hyperflexibilisierter und vielfach schlechter Arbeitsbedingungen, eine große Verantwortung verbunden. Wie soll Integration gelingen, wenn arbeitende Menschen schlecht bezahlt, mies behandelt und zweifelhaften Umweltbedingungen ausgesetzt werden? Da klingt die Rede von der „guten Arbeit“ oder der Arbeit als Quelle der Integration wie billiger Hohn. Genau hier setzen die Befürworter eines bedingungslosen Grundeinkommens an. Doch indem sie sich von der für den Sozialstaat konstitutiven Funktion der Erwerbsarbeit abwenden, sind sie einerseits nicht in der Lage, die Verhältnisse in der Arbeitswelt zu verbessern. Andererseits überschätzen sie auch die gesellschaftperspektive21
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liche Integrationskraft des Geldes. Demgegenüber lehnt die Politik der inklusiven Arbeitsgesellschaft eine „Stilllegung“ und passive Alimentierung der Menschen ab. Sie sucht nach sinnvollen Reformperspektiven in der Arbeitswelt sowie nach aktiven Beiträgen für eine gesellschaftliche und individuelle Sinnstiftung. Die Perspektive der inklusiven Arbeitsgesellschaft lautet: Aus schlechter Arbeit muss gute Arbeit werden – oder, wo dies nicht möglich ist, wird zumindest die Möglichkeit geschaffen, von schlechten in bessere Arbeitsverhältnisse zu gelangen, indem sozialer Aufstieg gefördert wird. Die inklusive Arbeitsgesellschaft und der Vorsorgende Sozialstaat sind zwei Seiten einer Medaille und werden in dieser sich ergänzenden Perspektive nur von der Sozialdemokratie vertreten. 4. TREIBENDE STRUKTURELLE KRÄFTE FÜR DIE VORSORGENDE SOZIALPOLITIK SIND DER SOZIO-ÖKONOMISCHE WANDEL AUF DEN ARBEITSMÄRKTEN, IN DEN FAMILIEN UND ZWISCHEN DEN GESCHLECHTERN. Die treibenden Kräfte des Wandels gehen von den
sozio-ökonomischen Strukturveränderungen auf den Arbeitsmärkten, in den Familien und zwischen den Geschlechtern aus. Da ist in vielen Bereichen nichts mehr so, wie es einmal war. Angesichts dieser Veränderungen bestehen Überforderungsphänomene auf Seiten der Betroffenen und große Anpassungsprobleme in den etablierten Institutionen. Mit einer in den letzten Jahren gewachsenen Zahl von Menschen, die abgehängt und ausgegrenzt sind, hat auch die Hilflosigkeit von Staat und Gesellschaft zugenommen. Internationale Vergleiche zeigen, dass andere Länder auf diese sozio-ökonomischen Strukturveränderungen zum Teil besser reagieren. Vor allem ist mittlerweile auch in Deutschland offensichtlich geworden, dass mit veränderten Geschlechterbeziehungen die arbeitsteilige Struktur zwischen männlichem Ernährer und sorgender, nicht erwerbstätiger Mutter der Vergangenheit angehört. Da diese Strukturveränderungen von den Institutionen unzureichend beantwortet worden sind, hat sich ein Reformstau entwickelt. Dabei geht es einerseits um eklatante Anpassungsdefizite in den Institutionen, andererseits aber auch darum, dass es so etwas wie einen neuen Geschlechtervertrag geben sollte, der angesichts steigender weiblicher Erwerbsbeteiligung auch eine andere, kooperativere Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern fördern sollte. 5. VORSORGENDE SOZIALPOLITIK MUSS MIT DER OFFENSIVEN UNTERSTÜTZUNG VON MÜTTERN UND KINDERN BEGINNEN. Demografischer Wandel, geringe Geburten-
zahlen, die Tendenz zur Vererbung von Armut und Bildungsarmut, Verunsicherungs- und Überforderungsgefühle bei einer größer gewordenen Zahl von Eltern sowie veränderte Familienstrukturen und Geschlechterbeziehungen sind wesent10
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liche Impulse, die den Rahmen für eine neue mütter- und kinderzentrierte Sozialpolitik bilden. Der Prozess hin zu einer kinderzentrierten Sozialpolitik ist in Deutschland durchaus in Gang gekommen. Es handelt sich im Ergebnis um einen komplexen Paradigmenwechsel, der dem Grundsatz folgt: „Um ein Kind zu erziehen, braucht man ein ganzes Dorf.“ Dabei geht es auch darum, die alleinige Verantwortung der Familie und der Eltern zu relativieren und die Familie mit Kindern stärker in den öffentlichen Raum zu öffnen. Und zwar hin zu einer größeren Verantwortung der gesamten Gesellschaft dafür, das Wohl jedes einzelnen Kindes zu fördern. Chancengleichheit kostet Geld Vorangekommen ist die Neudefinition der rechtlichen Rahmenbedingungen: Mit den Urteilen des Bundesverfassungsgerichtes zum Unterhaltsrecht der Frau hat das oberste deutsche Gericht deutlich gemacht, dass die Verantwortung des Staates nicht mehr primär die Absicherung der Institution Ehe und die nacheheliche Statusabsicherung der Frau betrifft, sondern darin liegt, das Kindeswohl zu fördern. Somit sind in Deutschland 1,6 Millionen alleinerziehende Mütter, die Kinder unter 18 Jahren betreuen, auf viel entschiedenere Unterstützung angewiesen, damit sie einer eigenen Erwerbstätigkeit nachgehen können. Mit dem Gerichtsurteil vom Februar 2010 ist auch ein elternunabhängiger Rechtsanspruch auf ein sozio-ökonomisches Existenzminimum für Kinder formuliert worden, das in dem daran anknüpfenden Gesetz der Bundesregierung zu Bildungs- und Teilhabemaßnahmen nur sehr defensiv aufgenommen wurde. Im Sinne dieses Urteils muss die Umstellung hin zu einer kindzentrierten Infrastruktur im vorschulischen wie auch schulischen Bereich weiterentwickelt und die Konzeption einer so genannten Kindergrundsicherung begonnen werden. Wenn die Rede von der Chancengleichheit und vor allem der Startgleichheit etwas wert sein soll, dann muss unsere Gesellschaft zur Förderung der Kinder mit schwachem Startkapital deutlich höhere Mittel einsetzen als für Kinder, deren Elternhaus reichhaltige Anreize, Angebote und Mittel aus eigenen Kräften bietet. 6. BILDUNGSPOLITIK KANN EINEN POSITIVEN BEITRAG FÜR EINE NEUE SOZIALPOLITISCHE WIRKSAMKEITSPOLITIK LEISTEN, WENN SIE SICH ALS TEIL DES VORSORGENDEN SOZIALSTAATES BEGREIFT. Die Spatzen pfeifen es von den Dächern: Bildungspolitik ist ein zentrales Fundament des Vorsorgenden Sozialstaates. Der Ausbau der frühkindlichen Bildung, sensible Reaktionen auf die verschiedenen PISA-Debatten, die Bundesprogramme zur Förderung von „Bildung und Betreuung“ und perspektive21
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nicht zuletzt der schnelle Ausbau der Ganztagsschulen unterstreichen, dass die Signale gehört werden. Doch zugleich ist Skepsis angebracht. Denn die in der angelsächsischen Debatte vorherrschende Vorstellung, dass die Bildungspolitik eine Antwort auf die neuen sozialen Fragen geben kann, hat sich bislang kaum erfüllt. Denn diese Ansätze sind meist zu individuell oder punktuell angelegt. Jedenfalls fehlt in der Regel eine strukturelle Flankierung, die die sozialen sowie familiären Voraussetzungen des Lernens und Wollens thematisiert. Und genau diese Entwicklung deutet sich auch für Deutschland an. Warum? Auf die Kommunen kommt es an Schaut man sich die deutschen Schulen an, dann stellt man fest, dass sich dort trotz mancher Angebote noch zu wenig Veränderung hin zu einem vernetzten Akteur abzeichnet. Schulen haben sich kaum gesellschaftlich geöffnet. Schulsozialarbeiter sind in der Regel dort, wo es sie gibt, eher isoliert. Und die Lehrerinnen und Lehrer fühlen sich weiter unzuständig für soziales Schnittstellenmanagement. Eine isolierte Betrachtung der Bildungspolitik führt also vermutlich kaum zu strategischen Impulsen zugunsten einer Politik des sozialen Aufstiegs und der sozialen Integration. Vielmehr ist es notwendig, die sozialen und familiären Voraussetzungen des Lernens zu thematisieren und die Bildungspolitik mit anderen Feldern des Vorsorgenden Sozialstaates zu verzahnen. Dass dabei noch sehr viel zu tun ist, liegt auf der Hand. Dass dies aber tatsächlich möglich ist, zeigt die positive Entwicklung einzelner Schulen. Denken wir nur an die atemberaubende Reform der Berliner RütliSchule, die in kurzer Zeit den Weg von der Problemschule zur problemlösenden Schule geschafft hat. Warum sollte anderswo nicht Vergleichbares gelingen? 7. NETZWERKE ERGÄNZEN, ENTLASTEN UND VERSTÄRKEN DIE ETABLIERTEN INSTITUTIONEN DES SOZIALSTAATES. Die Arbeitshypothese der vorsorgenden Sozialpolitik lautet: Netzwerke können niedrigschwellige Angebote entwickeln, um den Menschen den Zugang zu helfenden und befähigenden Institutionen zu ermöglichen. Vor allem aber sollen sie die Menschen dazu befähigen, ihre Kräfte zu stärken und ihre Herausforderungen und Ziele im Sinne eines guten Lebens selbst in die Hand zu nehmen. Ob dies gelingt, hängt maßgeblich davon ab, ob eine verlässliche Kooperation zwischen Betroffenen und hauptamtlichen sowie ehrenamtlichen Experten etabliert werden kann. Die Politik der Netzwerke, die durch staatliche Politik verstärkt werden sollte, erschöpft sich aber nicht darin, Betroffene und Unterstützer in ein kooperatives Verhältnis zu bringen.
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Netzwerke können auch die Kooperation zwischen Institutionen, Organisationen und Selbsthilfegruppen vorantreiben. Mithin können Netzwerke – gedacht im Sinne einer Politik des Schnittstellenmanagements – dazu beitragen, die segmentierte und fragmentierte Landschaft der deutschen Sozialpolitik auf eine kooperative Logik der sozialpolitischen Wirksamkeit festlegen. Das wird man vermutlich nicht alleine durch die Kraft des guten Arguments erreichen, sondern eher durch politische Vorgaben und positive Anreize, nötigenfalls auch durch Sanktionen. Denn ohne deutliche Fortschritte in der Kooperation der Ebenen, Institutionen und Akteure werden viele Ressourcen verschenkt und Prozesse blockiert. Sozialpolitische Netzwerke sollen lebenslaufbegleitende Hilfen für jedes Lebensalter bieten. Also von den frühen Hilfen, über die Schulzeit und das Erwerbsalter bis hin zum Seniorenalter. Die meisten Projekte und Netzwerke bestehen für die ersten drei bis vier Lebensjahre – wie zum Beispiel die Brandenburger Netzwerke Gesunde Kinder. Nachholbedarf gibt es hinsichtlich einer präventiven Infrastruktur für Kinder und Jugendliche. In dieser Lebensphase sind insbesondere folgende Konstellationen zu berücksichtigen: Der Übergang vom Kindergarten in die Schule, die ersten Grundschuljahre, der Übergang von der Grundschule in eine weiterführende Schule, dann die Pubertätsphase und schließlich der Übergang von der Schule in den Beruf, mithin der schwierige Prozess der Berufswahl. Interventionen im Schulalter sollten auf eine verbesserte Sensibilität für sich andeutende „Schulverliererkarrieren“ konzentriert werden. In der sich anschließenden Ausbildungszeit geht es darum, schwächere Schüler zu motivieren und ihnen Chancen für neue Lernerfolge zu ermöglichen. 8. SOZIALSTAATLICHE AKTEURE BENÖTIGEN ATTRAKTIVE UND PROFESSIONELLE ARBEITSBEDINGUNGEN, UM FACHKRÄFTEMANGEL ZU VERHINDERN UND ZENTRALE TRÄGER VORSORGENDER SOZIALPOLITIK ZU SEIN. Die Akteure des Sozialstaates sind die Hoffnungsträger dafür, dass die vorsorgende Sozialpolitik gelingt. Zu ihnen gehören sowohl die hauptamtlichen Erzieher, Altenpfleger, Sozialpädagogen, Lehrer etc. als auch die vielen ehrenamtlichen Kräfte. Sie alle sind nicht einfach da, sondern auch ihre Rolle und Bedeutung muss politisch flankiert werden. Dazu gehören die Wertschätzung und die Anerkennung ihrer Leistungen. Man kann von ihnen nicht erwarten, dass sie für die Gesellschaft die „Kohlen aus dem Feuer holen“ und sie gleichzeitig als „faule Säcke“ beschimpfen. Vielmehr geht es darum, sie dazu zu befähigen, die verlässlichen und reformfreudigen Träger des Vorsorgenden Sozialstaates zu werden. perspektive21
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Angesichts der zuweilen schweren Arbeitsbedingungen und der – gemessen an ihrer bedeutsamen gesellschaftlichen Aufgabe – bisweilen wenig attraktiven Bezahlung in einzelnen Berufen sind besondere Anstrengungen notwendig. Dabei geht es sowohl darum, für bestimmte Gruppen, wie die Erzieher und Altenpfleger, eine bessere Bezahlung durchzusetzen, als auch um professionellere und bessere Arbeitsbedingungen. Sonst wird angesichts des bereits jetzt greifbaren Fachkräftemangels die Gesellschaft das Nachsehen haben. Denn dann suchen sich die für diese Berufe durchaus motivierten Menschen andere Jobs, die ihnen bessere Arbeitsbedingungen bieten. Der Dienst am Menschen ist kein Feld für Billiglohnpolitik und Schwarzarbeit. Der Reformstau, der die Aufwertung der sozialen Berufe noch behindert, ist sowohl „oben“, also auf Seiten der Politik und der Arbeitgeber zu lokalisieren, als auch „unten“. Denn die Betroffenen sind teilweise nicht hinreichend gut organisiert, um ihre Interessen öffentlich wahrnehmbar in die Waagschale zu werfen. Der Reformstau von „oben“ und „unten“ muss aufgelöst werden. Wir brauchen ein öffentliches Programm zur Förderung der sozialen Berufe. In diesem Bündnis müssen öffentliche Hand, Arbeitgeber, Tarifpartner, die Wohlfahrtsverbände, Kirchen und kirchliche Träger an einen Tisch. 9. DIE KOMMUNEN HABEN EINE SOZIALPOLITISCHE SCHLÜSSELROLLE FÜR DEN VORSORGENDEN SOZIALSTAAT. Den Kommunen kommt bei der vorsorgenden und wirksamkeitsorientierten Sozialpolitik eine Schlüsselrolle zu. Nicht nur die Probleme sind vor Ort zu lösen, auch ein Teil der Ressourcen muss von den Kommunen aufgebracht werden. Dabei dürfen die Kommunen weder finanziell, noch inhaltlich, konzeptionell oder strukturell überfordert werden. Sozialräumliche Konzepte, die auf Wohnquartiere und Nachbarschaftsumfelder setzen, bieten neue kommunale Perspektiven, die erst am Anfang stehen. Konzepte wie die „Soziale Stadt“ müssen reaktiviert werden. Auch die stärkere Einbindung der Kommunen in übergeordnete Strategien sollte forciert werden, und dies nicht nur über ihre Verbände, sondern auch durch konkret handelnde Akteure, die eine Richtigkeitsgewähr für die Praxistauglichkeit von Strukturen und Strategien bieten. 10. DER VORSORGENDE SOZIALSTAAT BRAUCHT KOOPERATIVE STRUKTUREN UND ENGAGIERTE MITSTREITER. Wenn man sich anschaut, welche Hindernisse in Deutsch-
land den Weg zu einer stärker vorsorgenden Politik pflastern, dann fällt einem schnell sehr viel ein. Allem voran die schwierige Lage der öffentlichen Haushalte. Dann die immer wieder beklagten Konkurrenz-, Abschottungs-, und Abstimmungsprobleme im föderalen Mehrebenensystem. Nicht unerwähnt bleiben dür14
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fen die Probleme, die aus einer kurzzyklischen, unverbindlichen und nicht vernetzten Projektvielfalt resultieren. Dies verhindert nachhaltige, belastbare und längerfristige Kooperationsstrukturen. Zu nennen sind schließlich die Sozialversicherungen, aber auch die Sozialpartner, die in der Vergangenheit nicht unbedingt zu den beflügelnden Faktoren einer dynamischen und vorsorgenden Sozialpolitik unter veränderten gesellschaftlichen Bedingungen zählten. Der Vorsorgende Sozialstaat ist keine Utopie Bei genauerer Auseinandersetzung mit diesen Herausforderungen zeigt sich jedoch auch, dass sie im Sinne einer vorsorgenden Sozialpolitik positiv aufgelöst werden können. Direkt und ohne Widersprüche kann dies nicht gelingen, aber doch so, dass eine Politik des langen Atems die einschränkenden Strukturen und Akteure durchaus zu begünstigenden und mitspielenden Faktoren entwickeln könnte. Das trifft selbst auf die restriktive Finanzlage zu, die aufgrund von Verschuldung und Schuldenbremse besteht. Die bestehenden Koordinationsprobleme verlangen nach neuen Schnittstellen, Kooperationen und gemeinsamen Verantwortlichkeiten, vielleicht auch nach einem anderen Steuerungsmodell. Projekte dürfen nicht inflationär entstehen, bewährte Projekte müssen verstetigt werden, vieles an Innovationspolitik sollte auch direkt in die Regelstrukturen zurückverlagert werden. Und die Sozialversicherungen und Sozialpartner sind in einzelnen Feldern bereits dabei, sich zu Akteuren in vernetzten Strukturen zu entwickeln. Auch wenn mit bereits eingetretenen positiven Entwicklungen die Probleme nicht aus der Welt sind, so zeigen sie doch immerhin, dass die bestehenden Hindernisse auf dem Weg zum Vorsorgenden Sozialstaat nicht unüberwindlich sind. Wer dabei die vorhandenen Strukturen und Akteure nicht als Ausgangspunkt seiner Politik anerkennen will, sollte bedenken, dass er dann kaum über eine Handlungsbasis für seine Politik verfügt. Mit den vorhandenen Strukturen und Akteuren ist der Vorsorgende Sozialstaat kein Utopia. Denn vorsorgende Sozialpolitik ist ein bereits seit längerem sehr erfolgreich praktizierter Politikmodus. Darum sollten wir ihn zukünftig noch viel offensiver und kooperativer verfolgen. PROF. DR. WOLFGANG SCHROEDER
ist Staatssekretär im Ministerium für Arbeit, Soziales, Frauen und Familie des Landes Brandenburg sowie Professor der Politikwissenschaft an der Universität Kassel. perspektive21
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Es fährt ein Zug nach Nirgendwo WIE SICH DIE BRANDENBURGER CDU SYSTEMATISCH INS POLITISCHE AUS MANÖVRIERT VON KLAUS NESS
m Sommer 2008 bezeichnete Saskia Ludwig den Brandenburger Landesverband ihrer Partei in einem Positionspartei als die „schlechteste CDU Deutschlands“. Das war zu einer Zeit, als die Brandenburger Christdemokraten als Juniorpartner der SPD noch ordentliche Regierungspolitik machten. Saskia Ludwig wollte mehr. Nachdem sich Johanna Wanka entschieden hatte, ihre Karrierechancen im Westen zu suchen, steht Frau Ludwig nun selbst an der Spitze der inzwischen oppositionellen Brandenburger CDU. Seither ist kaum eine Woche vergangen, in der sie nicht mit skurrilen Aussagen, bizarren Beiträgen, abwegigen Äußerungen, widersprüchlichen Positionierungen, schrillen Anschuldigungen und ideologischem Kampfgeschrei aufgefallen wäre.
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Abwegige Thesen von der Oberlehrerin Gewiss, wer weitgehend unbekannt ist im Land, der muss sich so gut es geht bemerkbar machen: Klappern gehört zum oppositionellen Handwerk. Wo dabei aber der Bezug zur Realität völlig verlorengeht, wo Politikern sämtliche Kategorien verrutschen, wo jede Verhältnismäßigkeit und jeder Anstand verloren gehen – da lässt sich vielleicht Aufmerksamkeit erzielen, vor allem aber Befremden und echtes Entsetzen. Man fragt sich: Was treibt Saskia Ludwig zu so absurden Behauptungen wie derjenigen, im Land Brandenburg herrsche heute der „Kommunismus-Sozialismus unter Platzeck“? Worauf will sie hinaus, wenn sie das wichtige politische Ziel der sozialen Gerechtigkeit als „trojanisches Pferd des Totalitarismus“ verunglimpft? Was um Himmels Willen meint Saskia Ludwig, wenn sie im Dezember 2011 in der Landtagsdebatte in einer Pauschalbeschimpfung der Brandenburger sagt: „Als Ministerpräsident würde ich mich fragen, warum gerade die Brandenburger (…) den Unterschied zwischen Diktatur und Demokratie nicht verstehen.“ perspektive21
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Man muss sich das alles auf der Zunge zergehen lassen. Hier versucht also offenbar die Vorsitzende einer Oppositionspartei dadurch Zustimmung zu erlangen, dass sie völlig abwegige Thesen verbreitet und nebenbei noch wüste Publikumsbeschimpfung betreibt. Die Brandenburger wissen aber sehr gut, dass ihr Ministerpräsident Matthias Platzeck nicht in einer historischen Reihe mit Stalin, Enver Hodscha und Kim Jong-Il steht. Sie haben in Wahlen und Umfragen immer wieder ihrem mehrheitlichen Wunsch nach sozialer Gerechtigkeit Ausdruck verliehen. Und die allermeisten Menschen in Brandenburg finden es auch zweifellos überhaupt nicht witzig, von Frau Oberlehrerin Dr. Ludwig pauschal attestiert zu bekommen, sie seien zu naiv oder zu ahnungslos, zwischen Demokratie und Diktatur zu unterscheiden. Im Abseits Es trifft sicherlich zu, dass die Brandenburger CDU nach zwei Jahrzehnten interner Auseinandersetzungen zum Zeitpunkt von Saskia Ludwigs Machtübernahme in keinem guten Zustand war. Seitdem aber hat Frau Ludwig den hiesigen Landesverband mit geradezu atemberaubender Konsequenz ins vollständige politische und gesellschaftliche Abseits manövriert. Gesprächsfäden werden abgerissen, frühere Partner systematisch verprellt, Bürgerinnen und Bürgern vor den Kopf gestoßen. Die Ludwig-CDU ist drauf und dran, alle Brücken zur Wirklichkeit niederzureißen. Während die Vorsitzende Journalisten vieler brandenburgischer Medien mit Gerichtsverfahren überzieht, gibt sie zugleich gerne Interviews in dubiosen Blättern vom äußersten rechtskonservativen Rand wie der Jungen Freiheit und der Preußischen Allgemeinen Zeitung. Dort versteigt sie sich dann zu Beschreibungen der Brandenburger Landespolitik und des Ministerpräsidenten, die den Eindruck vermitteln, auf seinem Weg in den Kommunismus bereite Brandenburg gerade den Austritt aus der Bundesrepublik Deutschland oder gar – möglichst am 13. August 2012 – den Bau einer neuen Mauer vor. Das alles ist nur noch bizarr. Man könnte Saskia Ludwig „Geradlinigkeit“ bescheinigen, aber diese Eigenschaft schreibt man einem Elefanten im Porzellanladen üblicherweise auch nicht zu. Nein, der Fall Ludwig ist wohl anders gelagert. Hier ist es einer rechtskonservativen Ideologin gelungen, sich an die Spitze einer schwer angeschlagenen und verunsicherten Partei zu setzen, indem sie ihr weismachte, sie allein besitze einen klaren Kompass, kenne Ziel und Richtung. Damit ist Saskia Ludwig ein wirkliches Phänomen. In der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland und auch 18
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in der Geschichte der ostdeutschen Bundesländer haben die Volksparteien üblicherweise versucht, die ganz normalen Menschen in der Mitte der Gesellschaft zu erreichen und zu überzeugen. Der politische Wettbewerb in Deutschland ist ein Wettbewerb um solche Wähler. Doch deren Ansichten und Anliegen sind Frau Ludwig herzlich gleichgültig. Sozialismus oder Ideologie Noch unbegreiflicher ist nur, dass sich die Brandenburger CDU-Vorsitzende nicht einmal darum schert, was die noch verbliebenen Anhänger ihrer eigenen Partei denken. Ausweislich einer aktuellen Forsa-Umfrage im Auftrag der Aufarbeitungs-Enquete des Landtages sind nämlich 63 Prozent der Brandenburger CDU-Anhänger der Meinung, dass die Lebensleistungen der Ostdeutschen heute nicht ausreichend anerkannt werden. Fast die Hälfte (46 Prozent) der Brandenburger CDU-Wähler lehnen den Begriff „Unrechtsstaat“ für die DDR ab. Volle 50 Prozent der CDU-Anhänger meinen sogar, mehr als 20 Jahre nach der Wiedervereinigung müsse endlich ein Schlussstrich unter die Vergangenheit gezogen und mehr in die Zukunft geschaut werden. Fast schon amüsant angesichts der Tiraden von Frau Ludwig ist, dass die Brandenburger CDU-Anhänger mit dem politischen System in ihrem Bundesland zufriedener sind als mit dem System auf Bundesebene (Brandenburg 57 Prozent, Bund 44 Prozent). Einen Rat für die Ludwig-CDU hätten deren Anhänger übrigens auch: 62 Prozent der CDU-Wähler sind nämlich der Meinung, dass es nicht die Aufgabe der politischen Opposition ist, die Regierung zu kritisieren, sondern sie in ihrer Arbeit zu unterstützen. Frau Ludwigs Strategie sieht aber anders aus: „2014 werden die Bürger dann die Wahl haben zwischen Kommunismus-Sozialismus unter Platzeck oder einer freiheitlichen Alternative der bürgerlichen Parteien ohne ideologische Bevormundung durch die Politik.“ Angesichts der Stimmung in der CDU-Wählerschaft könnte es sein, dass Frau Ludwig, die wie weiland Franz Josef Strauß den Sozialismus zu Lande, zu Wasser und in der Luft bekämpfen will, bald niemand mehr folgt. Der Brandenburger CDU und der politischen Kultur in unserem Land wäre es zu wünschen.
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ist Generalsekretär der Brandenburger SPD. perspektive21
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Quo vadis? DIE HOCHSCHULFINANZIERUNG IN BRANDENBURG ZWISCHEN AUFBAU, EINFRIEREN, ABBAU UND PRIVATISIERUNG VON ENRICO SCHICKETANZ UND DAVID KOLESNYK
randenburg hat im deutschen Raum, was Umfang und Finanzierung betrifft, eine eher bescheidene Wissenschaftslandschaft. Sie kann jedoch auf eine der längsten Universitätstraditionen zurückblicken. Seit 1506 gab es in Frankfurt eine Universität, die im 19. Jahrhundert durch Breslau und Berlin ersetzt wurde, aber als Europa-Universität Viadrina 1991 erneuert entstand. 1991 ist das Jahr, in dem mit großen Ambitionen und viel Elan der Ausbau der Brandenburger Hochschullandschaft im nunmehr vereinten Deutschland begann. Über Investitionen in Wissenschaft und Forschung sollten wegfallende Arbeitsplätze in Industrie und Landwirtschaft zukunftssicher kompensiert werden. So haben das mit vielen Bundesmitteln schließlich schon Bayern oder NordrheinWestfalen vorgemacht und neue Zukunftstechnologieindustrien verankert. Vieles musste neu entstehen und unter den Vorzeichen einer zukunftsorientierten demokratischen Gesellschaft neu konzipiert werden. Dabei siedelten sich Forschungseinrichtungen an, auf deren „Exzellenz“ wir heute stolz sein können. Oder es konnte auf gute Vorgängereinrichtungen aufgebaut werden. So ging zum Beispiel die ehemalige DDR-„Architektenschmiede“ in der Brandenburgischen Technischen Universität (BTU) Cottbus auf und belegt in Rankings weiterhin Spitzenplätze – trotz miserabler Finanzierung. Doch wie lange kann sie noch überleben?
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Studierendenzahlen wachsen auf über 50.000 Das sich im Aufbau befindende Hochschulwesen bekam erstmals 1995 einen herben Rückschlag, als massive Personal- und Finanzkürzungen vollzogen wurden. Bis dahin gab es eine adäquate Finanzierung für alle Hochschulen des Landes. Seitdem macht die bestehende chronische Unterfinanzierung allen Hochschulen zu schaffen. Dabei leistet sich Brandenburg als einziges Land zum Beispiel keine (teure) medizinische Ausbildung. Die sollen andere Länder wie Berlin übernehmen, perspektive21
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ebenso wie unter anderem die Ausbildung von Kunst- und Musiklehrern. Die ursprünglich angedachte Gründung weiterer Fachhochschulen als regionale Wirtschafts- und Zukunftsanker wurde nicht realisiert. Die seit dem Jahr 2000 von 32.000 auf heute rund 51.000 massiv gestiegenen Studierendenzahlen gingen ohne entsprechende Gegenfinanzierung vom Land einher. In Kombination mit Sparrunden, gleich bleibenden oder nur minimal wachsenden Mitteln erhöhte sich die Unterfinanzierung so immer weiter. So war die Universität Potsdam einst angedacht mit ca. 270 Professuren und 12.000 Studierenden. Heute gibt es dort rund 210 Professuren bei ca. 21.000 Studierenden. Alle Hochschulen sind in etwa nur zur Hälfte ausfinanziert, ihr Funktionieren nur durch das Engagement der Mitarbeiter und Studierenden möglich. Bei den Pro-Kopf-Angaben hinten Auch unter Rot-Rot gab es leider Kürzungen, zum Beispiel durch die so genannten „globalen Minderausgaben“, die der Finanzminister fordert. 2012 sind das 12 Millionen Euro. Zieht man die festen Ausgaben der Hochschulen ab, heißt das, dass 50 Prozent der Mittel gekürzt werden, mit denen die Hochschulen flexibel „arbeiten“ können. Im Verteilungskampf der Ressorts ist ein „Einfrieren“ der Mittel schon ein kleiner Erfolg, reicht aber nicht aus. Im Konkreten heißt das, dass auf die aktuell höhere Studienplatznachfrage – zum Beispiel durch den doppelten Abiturjahrgang 2012, die Aussetzung der Wehrpflicht oder mittelfristig steigende Studierwilligkeit – nicht reagiert werden kann. Vielmehr bedeutet ein Fortschreiben der Finanzierungspolitik einen Abbau von tausenden Studienplätzen. Die Hochschulleitungen rechnen mit einem Verlust von bis zu 15.000. Von einer Verbesserung der Lehre kann erst gar nicht die Rede sein. Ein Schock. Fehlen schlicht die Finanzmittel? Dazu hilft ein Blick auf wichtige monetäre hochschulstatistische Kennzahlen im Bundesvergleich. Der ergibt, dass Brandenburg in der Regel auf Platz 16 rangiert, oft mit großem Abstand zum zweitletzten Land. Kein Land gibt pro Kopf oder gemessen am BIP weniger Geld für seine Hochschulen aus. Bei den Pro-Kopf-Ausgaben investieren alle Ost-Länder deutlich mehr, Sachsen fast doppelt und Berlin sogar dreimal so viel wie Brandenburg. Vom Bundesdurchschnitt sind wir um Längen entfernt. Auch haushaltsanteilig betrachtet investieren Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen rund doppelt so viel wie Brandenburg. 22
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Anteil der öffentlichen Ausgaben für Hochschulen am Gesamtetat in Prozent (Soll 2010) Hessen Nordrhein-Westfalen Sachsen Baden-Württemberg Mecklenburg-Vorp. Niedersachsen Bayern Sachsen-Anhalt Thüringen Rheinland-Pfalz Saarland Schleswig-Holstein Brandenburg Berlin Hamburg Bremen
12,2% 11,2% 11,1% 10,4% 10,0% 9,6% 9,5% 8,7% 8,1% 7,7% 7,5% 7,1% 5,4% 6,3% 5,7% 4,6%
Quelle: Wissenschaftsrat, Basisdaten Hochschulen/Forschungseinrichtungen in Deutschland 2011
War Brandenburg 2000 bei der Betreuungsrelation nur leicht unter dem Bundesdurchschnitt, so hat diese sich danach drastisch verschlechtert, während sich alle anderen Länder im Schnitt langsam aber stetig verbesserten. Oder anders ausgedrückt: Nirgendwo gibt es mehr Absolventen pro Dozent und dafür weniger Mittel. Kein Land müsste also mehr auf das eigentlich begrüßenswerte Anwachsen der Studierendenzahlen reagieren wie Brandenburg. In den letzten zehn Jahren ist der Anteil der Grundmittel am Hochschuletat deutschlandweit von 80 auf 70 Prozent gesunken, während die Drittmittelfinanzierung von 20 auf 30 Prozent stieg. Drittmittel sind für zusätzliche Angebote und Forschungen gut. Sie sind auch wichtig für die Industrieforschung der heimischen Unternehmen. Als Ersatz für eine sichere staatliche Finanzierung grundständiger Lehre und Forschung können sie aber nicht dienen. Auch bei einer staatlichen Herkunft der Drittmittel (wie beispielsweise der Deutschen Forschungsgemeinschaft) führen befristete Drittmittelprojekte zu finanzieller und planerischer Unsicherheit. Sie befördern nachweislich die Prekarisierung und das Befristungsunwesen an den Hochschulen. Das ist eine zentrale soziale Frage. perspektive21
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Pro-Kopf-Ausgaben für Hochschulen nach Bundesländern in Euro (2007) Baden-Württemberg Hessen Sachsen Deutschland Bayern Nordrhein-Westfalen Niedersachsen Saarland Thüringen Mecklenburg-Vorp. Rheinland-Pfalz Sachsen-Anhalt Schleswig-Holstein Brandenburg Bremen Berlin Hamburg
328 322 311 292 280 274 271 265 253 244 242 226 204 157 571 481 445 Quelle: Statistisches Bundesamt, Monetäre hochschulstatistische Kennzahlen 2008
Mehr Drittmittel heißt derzeit auch, dass sich der Staat aus seiner Verantwortung für eine bedarfsgerechte Grundfinanzierung zurückzieht. Bildung wird durch das Abhängigmachen von privaten und profitorientierten Geldgeben und deren Wirtschaftsinteressen schleichend privatisiert. Demokratisch legitimierte politische Gestaltungshoheit in den Hochschulen geht zurück. Es gilt festzuhalten, dass Bildung ein öffentliches Gut ist, dessen Privatisierung keine Lösung, sondern ein Eingeständnis der eigenen Unwillig- und Unfähigkeit darstellt. Das heißt aber ebenso, dass Bildung für alle zugänglich sein muss. Bildung und Wissenschaft sind im internationalen Vergleich in Deutschland allgemein chronisch unterfinanziert. Die Studien- und Arbeitsbedingungen sind verbesserungswürdig, worauf die „Bildungsstreiks“ der letzten Jahre eindrucksvoll hinwiesen. Gibt es einen festen und klaren politischen Willen zu nachhaltiger Verbesserung, dann finden sich auch sozial gerechte Alternativen zur neoliberalen Doktrin der Privatisierung und Kürzung von Staatsausgaben zum Zwecke der Haushaltskonsolidierung in gesamtgesellschaftlich relevanten Bereichen wie der Bildung. Diese Haltung ist kostenlos, aber keinesfalls umsonst. 24
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Die Föderalismusreform von 2006, nach der sich der Bund nur noch in wenigen Bereichen an der Bildungsfinanzierung beteiligen kann – wie der Hochschulmitfinanzierung nach Art. 91b Grundgesetz und Bund-Länder-Hochschulpakte –, war angesichts einer schwierigen Einnahmesituation der Länder ein Eigentor. Sie führte dazu, dass einige Länder ihrer zentralen Aufgabe, den Bildungsbereich angemessen auszustatten, nicht mehr hinreichend nachkommen können und sich die Situation verschlimmerte. Der Bund muß sich stärker engagieren Wenn man die Breite noch nicht einmal ausfinanziert hat, braucht es mehr als nur eine Förderung von ausgewählten Studienrichtungen und „Exzellenz“. Die „Exzellenzinitiative“ ist eher die Nutzung einer letzten Mitfinanzierungsmöglichkeit des Bundes, die allerdings problematische Folgen hat, da ein breites emanzipatives Angebot nun noch mehr vernachlässigt wird. Dem gegenüber steht der Hochschulpakt – der richtig und wichtig ist – jedoch im Vergleich zur „Exzellenzförderung“ oder anderen Bundesprogrammen bedarfsgerecht und sinnvoll zu erneuern und beim Finanzvolumen deutlich auszubauen ist. Es muss sich etwas an der Bildungsfinanzierung ändern, wenn Bildung nach sozialdemokratischem Kerngedanken auch in Zukunft öffentliches Gut sein soll. In diesem Sinne aktiv zu sein, liegt im ureigenen Interesse Brandenburgs. Die Unterstützung von Bundesratsinitiativen und der SPD-Bundestagsfraktion zur Aufhebung des Bund-Länder-Kooperationsverbotes ist ein guter Zwischenschritt. Doch für deren Erfolg muss noch viel Überzeugungsarbeit geleistet werden. Dabei muss deutlich werden, dass Bundesmittel vor allem zur Breitenförderung im Bildungsbereich benötigt werden und es nicht zu bloßer Elitenförderung kommt. Vielmehr muss daraus ein nachhaltiger Bund-Länder-Pakt für mehr und bessere Bildung – einschließlich der Hochschulbildung – entstehen. Die BundesSPD hat dazu bereits umfassende Vorschläge vorgelegt, die sich auch auf die Grundausstattung der Hochschulen beziehen. Ebenso gilt es, eine sozial gerechte Steuerreform aktiv zu forcieren. Der deutsche Staat lebt nicht über seine Verhältnisse, zumal immer neue Kürzungsmöglichkeiten erdacht werden. Vielmehr gibt es eine künstlich erzeugte Einnahmenkrise. Allein in den letzten zehn Jahren wurden Steuersenkungen über mehr als 400 Milliarden Euro für Superreiche und Großunternehmen verabschiedet, vorrangig für Einkommen aus Kapitalbesitz.
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Einen ersten richtigen und wichtigen Schritt ging daher die rot-rote Landesregierung, als sie im Februar 2012 eine Bundesratsinitiative startete, um den Spitzensteuersatz bei der Einkommenssteuer auf 49 Prozent anzuheben. Des Weiteren plädiert sie für eine Finanztransaktionssteuer, für eine Vermögenssteuer und für eine sozial gerechte Erbschaftssteuerreform. Hat sie Erfolg, ist das gerechter und besser, als sich über Kredite das Geld bei Superreichen zu leihen oder öffentliche Güter wie Bildung abzubauen. Rettungspaket für Studierende Ziel muss in jedem Fall sein, den Bildungs- und Wissenschaftssektor bedarfsgerecht auszufinanzieren. Die Juso-Hochschulgruppen haben angesichts chronischer Unterfinanzierung und mangelnder Studienplätze ein „Rettungspaket für Studierende“ gefordert. Man darf sich jedoch nicht allein auf den Bund verlassen. Zentral ist es, die Landesmittel bedarfsgerecht zu erhöhen. Bei einem Haushaltsüberschuss von über 170 Millionen Euro im Jahr 2011 stellt sich die Frage nach fehlenden Mitteln so nicht, sondern eher, ob 50 oder 70 Millionen Euro zusätzlich in Bildung investiert werden – bei gleichzeitigem Schuldenabbau. Mehr Studierende und Absolventen bringen zudem zusätzliches Geld und Steuern ins Land. „Es gibt keinen Hinweis darauf, dass das brandenburgische Hochschulsystem insgesamt jetzt und auf absehbare Zeit überdimensioniert ist.“ Vielmehr seien dringend mehr Kapazitäten, insbesondere für die Weiterbildung, nötig, um dem absehbaren Mangel an Akademikern begegnen zu können. Insgesamt brauche es deutlich mehr Geld. Zu diesen Schlüssen kommt die Hochschulstrukturkommission, die Ministerpräsident Matthias Platzeck 2011 berief. Doch es geht nicht nur um finanzielle Aufwüchse. Gleichzeitig ist für bessere Lern-, Lehr-, Forschungs- und Arbeitsbedingungen auch eine geeignete Strukturgestaltung nötig. Die Debatte ist mit vielen klugen Vorschlägen auf allen Seiten in vollem Gange. Allerdings sind dabei Mitbestimmung und Autonomie der Hochschulen zu gewährleisten. Um mehr junge Fachkräfte zu bekommen, sind Überlegungen zum Abbau von Studienplätzen und Studienfächern abträglich. Strukturänderungen müssen der Verbesserung von Forschung und Lehre dienen und stets mit den regional Betroffenen gemeinsam entwickelt werden. Sie dürfen nicht unter der Prämisse von Kürzungen stehen. Fachspezifisch sind insbesondere Antworten auf den Mangel an Ärzten und Pflegepersonal in der Peripherie erforderlich. Hier untersagte das Wissenschaftsministerium regelmäßig entsprechende Kooperationsambitionen zum Beispiel der 26
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BTU Cottbus, die auf eine medizinische Kapazitätsbildung hinauslaufen könnten. Eine staatlich finanzierte und demokratisch verfasste medizinische Fakultät an der BTU scheint aber sinnvoller zu sein als durch die Umstände erzwungene Privatinitiativen, die wie in Frankfurt horrende Studiengebühren von 10.000 Euro pro Jahr in Aussicht stellen. Die Mehrkosten wären marginal im Vergleich zum Nutzen. Das Hochschulwesen muss den Anforderungen einer sich emanzipierenden und ändernden „Wissensgesellschaft“ im nationalen wie internationalen Kontext gerecht werden und hinreichende Attraktivität ausstrahlen, um kluge Köpfe und Investitionen in die Arbeitsplätze von morgen ins Land zu holen oder zu halten. Zukunftschancen durch ein breites Ausbildungsangebot in den Regionen sowie gezielte Bewerbung sind der beste Weg dazu. Das macht dann auch Debatten über Rückholprogramme und Überalterung zunehmend unnötiger. Perspektiven für gute Arbeit 2006 forderte die jetzige finanzpolitische Sprecherin der SPD-Landtagsfraktion, Klara Geywitz, „die Schaffung von zukunftssicheren Arbeitsplätzen mit attraktiven Löhnen“ durch eine „langfristige und ernsthafte Prioritätensetzung im Landeshaushalt“ ohne Kürzungen, denn „Basis dafür sind Investitionen in Bildung, Wissenschaft und Forschung.“ Thüringen, Bayern oder Baden-Württemberg zeigen sehr gut, dass ein flächendeckendes breites Hochschulangebot die regionale Wirtschaftsentwicklung stützt. So siedeln sich Unternehmen gerne in Hochschulnähe an. Sie werden dort auch von ehemaligen Studierenden gegründet und legen den Grundstein für mehr oder neue Arbeits- und Ausbildungsplätze auf allen Qualifikationsebenen. Die hohe Verbleibquote der Absolventen von bis zu 80 Prozent, wie eine Studie der Universität Potsdam für die IHK ergab, zeigt den Effekt ebenfalls gut. Auch für 2030 könnten so regionale Wachstumskerne nachhaltig gestärkt werden und junge Menschen Perspektiven in ihrer Heimat nutzen. Wir müssen den gemeinsamen Dialog, den Informationsfluss und das gemeinsame Arbeiten an Zukunftskonzepten und ihrer Realisierung weiter ausbauen. Denn Brandenburg hat viele Potenziale und noch einen weiten Weg bis ins deutsche Mittelfeld bei der Hochschulausstattung vor sich. Die auch von hochschulpolitisch Aktiven und Verantwortung tragenden Politikern gewünschte stärkere „Lobby“ entwickelt sich. Ausgehend von den JusoHochschulgruppen, dem Juso-Landesverband und vielen befreundeten Organisationen wächst sie jetzt bescheiden, aber stetig. Davon zeugen eindrucksvoll perspektive21
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die intensiven und leidenschaftlichen Debatten und Aktionen der vergangenen Monate, nicht nur in den Gremien der beiden Koalitionsparteien SPD und Linkspartei, sondern insbesondere in breiten Kreisen der Gesellschaft, Wirtschaft und der Medien. Zudem gründete sich als bundesweit einzigartige Initiative die Brandenburgische Hochschulkonferenz am 7. März 2012 in Potsdam, in der Wissenschaftler und Studierende aus allen brandenburgischen Hochschulen gleichberechtigt für gemeinsame Interessen zusammenarbeiten. Es gibt viele politische Partner für eine beteiligungsorientierte, progressive und sozial gerechte Politik des Ausbaus einer guten Hochschullandschaft, für die Bildung keine Ware, sondern öffentliches und gebührenfreies Gut ist. Wir alle müssen uns bemühen, diese an einen Tisch zu bekommen und zu halten. 2030 wünschen wir uns für eine selbstbewusste Gesellschaft eine leistungsfähige, breit aufgestellte, zukunftsorientierte und ausfinanzierte Hochschullandschaft, die Selbstbewusstsein und Emanzipation fördert. Auf dieser Grundlage können die Brandenburger ihre Zukunft selbst mitgestalten.
ENRICO SCHICKETANZ
ist Landessprecher der Juso-Hochschulgruppen Brandenburg und deren Vertreter im Landesvorstand der Jusos Brandenburg. DAVID KOLESNYK
ist Vorsitzender des Juso-Unterbezirks Potsdam und Mitglied im Präsidium des Studierendenparlaments der Universität Potsdam. 28
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das straßenschild
Otto Braun 1872-1955
Demokratische Stolpersteine VON ERADO C. RAUTENBERG
um 140. Geburtstag von Otto Braun am 28. Januar 2012 hat Matthias Platzeck den „Gestalter des demokratischen Preußen“ gewürdigt, was jedoch leider von den Medien unbeachtet geblieben ist. Dabei nimmt der Sozialdemokrat Braun in der deutschen Demokratiegeschichte einen bedeutsamen Platz ein: Während der Weimarer Republik war er mit nur zwei kurzen Unterbrechungen Ministerpräsident von Preußen, das sich unter seinem Einfluss zu einem „demokratischen Bollwerk“ gegen die Feinde der Demokratie im Deutschen Reich entwickelte. Mit Hilfe seiner beiden sozialdemokratischen Innenminister Carl Severing und Albert Grzesinki besetzte er die Spitzen des Beamten- und insbesondere des Polizeiapparats in einem Umfang mit Anhängern der Demokratie, wie dies in keinem anderen Land gelang und bewirkte das reichsweite Verbot der SA. Auch ging der preußische Staatsschutz erfolgreich gegen die NSDAP vor. Nachdem die von ihm geführte Koalition der demokratischen Parteien bei den Landtagswahlen 1932 nicht mehr die Mehrheit erringen konnte, Braun und sein Kabinett aber gemäß der Landesverfassung geschäftsführend im Amt blieben, übernahm am 20. Juli ein von dem konservativen Reichskanzler Franz von Papen geführtes Reichskommissariat die Regierungsgeschäfte im Freistaat Preußen („Preußenschlag“), das sich bemühte, sämtliche während der Regierungszeit Brauns in Preußen durchgeführte Reformen zu revidieren. Braun wehrte sich dagegen mit der Einreichung von weitgehend erfolglosen Klagen beim Staatsgerichtshof. Um kein Blutvergießen zu provozieren, lehnte er jedoch ein aktiveres Vorgehen gegen die Feinde der Demokratie angesichts der politischen und militärischen Machtverhältnisse ab und verließ am 4. März 1933 Deutschland, was ihm nicht wenige verübelt haben. Eckhard Fuhr schrieb anlässlich des 50. Todestages am 15. 12. 2005 in der Welt über den zu Unrecht Vergessenen: „Wer wissen will, warum die Republik 14 Jahre gehalten hat, obwohl es doch seit 1920 im Reich keine stabilen republikanischen Mehrheiten mehr gab, der findet eine Antwort in Preußen und in seinem roten König Otto Braun.“
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das straßenschild
Otto Braun 1872-1955
Daher sollten wir uns aufgerufen fühlen, ihm ein ehrendes Andenken zu bewahren, denn sein Wirken ist ein wesentlicher Teil der Tradition unserer Demokratie, die wir auch heute wieder gegen den Rechtsextremismus zu verteidigen haben.
ERADO C. RAUTENBERG
ist Generalstaatsanwalt des Landes Brandenburg. Mit diesem Beitrag beginnen wir in der Perspektive 21 eine neue Rubrik. In jedem Heft stellen wir eine Person vor, deren Lebensleistung größere Beachtung verdient. Zum Beispiel in Gestalt von Straßen- oder Schulnamen. 30
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thema – die zukunft der medien
Die Medien und das Volk EINE WACHSENDE ENTFREMDUNG VON MANFRED GÜLLNER
ie Medien berichten regelmäßig über den Vertrauensschwund, den die Politik bei den Menschen seit Jahren erfährt. Dass sie aber selbst auch bei den Menschen Vertrauen einbüßen, verdrängen sie in ähnlicher Weise wie die von ihnen heftig kritisierten politischen Akteure. Die Verantwortlichen in den Medien müssen zwar zur Kenntnis nehmen, dass das Volk sie nicht mehr in dem Maße nutzt, wie das einstmals der Fall war. Aber wie die Politik weisen sie die Verantwortung dafür, dass sie immer weniger oder immer unzufriedenere Leser, Hörer oder Seher haben, weit von sich. Wenn aber zu einem Medium wie dem Fernsehen von den Jüngeren, den oberen Bildungsschichten, den Selbständigen oder den Anhängern der FDP nur noch ein Viertel oder gar nur ein Fünftel Vertrauen haben, dann dürfte das nicht nur mit dem Aufkommen neuer Medien zusammenhängen, sondern auch auf massive Qualitätsverluste im Programm zurückzuführen sein. Und die können nicht einseitig – wie es die öffentlich-rechtlichen Anbieter gerne tun – den privaten TVSendern angelastet werden. Vielmehr
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hat die Quotenjagd der öffentlich-rechtlichen Sender und die Orientierung des Programms an einem vermeintlichen „Mainstream“ der Zuschauer zu deutlichen Qualitätsverlusten geführt. Und selbst bei der „Grundversorgung“ der Bürger mit Informationen, die den öffentlich-rechtlichen Sendern obliegt, weil sie mit den Gebührengeldern aller Bürger finanziert werden, gibt es zunehmend Mängel oder Schieflagen in der Berichterstattung. Um 18 Uhr war Stoiber Kanzler Unvergessen ist zum Beispiel, dass die ARD, der die meisten Bürger in der politischen Berichterstattung noch immer eine recht hohe Kompetenz zubilligen und deren Sendungen an Wahlabenden dementsprechend von vielen Zuschauern gesehen werden, bei der Bundestagswahl 2002 um 18.00 Uhr (und auch bei den späteren Hochrechnungen) eine schwarz-gelbe Mehrheit prognostizierte und Edmund Stoiber zum Kanzler ausrief. Das Konsortium der – allerdings nur von wenigen Zuschauern am Wahlabend eingeschalteten – privaten Sender hatte 2002 hinperspektive21
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thema – die zukunft der medien
gegen trotz eines viel schmaleren finanziellen Budgets von Anfang an die knappe Mehrheit der damaligen rotgrünen Bundesregierung gesehen und verkündet. Und obwohl die ARD mit den Geldern ihrer Gebührenzahler die Zahl der am Wahltag Befragten nach dieser Schmach von 30.000 auf 100.000 aufstockte, war die 18-UhrPrognose 2005 nicht besser und 2009 sogar wieder schlechter als die der privaten Anbieter RTL und SAT.1. Wann die Erosion begann Aber auch manche Interpretationen des Wahlausgangs sind in der ARD eher abenteuerlich und wenig übereinstimmend mit der Realität. So narrt die ARD an Wahlabenden mit Zahlen zur sogenannten „Wählerwanderung“, die sich montags nach Vorliegen des endgültigen Ergebnisses oft völlig anders darstellen. Absurd auch die am Abend der Europawahl 2009 verkündete „Erkenntnis“, die Mehrheit der wenigen Wähler, die sich noch an der Europawahl beteiligten, hätte sich erst in der Wahlkabine entschieden, welche Partei sie auf dem Stimmzettel ankreuzen wollten. Doch bei den Europawahlen gehen nur noch die treuesten der treuen Stammwähler der Parteien wählen, die seit Jahren immer derselben Partei ihre Stimme geben. Ebenso bar jeder Sachkenntnis ist die Behauptung des ARD-„Wahl32
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papstes“ Jörg Schönenborn (in einem Artikel für den von Matthias Machnig und Joachim Raschke vor der Bundestagswahl 2009 herausgegebenen Sammelband „Wohin steuert Deutschland“), die „Erosion der Wahlbereitschaft“ hätte „auf breiter Front im Sommer 2005“ begonnen – nach der damaligen Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen. Doch diese „Erosion“ begann schon lange vor 2005. In Hamburg zum Beispiel sank die Wahlbeteiligung bereits 1991 im Vergleich zum vorherigen Maximum um 18 Prozentpunkte auf nur noch 66 Prozent. In Hessen ging die Wahlbeteiligung 1995 um 21 Prozentpunkte, in RheinlandPfalz 2001 um 19, im Saarland 2004 um 33, in Sachsen ebenfalls 2004 um 13, in Sachsen-Anhalt 2002 um 9, in Baden-Württemberg 2001 um 18, in Bayern 2001 um 18 und in WestBerlin 1999 um 16 Prozentpunkte (bezogen auf das jeweilige Maximum) zurück. Auch der Spiegel irrt Doch nicht nur im öffentlich-rechtlichen Fernsehen finden sich solche Qualitätsmängel bzw. Fehlinformationen über die Befindlichkeiten der Menschen, sondern auch in den klassischen „Print-Medien“, die an sich noch über ein etwas höheres Vertrauen bei den Bürgern verfügen als das Fernsehen. In einem der wichtigsten „Leit-
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medien“ der Republik, dem Spiegel, finden sich allein in der letzten Zeit zahlreiche derartige Fehleinschätzungen. Den Wutbürger gibt es nicht Da wurde zum Beispiel der „Wutbürger“ gefeiert, also jene angeblich immer weiter wachsende Gruppe von „normalen“ Bürgern, die gegen Planungen und beabsichtigte Maßnahmen jedweder Art protestieren. Doch wie unangemessen der Begriff „Wutbürger“ zur Beschreibung der wirklichen Lage in Stuttgart oder im Land BadenWürttemberg von Anfang an war, zeigt das Ergebnis der Volksabstimmung über das Bahnprojekt „Stuttgart 21“. Nur eine Minderheit der Wahlberechtigten stimmte – anders als zuvor vom Spiegel oder anderen Medien suggeriert – gegen das Bahnprojekt. Wut empfand die Mehrheit der Bürger in Stuttgart und Baden-Württemberg vielmehr über die Diktatur einer grünen Minorität in Politik und Medien; denn die Proteste gegen „Stuttgart 21“ wurden – wie auch andere Proteste gegen Großprojekte oder die „Anti-Atom-Bewegung“ - im Wesentlichen von Anhängern der grünen Bewegung getragen, allenfalls ergänzt durch wenige „normale“ Bürger mit spezifischen Partikular-Interessen. Ebenso wie das Konstrukt des „Wutbürgers“ ist auch die im Spiegel Ende 2011 zu lesende Behauptung
falsch, der „neue Mainstream“ in der Republik sei „links“ und bei der Bundestagswahl 2013 würde das „große“ Thema „soziale Gerechtigkeit“ wahlentscheidend sein. Diese These ist heute genauso falsch wie schon 2007, als sie zum ersten Mal von einem anderen „Leitmedium“, nämlich der Zeit, unter Berufung auf einen Marktforscher des in London basierten Konzerns WPP-TNS (der auch dem Spiegel, der Bild am Sonntag oder der ARD Daten liefert) verbreitet wurde. Eine neue Volkspartei? Wie verfehlt die These vom „Linksdrall“ in Deutschland schon damals war, zeigte das Ergebnis der Bundestagswahl 2009, als die bürgerlichen Parteien CDU, CSU und FDP und nicht das linke Lager aus SPD, Grünen und Linkspartei die Wahl gewannen. Und auch bei der Neuwahl des Landtags in Nordrhein-Westfalen im Mai 2012 wurde das „linke“ Lager nur von einer Minderheit von 31 Prozent der Wahlberechtigten gewählt. 1998 aber hatten noch rund 46 Prozent der Wahlberechtigten an Rhein und Ruhr „links“ gewählt. Und auch in den aktuellen bundesweiten Wahlumfragen wird das linke Lager nur von rund einem Drittel aller Befragten präferiert. Ebenso abwegig wie der behauptete „Linksdrall“ in der Gesellschaft war und ist die ebenfalls im Spiegel verbreiperspektive21
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thema – die zukunft der medien
tete Einschätzung, die Grünen seien die „neue deutsche Volkspartei“. Auch zu Zeiten, als die Grünen in bundesweiten Umfragen von mehr als 25 Prozent der „Wahlwilligen“ sympathisch gefunden wurden, waren es überwiegend die oberen Bildungs- bzw. Einkommensschichten und nicht – wie bei einer wirklichen Volkspartei – unterschiedliche Wählergruppen mit verschiedensten Werten und Interessen, die Präferenzen für die grüne Bewegung zeigten. Und bei den meisten Landtagswahlen seit 2009 lag der Anteil der Grünen weit unter einem Zehntel aller Wahlberechtigten. Selbst in Baden-Württemberg kamen die Grünen unmittelbar nach Fukushima nur auf einen Anteil von knapp 16 Prozent – über 84 Prozent aber wollten weder die Grünen noch den von ihnen propagierten radikalen Politikwechsel. Nach wie vor sind die Grünen eine Klientelpartei für eine Minorität und keine Volkspartei für eine größere Zahl der Wahlbürger. Und vollkommen konträr zur Einschätzung der großen Mehrheit der Bürger war die ebenfalls im Spiegel zu lesende Behauptung, das Amt des Bundespräsidenten sei das „überflüssigste“ in der Republik und könne abgeschafft werden. Diese Meinung aber wurde selbst auf dem Höhepunkt der Anti-Wulff-Kampagne nur von einer Minderheit von 27 Prozent aller Bürger geteilt. Die große Mehrheit von 34
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69 Prozent aber war im Januar 2012 trotz des Unbehagens über das Verhalten des damaligen Präsidenten der Meinung, Deutschland brauche auch zukünftig einen Bundespräsidenten. Dieser Meinung waren und sind im übrigen alle Alters-, Berufs- oder Bildungsgruppen in gleichem Maße. Von den Anhängern der Union, der SPD, der FDP und der Grünen glauben sogar mehr als drei Viertel, Deutschland brauche weiterhin einen Präsidenten. Nur die ohnehin eher systemkritischen Anhänger der Linkspartei glauben wie der Spiegel mehrheitlich, auf den Präsidenten könne die Republik verzichten. Das Interesse lässt nicht nach Eine Mär ist im übrigen auch die in vielen Medien zu findende – und leider auch von einigen Vertretern der Zunft der Meinungsforscher – verbreitete Unterstellung, die Menschen in Deutschland seien zunehmend uninteressiert am politischen Geschehen und fällten deshalb ihre Wahlentscheidungen mit wenig Verstand. Doch in Wirklichkeit verfolgen die Bürger in Deutschland das Geschehen in der Welt, in Deutschland, in ihrem Bundesland und vor allem in ihrer Stadt oder Gemeinde mit unverändert großem Interesse. Das zeigen zum Beispiel auch die Ergebnisse einer seit zwei Jahrzehnten von forsa täglich gestellten
manfred güllner – die medien und das volk
Frage nach den wichtigsten Themen in der Medienberichterstattung. Würde die These vom nachlassenden Interesse der Menschen am politischen Geschehen stimmen, dann dürften viele der von forsa Befragten diese Frage nicht beantworten können. Doch tatsächlich sind es nur ganz wenige (im Durchschnitt ca. 3 Prozent), die kein für sie wichtiges Thema nennen können. Fast alle nennen also Tag für Tag Themen, die sie besonders interessiert haben. Was will das Volk? Der von vielen behauptete „Wunsch“ der Bürger nach mehr „direkter Demokratie“ und mehr direkter Beteiligung an Entscheidungsprozessen entpuppt sich ebenfalls als eher oberflächliche Bespiegelung des Willens des Volkes, denn als wirklich große Sehnsucht der Menschen nach mehr Plebisziten. Zwar sagt eine Mehrheit der Bürger, man wolle den Oberbürgermeister, Bürgermeister, Landrat oder den Bundespräsidenten gern selbst wählen. Doch das ist für die Menschen kein besonders wichtiges Anliegen; denn nur eine Minderheit der Bürger macht tatsächlich dort von dieser Möglichkeit Gebrauch, wo das Stadtoberhaupt direkt gewählt wird. Bei Direktwahlen des Oberbürgermeisters beteiligt sich oft nur ein Drittel, manchmal – auch in kleineren Städten wie zum Beispiel Flensburg – nur ein Viertel aller Wahlberechtigten.
Auch die Wahlbeteiligung bei bislang durchgeführten Volksentscheiden zeigt, dass der unterstellte Wunsch nach mehr direkter Beteiligung alles andere als dringlich ist. Vordergründig „bürgerfreundliche“ Partizipationsangebote oder entsprechende Elemente im Wahlrecht führen insgesamt keinesfalls zu mehr, sondern tatsächlich zu einer geringeren Beteiligung der Bürger. In Hessen war beispielsweise die Wahlbeteiligung bei Kommunalwahlen solange im Vergleich zu anderen Ländern extrem hoch wie nach einem reinen Verhältniswahlrecht gewählt wurde. In dem Maße wie das Wahlrecht personalisiert wurde (zuletzt durch die Möglichkeit des Panaschierens und Kumulierens) ging die Wahlbeteiligung in Hessen flächendeckend auf rund 50 Prozent zurück. Unausgegorene Angebote zur Schein-Partizipation (so auch das von den meisten Bürgern als völlig absurd empfundene neue Hamburger oder Bremer Wahlrecht) sind also keinesfalls eine adäquate Antwort auf den Vertrauensverlust der Politik. Die Kluft nimmt zu Die Einschätzungen des Volkes und die in den Medien verbreiteten Mutmaßungen darüber klaffen also sehr oft auseinander. So ist zum Beispiel auch das Russlandbild der Deutschen viel positiver als die in den Medien vorzufindende Darstellung Russlands. Die perspektive21
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thema – die zukunft der medien
Berichterstattung der Medien über Russland wird von vielen Bürgern als verzerrt, nicht zutreffend und wenig objektiv beurteilt. Das Russlandbild der Deutschen ist dagegen – anders als die Berichterstattung in den Medien – überwiegend durch positive Züge gekennzeichnet. So hält eine Mehrheit den russischen Präsidenten Putin für den derzeit bedeutsamsten Politiker des Landes, der Russland eine lange Phase der Stabilität beschert, den Lebensstandard deutlich verbessert, die Bedeutung des Landes in der Weltwirtschaft gestärkt und die Beziehungen zu den Nachbarvölkern verbessert hat. Immerhin 42 Prozent haben den Eindruck, dass heute in Russland mehr Pressefreiheit herrsche als zur Zeit vor Putin (nur 30 Prozent glauben, das Gegenteil sei der Fall). Alles in allem ist das Bild der Deutschen von Russland überwiegend durch positive Züge geprägt – und das, obwohl die Berichterstattung der deutschen Medien über Russland als kritisch und wenig freundlich bewertet wird. Entscheidend ist … Ein weiteres Beispiel für die Fehleinschätzungen vieler Medien und Politiker über den wirklichen Willen des Volks ist auch die nach dem Reaktorunglück in Fukushima abrupt vollzogene Kehrtwende in der Energiepolitik, die angeblich – so behauptete es auch 36
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der kläglich gescheiterte CDU-Spitzenkandidat in Nordrhein-Westfalen, Norbert Röttgen, – von „über 90 Prozent“ der Deutschen so gewollt wurde. Es ist zwar richtig, dass in Umfragen nicht erst seit Fukushima, sondern schon seit der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl vor mehr als 25 Jahren eine Mehrheit der Bürger in Deutschland prinzipiell auch auf die friedliche Nutzung der Kernenergie verzichten würde. Doch daraus – wie es Röttgen zur Begründung der Energiewende im letzten Jahr getan hat – eine „breite Ablehnungsfront“ selbst bei den Anhängern der Union zu konstruieren, war und ist eher abwegig. ... was wichtig ist In Wirklichkeit war nämlich der Ausstieg aus der Kernenergie auch unmittelbar nach Fukushima für die große Mehrheit der Bürger in Deutschland kein drängendes Problem. Und über ein Jahr nach Fukushima hält im Frühsommer 2012 nur noch ein winziges Prozent aller Bürger den Ausstieg aus der Kernenergie und den Einstieg in erneuerbare Energien für ein wichtiges Problem, um das sich die Politik kümmern sollte. Im übrigen hielten auch unmittelbar nach Fukushima 61 Prozent aller Bundesbürger die deutschen Kernkraftwerke für sicher, während die „Energiewende“ von 67 Prozent nicht für glaubwürdig und von 53 Prozent
manfred güllner – die medien und das volk
auch nicht so wie geplant für machbar gehalten wurde. 61 Prozent glauben auch 2012 nicht daran, dass der Energiebedarf in Deutschland allein durch die erneuerbaren Energien gedeckt werden kann. Umso realitätsferner und absurder klingt es vor diesem Hintergrund, wenn manche – so die Vertreter der „Stiftung neue Verantwortung“ – glauben, die „Energiewende“ könne „nicht nur ökonomischer Innovationstreiber sein, sondern auch unsere Demokratie in Deutschland grundlegend verändern“. Absurde Schlussfolgerungen wie diese zeigen, wie gefährlich die vielfachen, von den Medien verbreiteten Fehleinschätzungen über die Befindlichkeiten der Menschen sind. Während sich die meisten Bürger – wie am
Beispiel des Russland-Bildes schön ablesbar – von der verzerrten Berichterstattung der Medien wenig beeindruckt zeigen, fallen viele politische Akteure auf diese Fehleinschätzungen herein. Es werden infolgedessen falsche Schlussfolgerungen gezogen und entsprechend falsche Weichenstellungen in der Politik vorgenommen. Diese wiederum erzürnen das Volk nur noch mehr als es ohnehin schon der Fall ist und vergrößern somit die vorhandene Entfremdung zwischen Politik und Bürgern weiter. Die politischen Akteure wären deshalb klug beraten, wenn sie die wirklichen Probleme, Ängste und Sorgen der Menschen ermitteln und nicht nur die gefilterten und verzerrten Darstellungen der Medien übernehmen würden.
PROF. MANFRED GÜLLNER
ist Gründer und Geschäftsführer des Meinungsforschungsinstituts forsa. perspektive21
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Neue Wege gesucht WIE SICH DER ZEITUNGSMARKT IN BRANDENBURG VERÄNDERT VON MATTHIAS BEIGEL
chon längst gehört der morgendliche Gang zum Briefkasten nicht mehr zum lieb gewonnenen Ritual vieler Brandenburgerinnen und Brandenburger. Denn immer seltener finden die heimischen Tageszeitungen den Weg in die märkischen Haushalte. Der Zeitungsmarkt in Brandenburg ist in Bewegung – und zwar ausnahmslos in eine Richtung: nach unten. Der Zeitungsmarkt in Brandenburg wird maßgeblich geprägt von drei großen heimischen Zeitungen1: die Märkische Allgemeine Zeitung (MAZ), die Märkische Oderzeitung (MOZ) und die Lausitzer Rundschau (LR). Im Jahr 1998 kamen sie zusammen auf durchschnittlich 528.000 verkaufte Exemplare pro Tag. Bei damals 1.034.000 Haushalten entsprach dies einer Abdeckung von 51 Prozent. Jeder zweite Haushalt bezog 1998 also eine der drei großen märkischen Tageszeitungen. Heute (Stand: März 2012) kommen die drei Tageszeitungen auf durchschnittlich 311.000 verkaufte Exemplare täglich.
S
1 Aufgrund ihrer geringen Auflage werden die kleineren Zeitungen wie etwa „Neues Deutschland“, „Potsdamer Neueste Nachrichten“ oder „Oranienburger Generalanzeiger“ in diese Analyse nicht einbezogen.
Ein Rückgang um 41 Prozent. Bei rund 1.237.000 Haushalten erreichen MAZ, MOZ und LR gemeinsam damit nur noch 25 Prozent aller Haushalte im Land Brandenburg. Ein dramatischer Verlust. Trend nach unten Nicht viel anders sieht es bei den Zeitungen aus, die hauptsächlich auf die Bundeshauptstadt Berlin ausgerichtet sind. Sie werden in Brandenburg vor allem im Berliner Umland gelesen: die Berliner Morgenpost, die Berliner Zeitung, der Tagesspiegel und die Bild Berlin-Brandenburg. Da sich die offizielle Statistik der Verkaufszahlen auf den Bereich Brandenburg und Berlin bezieht, ist eine rein brandenburgische Bewertung aufgrund des vorhandenen Datenmaterials leider nicht möglich. Es kann aber durchaus unterstellt werden, dass die Berliner Zeitungen einen Großteil ihrer Auflage in Berlin absetzen und damit in Brandenburg deutlich weniger Einfluss auf die Meinungsbildung haben, als MAZ, MOZ und LR. Die vier Berliner Zeitungen kamen im Jahr 1998 zusammen auf 690.000 verkaufte Exemperspektive21
39
thema – die zukunft der medien
Zeitungen in Brandenburger Haushalten 1998
2012
1.236.933 1.034.076
527.964 310.730
Zahl der Haushalte
plare täglich, bis März 2012 fiel die Zahl ihrer verkauften Zeitungen um 30 Prozent auf 481.000 Exemplare. Betrachtet man zunächst die drei heimischen Tageszeitungen, so fällt der Verlust an verkauften Exemplaren bei der LR am kräftigsten aus. Mit minus 48 Prozent hat sich die Leserschaft seit 1998 fast halbiert. Die MOZ verliert 39 Prozent an verkauften Exemplaren, die MAZ 37 Prozent. Größter Verlierer unter den Berliner Zeitungen ist die Bild Berlin-Brandenburg, die 37 Prozent ihrer Leser seit 1998 einbüßte. Die Berliner Zeitung verlor 36 Prozent, die Berliner Morgenpost 33 Prozent. Beachtlich ist, dass der Tagesspiegel hingegen nur einen Verlust von 11 Prozent verkraften musste. 40
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Verkaufte Exemplare von MAZ, MOZ und LR
Dass dieser Abwärtstrend noch immer in voller Bewegung ist, zeigt ein Blick auf die Entwicklung der letzten zwei Jahre. Alle Zeitungen mussten weitere Verluste verkraften. Die Berliner Zeitungen sind davon allerdings stärker betroffen als die heimischen Tageszeitungen. Ganz besonders viele Federn hat die Bild-Zeitung gelassen. Das Blatt verlor seit 2010 ganze 17 Prozent seiner Leser. Pro Tag entspricht das 19.500 weniger verkaufte Exemplare als noch vor zwei Jahren. Mit jetzt 95.000 rutschte Bild BerlinBrandenburg sogar erstmals unter die symbolisch wichtige Grenze von 100.000 Verkaufsexemplaren pro Tag. Sie ist damit inzwischen die kleinste der vier für Brandenburg relevanten
matthias beigel – neue wege gesucht
Täglicher Verkauf von Tageszeitungen in Brandenburg im Vergleich
139.775
2012
216.603
121.871
181.972
124.355
140.017
95.171
151.052
90.697
174.646
84.920
139.229
135.133
214.089
1998
* = Verkaufszahlen für Berlin und Brandenburg
Berliner Tageszeitungen. Die Berliner Zeitung verkauft heute im Vergleich zu 2010 täglich 17.000 Zeitungsexemplare weniger. Das entspricht einem Verlust von 11 Prozent. Es folgt der Tagesspiegel mit einem Verkaufsverlust von 14.500 Exemplaren (-10,5 Prozent). Die Berliner Morgenpost verzeichnet ein Minus von 12.000 täglichen Zeitungsverkäufen (-9 Prozent). Im Vergleich zu den Berliner Zeitungen scheinen die Verluste der Brandenburger Tageszeitungen in den vergangenen zwei Jahren fast schon überschaubar. Die LR setzte 7.000 Zeitungen pro Tag weniger ab – ein Verlust von 7 Prozent. Die MAZ verlor 10.000 (-7 Prozent) ihrer täglichen Leser. Von allen am besten geschlagen hat sich in
den vergangenen zwei Jahren die MOZ. Sie verlor „nur“ 4.000 verkaufte Zeitungen pro Tag (-4 Prozent). Sind Lokalzeitungen sicher? Selbst wenn die Brandenburger Zeitungen im Vergleich zu den Berliner Blättern seit 2010 weniger Verluste zu verzeichnen hatten, bleibt zu konstatieren, dass sich der Abwärtstrend weiter fortsetzt. Deshalb ist klar, dass die Zeitungsverlage durch die negative Entwicklung immer stärker unter Druck geraten. Sicher geglaubte Strukturen sind längst nicht mehr unantastbar. Besonders gilt dies für das größte Pfund der heimischen Tageszeitungen: die Lokalredaktionen. Gerade die Lokalperspektive21
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thema – die zukunft der medien
Verluste im Verkauf seit 2010
-4,4% -6,8%
-6,9% -10,5%
-9,1% -11,0%
-17,0%
seiten sind es, die treue Leserinnen und Leser an ihrer Zeitung schätzen. Eine von der Friedrich-EbertStiftung in Auftrag gegebene qualitative Studie von tns infratest aus dem Dezember 2011 hat dies erneut bestätigt. Die Leserinnen und Leser von Tageszeitungen wollen vor allem wissen, welche Straße in ihrer Stadt gesperrt ist oder wie sich der örtliche Fußballclub geschlagen hat. Kurzum: Sie wollen wissen, was in ihrer Region passiert. Doch genau im lokalen Bereich werden die Verlage, wenn sie es nicht schon getan haben, in den nächsten Jahren aus finanziellen Gründen reagieren müssen. So ist es etwa schwer vorstellbar, dass es sich die MAZ auf lange Sicht wird weiter leisten können, im Landkreis Havelland zwei selbstän42
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dige Redaktionen („Havelländer“ und „Westhavelländer“) zu unterhalten, die jeweils für weniger als 5.000 Abonnenten eigene Lokalausgaben produzieren. Wie groß aber dürfen die Flächen sein, für die Lokalredaktionen räumlich zuständig sind, ohne dass der lokale Bezug verloren geht? Was passiert etwa, wenn Abonnenten in Rathenow künftig vermehrt darüber lesen, welche Kreuzung im 65 Kilometer entfernten Falkensee saniert wird, der Streit um den örtlichen Busverkehr im heimischen Rathenow aber keinen Platz mehr findet? Beschleunigt das nicht vielleicht sogar die Abwanderung weiterer Leserschaften? Es ist daher richtig, dass sich die Zeitungsverlage schwer tun, ihre Lokalredaktionen auszudünnen. Es ist zu
matthias beigel – neue wege gesucht
vermuten, dass die Verantwortlichen zunächst vor allem bei der Produktion ihrer Zeitungen verstärkt auf Zentralisierung setzen. Die LR hat diese Zentralisierung bereits 2009 vorgenommen und produziert seitdem alle 13 Lokalausgaben über einen so genannten „Newsdesk“. Texte, Fotos und Grafiken können so über eine gemeinsame Datenbank ausgetauscht werden. Kritiker sehen in der Zentralisierung der Produktion von Lokalseiten allerdings einen deutlichen Verlust an lokalem Bezug. Denn entschieden wird über die jeweilige Lokalseite eben nicht mehr in Forst, Guben oder Luckau, sondern am „Newsdesk“ im entfernten Cottbus. Ob und wie weit diese Umstellung dazu beigetragen haben mag, dass die LR unter den drei Brandenburger Tageszeitungen seit 2010 den größten prozentualen Verlust zu verkraften hat, kann zum jetzigen Zeitpunkt zwar noch nicht bewertet werden. Eine genaue Analyse wäre jedoch sicherlich lohnenswert. Es ist aber in jedem Fall davon auszugehen, dass auch anderen Zeitungen früher oder später bei der Produktion auf einen „Newsdesk“ zurückgreifen werden. Grenzen des Vertriebs Mit den zurückgehenden Verkaufszahlen sinkt auch die Zahl der Abonnenten stetig weiter nach unten. Gerade im ländlichen Raum Brandenburgs führt
das zu neuen Problemen der Zeitungsverleger – sie werden immer unwirtschaftlicher. Denn während die Zahl der kontinuierlich zahlenden Abonnenten abnimmt, bleiben die Vertriebskosten relativ konstant. Schließlich müssen die Zeitungsexemplare in jeden Ort im Verbreitungsgebiet transportiert und vor Ort durch Personal verteilt werden – ganz egal ob es früher 15 Abonnenten im Dorf gab, heute aber nur noch 5. Noch ist nicht absehbar, wie dieses vor allem finanzielle Problem für die Zeitungsverlage zu lösen ist. Es ist jedenfalls nicht auszuschließen, dass das bislang dichte Verteilungsnetz in den ländlichen Regionen spürbar gelichtet werden muss. Manch ein Abonnent wird dann wohl damit leben müssen, seine Zeitung nicht mehr früh um sechs Uhr im Briefkasten zu haben, sondern erst mittags mit der Post. Wer tagsüber arbeitet, liest sie dann frühestens am Abend. Auch diese Entwicklung würde daher zu einem weiteren Wertverlust der gedruckten Zeitung und damit verbunden wohl noch weniger Abonnenten führen. Denn je später man die Zeitung in den Händen hält, umso älter ist die Nachricht. In unserer schnelllebigen Zeit ein nicht zu unterschätzender Aspekt. Als weitere Konkurrenz für die heimischen Tageszeitungen entwickeln sich zunehmend auch die kostenlosen Wochenzeitungen. Sie finanzieren sich vornehmlich aus Anzeigen und leben perspektive21
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thema – die zukunft der medien
damit offensichtlich recht gut. Qualitativ sehr unterschiedlich drohen sie in manchen Regionen Brandenburgs den Tageszeitungen den Rang als lokale Informationsquelle abzulaufen. Ein beunruhigender Trend für die verantwortlichen Zeitungsmacher. Man kann es daher als strategisch sehr weitsichtig bezeichnen, dass sich das Medienhaus der MOZ, die „Märkische Verlagsund Druckhaus GmbH“ in Frankfurt (Oder), Anfang 2011 nicht nur den Oranienburger Generalanzeiger, den Hennigsdorfer Generalanzeiger, die Gransee-Zeitung, den Ruppiner Anzeiger sondern auch die kostenlosen Wochenzeitungen Märker und BRAWO käuflich erwarb. Während die MOZ in Ostbrandenburg zuhause ist, erscheinen die erworbenen Blätter nördlich und westlich von Berlin. Allein die beiden kostenlosen Wochenzeitungen erscheinen wöchentlich mit einer Auflage von rund 300.000 Exemplaren. Auch im Internet stärken sie mit häufig ansprechenden kostenlosen Portalen ihre Konkurrenzstellung als Informationsquelle mit regionalem Bezug. Die große Konkurrenz Das Internet stellt alle Zeitungen ohnehin vor große Herausforderungen. Es sorgt durch seine ortsunabhängige, nahezu grenzenlose Verfügbarkeit zu jeder Tages- und Nachtzeit für immer stärkere Konkurrenz. Die Zeitungen 44
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befinden sich dabei in einer schwierigen Zwickmühle. Zum einen ist ein moderner Internetauftritt als LeserService seit einigen Jahren unabdingbar. Ein informativer Online-Auftritt bedeutet im Gegenzug aber auch einen Wertverlust der gedruckten eigenen Zeitung. Wer morgens kostenlos die gleichen Artikel auch bequem am Computer lesen kann, spart sich schnell die monatlichen Ausgaben für das Abonnement im Briefkasten. Immer wieder versuchen sich die Zeitungsverlage daher darin, ihr OnlineAngebot zu beschränken oder ausführliche Artikel nur kostenpflichtig anzubieten. Den neuesten Anlauf unternimmt gerade die „Mediengruppe Madsack“, die Ende 2011 die MAZ kaufte und in ihre umfangreiche Zeitungslandschaft (u. a. Leipziger Volkszeitung, Dresdner Neueste Nachrichten und Hannoversche Allgemeine Zeitung) integrierte. Bis Ende 2012 sollen alle Nicht-Abonnenten für exklusive Inhalte auf den Online-Portalen Geld bezahlen. Der stellvertretende „Madsack“-Geschäftsführer Thomas Düffert begründete dies mit den Worten: „Unsere journalistische Leistung hat einen hohen Wert und kann deshalb nicht kostenlos zur Verfügung gestellt werden.“ Dieser Aussage muss man zwar einerseits zustimmen, jedoch zeigt die Praxis andererseits, dass kostenpflichtige Informationsportale im Internet kaum Anklang finden. Das
matthias beigel – neue wege gesucht
Angebot an kostenlosen Informationsquellen ist einfach zu groß, als dass Internetnutzer regelmäßig Geld für das Lesen einzelner Artikel ausgeben. Und auch der vermeintliche Anreiz, wegen der exklusiven Artikel im Internet ein Zeitungs-Abonnement zu erwerben, scheint angesichts des Überangebots an freien Informationen im Netz doch eher fraglich. Kostenlos im Internet? Dass Internetnutzer um kostenpflichtige Online-Artikel einen großen Bogen machen, hat nicht zuletzt die MAZ selbst bereits erlebt. 2010 konnten ausgewählte Artikel für eine Zeit lang nur gegen Gebühr vollständig online gelesen werden. Wie groß der Einbruch bei MAZ-online-Lesern gewesen ist, ist nicht bekannt. Jedenfalls stellten die Verantwortlichen ihr Angebot relativ schnell wieder kostenlos zur Verfügung. Die MAZ steht mit diesem Problem natürlich nicht allein. Selbst die bundesweit führenden InternetInformationsportale ringen seit Jahren um geeignete Lösungen. Christoph Keese, beim Axel-Springer-Verlag zuständig für Public Affairs, hat über die redaktionellen Internet-Angebote seines Verlages im Februar 2009 gesagt: „Wir sind über die Maßen erfolgreich, kriegen nur kein Geld dafür.“ Geld verdienen lässt sich dagegen mit den Werbeanzeigen auf den kostenlosen
Internetseiten. Die digitalen Werbeerlöse von Springer lagen im vergangenen Jahr erstmals über den Einnahmen durch Werbung in den Printmedien des Verlags. Schwer vorstellbar, dass Verlage angesichts dieser Entwicklung künftig auf diese für den Internetnutzer kostenlosen Angebote im Netz verzichten werden. Umso schwieriger wird die Lage für kostenpflichtige Internetseiten von Zeitungen – auch auf dem Brandenburger Zeitungsmarkt. Man darf also gespannt sein, wie die Umstellung des Online-Angebotes der MAZ auf kostenpflichtige Inhalte von den Brandenburgerinnen und Brandenburgern künftig angenommen wird und welche weiteren Auswirkungen es durch die Entwicklung im Internet auf den Verkauf der gedruckten Tageszeitungen in Brandenburg gibt. Wo die Zukunft liegt Besonders große Hoffnung setzt die Zeitungsindustrie bundesweit auf Smartphones und Tablet-Computer. Immerhin war 2011 jeder sechste verkaufte Computer in Deutschland ein Tablet. Grund genug für Zeitungsverleger, ihre Angebote an neuen Medien auszubauen. In Brandenburg bietet bisher nur die LR ein „App“ an, mit dem sich Zeitungsinhalte gegen 1,50 Euro pro 30 Tage auf TabletComputern oder Smartphones abrufen lassen. Bundesweit liegen die Marktperspektive21
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preise deutlich höher. So verlangt etwa die Frankfurter Rundschau für ihre 2011 mit dem „European Newspaper Award“ ausgezeichneten App 7,99 Euro zusätzlich zur Printausgabe, die Süddeutsche Zeitung erhebt einen Zuschlag von 7,50 Euro auf das gedruckte Abo. Grundsätzlich, so meinen zumindest die Optimisten der Branche, ließen sich gedruckte Zeitungen durch das neue Digitalprodukt langfristig sogar in Gänze ersetzen. Vor allem die enormen Probleme der teuren Vertriebswege würden sich auf diese Weise quasi in Luft auflösen. Ob in den bedienerfreundlichen Geräten vielleicht wirklich die Zukunft des Zeitungsmarktes steckt, muss sich allerdings erst noch erweisen. Schließlich gehören Nutzer kostenpflichtiger Apps und Nutzer kostenloser Internet-Angebote zur selben Zielgruppe medienaffiner Leser. Ob diese dann wirklich bereit sind, für Apps Geld auszugeben, wenn sie zeitgleich mit demselben Gerät die Informationen andernorts auch kostenlos beziehen können, darf zumindest noch bezweifelt werden. Manch grenzenloser Optimismus ist zum jetzigen Zeitpunkt jedenfalls deutlich verfrüht. Die Entwicklung ist bislang nicht mehr als
ein – immerhin durchaus ernst zu nehmendes – Experiment. Als Fazit bleibt festzuhalten: Der Zeitungsmarkt in Brandenburg ist seit vielen Jahren erheblich unter Druck. Ein Ende der Abwärtsspirale ist nicht absehbar. Selbst großangelegte Werbekampagnen bringen kaum zählbaren Erfolg. Auch Experimente mit neuen Medien können diese Entwicklung trotz aller Euphorie bislang nicht aufhalten. Vielmehr ist anhand der sinkenden Verkaufszahlen zu beobachten, dass das weiter abnehmende Interesse an Tageszeitungen die gesamte Branche in den kommenden Jahren in immer größere Schwierigkeiten bringen wird. Qualitativ hochwertiger Journalismus ist davon ebenso betroffen, wie schlagzeilenträchtiger, oberflächlicher Boulevard. Die Medienlandschaft muss sich diesen Entwicklungen anpassen. Nur mit guten neuen Ideen werden sie sich am Markt behaupten können. Es bleibt zu hoffen, dass ihnen dies gelingt. Wir brauchen auch in der Zukunft Leitmedien, die gute Tageszeitungen für Brandenburg auf den Markt bringen. Für eine gesunde Entwicklung von Gesellschaft und Demokratie sind Tageszeitungen in jedem Fall unverzichtbar.
MATTHIAS BEIGEL
ist Pressesprecher der SPD-Landtagsfraktion Brandenburg. 46
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Ein gewisser Machttrieb ÜBER DAS REGIEREN OHNE HANDYS SOWIE MEDIEN UND POLITIK IM ZEITALTER DES INTERNETS SPRACH THOMAS KRALINSKI MIT ALEXANDER GAULAND
In der zweiten Hälfte der achtziger Jahre waren Sie Chef der Hessischen Staatskanzlei. Damals gab es kein Internet, keine E-Mails, keine Handys. Wie konnte man so überhaupt regieren? ALEXANDER GAULAND: Besser als heute. Man kann das noch zuspitzen. Bismarck hat drei Monate Urlaub gemacht im Jahr – und war statt in Berlin in Varzin. Und zumindest außenpolitisch – innenpolitisch sehen das Sozialdemokraten sicherlich anders – kann man nicht sagen, dass das bismarcksche Reich schlecht regiert worden ist. Das waren andere Zeiten und es war, glaube ich, für die Entscheidungsfindung besser. PERSPEKTIVE 21:
dazu beigetragen hat, dass wir besser regiert werden. Trifft das auch auf Medien zu? GAULAND: Natürlich trifft es auch auf die Medien zu. Schon deshalb weil beispielsweise in Berlin alles sehr viel hektischer und schneller umläuft als es noch in Bonn der Fall war. Heute müssen Spitzenpolitiker, wie bei der zweiten Wahl von Horst Köhler, sagen, es gehe nicht, dass aus Wahlvorgängen heraus schon die Ergebnisse getwittert werden. Dass man das überhaupt zum Thema machen muss, finde ich schon eine deutliche Verfallserscheinung. Dem kann ich nichts Positives abgewinnen.
Warum? Weil die heutige Geschwindigkeit dazu führt, dass immer mehr Unausgegorenes und nicht Durchdachtes schnell vor eine Pressekonferenz gekippt wird. Weil man glaubt, man muss jetzt den großen Konkurrenten durch Zeit übertreffen. Und wenn ich mir angucke, wie viel dann korrigiert werden muss, dann glaube ich, dass diese Geschwindigkeit nichts GAULAND:
Ein sehr kleines Fenster Sie haben unmittelbare Erfahrungen aus der politisch-medialen Landschaft in Brandenburg und können dies vergleichen mit der in Hessen vor 25 Jahren. Was hat sich verändert in der Landespolitik im Laufe der Zeit? GAULAND: Auch in der Landespolitik haben Geschwindigkeit und „Interperspektive21
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thema – die zukunft der medien
netisierung“ zugenommen. Nun ist Landespolitik leider nicht so stark im Fokus des immer nach Neuem Suchenden. Zum Glück muss man allerdings heute sagen mit Blick auf den Geschwindigkeitsrausch. Manfred Kanther, mein Kollege aus der hessischen Landesregierung, hatte mal gesagt, die Landespolitik hat nur ein sehr kleines Fenster. Da kann maximal der Ministerpräsident herausgucken und alle anderen fallen da schon durch den Rost. Da ist was dran. Insofern sind die Entwicklungen in der Landespolitik, nicht so brutal schnell wie wir das in Berlin erleben. Landespolitik findet durch eine Milchglasscheibe statt? GAULAND: Da haben Sie Recht. Die Leute schauen über das Fernsehen auf Berlin und sie interessieren sich für Kommunalpolitik, für Windparks vor ihrer Haustür oder Verkehrsprojekte. Ihnen geht es nicht unbedingt um die politischen Diskussionen in der Stadtverordnetenversammlung, aber Kommunalpolitik berührt sie. Abgesehen von Bildung, berührt die Landespolitik die Leute im Grunde genommen wenig. Und dadurch kann man Landespolitik etwas langsamer machen? GAULAND: Ja, ich habe schon das Gefühl, dass es selbst in einer angeblichen Weltbankenstadt wie Frankfurt 48
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ruhiger zugeht als beispielsweise in Berlin. Das hat den Vorteil, dass man über ein paar Entscheidungen, wie zum Beispiel die Frage, wie man Wirtschaftsförderung strukturiert, ein bisschen länger nachdenken kann. Wo die Zeitungskultur noch lebt Sie haben viele Jahre die Märkische Allgemeine Zeitung herausgegeben. Wie stark sind die regionalen Zeitungen durch das Internet unter Druck geraten? GAULAND: Die Märkische Allgemeine hat viele Leser und Abonnenten aus der Vergangenheit. Das sind Leser, die zum größten Teil nicht im Internet präsent sind, die noch diese alte – manche sagen kleinbürgerliche – Zeitungskultur für sich leben und entsprechend auch durch das Internet nicht getrieben sind. Die Regionalzeitungen stellen ja mittlerweile auch fast alles ins Internet, aber davon hängt die Auflage noch nicht ab. Aber in der nächsten Generation kann das sicherlich anders werden. Vor 15 Jahren lag die Haushaltsabdeckung der Regionalzeitungen bei 50 Prozent, heute nur noch bei 25 Prozent. Gibt es eine kritische Untergrenze? GAULAND: Ja, natürlich. Schauen Sie sich nur an, mit welchen Maßnahmen die Zeitungen versuchen zu sparen. Sie sparen die Eigenständigkeit von bestimmten Produkten ein. Das fängt
alexander gauland – ein gewisser machttrieb
bei den völlig unpolitischen Sachen an, vom Ratgeber bis zum Feuilleton. Das wird in Zukunft sicherlich nicht mehr alles eigenständig produziert – sondern man wird in Rostock, Hannover, Leipzig, Potsdam und Erfurt das Gleiche lesen. Das bedeutet, dass die regionalen Printmedien immer einheitlicher werden. GAULAND: Das ist die einzige Möglichkeit zu sparen und sicherlich keine positive Entwicklung. Damit das aber funktioniert, muss die Lokalberichterstattung unbedingt erhalten bleiben. Wenn der lokale Bezug weg ist, hat sich die Geschichte mit der Zeitung erledigt. Denn es ist niemandem in den letzten Jahren gelungen, den Auflagenverlust von Papier zu stoppen – abgesehen von den großen nationalen Zeitungen wie der Süddeutschen, der Frankfurter Allgemeinen oder der Zeit. Aber bei den regionalen Medien ist es in Brandenburg nicht anders als bei der Rheinischen Post oder der Rheinzeitung in Koblenz. Sie verlieren an Zustimmung im Sinne von Abonnenten, weil die jungen Leute, die ihre Regionalzeitung bei den Eltern mitgelesen haben, in dem Moment, wo sie heiraten oder sich niederlassen, die Zeitung eben nicht weiterlesen. Diese Generation ist inzwischen so stark technikaffin, dass sie immer weniger liest. Der Widerstand gegen das Lesen wird größer. Stattdessen wird der
Computer oder der Fernseher angemacht und ein paar Nachrichten geschaut. Wir erleben einen Verfall von Zeitungskultur. Ist dieser Trend umkehrbar? GAULAND: Das kann man heute noch nicht beurteilen. Es ist nur dann umkehrbar, wenn das Gefühl für das gedruckte Wort eine neue schon historisch traditionelle Qualität wiederbekommt. Bei manchen Kulturen haben wir das schon erlebt – der Kinofilm erlebte einen riesigen Niedergang und hat sich heute wieder etabliert. Auch bei den Medien kann ich mir vorstellen, dass das Gefühl, es ist doch viel schöner eine Zeitung in der Hand zu halten, wieder zurückkehrt. Der Marktplatz im Internet Im Moment ist das allerdings nicht so. GAULAND: Ja. In den USA ist diese Entwicklung schon viel weiter. Die großen Zeitungen arbeiten dort an der Grenze dessen, was noch wirtschaftlich ist. Welche Konsequenzen hat das auf den politischen Diskurs und unsere Demokratie? GAULAND: Das ist es, was mich immer ärgert, wenn über das Internet geredet wird, was es doch alles für tolle Möglichkeiten mit Facebook und solchen Sachen gebe. An diese MarktplatzIdee glaube ich nicht. Wenn sie auf perspektive21
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der einen Seite niemanden mehr haben, der ihnen irgendwas vernünftig erklärt und irgendeinen Zusammenhang herstellt, leidet die Diskussion und führt dazu, dass es immer weniger kompetente Teilnehmer an öffentlichen Diskussionen gibt. Da haben die Zeitungen eine große positive Rolle in der Vergangenheit gespielt, sicherlich manchmal auch eine negative. Über das Zeitunglesen konnte man die Welt verstehen – und das wird immer weniger.
ders erlebt und hat mit dem Internet oder diesen Dingen nichts zu tun. Das hat eher mit unserem dreigliedrigen politischen System aus Bund, Land und Kommunen zu tun. Das stellt zu viel Aufmerksamkeitserfordernis für den normalen, nicht übermäßig interessierten Leser und Wähler dar. Also lässt er das Land weg, es sei denn, es berührt ihn persönlich – wie vor allem in der Bildungspolitik.
Politik braucht Medien, weil man sonst die Leute nicht erreichen kann. Selbst der Podcast von Frau Merkel hat ja nur ein paar Zehntausend Zuschauer – und nicht Millionen wie Zeitungen oder Fernsehen. GAULAND: Die Piraten erzählen einem, dass das alles über das Internet geht. Ich kann mir nicht vorstellen, wie das funktionieren soll. Denn eine Diskussion muss strukturiert sein. Und eine unstrukturierte Diskussion bringt letztlich keine Ergebnisse. Ich sehe in der Tat eine Gefahr, weil Politik weniger erklären kann und es damit schwieriger wird über rationale Argumente eine Machtposition durch Wahlen zu erreichen – das ist schließlich Demokratie.
Gleichzeitig hat die Bedeutung der Ministerpräsidenten in der Bundesrepublik abgenommen. Man denke nur an Biedenkopf, Rau, Schröder oder Späth. Die wurden bundesweit gehört. Heute kennt kaum noch jemand die Namen der Ministerpräsidenten. GAULAND: Das ist meiner Meinung nach keine endgültige Entwicklung, sondern hat viel damit zu tun, dass wir in den letzten zwei, drei Jahren Politik fast nur noch über Euro- und Griechenlandkrise definieren. Und da spielen die Ministerpräsidenten keine wirkliche Rolle. Das war bei der Wiedervereinigung zum Beispiel anders und sie hatten dadurch auch andere Möglichkeiten präsent zu sein. Hinzu kommt, dass wir eine verhältnismäßig starke Kanzlerin haben, aber auch starke Oppositionsfiguren wie zum Beispiel Gabriel, Steinmeier oder Steinbrück. Wenn es da eine Lücke gäbe, wären die Minis-
Damit wird es schwieriger, die Leute zu erreichen. GAULAND: Das ist aber schon immer das Problem der Landespolitik gewesen. Das habe ich in Hessen nicht an50
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Die Ruhe des Landes
alexander gauland – ein gewisser machttrieb
terpräsidenten auch präsenter. Hinzu kommt, dass es in den letzten Jahren eine ganze Reihe von Wechseln bei den Länderregierungschefs gab. Täuscht der Eindruck oder meiden manche Ministerpräsidenten lieber den „Berliner Zirkus“? GAULAND: Da ist sicher was dran. Manche wie McAllister oder Tillich sagen explizit, dass sie nicht in der „großen Politik“ mitmischen wollen. Mancher hat dabei sicher die Erfahrungen von Beck oder Wulff vor Augen, wo man schnell sehen konnte, wo das hinführt. Die regieren dann lieber in Ruhe in ihren Landeshauptstädten. Ich glaube aber nicht, dass das auf Dauer so ist.
oder Helmut Kohl und viele andere meinten, sie könnten mit dem Privatfunk die Linkslastigkeit der öffentlichrechtlichen Medienanstalten konterkarieren. Ich habe immer gesagt: Das ist keine Frage von links und rechts, sondern von mehr oder weniger. Denn so wie die „Linken“ ihre Positionen im Privatfunk nicht durchbekommen, ist das den „Rechten“ auch nicht gelungen. Meine Vermutung war, dass das ein Dudelmedium wird, wo es gar keine Rolle mehr spielt, ob etwas rechts oder links ist. Ich war damals völlig allein mit dieser Position in der CDU, ein Kulturpessimist sozusagen. Jetzt habe ich zwar Recht, aber es nützt nichts mehr. Der Geist ist aus der Flasche
In den achtziger Jahren waren Sie daran beteiligt, neben dem öffentlichrechtlichen Fernsehen das Privatfernsehen zu etablieren. Haben Sie das bereut? GAULAND: Als wir an die Regierung kamen, hatten alle anderen schon längst Privatfunkgesetze gemacht – insofern gab es im Grunde genommen gar keine Alternativen mehr. Schließlich konnte Hessen kein medienloser Ort sein. Privat war ich gegen den Privatfunk, als Chef der Staatskanzlei habe ich das Gesetz aber mit erarbeitet. In der Sache habe ich aber Recht behalten. Das war eine der großen Sünden der damaligen CDU. Lothar Späth
Gibt es einen Ausweg aus dem Dilemma, dass sich die Öffentlich-Rechtlichen der Quote stellen und entsprechend ihr Programm gestalten müssen? GAULAND: Ich bin dagegen, dass sich die Öffentlich-Rechtlichen der Quote stellen. Das ist inzwischen eine merkwürdige Argumentation. Die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten sind dazu da, eine kulturelle Vollversorgung zu liefern. Da kann man sich nicht nach der Quote richten und sagen, dafür brauche ich aber Werbeeinnahmen. Nein, die haben Gebühren. Das Zwei-Säulen-Modell von öffentlich-rechtlichen und privaten perspektive21
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Rundfunkanstalten war darauf aufgebaut, dass die einen die leichte Muse machen, die anderen das, wo es in der Tat mal weniger Hörer gibt. Die Städte unterhalten ja auch Opernhäuser, in die nur wenige Leute gehen. Nein, die öffentlich-rechtlichen Sender haben eine Art Erziehungsauftrag – auch wenn das paternalistisch klingt. Und da müssen sie auch Sachen machen, die die Mehrheit nicht unbedingt interessiert. Das Problem ist, dass das System nicht mehr zu korrigieren ist. Der Geist kann nicht mehr in die Flasche zurück. Die Tendenzen zu mehr Schnelligkeit, weniger Politik und mehr Boulevard hat mit Bild und Spiegel-Online neue Leitmedien hervorgebracht. Ist das ein Naturgesetz? GAULAND: Bei Spiegel-Online stimmt das zweifellos. Bild war eigentlich schon immer eine Art Leitmedium. Die Bild-Zeitung hat sich nicht verändert. Sie war wegen ihrer fünf oder sechs Millionen Leser bei den einen gefürchtet, bei den anderen gelobt. Die ganzen Auseinandersetzungen um Christian Wulff hätten auch vor 20 Jahren schon stattfinden können. Täuscht es oder sind Journalisten öfter mal versucht, in die Politik eingreifen zu wollen? GAULAND: Jeder Mensch hat einen gewissen Machttrieb und wenn er merkt, dass das funktioniert ist auch 52
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der Journalist nicht davor gefeit zu sagen: Ach, das kann ich besser. Aber ich halte das für falsch. Wenn ich an manche Auftritte von Journalisten zum Beispiel in der Wulff-Affäre denke, dann treten sie auf wie machtvolle Politiker, die über die Karriere von anderen bestimmen. Damit begibt man sich heraus aus der Position des Beobachters – und das macht angreifbar. Kampf zwischen Politik und Medien Häuft sich so etwas in jüngster Zeit? Nein, das hat es immer gegeben. Der Spiegel hat in der alten Bundesrepublik immer eine große Rolle gespielt – denken Sie nur an den „Abgrund von Landesverrat“ 1962. Er hat ganze Regierungen gestürzt, den Verteidigungsminister Strauß ins politische Aus befördert. Oder denken Sie an den machtvollen Einfluss des Hugenberg-Konzerns am Ende der Weimarer Republik. Bei der Hindenburg-Wahl 1932 wurde er von der gesamten nationalen Presse – seinen eigentlichen Unterstützern – angegriffen, weil er sich von den Sozialdemokraten unterstützen ließ gegen Hitler. Der Hugenberg-Konzern spielte damals eine ganz verheerende Rolle. Und so etwas ähnliches gab es zuvor auch im Kaiserreich in der Auseinandersetzung zwischen Harden, dem Herausgeber der Zukunft, und EuGAULAND:
alexander gauland – ein gewisser machttrieb
lenburg, dem Freund des Kaisers. Gegen den Imperialisten Harden war Bismarck schon fast ein Linker. Das war die erste große Auseinandersetzung zwischen Politik und Medien – bei der die Medien gewannen. Haben Sie in Ihrer Zeit bei der Märkischen Allgemeinen auch mal die Versuchung gespürt, Politik zu gestalten? GAULAND: Nein, diesen Ehrgeiz hatte ich nie. Ich habe meine Rolle auch
nicht so verstanden, auch ist die Landespolitik dafür gar nicht geeignet. Warum sollte ich in einer Auseinandersetzung zwischen der SPD und der CDU Partei ergreifen? Es gab sicher Fälle, zum Beispiel bei der Stasi-Auseinandersetzung um Manfred Stolpe, da muss man sehr vorsichtig sein, dass man nicht den Machtpolitiker spielt. Aber in normalen Zeiten ist die innere Gefährdung in der Landespolitik gering.
ALEXANDER GAULAND
war von 1987 bis 1991 Chef der Hessischen Staatskanzlei und von 1991 bis 2005 Herausgeber der Märkischen Allgemeinen Zeitung. perspektive21
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Mut zur Lücke ÜBER DIE GEGENLÄUFIGKEIT VON BÜRGERERWARTUNGEN UND POLITISCHEN SACHZWÄNGEN IN EINER DIGITALISIERTEN UND EUROPÄISIERTEN MEDIENGESELLSCHAFT VON THOMAS STEG UND DANIEL WIXFORTH
m Rahmen der Betrachtung unserer Gegenwart gehört es zu den unstrittigen Allgemeinplätzen, dass wir in einer Mediengesellschaft ohne historisches Vorbild leben. „Was wir über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Massenmedien“, schrieb Niklas Luhmann 1996 und trotz der rasanten Entwicklung und Verbreitung des Internet hat dieses Diktum bis heute wohl kaum an Gültigkeit verloren. Auch viele Internetmedien sind ja mittlerweile Massenmedien, sind Medien für die Massen, die in ihrer Systematik zum Teil allerdings fundamental anders funktionieren als Zeitung, Fernsehen oder Rundfunk. Interessanter als die bloße Feststellung einer Mediengesellschaft erscheinen deshalb andere Fragen: Wodurch ist diese Mediengesellschaft charakterisiert? Wie verändert sie sich und wie verändert sie gegebenenfalls unser Zusammenleben? Als Charakteristikum von Mediengesellschaften kann zunächst festgehalten werden, dass sich politische Entscheidungen weder in obrigkeitsstaatlicher Manier noch in hierarchischer Willens-
I
bildung treffen lassen. Besonders in Demokratien muss politische Herrschaft immer auf Zustimmung und Akzeptanz basieren, müssen Entscheidungen vermittelt, im wörtlichen Sinn mediatisiert werden. In modernen Gesellschaften wie der Bundesrepublik Deutschland funktioniert dieser Informations- und Vermittlungsprozess ganz wesentlich über Massenmedien. Fernsehen, Zeitungen und Zeitschriften, Radio und Internetmedien entscheiden darüber, was eine Nachricht ist, worüber öffentlich diskutiert wird. So ist auch Luhmann zu verstehen: Was wir wissen, entsteht in den meisten Fällen nicht in uns selbst – wir haben es gehört, gelesen, gesehen, gegoogelt. Eine öffentliche Aufgabe Mit dieser im Kern politischen Funktion für die demokratische Gesellschaft wird die besondere Privilegierung der Massenmedien durch Gesetzgebung und Rechtsprechung begründet. Die Medien leisten eine öffentliche Aufgabe, sie stellen den Raum der Öffentperspektive21
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lichkeit her, ihnen kommen öffentliche Funktionen zu: Zum einen können sie als zentrale Vermittlungsinstanz für öffentliche Diskussionen die entsprechenden Foren bieten und somit gesellschaftliche Debatten ermöglichen. Zum anderen nehmen Medien aber auch eine Orientierungs- und Willensbildungsfunktion wahr, indem sie sich mit eigenen Positionen und Wertungen selbst an Debatten beteiligen. Soweit die beruhigenden Konstanten. Wir leben aber in einer sich ständig weiterentwickelnden Mediengesellschaft. Diese Entwicklungen manifestieren sich nicht allein, ja nicht einmal primär in technischen Fortschritten als solchen. Für unser Zusammenleben werden sie erst dann wirklich bedeutend, wenn sich ganze Gesellschaftsbereiche an veränderte Medienlogiken anpassen. Das ist in der Geschichte immer wieder passiert. Partizipation als Zauberwort Nicht zufällig erstarkte mit der Etablierung und Verbreitung der politischen Zeitschriften ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts flächendeckend auch das Bürgertum gegenüber den europäischen Monarchien; nicht zufällig sieht die Soziologie mit der Etablierung des Privatfernsehens ab den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts einen gesellschaftlichen Wandel hin zur Erlebnis- und Konsumorien56
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tierung anbrechen. Und nicht zufällig ist ‚Partizipation‘ das Zauberwort unser internetdurchdrungenen Gegenwart. Im Folgenden möchten wir den aktuellen Wandel unserer Mediengesellschaft deshalb als ‚partizipativen Wandel‘ bezeichnen. Seine Konsequenzen für die Politik und sein Einfluss auf die Wahrnehmung der Demokratie lassen sich sehr deutlich aufzeigen. Das Top-Down-Prinzip Im Juni 1999 legten Gerhard Schröder und Tony Blair der Öffentlichkeit ihr berühmt gewordenes Schröder-BlairPapier vor. Sie bedienten sich dabei einer Technik, die bis dato vor allem bei amerikanischen Präsidenten zu beobachten war und die in der Analyse als ‚going public‘ bezeichnet wird: Schröder und Blair sprachen unmittelbar die Bürger an – sie machten ihre politische Richtungsentscheidung, ihren „Weg nach vorne für Europas Sozialdemokraten“, über die Medien und die Öffentlichkeit (und gegen gewichtige Teile besonders der deutschen Sozialdemokratie) zum Plebiszit. Damit nutzten sie die Macht der Medien und der öffentlichen Meinung, um innerparteiliche und innerpolitische Widerstände von vornherein ihrer Wirkung zu berauben. Im Hinblick auf den damals noch nicht auszumachenden partizipativen Wandel ist dabei vor allem die Funktionsvertei-
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lung im Dreieck zwischen Regierung, Medien und Bürgern von Interesse: Die Regierung setzte ein Thema auf die Agenda, die Massenmedien vermittelten dieses und die Bürger konnten sich zustimmend oder ablehnend dazu verhalten. In jedem Fall aber war ihnen eine reaktive Rolle zugedacht. Diese Art des politischen Handelns in TopDown-Manier stößt mit dem Vormarsch des partizipativen Wandels zunehmend an ihre Grenzen, wie wir an zwei Beispielen darlegen möchten. Habermas’ Freude Als die Stuttgarter Bürger vor zwei Jahren begannen, ihre Missbilligung des geplanten Tiefbahnhofs zu artikulieren und zu organisieren, war von Agenda-Setting durch die Politik und Agenda-Vermittlung durch die Medien nichts zu spüren, im Gegenteil: Medien und Politik haben das Problem Stuttgart 21 lange, vielleicht zu lange unterschätzt. Was sich hier politisch formierte, war vielmehr die kritische Wahrnehmung der Menschen, in eine sie unmittelbar betreffende Entscheidung nicht hinreichend einbezogen worden zu sein. Es folgten die vielzitierten Wutbürger – ein ‚going public‘ von unten. Jürgen Habermas, der große Antipode Luhmanns im sozialwissenschaftlichen Diskurs um die Kategorie ‚Öffentlichkeit‘, dürfte daran seine helle Freude gehabt haben – ent-
sprach doch der Stuttgarter Protest in mancher Hinsicht seiner Vorstellung einer bürgerlich-politischen Öffentlichkeit als „Sphäre der zum Publikum versammelten Privatleute“. Schwarm-Fahndung im Internet Diese Privatleute spielten auch beim Doktortitel-Skandal des Freiherrn und Ex-Ministers Karl Theodor zu Guttenberg eine nicht unbedeutende Rolle; auch dieser Fall lässt sich in den Kategorien des partizipativen Wandels analysieren. Indem die Süddeutsche Zeitung am 16. Februar 2011 zum ersten Mal über mögliche Plagiate in zu Guttenbergs Dissertation berichtete, eröffnete sie in klassischer Weise jenen öffentlichen Raum, den die Soziologen Jürgen Gerhards und Friedhelm Neidhardt als „Arena“ beschrieben haben: Politische und gesellschaftliche Protagonisten, Antagonisten und Medien verhandeln relevante Themen publikumswirksam in dieser Arena der Öffentlichkeit, während die Bürger die Verhandlungen als Publikum auf den „Galerien“ beobachten und sich von der einen oder anderen Seite überzeugen lassen. Soweit die Theorie bis zum ‚Fall Guttenberg‘. Über die hier neu in Erscheinung getretene, durch die technischen Strukturen des Internet ermöglichte Schwarm-Fahndung nach Plagiaten in der Dissertation ist bereits Vieles geschrieben worden, das an dieser Stelle perspektive21
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nicht wiederholt zu werden braucht. Festhalten lässt sich, dass Politik und Massenmedien auch hier die Deutungshoheiten ab jenem Moment nicht mehr exklusiv beanspruchen konnten, ab dem sich im Internet ein vernetzt arbeitendes und vom Reiz der Partizipation angetriebenes Interessenkollektiv bildete, das seinen sicheren Platz auf der Galerie aufgab, um sich als neuer Akteur in die ÖffentlichkeitsArena zu begeben. Dass dieses Kollektiv dabei auf die Zusammenarbeit mit den klassischen Massenmedien unbedingt angewiesen war, soll hier allerdings nicht unterschlagen werden. Demokratie zwischen den Welten Wie jeder Wandel in Mediengesellschaften wird also auch der partizipative Wandel erst dann wirklich spannend, wenn die neuen innertechnischen Logiken auf die außertechnische, die soziale Welt übergreifen zu beginnen; wenn die Netz-Kultur auf die OfflineWelt abfärbt. Die Reibungen und Diskrepanzen, die dabei zwangsläufig entstehen, führen uns zur ersten These über die Zukunft der repräsentativen Demokratieform: Der vom Internet bedingte, aber nicht mehr auf das Internet begrenzte partizipative Wandel erzeugt in Teilen der Bevölkerung eine neue, kritische Wahrnehmung gegenüber der repräsentativen Demokratie. Die Kritik speist sich dabei 58
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aus der Tatsache, dass zwischen der technisch möglichen und der real ermöglichten politischen Teilhabe der Bürger eine gravierende Lücke klafft. Im Netz kann heute jeder mit jedem reden, zu allem seine Meinung äußern und über alles Erdenkliche abstimmen. Überträgt man diese scheinbar hierarchielose Kommunikations- und Partizipationskultur (in Wirklichkeit ist das Internet keinesfalls hierarchielos!) auf eine politische Ebene, dann werden die technischen Möglichkeiten politischer Teilhabe von Bürgern sofort deutlich. Die Erkenntnis: Im Netz ist direkte Demokratie längst machbar. Gleichzeitig wird den Menschen aber bewusst, dass sich die realen Möglichkeiten demokratischer Teilhabe in Deutschland seit 1949 nicht substanziell verändert haben. Direkt-demokratische Elemente sind zwar auf allen politischen Ebenen vorgesehen, ihre Ausgestaltung ist aber nach wie vor extrem restriktiv und an hohe, oft unerreichbare Quoren geknüpft. Die Organisatoren der Berliner Volksentscheide über den Weiterbetrieb des Flughafens Tempelhof oder die Aufwertung des freiwilligen Religionsunterrichts können ein Lied davon singen. Die Galerie wirkt unattraktiv Diese von vielen Bürgerinnen und Bürgern zunehmend wahrgenommene Lücke zwischen potenziellen und realen
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Teilhabemöglichkeiten führt zur Ausbildung von Kritik gegenüber einem politischen System, in das man nur einmal in vier oder fünf Jahren aktiv eingreifen kann und darüber hinaus, so der Eindruck, zu Passivität verdammt ist. Die Plätze auf der Galerie werden also zunehmend unattraktiver. Gegen diese These kann man nun einwenden, dass es zwei komplett unterschiedliche Dinge sind, Teilhabe im Netz durch einen Mausklick auszudrücken oder direkte Demokratie und Bürgerbeteiligung mühevoll und arbeitsaufwendig in der Offline-Welt zu organisieren. Längst nicht jeder politisch aktive Onliner geht ja für sein Anliegen auch aus dem Haus. Diese Kritik ist empirisch gerechtfertigt, sie begeht aber den Fehler, das Symptom einfach herunterzuspielen, statt sich angemessen mit seinen Ursachen zu befassen. Wo es schwer fällt Wie also kann die Politik auf die angesprochene Lücke, auf die Teilhabeproblematik reagieren? Wer, wie die Piraten das derzeit so genussvoll tun, behauptet, die etablierten deutschen Parteien seien auf dem partizipativen Auge blind, dem sei empfohlen, selbst einmal die Augenklappe abzunehmen. Alle Parteien haben die Relevanz des partizipativen Wandels längst erkannt. Dass es dennoch schwer fällt, daraus politische oder organisatorische Konse-
quenzen zu ziehen, hat mit der Selbstund Fremdwahrnehmung der Parteien zu tun. Schauen wir auch hier in die Praxis: Vor einem Jahr machte Sigmar Gabriel den Vorstoß, künftig alle Bürger über wichtige SPD-Personalentscheidungen, inklusive der über die Kanzlerkandidatur, abstimmen zu lassen. Der heftige Unmut, der sich an der Parteibasis unmittelbar breit machte, führte letztlich zur Abwendung dieses Vorschlags. Hier zeigte sich ein Paradoxon, das die derzeit schwierige Lage der etablierten Parteien kennzeichnet: Öffnet man politische Entscheidungen für alle interessierten Bürger, wird man also in der Struktur ein wenig ‚piratiger‘, dann bezahlt man diese Öffnung mit einem innerparteilichen Demokratieverlust, weil der Status von Parteimitgliedern entwertet wird. Die Selbstwahrnehmung der Parteien ist mit einer solchen Öffnung gegenwärtig (noch) nicht in Einklang zu bringen. Parteien verändern Eine weitere, mitunter noch größere Herausforderung für den angemessenen Umgang mit Forderungen nach mehr direkter, dem partizipativen Wandel entsprechender Demokratie ergibt sich aus der Fremdwahrnehmung – dem Image, das Parteien und Politik in der Gesellschaft anhaftet: Wer sich in den letzten Jahrzehnten perspektive21
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nicht durch übergroße Bereitschaft zu Partizipation und Transparenz (ein weiteres ‚magisches‘ Wort unserer Zeit) auszeichnen musste, weil diese Werte in der Vergangenheit schlicht von geringerer Bedeutung waren, der bekommt heute schnell ein Glaubwürdigkeitsproblem, wenn er beides plötzlich ganz oben auf die Agenda setzt. Die Piratenpartei hat es dagegen leicht. Ähnlich wie die Grünen in ihrer Gründungszeit mit den Themen Ökologie und Anti-Atomkraft eine natürliche Glaubwürdigkeit aufbauen konnten, gelingt das den Piraten gegenwärtig mit den Maximen ‚Partizipation‘ und ‚Transparenz‘. Schließlich sind sie mit diesen und durch diese Werte entstanden. Die etablierten Parteien hingegen müssen zunächst einen eigenen, einen inneren Wandel vollziehen, um dem von außen an sie herangetragenen Wandel gerecht werden zu können. Die neuen „Bürgerdialoge“ der Bundeskanzlerin und das SPD-Beteiligungsprojekt „Zukunftsdialog online“ sind erste, vorsichtige Schritte auf diesem Weg. Die Kunst wird hierbei vor allem darin bestehen, den äußeren Anforderungen gerecht zu werden, ohne dabei die eigene Identität zu stark zu verwässern. Denn nur in der Werbung ist die Kopie besser als das Original. Wir möchten noch auf eine weitere Herausforderung für die repräsentativen Demokratien in Europa zu sprechen kommen. Diese unterscheidet 60
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sich in ihren Ursachen zwar fundamental vom partizipativen Wandel, in ihren Auswirkungen auf die Einstellung der Bürger zur Politik weist sie aber Ähnlichkeiten zu diesem auf. Mit der zunehmenden, durch die Euround Staatsschuldenkrise noch weiter beschleunigten Integration der Europäischen Union geht unübersehbar auch eine Erosion nationalstaatlicher Souveränität einher. In den Mitgliedstaaten der EU können politische Entscheidungen von nationalen Parlamenten und Regierungen längst nicht mehr nur unter Berücksichtigung nationaler Interessen getroffen werden. Die nationalen Politiker müssen sich vielmehr an EU-Verträge halten, sie müssen das Wohl der Union im Hinterkopf haben und dieses gegebenenfalls gegen nationale Interessen abwägen. Die EU macht es komplizierter Hinzu kommt, dass immer mehr wichtige politische Entscheidungen nach Brüssel abwandern. Deshalb lautet die zweite These zum Zustand der repräsentativen Demokratie: Die Effizienz dieser Demokratieform wird in Europas Nationalstaaten derzeit nicht nur von unten (den partizipationsorientierten Bürgern), sondern gleichzeitig von oben (durch die Strukturen der EU) infrage gestellt. Europäische Politik wird immer wichtiger und gleichzeitig sehen sich die Menschen ihr weitgehend ohnmächtig ausge-
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liefert. Empörung über diese empfundene Ohnmacht entzündet sich gegenwärtig vor allem an Fragen der Staatsschuldenkrise und Solidarität in der EU. Wo der Sachzwang regiert Wie geht man mit diesem europapolitisch bedingten Ohnmachtsgefühl um? Die Annahme, man könne die europäische Integration zugunsten nationaler Bürgerinteressen wieder zurückdrehen, beruht auf einem falschen und gefährlichen Nullsummenspiel. Es muss also andere Wege geben. Hier ist es lohnenswert, einen kurzen Blick auf die Verständlichkeit und die Sprache von Politik zu werfen: Mit einigen Ausnahmen scheint es die Politik bis heute nicht gelernt zu haben, über öffentliche Angelegenheiten klar, verständlich und gleichzeitig begeisterungsfähig zu sprechen. Gerade auf dem Gebiet der EUund Krisenpolitik können wir immer wieder den Versuch beobachten, konkrete politische Entscheidungen moralisch zu überhöhen, sie für alternativlos und damit sakrosankt zu erklären. Verbunden mit einer oft allzu technischen Sprache („EFSF“, „ESM“, „Bankenlizenz für Rettungsschirm“, „No-bail-out-Klausel“ etc.), schafft diese Art der Politikvermittlung bei den Bürgern Unverständnis und Distanz. „Sachzwang“ und „Alternativlosigkeit“, so schreibt der Politikwissenschaftler Franz Walter, „waren in den
letzten zwei bis drei Jahrzehnten die magischen Formeln einer vermeintlich illusionslosen Wirklichkeitspolitik“. Nirgendwo wird das so deutlich wie in der Euro-Krise. Dabei soll es hier nicht darum gehen, politische Entscheidungen inhaltlich zu bewerten. Das Problem liegt vielmehr auf der Vermittlungsebene: Eine Politik, die sich vornehmlich an abstrakten Sachzwängen (die Gunst der Finanzmärkte, die Reaktion der Euro-Nachbarn etc.) ausrichtet, ja ausrichten muss, vermittelt ungewollt, dass sie an den konkreten Interessen der Menschen vorbei arbeitet. Walter schreibt weiter: „Die Beschränkung einzig auf das, was ist, hat der Politik ungeheuer an Spannung, Aura und Faszinationskraft genommen. Hinterlassen wurde eine trostarme Leere, in die gerade Menschen mit Fantasie – Fantasie! – und Lust nicht (mehr) hinein wollen.“ Man muss den allzu romantischen Grundton Walters gewiss nicht teilen, um seine Kernaussage als richtig anzuerkennen. Wenn die Apathie steigt Fragen wir also nach der Zukunft der repräsentativen Demokratie, so müssen wir – nicht nur, aber vor allem im Bereich der EU-isierung nationaler Politik – feststellen, dass es eine zunehmende Lücke zwischen den subjektiven Erwartungen der Bevölkerung und den objektiven Erwartungen bzw. Zwängen perspektive21
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der Politik gibt. Ähnlich wie die in der ersten These beschriebene Teilhabe-Lücke hat auch diese ErwartungsLücke Auswirkungen auf das Vertrauen der Bürger in die repräsentative Demokratie. Beide Entwicklungen führen tendenziell zu einem politischen Apathie- und Ohnmachtsgefühl, das wiederum zwei Konsequenzen nach sich zieht: Zum einen wenden sich Bürger resigniert von der repräsentativen Demokratie ab und gehen nicht mehr zur Wahl, zum anderen steigt der Unmut gegen das etablierte politische System. Dieser Unmut lässt sich derzeit in Europa in Analogie zu den beiden dargelegten Thesen beobachten: Bezogen auf die Teilhabeproblematik zeigt er sich, gegenwärtig vor allem in Deutschland, im Erfolg der Piratenpartei, die die Entfremdung der Menschen mit der politischen Kaste gekonnt mit Visionen internetbasierter Basisdemokratie verrührt. Bezogen auf das EU-bedingte Ohnmachtsgefühl zeigt er sich, gegenwärtig noch nicht in Deutschland, im Erstarken populistischer und nationalistischer Parteien und Politiker fast überall in Europa. Auf beides werden sich die repräsentativen Demokratien zukünftig einzustellen haben. Nur aufgebauscht? Im Bezug auf die Wahrnehmung von Politik und repräsentativer Demokratie haben wir zwei Entwicklungen 62
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dargelegt: den durch das Internet gewachsenen Teilhabeanspruch und das besonders durch die abstrakte Europapolitik hervorgerufene Ohnmachtsgefühl vieler Bürger. Politische Akteure neigen bei solch kritischen Diagnosen zur Selbstberuhigung und dem Abwehrreflex, die Dinge seien medial aufgebauscht und in Wahrheit halb so dramatisch. Nach dem ersten Erfolg der Piraten bei der Berliner Abgeordnetenhauswahl im vergangenen Herbst war diese Reaktion aus den unterschiedlichsten politischen Lagern zu vernehmen. Medienarbeit reicht nicht Bei den beiden von uns beschriebenen Phänomenen handelt es sich aber weder um rein subjektive Empfindungen der Menschen noch um medial erzeugte Gesellschafts-Gespenster. Vielmehr sind sowohl die Teilhabe-Lücke als auch die Erwartungs-Lücke objektiv vorhanden und in verschiedensten Kontexten unserer Gegenwart beobachtbar. Deshalb ist der beliebte Versuch, diesen kritisch fordernden gesellschaftlichen Stimmungen allein mit politischer PR zu begegnen, sie kommunikativ zu entkräften oder rhetorisch zu camouflieren, zum Scheitern verurteilt. Wenn eine Entwicklung mehr ist als ein reines Medienphänomen, dann reicht es schlicht nicht aus, sie mit Medienarbeit und Kommuni-
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kation zu entkräften. Vielmehr muss sich dann die politische Praxis den neuen Gegebenheiten der Zeit anpas-
sen. Alles andere wäre nicht nur Selbstberuhigung, sondern vor allem eine Selbsttäuschung der Politik.
DR. THOMAS STEG
ist Journalist und Sozialwissenschaftler, war von 2002 bis 2009 stellvertretender Sprecher der Bundesregierung, ist Lehrbeauftragter am Institut für Kultur- und Medienmanagement der Freien Universität Berlin und arbeitet bei einem großen deutschen Automobilunternehmen. DANIEL WIXFORTH
hat Medienwissenschaft, Neuere und Neueste Geschichte sowie Kultur- und Medienmanagement studiert. Derzeit promoviert er an Freien Universität Berlin über die Europäisierung zivilgesellschaftlich-politischer Öffentlichkeiten im Internet und arbeitet daneben als Kommunikationsberater. perspektive21
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Mehr als Kino und Fernsehen DER MEDIENSTANDORT BRANDENBURG HAT SOLIDE ENTWICKLUNGSPERSPEKTIVEN, DA MAG BERLIN NOCH SO SEXY SEIN VON ERHARD THOMAS
nfang dieses Jahres war es soweit: Das älteste Filmstudio der Welt wurde 100 Jahre alt. Das musste erst einmal würdig gefeiert werden. Die Berlinale tat es, das Fernsehen tat es, die Zeitungen – von den Potsdamer Neuesten Nachrichten, der Märkischen Allgemeinen über die Süddeutsche, Stern, Spiegel bis Hollywood-Reporter. Und natürlich Studio Babelsberg selbst: mit einer eindrucksvollen Veranstaltung in der historischen Marlene-Dietrich-Halle. Es wurde viel gesagt und viel geschrieben. Der Berliner Filmhistoriker Hans Helmut Prinzler aber hatte es schon vorab auf den Punkt gebracht: „Babelsberg: das sind 2.000 Filme in 100 Jahren, das ist Phantasie, Handwerk, Geld, Politik, Kunst, Unterhaltung, Kino, Fernsehen, ein Ort deutscher Geschichte und internationaler Filmgeschichte. Und wenn am 12. Februar 2012 gefeiert wird, ist der Filmpionier und Grundstücksentdecker Guido Seeber sicherlich dabei. Er sitzt in der Marlene-Dietrich-Halle auf Wolke 7 und sagt leise Glückwunsch!“ (Süddeutsche Zeitung 12.01.2012).
A
Der so oft beschworene „Mythos Babelsberg hat sich seinen Weg gebahnt durch 100 bewegte Jahre, so Matthias Platzeck in seiner Rede zum Jubiläum: „Die Erfolgsgeschichte Babelsberg ist von schicksalhaften Umbrüchen geprägt – als Spiegelbild zwischen Kaiserreich, Weimarer Republik, Drittem Reich, DDR und wiedervereinigtem Deutschland. So unberechenbar die Launen des Schicksals auch sind, meistens meinten sie es gut mit Babelsberg. So verdanken wir das legendäre ‚Glasatelier‘, das erste Filmstudio der Welt, auch den strengen Feuerwehrbestimmungen im preußischen Berlin. Sonst wäre die Produktionsfirma ,Bioskop‘ wohl in ihrem Berliner Studio geblieben … Und ein Mythos, der nicht nur cineastische Glücksmomente beschert, sondern auch Arbeitsplätze und Wachstum bringt, wird nicht so schnell verblassen.“ Die Feiern sind vorbei, der Alltag ist wieder eingekehrt. Aber warum nicht das Jubiläum zum Anlass nehmen, zu fragen: Wie steht es mit dem „Medienstandort Brandenburg“, wohin geht die perspektive21
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Reise, welche Perspektiven gibt es, und wo gibt es möglicherweise Handlungsbedarf? Der Medienstandort Brandenburg, ein Land der Seen, der Braunkohle, der erneuerbaren Energien … Ja! Aber auch ein Medienland? Brandenburg hat, soweit es die Filmund Fernsehwirtschaft betrifft – da sollte man sich nichts vormachen – nur einen wirklichen Medienstandort im Stadtteil Potsdam-Babelsberg; mit den Filmateliers als Kern und dem Areal, das sich inzwischen als „Medienstadt“ entwickelt und etabliert hat. Dazu gehören selbstverständlich auch der RBB, die UFA, das Filmorchester Babelsberg, der Filmpark und die „Parkstudios“ in Alt-Nowawes. Der Standort grenzt direkt an Berlin und er profitiert unmittelbar von der Nähe zu Berlin. Angefangen hat es bekanntlich mit Guido Seeber und dem ersten Glasatelier-Studio. An der Standortabhängigkeit zur Weltmetropole Berlin hat sich bis heute grundsätzlich nichts geändert. Man kann es auch so sehen: Ohne die Anziehungskraft der Welt- und Kreativ-Metropole Berlin direkt vor der Tür, wäre die Erfolgsgeschichte Babelsberg so nicht möglich gewesen. Von außen, vor allem aber durch die internationale Brille betrachtet, wird Babelsberg gerne auch Berlin 66
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zugeordnet. Dass dazwischen noch eine Ländergrenze verläuft, ist außerhalb der Region oft nur schwer vermittelbar und führt bei Ansiedlungsbemühungen und im Fördergeschäft zu so mancher Verwirrung. Das Label „Babelsberg“ ist heute gleichwohl ein „Juwel“. Wettbewerber würden dafür viel Geld in die Hand nehmen, wenn sie ihn erwerben könnten. Babelsberg lockt wieder Weltstars und große Regisseure in die Region. Davon wiederum profitiert gerade und vor allem Berlin. Die „Rote-TeppichBerichterstattung“ über Stars und Sternchen (nicht nur während der Berlinale) findet weltweit in allen Medien immer ein großes Echo. Eine Werbung für Berlin als Filmstadt, die praktisch nichts kostet. Mythos allein reicht nicht Vom Mythos allein aber können die Filmstudios Babelsberg und die Medienstadt nicht leben und die Zukunft dieses Medienstandortes in Brandenburg ist keineswegs ein Selbstläufer. Es ist keineswegs immer sicher, dass eine ausreichende Anzahl von großen internationalen Kinoproduktionen nach Babelsberg geholt werden kann. Auch dieses Geschäft ist sehr konjunkturabhängig. Hinzu kommt: In den letzten zehn Jahren hat sich die Medienwelt durch das Internet und neue technische Ver-
erhard thomas – mehr als kino und fernsehen
breitungswege radikaler verändert als in den fünf Jahrzehnten zuvor. Das betrifft nicht nur Film und Fernsehen, sondern alle Bereiche, die mit Bewegtbild und Tönen zu tun haben. Gerade angesichts dieser digitalen Umwälzungen im Internetzeitalter stellen sich auch für Brandenburg neue medienpolitische Herausforderungen, die wiederum neue Weichenstellungen erfordern, um im Standortwettbewerb auch in Zukunft zu bestehen. Der Standort Der Medienstandort Potsdam-Babelsberg gründet auf einigen starken Säulen. Da ist zuerst: Das Kino. Das Herzstück ist zweifelsohne das Studio Babelsberg. Mit seinen zusammenhängenden Atelierkomplexen ist es das größte dieser Art in Europa. Das Kerngeschäft ist die Produktion von großen, meist internationalen Kinofilmen, um das sich vieles andere rankt, und was am Ende den Standort prägt. Seit einiger Zeit hat sich das Studio erfolgreich als Produktionspartner und Studiodienstleister positioniert. Darüber hinaus ist es verstärkt als Koproduzent und Filmfinanzierer bei nationalen und internationalen Kinoproduktionen tätig, wie bei Filmen wie Inglourious Basterds, The Ghostwriter oder Anonymus. Die Geschäftsführer Carl Woebcken und Christoph Fisser, die „Babelsberg Boys“, wie sie in der Branche hierzu-
lande durchaus anerkennend genannt werden, haben es geschafft, die Filmstudios national, international, vor allem aber auch bei dem großen Studios in Hollywood wieder fest auf dem Radarschirm zu etablieren. Dort sind sie inzwischen auch als die „Berlin Boys“ bestens bekannt. Die Produktions-Truppe um Henning Molfenter zählt zu den besten Filmcrews der Welt. Das Art Department mit Michael Düwel und seinen schon zu Defa-Zeiten hochspezialisierten Kulissenbauern sucht ebenfalls weltweit ihresgleichen. Das sagen vor allem die, die diese Erfahrung gemacht haben, und die wissen, wovon sie reden: Regisseure wie Roman Polanski, Quentin Tarantino, Roland Emmerich und viele andere mehr. Diese Kompetenz im Kinofilmbereich ist auch ein entscheidender Standortvorteil, zum Beispiel gegenüber den Filmstudios in Tschechien (Prag) oder Ungarn (Budapest). Denn nur so gelingt es, trotz der in Deutschland höheren Lohnkosten, im Wettbewerb zu bestehen. Produzenten entscheiden sich nicht selten, trotz der höheren Filmförderung oder Steuervergünstigungen in anderen Ländern, zugunsten der Kompetenz, die sie in Babelsberg finden. Aber auch Studio Babelsberg muss sich aktuellen Entwicklungen anpassen, um den Standort für die Zukunft zu positionieren. Das Projekt Medienperspektive21
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stadt II verdeutlicht den anstehenden Entwicklungs- und Handlungsbedarf. Der jetzigen Atelierflächen reichen nicht aus, um gleichzeitig zwei oder drei größere Filmproduktionen parallel durchzuführen, was aber für eine solide Auslastung unumgänglich ist. Die Geschäftsführung hatte deshalb auch einmal ernsthaft ein Auge auf die Hallen des ehemaligen Flughafens Tempelhof geworfen. Daraus wurde jedoch nichts. Aber demnächst stehen wieder Flugzeughangars leer, die sich als Filmhallen gut eignen: auf dem dann stillgelegten Flughafengelände Berlin-Tegel. Wegen des zusätzlichen Flächenbedarfs hatte das Studio schon vor ein paar Jahren leerstehende Fabrikhallen eines ehemaligen Eisenbahnbauwerkes gepachtet und ertüchtigt. Eine zweite Medienstadt Jetzt besteht eine reelle Chance, dieses acht Hektar große Gelände als „Medienstadt II“ (Arbeitstitel) zu entwickeln. Da ziehen die „Medieninvest Babelsberg GmbH“, die Stadt Potsdam, das Land und auch das Studio glücklicherweise am selben Strang. Und wenn alles nach Plan läuft, könnte noch in diesem Jahr der symbolische Spatenstich für die Erweiterung und den Ausbau des Medienstandortes erfolgen. Auf diesen Flächen wäre auch Platz für eine neue „Berliner Straße“, eine Außenkulisse, die jedes große 68
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Filmstudio braucht. Die jetzige Außenkulisse, die nur eine temporäre Baugenehmigung hat, wurde in unzähligen Filmen genutzt und hat sich als sehr profitabel erwiesen. Auch der Bedarf an Räumlichkeiten mit erschwinglichen Mieten für kleinere Unternehmen und Start Ups, die sich in Babelsberg ansiedeln wollen, könnte auf dem Gelände einer zukünftigen Medienstadt II zumindest teilweise gedeckt werden. Büroraum zu günstigen Konditionen ist auf dem Hauptgelände derzeit Mangelware. Das Studio Babelsberg muss sich ebenfalls stärker als bisher auch auf die neuen digitalen Produktionsformen einstellen. Große internationale Filme wurden zwar hier gedreht. Die „Visual Effects“ und die digitale Endfertigung erfolgte oft in London oder den USA. Dieses Geschäftsfeld gilt es zügig auszubauen und in der Medienstadt zu etablieren. Bei der Produktion von Roland Emmerichs Shakespeare-Film „Anonymus“ ist ein erster Probelauf bestens gelungen. Durch die Hinzuziehung von Animations- und Computerspezialisten aus Los Angeles konnte das Mittelalterspektakel vollständig in Babelsberg produziert werden. Eine zweite starke Säule am Standort ist die UFA, der größte europäische Fernsehproduzent. Rund 280 feste Mitarbeiter beschäftigt das Unternehmen in Babelsberg. Die meisten davon leben in Berlin und arbeiten in Potsdam.
erhard thomas – mehr als kino und fernsehen
Szenarien für eine Sitzverlegung und für einen möglichen Umzug der Firma nach Berlin sind aber glücklicherweise vom Tisch. Die UFA bleibt in Babelsberg. In den Fernsehstudios produziert die Tochter UFA Grundy seit vielen Jahren erfolgreich tägliche Fernsehserien. Die bekannteste: „GZSZ – Gute Zeiten, schlechte Zeiten“ für RTL. Für das ZDF entsteht zurzeit eine weitere Telenovela: „Wege zum Glück – Spuren im Sand“, die im Mai 2012 auf Sendung geht. Am Strand in Babelsberg Jede solche Produktion beschäftigt allein rund 150 Mitarbeiter am Standort. Und nicht nur das. Um im Wettbewerb zu bestehen, schafft es die UFA oft, gleichzeitig auch innovative Produktionstechniken zu entwickeln und einzusetzen. Das aktuellste Beispiel: Stargate Studios. Die Firma aus Los Angeles hat kürzlich ihre Filiale für Europa in Babelsberg gegründet und für rund 1,5 Millionen Euro ein sogenanntes digitales Greenscreen-Studio eingerichtet. Ufa Grundy hat sich mit Stargate zusammengetan, um die ZDFTelenovela mit dieser neuesten Hollywood-Technik zu produzieren. Das bedeutet: Es wird in Babelsberg gedreht, obwohl die Serie an der Ostsee spielt. Die Schauspieler agieren am Set im Studio, aber alle benötigten Hintergründe, ob Strand, Meer oder
Sonnenuntergänge, können digital und quasi live beim Drehen eingefügt werden. So entstehen jetzt täglich zunächst sendefertige 45-Minuten-Folgen und weil nur ein Drehort benötigt wird, können sie sehr viel kostengünstiger, und dennoch den erforderlichen Qualitätsstandards genügend, hergestellt werden. Eine digitale Technik, die nicht nur die industrielle Serienproduktion stark verändern wird, sondern bald auch in vielen anderen Bereichen der Film- und Fernsehproduktion ihre Anwendung finden dürfte. Deshalb hat auch Studio Babelsberg ein Auge auf Stargate Greensreeen Studio geworfen und verhandelt über eine weitere Standortpositionierung des Unternehmens. Erfahrung bei Finanzierungen Die Parkstudios in Alt-Nowawes stehen oft im Schatten des großen Filmstudios Studio Babelsberg. Das ist nicht gerecht. Zu DDR-Zeiten residierte dort das Dokumentarfilmstudio der DDR. Die Privatisierung nach der Wende gestaltete sich lange Zeit schwierig. Bis Jörg Weiland und seine Video Company das denkmalgeschützte Areal übernahmen, mit Herzblut und großem persönlichem Engagement wieder herrichteten und modernisierten. Seitdem wurden immer wieder langlaufende Telenovelas wie „Anna und die Liebe“ und Fernsehserien produziert. perspektive21
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Producers at Work, eine Tochterfirma von ProSiebenSat.1 Media, hatte sich die Parkstudios als Sitz und Produktionsstandort auserkoren. Als Fernsehdienstleister sind die Parkstudios auch über die Region hinaus gefragt und erfolgreich im Geschäft, sogar in der Fernsehproduktions-Hochburg Köln. Die ILB, die Investitionsbank des Landes Brandenburg, gehört ebenfalls zu den tragenden Säulen des Medienstandortes Brandenburg. Klaus Licht und seine Mitstreiter haben die Entwicklung von Anfang an maßgeblich und mit großem Engagement vorangetrieben. Die Bank verwaltet zudem treuhänderisch den Film - und Medienförderfonds der Länder Berlin und Brandenburg. Ob Studio Babelsberg, die UFA, Film-und Fernsehproduzenten aus der Region oder kleinere Unternehmen, sie alle hatten und haben in der ILB einen verlässlichen Ansprechpartner, wenn es um die Förderung und Finanzierung von Vorhaben und Projekten geht. Ausbildung ist gefragt Für Unternehmen der digitalen Medien stehen Zuschuss- oder Risikokapitalprogramme bereit. Für größere Filmprojekte gibt es die sogenannte Gap-Finanzierung mit einem Volumen von 5 Millionen Euro. Besonders erfolgreich und begehrt sind die Darlehens-Angebote zur Zwischenfinan70
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zierung von Film- und Fernsehproduktionen, die die ILB anbietet. Darlehen mit einem Volumen von über 100 Millionen Euro wurden so seit 2005 ausgereicht. Keine andere Bank in Deutschland bietet das an. Entweder man scheut das Risiko oder – und das ist wahrscheinlicher – es fehlt fast allen an Know How oder an der Branchenkenntnis, die sich die Brandenburger Landesbank in über 15 Jahren erarbeitet hat. Was die Kompetenz in der Film- und Medienfinanzierung betrifft, ist die ILB bundesweit führend, und darauf kann sie stolz sein. Ausbildung und Medienkompetenz sind eine weitere tragende Säule und ein Bereich, der ebenfalls den Standort prägt. Dazu gehören: die Hochschule für Film und Fernsehen Konrad Wolf (HFF), die Kinderfilmuniversität Babelsberg, das Filmgymnasium, die Electronik Media School (EMS), das Erich-Pommer-Institut, das Filmhaus Babelsberg, das Hasso-Plattner-Institut, die HPI School of Design Thinking, das Medieninnovationszentrum (MIZ). Und diese Aufzählung ist nicht einmal vollständig. Ein breites Aus-und Fortbilungsangebot, konzentriert an einem Ort, das es andernorts so nicht gibt, ist ein tragendes Fundament für die Zukunftsfähigkeit des Standortes. Die neuesten Fortbildungsangebote für Berufsfelder der Film-und Fernsehbranche bietet das „Filmhaus Babelsberg“: Lehrgänge
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für Regie- oder Kameraassistent, über Produktionsleiter oder Aufnahmeleiter, den Fictionproducer bis hin zur Autorenwerkstadt. Es sind Ausbildungsgänge, wie sie bei einem Studium an einer Filmhochschule nicht angeboten werden, deren Qualitätsstandard aber durch eine abschließende IHK-Prüfung gesichert ist.
staatsvertraglich unter ein gemeinsames Dach zu packen. Das betrafen – neben der späteren Zusammenführung von ORB und SFB – vor allem
die Gründung der MABB, der Medienanstalt Berlin-Brandenburg, mit Sitz in Berlin, finanziert mit dem 2-Prozent-Anteil aus den Rundfunkgebühren. die Gründung des „Filmboards Berlin-Brandenburg“, später erweitert zum „Medienboard Berlin-Brandenburg“ mit Sitz in Brandenburg, finanziert aus den Haushalten der beiden Länder.
Neue Aufgaben
Das Filmhaus Babelsberg hat längst auch auf die unaufhaltsame Digitalisierung der Produktionsprozesse reagiert. Kein Fernsehfilm wird heute noch auf herkömmlichem Filmmaterial gedreht. Die 6-monatigen Vollzeitlehrgänge mit digitaler Ausrichtung in den Bereichen „Kamera“ und „Schnitt“ sind deshalb besonders begehrt. Ab September 2012 startet, in enger Abstimmung mit den Produktionsfirmen vor Ort, der Lehrgang „Filmund Fernseheditor“ mit einem Schwerpunkt für die Nachbearbeitung von digital hergestelltem Filmmaterial. Diese sehr praxisnahe Ausbildung ist ein nicht zu unterschätzender Standortfaktor und sollte deshalb weiter ausgebaut werden. Seit 1990 gibt es (wieder) das Land Brandenburg und mittendrin das neue Land Berlin. Es war sicher klug und weise, die nach der Wende anstehenden Medien- und Strukturfragen gemeinsam mit Berlin zu regeln und
Beide Einrichtungen, da dürfte kaum jemand widersprechen, haben ihre Erfolgsgeschichte. Die Medienanstalt Berlin-Brandenburg (MABB) war die erste Zweiländer-Medienanstalt. Auch der Medienrat mit nur sieben Mitgliedern, je drei Vertreter aus Berlin und Brandenburg und ein gemeinsamer Vorsitzender oder eine Vorsitzende, hatte damals Modellcharakter. Die Aufsichtsgremien in den Medienanstalten der anderen Bundesländer waren in der Regel sehr viel größer. 2013 steht im Landtag Brandenburg und im Berliner Abgeordnetenhaus die Neuwahl des Medienrates an. Auch ein neuer Direktor muss gefunden werden. Der geltende Staatsvertrag sieht vor, dass der/die Vorsitzende des Medienperspektive21
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rates, wie auch der Direktor der Anstalt, Juristen sein müssen mit der Befähigung zum Richteramt. Das machte Sinn, als die Ausschreibung und Vergabe von Sendefrequenzen und die Regulierung des Rundfunks noch die Kernaufgabe der Landesmedienanstalten darstellte. Doch die Verbreitungsengpässe der analogen Welt sind weitestgehend überwunden. Die Medienanstalten, aber auch die Medienpolitik, stehen heute vor ganz neuen Aufgaben und Herausforderungen. Die neuen Mediennutzungsformen des Internets bedürfen der Regulierung, national, wie auch auf europäischer Ebene, und sie erfordern neue medienpolitische Leitplanken. Deshalb sollte die Frage auf den Prüfstand: Ist diese staatvertragliche Festlegung noch zeitgemäß? Sind in der Führung nicht eher professionelle Medienmanager mit praktischen Erfahrungen in der Netzwelt gefragt? Juristische Kompetenz kann ja, wenn benötigt, jederzeit hinzugezogen werden. Kein rausgeschmissenes Geld Dass Filmförderung kein rausgeschmissenes Geld ist, sondern sinnvolle Wirtschaftsförderung in einer Branche, die in der Hauptstadtregion besonders stark vertreten ist, das war bei manchen Abgeordneten oder politisch Verantwortlichen nicht immer leicht 72
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zu vermitteln. Heute sprechen die Fakten für sich. Im letzten Jahr zum Beispiel betrug der sogenannte Regionaleffekt ca. 400 Prozent. Das heißt: Jeder Euro, der in die Filmförderung gesteckt wurde, hat in der Region viermal so viel wirtschaftlichen Umsatz generiert. Über hundert Millionen also im Jahre 2011. Dennoch stellt sich angesichts der rasanten digitalen Veränderungsprozesse in der Medienbranche die Frage: Sind die jetzigen Förderrichtlinien im Medienboard Berlin-Brandenburg noch nahe genug an der Realität? Stimmt die Gewichtung noch, angesichts der Umbrüche, die die digitalen Transformationsprozesse auch für diese Branche mit sich bringen? Medienpolitik ist Standortpolitik Zurzeit gehen knapp 25 Millionen Euro in die klassische Film- und Verleihförderung. Für die Förderung innovativer digitaler audiovisueller Inhalte und Projektentwickler stehen jedoch nur eine Million Euro zu Verfügung. Auch in der Standortförderung mit einem Etat von 3,5 Millionen ist da wenig Spielraum, denn diese Mittel werden wiederum überwiegend für filmbezogene Bereiche ausgegeben, für die Berlinale, andere Filmfestivals, Filmpreisverleihungen oder Filmwochen. Hier besteht medienpolitischer Handlungsbedarf.
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Medienpolitik, das ist keine neue Erkenntnis, ist gleichzeitig immer auch Standortpolitik. Es geht dabei vor allem um die Arbeitsplätze der Zukunft. Brandenburg sei derzeit aber eher „medienpolitische Wüste“, meinte kürzlich ein hochrangiger SPD-Medienpolitiker. Das ist natürlich maßlos überzogen. Dennoch: Medienpolitik steht zurzeit in Brandenburg auf der Agenda nicht sehr weit oben. Da wird eher verwaltet, als gestaltet. Ein Patentrezept oder eine ausgefeilte Standortstrategie für den Medienstandort Brandenburg kann und wird angesichts des rasanten digitalen Wandels derzeit auch niemand erwarten. Aber mögliche Handlungsfelder und Schwerpunkte für den Bereich Film- und Medienwirtschaft sind aus meiner Sicht:
Medienstadt und Infrastruktur, Förder- und Finanzierungsmodelle und eine digitale Standortstrategie.
Die Bezeichnung „Medienstadt“ ist eher eine Mogelpackung und wird der Realität nicht wirklich gerecht. Von urbanen Strukturen oder urbanem Leben kann jedenfalls nicht Rede sein. Die fehlende Infrastruktur am Standort ist ein Thema, das seit Jahren die Gemüter bewegt. Zuletzt auch wieder bei den Befragungen, die das Netzwerk „media.connect Brandenburg“ Ende 2011 bei den rund
hundert in Babelsberg ansässigen Firmen durchgeführt hat. Zu wenig öffentliche Verkehrsmittel, wenig und schlechte Gastronomie, kein Supermarkt, kein Kiosk, keine Firmenwegweiser, zu wenig Kommunikation untereinander, schlechte Vernetzung der Firmen am Ort … – dieses Klagelied ist nicht neu. Über Nacht sind solche Defizite auch nicht zu ändern. Das bleibt eine Dauerbaustelle. Etwas Abhilfe schaffen kann da die Etablierung eines/einer Standortbeauftragten oder Standortmanagers; eine Anlaufstelle für die Firmen am Standort, die für eine bessere Vernetzung sorgen kann, aber auch eine Art „Hot Spot“ für Kommunikation und Vermarktung. Eine solche Einrichtung könnte auch das oft geforderte bessere „Wir-Gefühl“ stärken. Dieser Vorschlag wird auf Initiative der Stadt Potsdam gerade umgesetzt. Mit im Boot sind die „ZukunftsAgentur Brandenburg“ (ZAB) und „media.net Berlin-Brandenburg“.
INFRASTRUKTUR.
Neue digitale Welt Das Medieninnovationszentrum, das vor kurzem von der Medienanstalt Berlin-Brandenburg (MABB) in Babelsberg gebaut wurde, hat inzwischen Fahrt aufgenommen. Schwerpunkt ist die Entwicklung innovativer digitaler Formate für Fernsehen und Radio. Unter dem gleichen Dach agieren auch perspektive21
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das „Filmhaus Babelsberg“ und „media.connect Brandenburg“. Dem GRW-geförderten Unternehmensnetzwerk „media.connect“ ist es in sehr kurzer Zeit gelungen, dem Standort frisches Leben einzuhauchen. Regelmäße Firmentreffen, Veranstaltungsreihen wie „Film meets IT“, die Informationszeitung „Medienstadt Kompakt“, die Vernetzungs- und Kommunikationsaktivitäten – das alles trägt spürbar zu einem positiven Stimmungswandel und zur stärkeren Profilbildung am Standort bei. Schnelle Reaktionen FÖRDER-UND FINANZIERUNGSINSTRUMENTE. Die Filmförderung funktioniert, die bisherigen Unterstützungsprogramme und Finanzierungsinstrumentarien des Landes, der ZAB und der ILB greifen. Aber reichen sie angesichts der digitalen Zeitenwende noch aus, zumal die Fördertöpfe schon jetzt nicht mehr viel hergeben? Die Stärke von Brandenburg und insbesondere die der ILB war immer, sehr zügig auf veränderte Situationen oder Bedarfe zu reagieren. Eine Handvoll engagierter Mitstreiter in allen Bereichen und kurze Kommunikationswege machten es möglich. Auch am Zustandekommen des „Deutschen Film-Förderfonds“ (DFF), auch „Neumann-Fonds“ genannt, war Brandenburg maßgeblich beteiligt. Der war
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und ist vor allem für Studio Babelsberg von großer Bedeutung für die Anwerbung großer internationaler Filmproduktionen. In der Diskussion ist derzeit die Bereitstellung von Wagniskapital für den IKT- und Medienbereich. Damit könnten innovative Geschäftsideen von Firmen in der Startphase unterstützt werden. Im größeren Maßstab und mit Erfolg praktiziert dies bekanntlich „Hasso-Plattner-Ventures“. Von den 22 Startup-Firmen, die mit Wagniskapital zum Fliegen gebracht wurden, sitzen heute elf in Potsdam und Berlin. Zudem ist der „Frühphasenfonds“ Brandenburg zu erwähnen, der sich an junge, innovative und kleine Unternehmen im Land Brandenburg richtet. Der Fonds hat das Ziel, die Liquidität und Eigenkapitalbasis dieser Unternehmen in der Frühphase zu stärken. Mittlerweile sind bereits 11 Beteiligungen zustande gekommen. Zukunftsfonds für Babelsberg Auf dem Tisch liegt auch ein Diskussionsvorschlag für einen „Zukunftsfonds Brandenburg“ mit einem Volumen von bis zu 10 Millionen Euro, das zu je 50 Prozent durch das Land Brandenburg und UFA/Bertelsmann aufgebracht würde. Mit dem Fonds sollen „programmliche und produktionstechnische Innovationen im Bereich digitaler Medienproduktion am Stand-
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ort Babelsberg“ befördert und begleitet werden. Das ist sicherlich die richtige Richtung, in die jetzt gedacht werden muss. Auch in puncto Standortförderung ist angesichts der fast leeren Fördertöpfe besonders viel Phantasie gefragt. Jetzt müssen die Finanzstrategen an die Front. Aufbruch an Spree und Havel Die derzeitige Anziehungskraft der Hauptstadtregion auf die digitale Kreativszene ist fast atemberaubend, zumindest beindruckend. Vom „Aufbruch an der Spree“ ist da die Rede. 10.000 WebJobs seien in den letzten Jahren hier entstanden, heißt es in der Branche. Viele der meist noch jungen Firmen wollen Großes: neue „social networks“ wie Facebook kreieren oder weitere Suchmaschinen à la Google basteln oder Geschäftsmodelle für neue Internet-Dienstleistungsportale entwickeln. Berlin sei auf bestem Wege, berichtete der Focus kürzlich, zur Kreativ-Hauptstadt der Internet-Szene und zu einer „globalen Internet-Metropole“ zu werden. Im Firmennetzwerk media.net soll jetzt – zusammen mit dem Medienboard – ein „Masterplan für die Internetmetropole Berlin-Brandenburg“ erarbeitet werden, mit zwei Schwerpunkten: Vernetzung von Branche und Politik und als Ergänzung zu den
DIGITALE STANDORTSTRATEGIE.
bestehenden Förderprogrammen die Gewinnung von Risikokapitalgebern. Was aber lässt sich davon für den Medienstandort Brandenburg auskoppeln? Die Startup-Firmen-Szene, wie sie in Kreuzberg oder Mitte, in Hinterhöfen, Lofts oder hinter „Eingängen mit provisorisch aufgeklebten Klingelschildern“ existiert, wird man nicht nach Babelsberg locken können, da fehlt das Umfeld, da fehlt die „Szene“. Der Standort Babelsberg wird wesentlich geprägt durch Film- und Fernsehproduktionen. Folglich liegt es auf der Hand, sich auf die digitalen Entwicklungen in diesem Sektor zu konzentrieren, auf alles, was mit digitaler Bewegtbild-Produktion zu tun hat: vom gesamten Herstellungsprozess, über „Visual Effects“, die Postproduktion, bis zur Digitalisierung von Filmarchiven. Die Ansiedlung von Stargate Studio ist dafür beispielhaft und sicher einer der vielen wichtigen Bausteine, die der Standort für seine digitale Zukunft braucht. Wie Filme ins Internet kommen Eine ganze Reihe anderer erfolgversprechender digitaler Projekte sind auch bereits auf dem Radarschirm. Dazu gehört das Vorhaben der „transfermedia gGmbH“: eine „D-Werft“, ein Zentrum für digitales Bewegtbild, zu entwickeln. Eine Plattform für Unternehmen und Institutionen, die ein perspektive21
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starkes Netzwerk verbindet. Der Grundgedanke dahinter ist, dass tradierte Geschäftsmodelle an den Transformationsprozess angepasst werden sollen, um neue Geschäftsmodelle zu generieren und somit die Unternehmen nachhaltig am Markt zu positionieren. Oder die Entwicklung einer digitalen Suchmaschine für Filmarchive jeglicher Art. Darin ist auch das Hasso-Plattner-Institut für Software-Entwicklung involviert. Ein Konzept für eine „Video on Demand“-Bibliothek für Kinofilme liegt ebenfalls auf dem Tisch. 8.000 deutsche Kinofilme schlummern in Archiven, nur rund 200 davon sind derzeit legal über Internet abrufbar. Jetzt sind taugliche Geschäftsmodelle gefragt. Denn da liegen die Märkte der Zukunft. Stärken stärken Die digitale Gegenwart ist aber auch schon sehr erfreulich. Zahlreiche Firmen, die sich in Babelsberg angesiedelt haben, sind in den digitalen Produktionsfeldern bereits sehr erfolgreich unterwegs: wie telefactory Babelsberg, exozet effects GmbH, micro movie, 3QMedien oder 45info um nur einige davon zu nennen. Erforderlich wäre es, aus dem, was am Standort bereits existiert und dem, was sich für die zukünftige Entwicklung abzeichnet, eine digitale Stand76
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ortstrategie zu entwickeln, mit medienpolitischen Leitplanken, die möglichst sicher zum Ziel führen. Standortbezogene Workshops, Arbeitskreise oder Runde Tische, bei denen alle maßgeblichen Player aus der Branche und der Politik vertreten sind, könnten taugliche Instrumente sein, um Konzepte zu entwickeln und sie auf den Weg zu bringen. „Stärken stärken“, dieses Motto kann auch für Babelsberg als Maxime dienen. Schnelle Leitungen fehlen Ein gravierendes Hindernis muss dafür allerdings noch aus dem Weg geräumt werden. Der Medienstandort verfügt derzeit über keine ausreichende Datenleitungsstruktur, bzw. ausreichende Breitbandkapazitäten. „Das Volumen an Daten, das in Babelsberg produziert wird, wird kontinuierlich steigen. Dieses Volumen muss gespeichert und transportiert werden… Die Herstellung einer heute und zukünftig notwendigen technologischen Infrastruktur in den Bereichen Datenleitung und Speicherung ist einer der unverzichtbaren Bausteine, um den Medienstandort Potsdam Babelsberg im Medienbereich wettbewerbsfähig zu halten.“ So steht es in einer Adhoc-Studie, die die “transfermedia gGmbH“ kürzlich durchgeführt hat. In dieser Studie wurden „die infrastrukturellen Anforderungen an den Medienstandort im Zeitalter der Digitalisie-
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rung“ erstmals genauer unter die Lupe genommen. Inzwischen zeichnen sich jedoch machbare Lösungen ab, die es ermöglichen den „Standort in das Zeitalter der digitalen Medienproduktion zu überführen.“ Ein Fazit in aller Kürze:
Der Medienstandort Brandenburg hat solide Entwicklungsperspektiven. Da mag Berlin noch so sexy sein. Und in fünf Jahren darf am Traditionsstandort Babelsberg wieder gefeiert werden: Dann wird die UFA 100 Jahre alt.
ERHARD THOMAS
war von 1990 bis 2004 Regierungssprecher des Landes Brandenburg und von 2004 bis 2009 Beauftragter des Landes Brandenburg für Medienwirtschaft und Medienpolitik. perspektive21
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