Seit 1997 erscheint „Perspektive 21 – Brandenburgische Hefte für Wissenschaft & Politik“. Wenn Sie Interesse an bisher erschienenen Ausgaben haben, können Sie ältere Exemplare auf unserer Homepage www.perspektive21.de als pdf herunterladen. Einzelne Exemplare von bisher erschienenen Ausgaben schicken wir Ihnen gerne auch auf Wunsch kostenlos zu. Senden Sie uns bitte eine eMail an perspektive-21@spd.de. Zur Zeit sind noch folgende Titel lieferbar: Heft 11 Heft 13 Heft 14 Heft 15 Heft 16 Heft 17 Heft 18
Wirtschaft und Umwelt Kräfteverhältnisse – brandenburgisches Parteiensystem Brandenburgische Identitäten Der Islam und der Westen Bilanz vier Jahre sozialdemokratisch-bündnisgrünes Reformprojekt Ende der Nachwendezeit. PDS am Ende? Der Osten und die Berliner Republik
perspektive 21 · Brandenburgische Hefte für Wissenschaft und Politik · Heft 19 · Juli 2003
SPD-Landesverband Brandenburg, Friedrich-Ebert-Straße 61, 14469 Potsdam PVSt, DPAG, Entgelt bezahlt, A47550
Brandenburgische Hefte für Wissenschaft & Politik
perspektive 21 www.perspektive21.de
Heft 19 • Juli 2003
Tr a m p o l i n oder Hängematte ? Die Modernisierung des Sozialstaates
Fotos: Andreas Altwein/ddp, Steffen Leiprecht/ddp, Montage: Weber Medien
Das neue Deutschland Kr ise im Westen, Umbr uch im Osten – wie wir gemeinsam Chancen beg reifen und Refor men durchsetzen. Mit Beiträgen von: Frank Decker, Wolfgang Engler, Matthias Platzeck, Uwe Rana, Landolf Scherzer, Alexander Thumf ar t und vielen anderen
Arbeitshandbuch Bundestag Abgeordnete, Funktionen, Adressen, Telefonnummern 248 Seiten, Paperback, ISBN 3-936130-07-8, 12,80 € Das neue Deutschland Die Zukunft als Chance Herausgegeben von Tanja Busse und Tobias Dürr Ca. 300 Seiten. Broschur. s 15,90 (D) ISBN 3-351-02553-X
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Inhalt
Trampolin oder Hängematte? Die Modernisierung des Sozialstaates
Vorwort
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Thema Richard Stöss SPD und soziale Gerechtigkeit
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Günter Baaske Zur sozialen Lage in den neuen Bundesländern
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Christoph Egle, Christian Henkes, Tobias Ostheim und Alexander Petring Sozialdemokratische Reformpolitik in Europa
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Franz Walter Plädoyer für eine Große Koalition zur Sanierung des deutschen Sozialstaats
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Magazin Klaus Ness Eine Idee haben und Probleme lösen
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Martin Gorholt Der Weg aus dem PISA-Loch
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Klaus Faber Verfassungsreform und ostdeutsche Interessen
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Impressum
Herausgeber SPD-Landesverband Brandenburg Redaktion Klaus Ness (ViSdP) Benjamin Ehlers Klaus Faber Klara Geywitz Lars Krumrey Christian Maaß Till Meyer Manja Orlowski Silke Pamme Anschrift Friedrich-Ebert-Straße 61 14469 Potsdam Telefon 0331 - 200 93 – 0 Telefax 0331 - 270 85 35 Mail Perspektive-21@spd.de Internet http://www.perspektive21.de Bezug Bestellen Sie Ihr kostenloses Abonnement direkt beim Herausgeber. Senden Sie uns eine Mail.
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Vorwort
Liebe Leserinnen und Leser der „Perspektive 21“! Fordern und Fördern. Der Sozialstaat als Trampolin oder als Hängematte? Im 140. Jahr ihres Bestehens macht die deutsche Sozialdemokratie Ernst mit der Modernisierung unserer Sozialsysteme. In einer Regierungserklärung am 14. März 2003 kündigte Gerhard Schröder seine Agenda 2010 an – und stürzte damit die SPD in den nächsten Monaten in heftige Turbulenzen. Erst auf einem Sonderparteitag am 1. Juni 2003 in Berlin machte die Basis den Weg für die ersten Schritte des Umbaus des Sozialstaates frei. Doch die Debatte wird weitergehen, weil weitere Schritte folgen müssen und werden. Für die SPD ist die Kontroverse über die Zukunft des Sozialstaates eine Frage ihrer eigenen Identität. Richard Stöss zeigt in seinem Beitrag auf, welchen langen Entwicklungsweg die Sozialdemokratie dabei beschritten hat. In ihrem Eisenacher Programm von 1869 hieß es zum Thema sozialer Gerechtigkeit: „Die heutigen politischen und sozialen Zustände sind im höchsten Grade ungerecht und daher mit der größten Energie zu bekämpfen. Der Kampf der Befreiung der arbeitenden Klassen ist nicht ein Kampf für Klassenprivilegien und Vorrechte, sondern für gleiche Rechte und Pflichten und für die Abschaffung aller Klassenherrschaft.“
Daran erinnert inhaltlich und vom sprachlichen Duktus in einem Papier der SPD-Grundsatzkommission aus dem Jahr 2001 rein gar nichts mehr:„Eine differenzierte Gerechtigkeitsnorm wäre eine solche, die gerechte Gleichheiten und ungerechte Ungleichheiten unterscheidet. Gerechte Ungleichheiten sind anzuerkennen, wenn sie aus dem verschiedenartigen gebrauch der Freiheit der Einzelnen und aus ihren unterschiedlichen Beiträgen zur Wohlfahrt der ganzen Gesellschaft folgen.“ Doch die Debatte über soziale Gerechtigkeit ist beileibe kein rein akademischphilosophisches Problem. Darauf macht Brandenburgs Arbeits- und Sozialminister Günter Baaske in seinem Beitrag aufmerksam. Armut ist immer noch ein reales, ja sogar zunehmendes Problem, von dem in Ostdeutschland auch erschreckend viele Kinder betroffen sind. Die bedrückenden Zahlen und Fakten aus Brandenburg unterstreichen die Notwendigkeit der Reform des Sozialstaates aus einer ganz anderen Perspektive. Die notwendige Modernisierung des Sozialstaates ist jedoch kein typisch deutsches Problem. Alle westeuropäischen Länder standen oder stehen seit Beginn der 90er Jahre vor der schwierigen Aufgabe, eine Umgestaltung ihrer sozialstaatlichen Sicherung vorzuneh-
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men. Die Heidelberger Politikwissenschaftler Christoph Egle, Christian Henkes, Alexander Petring und Tobias Ostheim geben in ihrem Beitrag einen informativen Überblick über die Debatten und eingeleiteten Maßnahmen sozialdemokratischer Regierungen unserer westeuropäischen Nachbarn. Besonders viel Widerspruch wird Franz Walter mit seinem flammenden Plädoyer für eine Große Koalition zur Modernisierung des Sozialstaates auslösen. Doch seine Argumente sind nicht einfach von der Hand zu weisen: „So bleibt allein die Große Koalition. Sie ist gewissermaßen die zumindest zeitweise erforderliche innere Konsequenz aus dem kooperationsdemokratisch angelegten Institutionengefüge der bundesdeutschen Republik. So wie Deutschland verfasst ist, gelingt Politik nur durch Kooperation, nur dadurch, dass
beide Parteien gleichermaßen am gouvernementalen Erfolg interessiert sind.“ Im Magazin finden Sie dieses Mal u.a. unter der Überschrift „Eine Idee haben und Probleme lösen“ einen Vorabdruck zur Zukunft der Parteiendemokratie aus dem von Tobias Dürr und Tanja Busse herausgegebenen Buch „Das neue Deutschland. Die Zukunft als Chance“, das Ende September 2003 im AufbauVerlag erscheinen wird. Der Band versammelt eine große Anzahl von Beiträgen zur aktuellen politischen Lage in Deutschland von zahlreichen Autoren aus Ost und West, darunter viele, die sich in den vergangenen Jahren auch in der Perspektive 21 zu Wort gemeldet haben. Ich wünsche auch dieses Mal eine anregende und spannende Lektüre. Ihr Klaus Ness
perspektive 21 im Internet Die Hefte 1-18 sind im Internet unter www.perspektive21.de als pdf-Datei zum Download verfügbar.
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SPD und soziale Gerechtigkeit von Richard Stöss
Das Leitmotiv der Agenda 2010 ist richtig und wird wohl auch von niemandem ernsthaft in Frage gestellt: Um den Sozialstaat zu erhalten, muss er reformiert werden. Der Streit dreht sich um das „Wie“: Welche Maßnahmen sind notwendig und geeignet, um den Sozialstaat – wie Franz Walter es nennt (ab S. 57) – zu sanieren? Um eine Maßnahme zu beurteilen, bedarf es der Bewertungskriterien. Ein Wertmaßstab für die SPD sollte der Grundwert soziale Gerechtigkeit sein. Soziale Gerechtigkeit ist gewiss nicht die einzige – die Kasse muss schließlich auch stimmen –, aber doch eine für die Sozialdemokratie besonders bedeutsame Messlatte. Die vorgeschlagenen Reformschritte müssen sich also daran messen lassen, ob
sie dem Kriterium der sozialen Gerechtigkeit entsprechen. Auch dies dürfte Konsens sein und bedarf keiner weiteren Erörterung. Was aber bedeutet soziale Gerechtigkeit? Der Begriff hat zunächst einmal einen guten Klang. Er verheißt hehre Absichten und streichelt die geplagte Seele der Partei: Wir sind immer noch eine große sozialdemokratischen Wertegemeinschaft! Er stiftet also Identität. Außerdem besteht Einigkeit darüber, dass der Gerechtigkeitsbegriff der Gründerväter der SPD aus dem frühkapitalistischen 19. Jahrhundert nicht der Gerechtigkeitsbegriff der SPD im wohlfahrtsstaatlichen Kapitalismus des 21. Jahrhunderts sein kann. Warum also noch tiefer bohren?
Gründer ohne Grundwerte Tiefer bohren würde übrigens auch nichts nutzen und schon gar nicht zu hilfreichen Einsichten führen. Die Gründergeneration der SPD kannte den Grundwert soziale Gerechtigkeit nicht, sie hatte überhaupt keine Grundwerte. Ihr ging es um fun-
damentale Menschenrechte wie Freiheit und Gleichheit, um Demokratie, um die Überwindung der Klassengesellschaft und der Klassenherrschaft. In den frühen Dokumenten der Arbeiterbewegung ist allenfalls davon die Rede, dass die bestehenden Ver-
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Richard Stöss
hältnisse ungerecht seien und daher beseitigt werden müssten. Im Eisenacher Programm von 1869 hieß es zum Beispiel: „Die heutigen politischen und sozialen Zustände sind im höchsten Grade ungerecht und daher mit der größten Energie zu bekämpfen. Der Kampf der Befreiung der arbeitenden Klassen ist nicht ein Kampf für Klassenprivilegien und Vorrechte, sondern für gleiche Rechte und Pflichten und für die Abschaffung aller Klassenherrschaft … Die politische Freiheit ist die unentbehrliche Vorbedingung zur ökonomischen Befreiung der arbeitenden Klasse.“
Das Endziel war – für orthodoxe wie für Revisionisten – die sozialistische Gesellschaft, und das bedeutete vor allem die Vergesellschaftung der Produktionsmittel. Strittig war lediglich, ob sich der Sozialismus Schritt für Schritt durch Reformen der bestehenden Gesellschaft oder nur durch einen revolutionären Akt verwirklichen lässt. Obwohl sich die SPD stets nachhaltig für soziale Reformen zur Verbesserung der Lage der arbeitenden Klasse einsetzte, sah sie die Lösung der sozialen Frage nicht in derartigen Reformen sondern in einer grundlegenden Veränderung der Wirtschaftsund Gesellschaftsordnung.
Von der Verelendungstheorie zum demokratischen Sozialismus Dies änderte sich auch nach dem Ersten Weltkrieg nicht. Weder im Görlitzer Programm von 1921 noch im Heidelberger Programm von 1925 war von sozialer Gerechtigkeit die Rede. „Das Ziel der Arbeiterklasse kann nur erreicht werden durch die Verwandlung des kapitalistischen Privateigentums an den Produktionsmitteln in gesellschaftliches Eigentum“, hieß es im Heidelberger Programm. Auch dort fand sich ein umfassender Katalog von konkreten wirtschafts- und sozialpolitischen Forderungen („Wirtschaftsde-
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mokratie“), von denen sich die praktische Politik leiten lassen sollte. Wie die Herbeiführung einer sozialistischen Gesellschaft bewerkstelligt werden und – vor allem – welche konkrete Gestalt sie annehmen sollte, blieb auch in diesem, wie in allen früheren Programmen offen. Unter den Bedingungen der demokratischen Republik entfernten sich Ziel und Weg, Programm und Praxis der SPD zusehends. Erst mit dem Godesberger Programm von 1959 wurde diesbezüglich Klarheit geschaffen.
SPD und soziale Gerechtigkeit
Hatte sich die SPD im der Weimarer Republik endgültig von der Verelendungstheorie, von dem Ziel der revolutionären Umgestaltung der Gesellschaft und von der Hoffnung losgesagt, dass der Kapitalismus an seinen inneren Widersprüchen zugrunde geht, so verabschiedete sie sich nach dem Zweiten Weltkrieg offiziell auch von der Forderung nach Vergesellschaftung der Produktionsmittel. Das sozialistische Endziel war damit aufgegeben, die Marktwirtschaft anerkannt. Der freiheitliche bzw. demokratische Sozialismus wurde nun zur Leitidee nicht nur der deutschen Sozialdemokratie, son-
dern aller Parteien der Sozialistischen Internationale. Diese erblickte 1951 in Frankfurt am Main das Licht der Welt und erklärte nun soziale Gerechtigkeit zu einem zentralen Anliegen des demokratischen Sozialismus: „Gleichviel, ob Sozialisten ihre Überzeugung aus den Ergebnissen marxistischer oder anders begründeter sozialer Analysen oder aus religiösen oder humanitären Grundsätzen ableiten, alle erstreben ein gemeinsames Ziel: eine Gesellschaftsordnung der sozialen Gerechtigkeit, der höheren Wohlfahrt, der 1 Freiheit und des Weltfriedens.“
Gerechtigkeitsversprechen statt Kapitalismuskritik Zu diesem gemeinsamen Ziel bekannte sich die SPD explizit in ihrem auf dem Dortmunder Parteitag 1952 beschlossenen und auf dem Berliner Parteitag 1954 konkretisierten Aktionsprogramm. Und im Godesberger Programm hieß es: „Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität … sind die Grundwerte des sozialistischen Wollens.“ Bedeutete Sozialismus früher eine Weltanschauung, die die grundlegende Umgestaltung der wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse anstrebte, so bildete er 1
nun den Wertekanon für die Gestaltung einer „menschenwürdigen Gesellschaft“ (Godesberger Programm). Was verstanden die Nachkriegs-Sozialdemokraten unter sozialer Gerechtigkeit? Der Begriff wurde nicht konkret gefasst. Er blieb genauso vieldeutig wie der Begriff Sozialismus. Im Godesberger Programm fand sich nur folgender Hinweis: „Die Marktwirtschaft gewährleistet von sich aus keine gerechte Einkom-
Ziele und Aufgaben des demokratischen Sozialismus. Erklärung der Sozialistischen Internationale, beschlossen 1951 in Frankfurt a. M., abgedr. in: Programme der deutschen Sozialdemokratie, Hannover: J.H.W. Dietz Nachf. 1963, S. 103-113.
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Richard Stöss
mens- und Vermögensverteilung. Dazu bedarf es einer zielbewussten Einkommens- und Vermögenspolitik. Einkommen und Vermögen sind ungerecht verteilt … Die Sozialdemokratische Partei will Lebensbedingungen schaffen, unter denen alle Menschen in freier Entschließung aus steigendem Einkommen eigenes Vermögen bilden können. Das setzt eine stetige Erhöhung des Sozialprodukts bei gerechter Verteilung voraus. Die Lohn- und Gehaltspolitik ist ein geeignetes und notwendiges Mittel, um Einkommen und Vermögen gerechter zu verteilen.“ Soziale Gerechtigkeit bezog sich also nicht auf die Primärverteilung. Nicht das vorhandene Vermögen sollte gerecht (um)verteilt werden, sondern der Zuwachs. (Karl Schiller prägte dafür später den Begriff „soziale Symmetrie“.) Die gerechte Verteilung des Zuwachses setzt allerdings Wachstum voraus. Die Frage, wie soziale Gerechtigkeit ohne Wachstum realisierbar ist, stellte sich damals nicht. Das galt entsprechend für die Vermögensbildung und die Gewährleistung von
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sozialer Gerechtigkeit durch Lohn- und Gehaltspolitik. Weiterhin forderte das Godesberger Programm, dass „ein angemessener Teil des ständigen Zuwachses am Betriebsvermögen der Großwirtschaft“ für „gemeinschaftliche Zwecke“ herangezogen wird. Als derartige Gemeinschaftsaufgaben nannte das Programm Wissenschaft, Forschung und Erziehung. Soziale Gerechtigkeit bedeutete also nicht nur eine (maßvolle) Korrektur der Einkommens- und Vermögensverteilung, sondern erstreckte sich auch auf die gerechte Verteilung von Lebenschancen. Die Kommentare zum Dortmunder bzw. Berliner Aktionsprogramm und zum Godesberger Programm ließen ein Spannungsverhältnis zwischen sozialer Gerechtigkeit und sozialer Gleichheit erkennen. Soziale Gerechtigkeit sollte oft nur mehr, aber nicht absolute Gleichheit bewirken. Ein gewisses Ausmaß an Ungleichheit war unter Umständen durchaus erwünscht. Denn „Verteilungsvorteile“ wurden als notwendig angesehen, um zu wirtschaftlicher Leistung anzuspornen. „Höhere Leistung soll durch höheres Einkommen 2 anerkannt werden.“
Dieter Link, Vom Antikapitalismus zur sozialistischen Marktwirtschaft, Hannover: J.H.W. Dietz Nachf. 1965, S. 125.
SPD und soziale Gerechtigkeit
Gerechtigkeitsstreben als gesellschaftlicher Konsens Dass der Grundwert soziale Gerechtigkeit nicht eindeutig definiert war, wirkte sich zunächst nicht nachteilig aus. Die ersten Nachkriegsjahrzehnte der demokratischen Industriegesellschaften bildeten schließlich das „Goldene Zeitalter“ des Kapitalismus. Hohe Wachstumsraten und Vollbeschäftigung ermöglichten eine enorme Steigerung der Einkommen und des Lebensstandards von Arbeitnehmern, der Wohlfahrtsstaat stand in voller Blüte, und die scheinbar anhaltende Prosperität versprach zunehmende Verteilungsgerechtigkeit. Es herrschte ein breiter gesellschaftlicher Konsens in sozialpolitischen Fragen. Dieser Konsens ist überhaupt erst deshalb möglich geworden, weil sich die SPD vom antikapitalistischen Sozialismus losgesagt und der sozialen Gerechtigkeit verschrieben hat. Der Begriff stammt ursprünglich aus der Katholischen Soziallehre. Als spiritus rector gilt der sizilianische Priester Taparelli d'Azeglio, der ihn 1840 erstmalig verwandt 3 haben soll . In der Enzyklika „Rerum novarum“ erklärte Papst Leo XIII. 1891,
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dass die soziale Frage nicht allein durch caritative Bemühungen bewältigt werden könne. Vielmehr sei der Staat nicht nur berechtigt sondern auch verpflichtet, zu Gunsten der Armen und Schwachen zu intervenieren. In der Enzyklika „Quadragesimo anno“ (Pius XI. verkündete sie zum 40. Jahrestag von Rerum novarum) wurde die Reichweite des Sozialstaats durch das Subsidiaritätsprinzip begrenzt und schroff zwischen sozialer Gerechtigkeit und Sozialismus unterschieden. Mit dem Bekenntnis der SPD zum demokratischen Sozialismus im Godesberger Programm waren dann die Grundlagen für einen gemeinsamen Diskurs von Sozialdemokratie und Politischem Katholizismus gelegt. In Folge seiner Vieldeutigkeit eignete sich der Begriff soziale Gerechtigkeit also nicht nur innerparteilich dazu, Flügel übergreifenden Konsens zu stiften. Er taugte auch als Zielvorstellung im politischen Wettbewerb, weil er in seiner Unbestimmtheit kaum polarisierte. Kein Wechselwähler wurde durch seine Verwendung abgeschreckt.
Ursula Nothelle-Wildfeuer, Zur Idee der sozialen Gerechtigkeit, in: Eichholz-Brief, 34. Jg. (1997), H. 4, S. 39-51, hier S. 40.
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Wirtschaftskrise und Sozialstaatskritik Mitte der siebziger Jahre löste ein Grundsatzkonflikt den bis dahin bestehenden breiten gesellschaftlichen Konsens in sozialpolitischen Fragen ab. Damals setzte eine massive, antietatistische und monetaristische Kritik am sozialdemokratischen Reformismus ein, der angesichts der damaligen Tendenzen zu Stagnation und Inflation und angesichts der wachsenden Massenarbeitslosigkeit in heftige Bedrängnis geraten war. Eine übertriebene wohlfahrtsstaatliche Politik – so die radikalen Kritiker – habe die öffentlichen Haushalte überlastet, die Selbststeuerungskräfte des Marktes geschwächt, unternehmerische Initiative behindert und damit der Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft insgesamt schwer geschadet. Um ihr zu neuer Blüte zu verhelfen, müsse sie von ihren bürokratischen Fesseln befreit, staatliche Intervention auf das unbedingt notwendige Mindestmaß zurückgeschraubt und die Staatsverschuldung konsequent abgebaut werden. Für die Lösung der sozialen Probleme seien in erster Linie die Bürger selbst verantwortlich, staatliche Leistungen sollten nur bei Härtefällen gewährt werden. Mit der Bildung der neoliberalen und neokonservativen Regierungen unter Margaret Thatcher
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in Großbritannien (1979) und Ronald Reagan in den USA (1980), deren Programm auf die Kurzformel „freie Wirtschaft plus starker Staat“ gebracht wurde, gerieten die sozialdemokratischen Parteien Europas unter starken politischen Druck, zumal sich die Wirtschafts- und Finanzkrisen in den westlichen Industriegesellschaften weiter vertieften. Die Sozialdemokraten neigten zunächst zu zögerlichem Abwarten, dann zu partieller Anpassung. Auch die bundesdeutsche SPD akzeptierte ab Mitte der achtziger Jahre Grundzüge der neoliberalen Vorstellungen als unausweichlich. Vor der Bundestagswahl 1987 versprach sie, das soziale Netz durch den „Umbau des Sozialstaats“ neu zu knüpfen. In der „Ära Kohl“ schwankte die Partei zwischen neoliberalen, sozialen und ökologischen Zielsetzungen hin und her. Dies schlug sich auch im Grundsatzprogramm (Berliner Programm) von 1989 nieder, welches das Godesberger Programm von 1959 ablöste. Zwar wurde an den Grundwerten des demokratischen Sozialismus – Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität – festgehalten, ihre politische Bedeutung als maßgebliche gesellschaftsgestaltende Zielvorgaben war in der Praxis freilich
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gering. Die Begriffe demokratischer Sozialismus und soziale Gerechtigkeit schienen eher der Identitätsbildung
und Traditionspflege zu dienen als der konkreten politischen Richtungsbestimmung.
Gerechtigkeit ohne Wachstum Die Grundwerteexperten der SPD hatten jedoch schon früh erkannt, dass die gesellschaftlichen Veränderungen seit der Verabschiedung des Godesberger Programms eine Präzisierung des Grundwerteverständnisses der Partei erforderlich machen. Soziale Gerechtigkeit ließ sich nun nicht mehr durch die gerechte Verteilung des Zuwachses herstellen. Erste Ergebnisse der Arbeit der Grundwertekommission fanden ihren Niederschlag im „Orientierungsrahmen '85“ von 1975. Darauf basierten die Formulierungen im Berliner Programm, die wesentlich konkreter und realistischer ausfielen als im Godesberger Programm: „Gerechtigkeit gründet in der gleichen Würde aller Menschen. Sie verlangt gleiche Freiheit, Gleichheit vor dem Gesetz, gleiche Chancen der politischen und sozialen Teilhabe und der sozialen Sicherung. Sie verlangt die gesellschaftliche Gleichheit von Mann und Frau. Gerechtigkeit erfordert mehr Gleichheit in der Verteilung von Einkommen, Eigen-
tum und Macht, aber auch im Zugang zu Bildung, Ausbildung und Kultur. Gleiche Lebenschancen bedeuten nicht Gleichförmigkeit, sondern Entfaltungsraum für individuelle Neigungen und Fähigkeiten aller. Gerechtigkeit, das Recht auf gleiche Lebenschancen, muss mit den Mitteln staatlicher Macht angestrebt werden.“ Deutlicher als im Godesberger Programm wurde nun dargelegt, dass sich Gerechtigkeit nicht nur auf die Verteilung von Einkommen und Vermögen und auf soziale Sicherung bezieht, sondern auch auf den Zugang zu Bildung, Ausbildung und Kultur und auf die Teilhabe an politischen Prozessen. Und es wurde deutlicher formuliert, wo Gerechtigkeit auf Ergebnisgleichheit, wo auf Chancengleichheit zielt. Das im Dezember 1989, also kurz nach dem Fall der Mauer verabschiedete Berliner Programm enthielt keine Orientierung für die Gestaltung der inneren Einheit Deutschlands, insbesondere nicht für die ökonomische Transformation der neuen Bundeslän-
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der. Das von Kohl vertretene Ziel einer raschen Integration der DDR in die wirtschaftliche, politische und rechtliche Ordnung BRD erfreute sich zunächst massenhafter Zustimmung. Die überwältigende Einheitseuphorie der Bevölkerung deckte sich mit dem naiven Glauben der Bundesregierung, dass die Wende gelingt, wenn konsequent pri-
vatisiert und die Infrastrukturvoraussetzungen sowie zusätzliche Anreize für private Investitionen geschaffen werden. Als der selbsttragende Aufschwung nach anfänglichen Hoffnungszeichen auf sich warten ließ, schlugen die (überzogenen) Erwartungen in tiefe Enttäuschung um.
Generationengerechtigkeit als Sparkonzept Aber nicht nur in Ostdeutschland wurde die Regierung Kohl Opfer ihres blinden Vertrauens in die Marktwirtschaft und ihrer optimistischen Versprechungen. Die Modernisierung schuf generell weniger Arbeitsplätze als sie vernichtete, begünstigte mithin nur einen Teil der Gesellschaft. Die Schere zwischen Gewinnern und Verlierern, zwischen Reich und Arm, öffnete sich im Bundesgebiet weiter. Trotz ins Millionenfache wachsender befristeter oder geringfügiger Arbeit und Scheinselbständigkeit erreichte die Zahl der Arbeitslosen zwischenzeitlich fast die Rekordmarke von fünf Millionen. Und trotz massiver Leistungskürzungen im Sozialbereich stieg die Staatsverschuldung ins Unermessliche. Anlässlich der Bundestagswahl 1998 startete der DGB daher die Kampagne „Deine Stimme für Arbeit und soziale Gerechtigkeit“,
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und die SPD ging mit dem cleveren Slogan „Innovation und Gerechtigkeit“ in den Wahlkampf. Das Versprechen, die Modernisierung der Volkswirtschaft mit sozialer Gerechtigkeit zu verbinden, richtete sich – durchaus erfolgreich – zugleich an Stammwähler und Wechselwähler, erzeugte allerdings einen hohen Erwartungsdruck, ohne dass es auf eine konkrete politische Planung gegründet war. Die rot-grüne Bundesregierung startete Ende 1998 hastig mit einigen sozialpolitischen Reformen, besann sich jedoch bald darauf, dass nur ein ausgeglichener Haushalt ein sozial gerechter Haushalt sei. Staatsschulden führten – so lautet die Begründung – zu einer Umverteilung von unten nach oben und verletzten das Gebot der Generationengerechtigkeit. Sparpolitik wurde zu einem Mittel
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der „nachhaltigen“ Gewährleistung von sozialer Gerechtigkeit erklärt und bildete nun den Kern rot-grüner Innovationspolitik. Auch die europäische Wirtschafts- und Währungspolitik ist im Zeichen der Einführung des Euro auf radikale Liberalisierung und Priva-
tisierung ausgerichtet und schützt daher vor allem die Besitzer von Geldvermögen. Die Wahlen des Jahres 1999 bedeuteten für Rot-Grün jedenfalls ein Desaster, bei der Europawahl erreichte die Union sogar fast die absolute Mehrheit der Stimmen.
Der Dritte Weg Angesichts dieser Talfahrt in der öffentlichen Meinung brach in der SPD die Diskussion über soziale Gerechtigkeit offen aus. Im Juni des Jahres wurde das so genannte „Schröder4 Blair-Papier“ veröffentlicht, womit die Debatte über den „Dritten Weg“ wieder aufflammte. Zur Erinnerung eine kurze Inhaltsangabe: Globalisierung wurde nicht als Bedrohung sondern als Chance angesehen, weil sie Modernisierung und Wettbewerb fördere. Folglich wurden staatliche Eingriffe in das Marktgeschehen abgelehnt und die rigide Konsolidierung der Haushalte gefordert. Eine Ausweitung der Sozialausgaben komme nicht in Betracht, – weil dadurch die soziale Ungleichheit nicht vermindert werde, – weil die wohlfahrtsstaatlichen Leistungen den tatsächlichen Risiken 4
und Bedürfnissen oft nicht gerecht würden und nicht selten Gruppen zugute kämen, die nicht schutzbedürftig sind und – weil durch umfassende Versorgung keine Anreize für Flexibilität, Selbsthilfe und Qualifikation, für „eigene Anstrengung und Verantwortung“, bestünden. Im Gegensatz zum Neoliberalismus sei der „Dritte Weg“ auf soziale Gerechtigkeit verpflichtet. Allerdings wurden das klassische Verständnis von sozialer Gerechtigkeit als nachsorgender Gerechtigkeit kritisiert und die Gerechtigkeitsdefizite des Egalitätsprinzips mit den Gerechtigkeitsgewinnen von sozialer Differenzierung konfrontiert. Der Primat liegt in dem Papier auf vorsorgender Gerechtigkeit: Der Entstehung von Armut und sozialer Exklusion soll durch die Gewährleistung von Chan-
Der Weg nach vorne für Europas Sozialdemokraten. Ein Vorschlag von Gerhard Schröder und Tony Blair, abgedr. auch in: Perspektive 21, 1999, H. 8, S. 12-26.
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cengleichheit beim Zugang zu Bildung und vor allem zu Erwerbsarbeit vorgebeugt werden. Letzteres werde nicht durch staatliche Beschäftigungsprogramme ermöglicht sondern durch die Konditionierung der Menschen für den Wettbewerb auf dem Arbeitsmarkt (bedarfsgerechte Qualifikation, Fortund Weiterbildung etc.). In dem Ausmaß, wie die Inklusion gelänge, könnten Sozialleistungen auf die tatsächlich Bedürftigen konzentriert und damit insgesamt reduziert werden. Der „Dritte Weg“ lege großen Wert auf „persönliche Leistung und Erfolg, Unternehmergeist, Eigenverantwortung und
Gemeinsinn“, auf „Initiative und Kreativität“. „Der Staat soll nicht rudern sondern steuern“, er soll (beispielsweise durch Deregulierung, Senkung von Steuern und Lohnnebenkosten) angemessene Rahmenbedingungen schaffen, „in denen bestehende Unternehmen prosperieren und sich entwickeln und neue Unternehmen entstehen und wachsen können“. Die Notwendigkeit eines Niedriglohnsektors wurde explizit anerkannt: „Teilzeitarbeit und geringfügige Arbeit sind besser als gar keine Arbeit, denn sie erleichtern den Übergang von Arbeitslosigkeit in Beschäftigung“. (Alle Zitate: Schröder-Blair-Papier.)
Gerechtigkeit für die Bedürftigen In dem Papier „Dritte Wege – Neue Mitte“ der Grundwertekommission der SPD wurden Stärken und Schwächen dieses Konzepts herausgearbeitet. Begrüßt wurden die Absage an Protektionismus, an die Deregulierung der Arbeitsmärkte, an die „Umorientierung des strukturell dem Industriezeitalter verpflichteten Wohlfahrtsstaates mit seiner sozial ungerechten Bevorzugung der Mittelschichten auf die wirklich Bedürftigen“ und an die individuelle Verantwortlichkeit für „Bildung, Ausbildung und Lernen“. Kritisch wurden vor allem folgende Punkte angemerkt:
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• Ein politischer Gestaltungswille gegenüber den „zyklisch instabilen und demokratisch nicht legitimierten Marktkräften“ sei nicht erkennbar. • Es werde darauf verzichtet, das Steuersystem auch zur Umverteilung zu nutzen. • Die Flexibilisierung des Arbeitsmarkts benachteilige ältere Arbeitnehmer und schwäche die Verhandlungsposition der Gewerkschaften. • Die Reduktion sozialstaatlicher Leistungen auf wirklich Bedürftige leiste Forderungen nach weiterem
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Sozialabbau Vorschub. Wenn nämlich die Mittelschichten nicht mehr vom Sozialstaat profitierten, würden sie auf weiten Abbau drängen, weil dieser vor allem von ihren Steuergeldern finanziert wird. Dann fehle den politisch machtlosen Armen ein wichtiger Bündnispartner im Kampf um soziale Gerechtigkeit. Die Grundwertekommission benannte vor allem folgende „erste Schlussfolgerungen“ in Bezug auf soziale Gerechtigkeit: • „Sozial gerecht sind politische Maßnahmen, die gesellschaftliche Inklusion fördern und soziale Exklusion verhindern.“ • Soziale Ungleichheit sei nur hinnehmbar, wenn davon tendenziell auch die unteren gesellschaftlichen Schichten profitierten. • Gerechtigkeit und Freiheit bilde-ten keinen Gegensatz. Nur wer sozial hinreichend abgesichert sei, könne seine Freiheitschancen auch wirklich nutzen. • Soziale Gerechtigkeit bedeute gleiche Freiheitschancen auch hinsichtlich der Mitwirkung an politischen Entscheidungen und der Nutzung kultureller Angebote. „Gerechtigkeit verlangt die gleiche Würde aller Menschen, unabhängig von ihren Leistungen für die Gesellschaft.“
• Bestandteil der sozialen Gerechtigkeit sei auch eine gerechte Verteilung der gesellschaftlich verfügbaren Arbeit. • Soziale Ungleichheit sei gerecht-fertigt, wenn dadurch Leistungen gefördert würden, die allen zugute kämen und daher auch „der freien Zustimmung aller fähig sind“. • Über die Verteilung der Lebenschancen dürften nicht in erster Linie Märkte entscheiden, dies obliege der Gesellschaft insgesamt. • Der Sozialstaat sei nur dann legitimiert, wenn er prinzipiell von allen Bürgern finanziert werde und seine Leistungen potenziell allen Bürgern zur Verfügung stünden. • Die Reform des Sozialstaats zieledarauf ab, ihn „durch die stärkere Betonung der Vorbeugung und die Orientierung an echter Hilfe zur Selbsthilfe effizienter zu machen und damit seine Legitimationsgrundlagen neu zu festigen“. Vergegenwärtigt man sich heute noch einmal die Diskussionen von 1999, dann herrscht der Eindruck vor, dass sie zumeist auf hohem Niveau stattfanden. Es gelang allerdings nicht, die Kontroverse als notwendigen, zukunftsorientierten Selbstverständigungsprozess der SPD in einer existenziellen Frage deutscher Wirtschafts- und Sozialpolitik zu kommunizieren. Das mag auch
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daran gelegen haben, dass einige Akteure die Diskussion zur eigenen Profilierung missbrauchten. Jedenfalls skandalierten die Medien den Vorgang als innerparteilichen Streit zwischen „Traditionalisten“ und „Reformern“, die SPD wurde als tief zerstritten, die Bundesregierung als handlungsunfähig dargestellt. Der Berliner Parteitag
Anfang Dezember 1999 beendete das „Sommertheater“ und damit gleichzeitig die (öffentliche) Diskussion über die Grundwerte der Partei. Er erteilte den Auftrag, das Grundsatzprogramm zu überarbeiten und dabei die Grundwerte Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität als „Maßstab und leitende Prinzipien unserer Politik“ herauszustellen.
Gerechte Gleichheiten und ungerechte Ungleichheiten Inzwischen ist soziale Gerechtigkeit fast schon ein Allerweltsbegriff geworden, auf den sich alle politischen Richtungen (auch der Rechtsextremismus) beziehen. Wer sich auf soziale Gerechtigkeit beruft, wird feststellen, dass die politische Konkurrenz es auch tut. Die PDS bastelt an einem neuen sozialistischen Grundsatzprogramm, in der CDU kämpft die Christlich-Demokratische Arbeitnehmerschaft gegen die Neokonservativen bzw. Neoliberalen für mehr soziale Gerechtigkeit, und selbst die FDP sorgt sich um die soziale Frage in der Bundesrepublik. Welche Zielvorstellungen die Parteien mit sozialer Gerechtigkeit verbinden – wenn sie denn überhaupt welche damit verbinden –, erschließt sich der Öffentlichkeit kaum. Die inflationäre Verwendung des Begriffs trägt eher zu seiner Entwertung bei. Der Eindruck verstärkt sich,
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dass dies durchaus erwünscht ist. Die Arbeit am neuen Grundsatzprogramm der SPD zeitigte bislang kaum sichtbare Erfolge. Die Grundwertekommission leistete jedoch wichtige Vorarbeiten. In ihrem Zwischenbericht an die Grundsatzprogrammkommission vom 13. Juli 2001 vertrat sie die Auffassung, dass der Grundwerteteil des Berliner Programms „in seinen wesentlichen Aussagen nicht revisionsbedürftig ist“. Unter der Überschrift „Die neue Gerechtigkeitsfrage“ setzte sie gleichwohl neue Akzente und knüpfte damit an ihre Stellungnahme zum SchröderBlair-Papier an. Das Stichwort lautet „begrenzte Ungleichheit“ oder auch „gerechte Ungleichheit“: „Eine differenzierte Gerechtigkeitsnorm wäre eine solche, die gerechte Gleichheiten und ungerechte Ungleich-
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heiten unterscheidet. Gerechte Ungleichheiten sind anzuerkennen, wenn sie aus dem verschiedenartigen gebrauch der Freiheit der Einzelnen und aus ihren unterschiedlichen Beiträgen zur Wohlfahrt der ganzen Gesellschaft folgen. Die Gerechtigkeitsnorm muss zugleich harte Grenzen für zulässige Ungleichheiten, beispielsweise für leistungslose Einkommen, Monopolgewinne oder Shareholder-value-Selbstbedienungsstrategien setzen.“ (Hv. i. O.) Obwohl es an anderer Stelle in diesem Bericht heißt, „auch ein künftiger Gerechtigkeitsbegriff darf Gerechtigkeit nicht im Sinne einer Vergrößerung der existierenden Ungleichheit von Einkommen, Vermögen und Lebenschancen interpretieren“, dürfte die These von der gerechten Ungleichheit so lange strittig sein, wie die „harten Grenzen für zulässige Ungleichheiten“ nicht definiert sind. Denn die These könnte dazu geeignet sein (und auch dazu benutzt werden), eine weitere Verschärfung der existierenden Ungleichheit zu rechtfertigen. Und genau darin besteht das Problem. So richtig es ist, dass die SPD seit ihrer Hinwendung zum demokratischen bzw. freiheitlichen Sozialismus „Unterschiede in der Verteilung von Gütern 5
und Ressourcen … als legitim betrachtet, so lange sie in einem spezifischen Bedürfnis, Verdienst oder in Leistungsdifferenzen begründet und öffentlicher Rechtfertigung fähig sind“, so trifft es doch auch zu, dass „soziale Ausgrenzung zugenommen und Verteilungsge5 rechtigkeit abgenommen hat“ , und zwar auch in der Regierungszeit von Rot-Grün. Soziale Ungleichheit wächst kontinuierlich, und nichts spricht dafür, dass es sich dabei um einen Vorgang handelt, der „öffentlicher Rechtfertigung fähig“ ist, jedenfalls nicht bei den Anhängern der SPD. Die SPD befindet sich hier als linke Volkspartei in einer schwierigen Lage. Der Zwischenbericht der Grundwertekommission charakterisiert das Dilemma so: „Zu den politischen Voraussetzungen für die Gewährleistung sozialer Sicherheit gehört, dass der Sozialstaat auch der Zustimmung großer Teile der Mittelschichten bedarf. Weil die Vermeidung sozialer Exklusion die soziale und die politische Inklusion der Mittelklassen verlangt, muss diese ein überzeugendes Interesse am Sozialstaat behalten. Bestimmte Milieus der sozialen Mitte – „Neues Bürgertum“ und das „Neue Arbeitnehmer-Milieu“ – betonen aber
Lebenslagen in Deutschland. Der erste Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung, April 2001, Bundestagsdrucksache 14/5990, S. XV.
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eine differenzierende Leistungsorientierung als Forderung der Gerechtigkeit. Das politische Bündnis zur Sicherung des Sozialstaats zwischen alten und neuen Arbeitnehmern und den sozial orientierten Selbständigen sollte daher die Teilperspektive einer bloß marktkritischen Politik durch eine politisch gestaltende Gesamtperspektive ersetzen, in der sich
auch die neuen Mittelschichten mit ihren ökonomischen Interessen und Erfahrungen wieder erkennen können.“ (Hv. i. O.) Zugespitzt formuliert: Bei der Definition von Gerechtigkeit, insbesondere bei der Konkretisierung der zulässigen Ungleichheiten, sind auch die Bedürfnisse der „neuen Mitte“ zu berücksichtigen.
Ein Gerechtigkeitsdiskurs ist notwendig Da – wie die Grundwertekommission einräumt – die Gerechtigkeitsvorstellungen der „neuen Mitte“ nicht identisch sind mit denen der „alten Arbeitnehmer“ (und auch nicht mit denen der Armen!), bedarf es eines „Kontrakts“ zwischen den beteiligten Schichten, der Interessen und Bedürfnisse gegeneinander abwägt. Ein derartiger Konsens kann nur durch eine breite öffentliche Diskussion über notwendige und gerechte Zumutungen, Vergünstigungen und Sicherheiten in langfristiger Perspektive herbei geführt werden. Damit sind wir wieder bei der Agenda 2010 angelangt: Die Reform des Sozialstaats krankt daran, dass kein öffentlicher Diskurs über soziale Gerechtigkeit stattgefunden hat und folglich nicht einmal Umrisse eines entsprechenden gesellschaftlichen Konsenses erkennbar sind. Daher löst
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die Agenda – mehr oder weniger berechtigt – Unzufriedenheit und Protest bei allen Beteiligten und Betroffenen aus. Bislang lebte die politische Klasse recht gut mit der Vieldeutigkeit des Begriffs soziale Gerechtigkeit. Mit der dramatischen Verschärfung der Wirtschafts- und Arbeitsmarktkrise und der Finanzierungskrise der öffentlichen Haushalte drängen die Bürger auf Klarheit und Berechenbarkeit. Die sozialdemokratische Wertegemeinschaft befindet sich im Zustand der Erosion und wird vor allem durch die Autorität des Vorsitzenden und der Angst vor einem Machtverlust zusammengehalten. Inhaltlich fundierte Identität ist Mangelware. Nicht nur die Anhänger der SPD sondern alle Menschen wollen wissen, nach welchen Kriterien die Politik entscheidet, wer in welchem Umfang zur Sanierung des
SPD und soziale Gerechtigkeit
Sozialstaats herangezogen wird. Die Politik muss ihre Entscheidungsgrundlagen darlegen, damit sich die Bürger ein Urteil bilden, Vertrauen und Zuversicht entwickeln und zustimmen können. Die SPD kann ihre Kompetenz für
soziale Gerechtigkeit nur bewahren (und erst recht nur verstärken), wenn sie sich diesem Dialog stellt. Anderenfalls brechen ihr die „alten Arbeitnehmer“ weg, und die „neue Mitte“ läuft zur Union oder zu den Liberalen über.
Richard Stöss, Dr. phil., Jahrgang 1944, ist Privatdozent am Fachbereich Politik- und Sozialwissenschaften der Freien Universität Berlin. Arbeitsschwerpunkte: Parteien-, Wahl- und Rechtsextremismusforschung. Er ist Mitglied der Grundwertekommission des SPD-Landesverbands Brandenburg.
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Zur sozialen Lage in den neuen Bundesländern von Günter Baaske Es ist in der Bundesrepublik Deutschland erst wenige Jahrzehnte her, da konnte man hoffen, dass sich das Thema „Armut“ im Rahmen der allgemeinen Prosperitätsentwicklung quasi von selbst erledigen würde: auch wenn die Einkommens- und Vermögensverteilung schief war, so blieb für Wenigverdiener dennoch soviel übrig, dass auch ihr Lebensstandard auf nie gekannte Höhen stieg. Eine Gerechtigkeitsdebatte fand daher allenfalls in akademischen Zirkeln statt, für einen breiten gesellschaftlichen Diskurs fehlte das Problembewusstsein. Das hat sich völlig verändert, auch wenn diese Diskussion durch die Öffentlichkeit einschließlich der Politik nur zögernd aufgenommen wurde. Für den, der sehen wollte, waren Warnsignale bereits in den 80er Jahren erkennbar. Das verspätete Handeln jetzt findet daher unter mehrfach ungünstigen Voraussetzungen statt. Die sich gegenseitig beeinflussenden Determinanten lauten andauernde Konjunkturkrise – hohe Arbeitslosigkeit – hoch defizitäre öffentliche Haushalte – Globalisierung – Zunahme der technologischen Ar-
beitslosigkeit – demographische Entwicklung. Unter dem Druck dieser Bedingungen müssen nun gleichzeitig kurzfristige Reparaturen zum Zwecke der Liquiditätssicherung in den sozialen Sicherungssystemen vorgenommen werden und langfristige Strukturreformen. Dieses ehrgeizige Vorhaben krankt zudem an der Tatsache, dass ein Koordinatenkreuz der Werte fehlt. Eine wertegeleitete Diskussion ist mit einem auf dem Sonderparteitag vom 1. Juni beschlossenen Leitantrag keineswegs erledigt, sie wird von Sozialdemokraten noch zu führen sein. Die Sozialdemokratie ist in Gefahr, Wertebezug durch technokratische Entscheidungen und gekonnte PR zu ersetzen. Sie setzt damit nicht nur Wählerstimmen, sondern auch politische Glaubwürdigkeit auf´s Spiel. Eine Schwierigkeit wird darin liegen, dass es nicht um eine philosophische Begriffsdefinition gehen kann – auf die man sich wohl relativ einfach verständigen könnte, sondern um einen alltagstauglichen Wertmaßstab. Wir müssen diese Debatte auch deswegen führen, weil „soziale Gerech-
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Günter Baaske
tigkeit“ am ehesten den Sozialdemokraten zugeordnet wird, wir ihn also inhaltlich füllen müssen, damit er nicht entwendet und verfremdet wird. Semantik ist ja in der politischen Debatte durchaus von Bedeutung. Und letztlich müssen wir zeigen, dass sozialdemokratische – d.h. an Verteilungsgerechtigkeit orientierte – Politik zukunftsfähig ist. Wenn Millionen gemäß den Grundsätzen des Förderns und Forderns von uns eine Integration in den Arbeitsmarkt erwarten, dann ist dies kein Thema, das durch bürgerschaftliches Engagement und Charity beiseite geschoben werden kann. Evident ist jedenfalls der enge Zusammenhang zwischen sozialer Gerechtigkeit und Armut und evident ist ebenfalls, dass „der Markt“ aus sich heraus keine soziale Gerechtigkeit verwirklicht. Dies kann, zumindest annäherungsweise, nur durch eine strikt am Gemeinwohl orientierte sozialstaatliche Umverteilung geleistet werden. Umverteilung ist jede staatliche Korrektur der Primärverteilung, seien es ausgleichende Unterstützungsleistungen des Staates (Transfers), Subventionen, Steuervergünstigungen, oder die Gestaltung des Steuertarifs. Umverteilt worden ist in der Geschichte der Bundesrepublik zweifellos viel, jedoch nicht jede Umverteilung war und ist am Gemeinwohl orientiert und nicht
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immer sind die wirklich Bedürftigen die Zielgruppe von Umverteilungen. Vor allem aber ist zunehmend aus dem Blick geraten, dass alles, was umverteilt wird, zuerst erwirtschaftet werden muss und hohe sozialstaatliche Leistungen ohne ausreichendes Wirtschaftswachstum an ihre Grenzen stoßen. Es stimmt immer noch: Nur mit viel Energie ist der Aufholprozess der ostdeutschen Länder gegenüber dem durchschnittlichen Entwicklungsniveau der westdeutschen Länder zu bewältigen. Dabei muss uns klar sein: Politik und Landesregierung können nur Rahmenbedingungen herstellen und Hilfe zur Selbsthilfe geben. Das Gelingen des Prozesses hängt in hohem Maße davon ab, ob es uns gelingt, den Menschen klar zu machen, dass niemand ihnen eine autonome Lebensplanung und die Entscheidung über die Verwendung ihrer knappen Lebenszeit abnehmen kann. Materielle Armut, – verstärkt durch soziale Ausgrenzung –, der Abstand zu den Chancen derer, die sich alles leisten können, ist in unserem reichen Land mit seiner Tradition von Sozialstaat (West) und Solidarität (Ost) schon schlimm genug. Die schlimmste Form von Armut jedoch, die mir allzu häufig begegnet, ist die Armut an Mut, Kraft und Perspektive. Als Sozial- und Arbeitsminister dieses Bundeslandes betrachte ich es als
Zur sozialen Lage in den neuen Bundesländern
eine meiner wichtigsten Aufgaben, dagegen etwas zu tun. Von innen betrachtet, relativiert sich so manche Klage meiner Kabinettkollegen über den unerträglichen Konsolidierungsdruck auf den Landeshaushalt. Ja, das Land Brandenburg ist arm. Und deshalb gehöre ich zu denen, die es für wichtig halten, jeden Landeseuro dreimal umzudrehen und ihn dann dort einzusetzen, wo er mutmaßlich für die Entwicklung dieses Gemeinwesens die größte Wirkung hat. Den Konsens darüber müssen wir innerhalb der Landesregierung stärken. Viele unken, das könne doch nicht funktionieren. Ich sage: Es muss; denn sonst leidet die Landesregierung auf Dauer und zunehmend an Armut hinsichtlich ihrer politischen Handlungsoptionen. Ich habe meine politische Lehre in der Nachwendezeit in der Kommunalpolitik absolviert. Die Armut der Kommunalhaushalte – auch wenn sie nicht
alle Brandenburgischen Kommunen gleichermaßen betrifft – bedrückt mich. Enge Spielräume der Kommunen bei der Ausgestaltung der Daseinsvorsorge: Das ist m.E. die relevante und bedrückende Schnittstelle zwischen öffentlicher und privater Armut. Wenn Kommunen ihren Aufgaben wegen Finanzknappheit nicht gerecht werden können, dann können sie Prozesse sozialer Ausgrenzung nicht aufhalten. Lebens- und Standortqualität sinken, weil die kommunalen Investitionen in Erhalt und Ausbau der wirtschaftsnahen und sozialen Infrastruktur zurückgehen. Wer kann, zieht weg, dahin wo es mehr und bessere Arbeitsplätze und mehr Lebensqualität gibt. Pro Einwohner hatten Ostkommunen 2002 nur 43 % der Steuereinnahmen einer durchschnittlichen Westkommune. Die wirtschaftliche Lage in Brandenburg ist unbefriedigend. Gefordert ist daher nicht nur die Marktwirtschaft, sondern auch eine aktive Wirtschaftspolitik.
Was heißt es, arm zu sein Wie stellt sich die Situation der Menschen im Land Brandenburg dar, welche Rolle spielt Armut? In einer reichen Gesellschaft – und das ist Deutschland nach wie vor – ist das Gesicht der Armut natürlich ein völlig anderes, als in Län-
dern der 3. Welt. Gleichwohl würde jeder Arme in Deutschland mit Recht einen solchen Vergleich für nicht akzeptabel halten. Nach der Definition des Rates der Europäischen Gemeinschaft von 1984 gelten Personen, Familien und
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Günter Baaske
Gruppen als arm, die über so geringe materielle, kulturelle und soziale Mittel verfügen, dass sie von der Lebensweise ausgeschlossen sind, die in dem Staat, in dem sie leben, als Minimum annehmbar ist. Nach dieser Definition ist die Verfügbarkeit von materiellen Ressourcen zwar ein zentraler Aspekt, jedoch wird Armut zu Recht als Ausdruck einer komplexen Lebenslage angesehen. Armut ist ebenso wie Reichtum eine relative Größe, die an einem Durchschnittswert des verfügbaren Einkommens gemessen wird. Von relativer Armut spricht man, wenn das Einkommen 60 % bzw. 50 % des Durchschnittseinkommens unterschreitet. Bei einem verfügbaren Einkommen von weniger als 40 % des Durchschnittseinkommens beginnt die strenge Armut. Legt man das durchschnittliche Nettoeinkommen in den neuen Bundesländern als Maßstab an, dann gelten – je nach Berechnungsart – auf dem 60 % Niveau 7,9 %11,9 % als relativ arm, auf dem 50 % Niveau 2,8 %-4,8 % (Daten 1998 – 1. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung 2001). In den alten Bundesländern, gemessen am durchschnittlichen westdeutschen Nettoeinkommen liegen die Armutsquoten deutlich höher. Das mittlere Nettoeinkommen in Ostdeutschland betrug 1998 ca. 75 % des westdeutschen – mit einer Tendenz
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zur Vergrößerung des Abstands. Es soll an dieser Stelle aber darauf hingewiesen werden, dass das Bruttoinlandsprodukt pro Einwohner im Land Brandenburg im Jahr 2001 lediglich 65 % des gesamtdeutschen Wertes betrug. Allein daran wird deutlich, in welch starkem Maße die Einkommen von Transfers von West nach Ost abhängen. Hinsichtlich des Nettovermögens ist der Abstand der neuen Bundesländer noch unvergleichlich größer – das durchschnittliche Vermögen der Haushalte in den neuen Bundesländern belief sich 1998 lediglich auf 35 % des Betrages in den alten Bundesländern, und damit haben viele Menschen deutlich weniger oder keine Möglichkeiten, Einkommensausfälle aus Vermögen zu kompensieren. Aufgrund der anhaltend hohen Arbeitslosigkeit in den neuen Bundesländern und eines wachsenden Niedriglohnsektors sind die Unterschiede beim Bruttoeinkommen von Arbeitnehmern und Selbständigen („Markteinkommen)“ zwar deutlich größer als in Westdeutschland, durch die einfließenden Transferleistungen ist aber das, was der Einzelne schließlich in der Tasche hat, gleichmäßiger verteilt als in den alten Bundesländern. Nach den Brandenburgischen Sozialindikatoren verfügten im Jahr 2000 3,9 % der Haushalte über ein Nettoeinkommen von unter 511 Euro, wobei der Anteil mit
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4,2 % im äußeren Entwicklungsraum deutlich höher lag als im engeren Verflechtungsraum mit 3,4 %. Festzuhalten ist, dass das Niveau relativer Armut in den neuen Bundesländern gegenüber dem Bundesdurchschnitt seit 1993 gesunken ist, d.h. es hat ein Aufholen stattgefunden. Allerdings ist auch festzustellen, dass der ausgleichende Effekt des Umverteilungssystems zugunsten des unteren Randes der Gesellschaft schwächer wird – die anhaltende Arbeitslosigkeit bei gleichzeitig sinkenden Maßnahmen der aktiven Arbeitsmarktförderung ist hierfür sicher eine Ursache. Die Chancen von ArbeitnehmerInnen und Selbständigen, aus der untersten Primäreinkommensklasse in die nächst höhere aufzusteigen, sind gut, wenn auch mit sinkender Tendenz – die Mobilität lag 1998 bei 88,3 % , 4 % niedriger als 1993. Wenn man relative Armut am Bezug von Hilfe zum Lebensunterhalt nach BSHG festmacht, so ist die Zahl der Empfänger von 1994 bis 2001 gestiegen – mit Sprüngen jeweils 1996/1997 (wirtschaftlicher Einbruch in den neuen Bundesländern) und 2000/2001 (Herunterfahren der öffentlich geförderten Beschäftigung). Im Jahr 2001 bezogen 2,5 % der BrandenburgerInnen Hilfe zum Lebensunterhalt, Damit lag die Quote in Brandenburg unter der der neuen Bundesländer insgesamt (2,8 %)
als auch unter der Quote der alten Bundesländer (3,4 %). Die Entwicklungstrends laufen jedoch in die entgegen gesetzte Richtung – während in den alten Bundesländern die Sozialhilfequote sinkt, steigt sie in den neuen Bundesländern an, mit entsprechenden Konsequenzen für die kommunalen Haushalte und letztlich die Handlungsfähigkeit der Kommunen. Die Ausgaben der örtlichen Träger der Sozialhilfe für Hilfe zum Lebensunterhalt insgesamt sind von 117,4 Mio. Euro in 1994 auf 456,9 Mio. Euro in 2001 angestiegen, d.h. von 46 auf 176 Euro pro Kopf der Bevölkerung. Allerdings weisen auch die Bezieher von Hilfe zum Lebensunterhalt eine vergleichsweise hohe Mobilität auf – ca. 50 % der Arbeitslosen, die ergänzend Sozialhilfe bezogen, benötigten diese weniger als ein Jahr, weitere 35 % bezogen Sozialhilfe zwischen einem und drei Jahren. Die letztlich problematische Gruppe sind die 15 %, die 3 Jahre und länger in der Sozialhilfe verbleiben und deren Chancen, wieder auf eigenen Füßen zu stehen, damit drastisch sinken. Das eigentlich alarmierende ist jedoch, dass im Land Brandenburg inzwischen 5,2 % aller Kinder und Jugendlichen unter 15 Jahren von Sozialhilfe abhängig sind. Ein Drittel aller Sozialhilfeempfänger sind Kinder. 2001 betraf dies 21.120 Kinder und Jugendliche, knapp 6.000 mehr als 1994. in
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besonders hohem Maße sind Alleinerziehende Mütter von Sozialhilfe abhängig. Ihre Zahl wuchs in Brandenburg im gleichen Zeitraum von 5.553 auf 8.562 an. Demgegenüber beträgt die Sozialhilfequote bei den 15-65-Jährigen 2,0 % und bei den über 65-Jährigen lediglich 0,46 % (zum Vergleich: 1,36 % in den alten Bundesländern). Der eigentliche gesellschaftliche Skandal der Sozialhilfe sind somit die Kinder. Über einen längeren Zeitraum oder dauerhaft von Sozialhilfe leben zu müssen, schafft einerseits ein Gefühl des Ausgeschlossenseins vom Leben der Allgemeinheit, bringt andererseits auch den Zwang (und die Versuchung) mit sich, sich darin einzurichten. Insbesondere in den größeren Städten entstehen entsprechende „Sozialhilfemilieus“. Im Hinblick auf erwachsene arbeitsfähige Sozialhilfeempfänger und Langzeitarbeitslose hat sich inzwischen die Erkenntnis durchgesetzt, dass Sozialhilfeleistungen allein zur Verbesserung ihrer Chancen, auf eigenen Füßen zu stehen, wenig beitragen – eben wegen der materielle Armut oft begleitenden kulturellen und sozialen Armut. Fördern und rechtzeitig Fordern ist unerlässlich, damit keine dauerhafte Abhängigkeit von Sozialleistungen entsteht. Für Kinder und Jugendliche verhält sich dies ähnlich. Eine der wichtigsten Aufgaben sozialdemokratischer Politik sollte es sein, für diese Kin-
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der mehr Chancengleichheit und damit auch mehr Gerechtigkeit zu schaffen. Nach der PISA-Studie ist von allen 32 Teilnehmerstaaten das deutsche Bildungssystem am wenigsten geeignet, für sozialen Ausgleich zu sorgen. Das ist nicht nur ungerecht, sondern auch eine Verschleuderung von potenziellem Humankapital, das wir uns angesichts unserer demographischen Entwicklung weniger denn je leisten können. Wirtschaftliches Wachstum hängt ganz entscheidend von der Qualifikation, der Bereitschaft zur Fortbildung und dem Leistungswillen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ab. Dies muss rechtzeitig gelernt werden. Insofern muss bereits die Vorschulerziehung gerade für die Kinder, bei denen im Elternhaus nicht die Voraussetzungen dafür bestehen, den Grundstein für mehr Chancengleichheit legen. Die materiellen Voraussetzungen sind in den neuen Bundesländern, wo für faktisch jedes Kind ein Kita-Platz bereitsteht, deutlich besser als in den alten. Wir müssen sie jedoch dafür qualifizieren, sich zu aktiven Einrichtungen des sozialen Ausgleichs für Kinder zu entwickeln. Eine gute Nachricht gibt es: Keine Altersgruppe in den neuen Bundesländern hat eine so geringe Sozialhilfedichte wie die der Seniorinnen und Senioren (s.o.) In Brandenburg bezogen Ende 2000 lediglich 1.846 über 65-
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Jährige Hilfe zum Lebensunterhalt. Diese geringe Zahl ist auf die vergleichsweise hohen Renteneinkommen auf Grund durchgängiger Erwerbsbiografien der Seniorinnen und Senioren zurückzuführen. In den neuen Ländern verfügten im Jahr 1995 bei den über 65-Jährigen die Ehepaare über ein monatliches Nettoeinkommen von durchschnittlich 3.097,– DM. Das der allein stehenden Männer belief sich auf 1.992,– DM und der allein stehenden Frauen auf 1.779,– DM. Die durchschnittlich verfügbaren Versichertenrenten, d.h. die tatsächlich ausbezahlten Renten, in den neuen Ländern lagen zum 1.Juli 2002 sowohl bei den Männern mit rund 1.028 Euro als auch bei den Frauen mit rund 642 Euro über den in den alten Ländern mit rund 986 Euro für Männer und rund 476 Euro für Frauen. Die Einkommenssituation älterer Menschen in den neuen Ländern wird wesentlich von der Rentenzahlung aus der gesetzlichen Rentenversicherung bestimmt, da diese nahezu die einzige Einkommensquelle ist, während in den alten Ländern betriebliche Altersversorgung, längerfristige Zusatzversorgung im öffentlichen Dienst und Beamtenversorgung sowie private Lebensversicherungen die Renteneinkünfte noch ergänzen oder gar ersetzen. Für die Menschen in den neuen Ländern wird die Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung auch
in den nächsten 25 Jahren nahezu die einzige Einkommensquelle bleiben. Für die Zukunft wird insbesondere in den neuen Ländern durch Brüche in den Erwerbsbiografien oder langfristige Folgen der Arbeitslosigkeit mit zunehmender Altersarmut gerechnet. Allerdings zeigt eine vom Verband Deutscher Rentenversicherungsträger und dem damaligen Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung in Auftrag gegebene Untersuchung „Altersvorsorge in Deutschland 1998 – AVID ‘98“, dass es auch bei den heute 40-60-Jährigen nicht zu einer überproportionalen Armut kommen wird. Dies muss auch nicht geschehen, wenn die Politik den Spielraum – den sie noch hat – vernünftig nutzt und die Alterssicherungssysteme auf die – vor allem demografischen – Herausforderungen der Zukunft ausrichtet. Der Altersquotient – das Verhältnis der Gruppe der über 60-Jährigen zur Gruppe der 20 bis unter 60-Jährigen und damit in etwa das Verhältnis von Personen im Rentenalter zu Personen im erwerbsfähigen Alter – wird in Brandenburg im Jahr 2050 bei 97,5 liegen und damit im Bundesvergleich am ungünstigsten sein. Auf eine Person im erwerbsfähigen Alter wird dann ungefähr eine Person ab 60 Jahren kommen (prognostizierter Bundesdurchschnitt des Altersquotienten: 68,0).
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Ohne eine grundlegende Reform der Alterssicherung könnte hier eine Zeitbombe ticken. Für die neuen Länder sind bei den Überlegungen zur Neujustierung der Altersvorsorge wegen dieser (bevölkerungs-)strukturellen Unterschiede folgende Aspekte wichtig: Es ist richtig, an der umlagefinanzierten Rentenversicherung als wesentlicher Säule der Altersvorsorge festzuhalten, da sie sich im Grundsatz – und bei ihrer Überleitung auf die neuen Länder gerade auch dort – bewährt hat. Sie muss jedoch den demografischen Veränderungen angepasst werden. Dazu muss gehören, das tatsächliche Renteneintrittsalter heraufzusetzen. Es müssen dann jedoch auf dem Arbeitsmarkt die Voraussetzungen geschaffen werden, ältere Arbeitnehmer auch zu beschäftigen. Das bedeutet eine Umkehr des derzeitigen Trends. Dazu wird weiter gehören, das Versicherungsprinzip den gebrochenen Erwerbsbiografien anzupassen. Erste Schritte wurden bereits getan, geringfügige Beschäftigung und arbeitnehmerähnliche Selbständigkeit sind versicherungspflichtig geworden. Im Zusammenhang mit den aktuellen Überlegungen zur Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe wird diskutiert, inwieweit aus den künftigen Leistungen auch Beiträge zur Altersvorsorge entrichtet
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werden, um Lücken in den Erwerbsbiografien zu vermeiden. Gerade für die neuen Länder ist dies ein wichtiger Aspekt. Die in den alten Bundesländern neben der umlagefinanzierten gesetzlichen Rentenversicherung schon weiter verbreiteten zusätzlichen Formen der Altersvorsorge, wie betriebliche Altersvorsorgesysteme und die private Altersvorsorge, müssen in Umfang und Bedeutung ausgebaut werden. Mit der „Riesterrente“ wurde bereits ein erster wichtiger Schritt in diese Richtung getan. Die Kommission für die Nachhaltigkeit in der Finanzierung der Sozialen Sicherungssysteme hat zur Weiterentwicklung dieser Instrumente diskussionswürdige Anstöße gegeben. Aber auch hier es die wichtigste Aufgabe der Politik, die Rahmenbedingungen für wirtschaftliches Wachstum zu verbessern, für mehr Beschäftigung zu sorgen und damit den Menschen zu ermöglichen, ein Einkommen zu erzielen, aus dem sie ihren Vorsorgebeitrag leisten können. Je mehr Menschen erwerbstätig sind und daraus ein auskömmliches Einkommen beziehen, desto mehr Menschen werden auch mit ihren Beiträgen – in umlagefinanzierten wie in kapitalbildenden Systemen – zur Altersvorsorge beitragen. Hier liegt in den neuen Ländern mit ihrer hohen Erwerbslosenquote ein
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großes Stück Arbeit vor uns. Nur wenn es gelingt, die Weichen richtig zu stellen und die Altersvorsorgesysteme so umzustrukturieren, dass sie den Herausforderungen der Zukunft gewachsen sind, dann wird den Menschen auch künftig eine auskömmliche Altersversorgung gewährleistet sein.
Altersarmut wird – wie heute – eine Ausnahmeerscheinung bleiben und die zusammen mit der Riesterrente eingeführte soziale Grundsicherung wird nicht zum Regelfall, sondern nur in Ausnahmefällen zur wirtschaftlichen Sicherung des Lebensabends in Anspruch genommen werden müssen.
Der Niedriglohnsektor Wesentliche Auswirkungen auf die soziale Lage in den neuen Bundesländern hat neben der Massenarbeitslosigkeit der wachsende Niedriglohnsektor. Niedrige Löhne, das zeigt das in Brandenburg mit geringem Erfolg durchgeführte soziale Experiment „Mainzer Modell“, schaffen weder hier noch in anderen Regionen der Republik zusätzliche Arbeitsplätze; zudem ist die Lohnspreizung nach unten ja bereits erheblich. Hier fehlt nicht nur arbeitsmarktpolitische und ökonomische Logik. Wenn man denn für mehr Akzeptanz von niedrigen Einstiegslöhnen sorgen wollte, dann müsste man den Menschen auch aufzeigen können, wie sie sich durch Kompetenz und Engagement Stück für Stück hocharbeiten
können. Dafür fehlen uns – gerade den auf Solidarität getrimmten Ossis – die Tellerwäscher-Gene und der Politik die Konzepte. Dass ein nicht unerheblicher Teil der Gesellschaft zu geringen Verdiensten arbeitet, ist dann erträglich, wenn die Chance des Durch- und Aufstiegs besteht. (Die Debatte um die working poor in USA zeigt übrigens deutlich, dass in der Heimat der Tellerwäscher die Aufstiegschancen längst ein Gründerväter-Mythos geworden sind.) Die durchaus vorhandene, aber noch nicht ausreichende Förderung individueller Berufskarrieren stößt auf ihre Grenzen da, wo statusbewusste Chancenreiche ihre Position gegenüber Newcomern verteidigen.
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Qualifizierung und Arbeit Mit unserer qualifizierten Berufsausbildung im dualen System vermitteln wir nicht nur Kenntnisse und Fertigkeiten. Wir vermitteln auch die Identifikation junger Menschen mit qualifizierten Berufsbildern, ein berufsbezogenes Selbstbewusstsein und Ansprüche an den zukünftigen ausbildungsadäquaten Arbeitseinsatz, die wir hier im Land allzu oft enttäuschen müssen. Alternativen zur Abwanderung müssen wir bieten. Wir erproben gegenwärtig in Modellen, auf welche Weise dies möglich ist. Mit unserer wirtschaftsnah ausgerichteten Arbeitsmarktpolitik sind wir in Brandenburg nach wie vor auf dem richtigen Weg. Wir investieren damit in Köpfe, nicht Maschinen. Und es gelingt zunehmend, Unternehmer davon zu überzeugen, dass nicht eine Minimierung des Personaleinsatzes und/oder der Lohnsumme die längerfristige Existenz der Unternehmen sichert, sondern ein umsichtiges, flexibel auf Markterfordernisse reagierendes und strategisch planendes Management und gut qualifizierte Belegschaften. Das ist ein wichtiger und – wie ich von Rückmeldungen von Unternehmern weiß – funktionierender Beitrag zum Wirtschaftswachstum in Brandenburg. Klar, es tut weh, wenn nicht nur das
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scheue Reh des Kapitals anderswo weiden geht, sondern auch unsere Fachkräfte ihre Chancen woanders realisieren, gleichwohl ist eine leistungsfähige Bildungs- und Ausbildungslandschaft ein wirtschaftliches Pfund, mit dem wir wuchern können, wenn denn der Dialog zwischen den für Bildung und Ausbildung zuständigen Institutionen und Trägern mit den Qualifikationen nachfragenden Unternehmen klappt. Dies ist eins meiner wichtigen politischen Handlungsfelder. Für mehr Beschäftigung in Brandenburg brauchen wir nicht nur eine erfolgreiche(re) Wirtschaftspolitik, sondern auch funktionierende Arbeitsmärkte. Dank „Hartz“ steht die Bundesanstalt für Arbeit in dieser Hinsicht unter einem erheblichen Erfolgsdruck. Schneller und passgenauer vermitteln, latente Personalbedarfe aufspüren, durch reduzierte Einstellungsrisiken und im Regelfall möglichst ohne Lohnkostenzuschüsse die Einstellungsbereitschaft der Arbeitgeber erhöhen: dass auf diesem Gebiet zentrale Dienstleistungsaufgaben der Bundesanstalt für Arbeit liegen, wurde zu lange ignoriert. Für die Neuausrichtung der BA muss auch die Landespolitik Akzeptanz schaffen. Gleichzeitig ist die Landesarbeitsmarktpolitik – in Kooperation mit anderen Ressorts –
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weiterhin Partner der Arbeitsämter in der Ausrichtung aktiver Arbeitsförderung und Qualifizierungspolitik auf Zielgruppen, auf die Entwicklung und den Erhalt sozialer und wirtschaftsnaher Infrastruktur. Es nicht zu übersehen: Der Arbeitsmarkt hier im Osten – und nicht nur hier – ist in Unordnung geraten. Viele Menschen erzielen Einkommen, indem sie ihre Arbeitskraft schwarz vermarkten. Sie handeln wie Unternehmer und Unternehmerinnen, trauen sich aber eine richtige Existenzgründung offenbar nicht zu. Der vermutliche Umfang der Schwarzarbeit birgt enormen wirtschaftlichen und sozialen Sprengstoff und berührt natürlich auch die Leistungsfähigkeit der sozialen Sicherungssysteme. Das Risiko erwischt zu werden als Anbieter und als Kunde muss steigen und wir müssen nicht nur die Hürden für Gründerinnen und Gründer, die den Marktzugang erschweren, absenken, sondern Existenzgründungen aktiv fördern. Die „Ich-AG“ ist ein guter Ansatz. Den grundsätzlich richtigen Prozess der Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe begleite ich nicht ohne Sorge. Richtig ist, das System in Richtung auf mehr Gerechtigkeit und Effizienz zu reformieren. Problematisch ist auch hier wieder, dass wir die Reform unter hohem Einspardruck durchführen. Wir reduzieren die – in der Summe
erheblichen, aber im Einzelfall geringen Transfereinkommen von erklärtermaßen „Bedürftigen“ und realisieren Kaufkraftverluste überproportional in den wirtschaftlich schwachen ostdeutschen Ländern. Da muss die Frage zulässig sein, wie die Einsparung verwendet wird. Damit mehr Beschäftigungsangebote für Langzeitarbeitslose entstehen, brauchen wir Wirtschaftswachstum und erweiterte finanzielle Handlungsspielräume unserer Kommunen. Wenn die Einsparungen an Sozialhilfe bei den Kommunen verbleiben und hier eine zusätzliche investive Nachfrage auslösen, scheint es mir vertretbar. Richtig an der Reform von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe ist, dass wir Ansprüche an die Allgemeinheit – an die Solidargemeinschaft der Arbeitslosenversicherung ebenso wie an die Gemeinschaft der Steuerzahlenden – neu orientieren. Bislang reichte für arbeitsfähige Erwerbslose die abstrakte Verfügbarkeit für den Arbeitsmarkt. Zukünftig gibt es keine Leistung mehr ohne eine angemessene Gegenleistung. Es wird vielerlei Gelegenheiten geben, dass Erwerbsfähige ihre Arbeitsbereitschaft unter Beweis stellen. Wir müssen ihnen – insbesondere durch eine vernünftige kommunale Beschäftigungsförderung – die Möglichkeit geben, sinnvolle Beiträge zum Gemeinwohl zu leisten.
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Steuerreform – Erhöhung der wirksamen Nachfrage Ich lehne es grundsätzlich ab, ökonomische Effizienz und soziale Gerechtigkeit als zwei sich ausschließende Prinzipien zu betrachten. Allerdings fallen sie auch nicht automatisch zusammen, es bedarf der Ausgestaltung. Die laufende Steuerreform bietet ein anschauliches Beispiel dafür. Da unsere Steuertarife progressiv gestaltet sind, korrigieren sie natürlich teilweise die primäre Einkommensverteilung: 54 % der gesamten Lohn- und Einkommenssteuer werden von den obersten 10 % der Einkommensempfänger aufgebracht. Die bisherigen Schritte der Steuerreform haben über 70 Ausnahmeregelungen und Vergünstigungen gestrichen oder eingeschränkt, die überwiegend Spitzeneinkommen begünstigt hatten. Die unmittelbaren Entlastungseffekte für die Privaten wurden allerdings teilweise kompensiert durch Erhöhungen der Sozialabgaben. Auch von daher sind Reformen der Sozialsysteme notwendig, damit weitere Steuerentlastungen möglichst uneingeschränkt durchschlagen. Die nächsten Stufen der Steuerreform werden in erster Linie unter kon-
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junkturpolitischen Aspekten diskutiert, nämlich als Ankurbelung der lahmenden Binnennachfrage, die durch das Gesamtvolumen von etwa 25 Milliarden € wohl in der Tat einen kräftigen Schub bekommen wird. Erfreulicher Weise fallen hier auch noch ökonomische Wirkung und soziale Gerechtigkeit zusammen: sowohl die Senkung des Eingangssteuersatzes von heute 19,9 % auf das historische Tief von 15 %, als auch die Anhebung des Grundfreibetrages von 7235 auf 7664 € betreffen niedrige Einkommen, die ihr gesamtes Einkommen konsumieren müssen. Die prozentuale Entlastung ist bei geringen Einkommen am größten. Die ebenfalls vorgesehene Senkung des Spitzensteuersatzes ist auch konjunkturpolitisch suboptimal, da hohe Einkommen nicht nur für Konsum, sondern auch für Ersparnis verwendet werden, eine zusätzliche Steuerentlastung hier also wohl eher zu einer Erhöhung der Sparquote führt. Überdies ist eine zu starke Umverteilung vom Staat zu den privaten Haushalten problematisch. Nur der Reiche kann sich einen armen Staat leisten!
Zur sozialen Lage in den neuen Bundesländern
Zusammenfassung Armut ist kein gottgewolltes Schicksal, wir können und wollen etwas dagegen tun. Aus meiner Sicht geht es dabei hauptsächlich um 3 Punkte:
Der beste Schutz vor Armut ist Erwerbsarbeit. Dem brandenburgischen Arbeitsminister muss niemand erzählen, wie mühsam das ist. Ich bleibe trotzdem dran. Wir müssen unsere sozialen Sicherungssysteme zukunftsund armutsfest machen. Da haben wir m.E. die ersten Schritte auf einem richtigen Weg getan, aber der schwierigere Teil der Strecke liegt noch vor uns.
Wir werden unser Handeln auch künftig unter den Leitstern „soziale Gerechtigkeit“ stellen und wissen dabei, dass soziale Gerechtigkeit heute vielfach differenziert ist: zwischen Reichen und Armen, zwischen Arbeitsplatzbesitzern und Arbeitslosen, zwischen Frauen und Männern, zwischen Alten und Jungen; und das betrachtet nur die nationale Dimension. Die Frage, ob und wie wir diese Pole zusammenbringen, entscheidet wesentlich über unsere Zukunftsfähigkeit. Damit meine ich zwar zunächst die neuen Bundesländer, aber das wirkt natürlich auch in Richtung alte Bundesländer.
Günter Baaske, Minister für Arbeit, Soziales, Gesundheit und Frauen in Brandenburg.
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Sozialdemokratische Reformpolitik in Europa 1 von Christoph Egle, Christian Henkes, Tobias Ostheim und Alexander Petring
1. Einleitung Der vorliegende Beitrag geht der Frage nach, ob und inwieweit die sozialdemokratischen Parteien in Dänemark, Deutschland, Frankreich, Großbritannien, den Niederlanden und Schweden ihre Programmatik und Regierungspolitik in den 90er Jahren neu zu bestimmen gesucht haben. Im Fokus der Untersuchung stehen die Politikfelder Fiskal-, Sozialund Arbeitsmarktpolitik, in denen aufgrund der Herausforderungen der Globalisierung und der Europäischen Integration die traditionellen Ziele der Sozialdemokratie wie Umverteilung, kollektiv organisierter Sozialschutz und Vollbeschäftigung unter Druck geraten. Findet länderübergreifend ein Kurswechsel sozialdemokratischer Politik statt, der darauf gerichtet ist, durch einen Abbau staatlicher
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Leistungen und den Rückgang staatlicher Interventionen die Marktkräfte zu stärken? Haben die Sozialdemokratien trotz unterschiedlicher Bedingungen vergleichbare Antworten gegeben? Lässt sich eine gemeinsame Politik der Markorientierung mit ähnlichen Politikinstrumenten erkennen? Untersucht werden zum einen die Inhalte der jeweils umgesetzten Politik, zum anderen die Strategie, mit der sozialdemokratische Regierungen diese Politik durchzusetzen versuchten. Am Ende des Beitrages werden Konvergenz und Divergenz sozialdemokratischer Reformpolitik aufgezeigt und erklärt, warum die sechs Länder auf dem Weg von wirtschafts- und sozialpolitischen Reformen so unterschiedlich weit vorangekommen sind.
Der Beitrag basiert auf bisherigen Ergebnissen des an der Universität Heidelberg durchgeführten DFG-Forschungsprojektes „Sozialdemokratische Antworten auf integrierte Märkte – Dritte Wege im westeuropäischen Vergleich“ unter der Leitung von Prof. Wolfgang Merkel (http://www.dritte-wege.uni-hd.de).
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Christoph Egle, Christian Henkes, Tobias Ostheim und Alexander Petring
2. Programmatik und Politik sozialdemokratischer Parteien in sechs Ländern 2.1 Großbritannien (ab 1997) Vor der Regierungsübernahme hatte Labour einen weiten programmatischen Reformweg zurückgelegt. Dieser radikale Reformprozess hin zu einem ideologiefreien Pragmatismus unter den Parteiführern Kinnock, Smith und schließlich Tony Blair fand 1995 seinen symbolischen Endpunkt mit der Neu2 formulierung der Clause IV. Eines der Kernthemen im Wahlkampf 1997 war die Steuer- und Haushaltspolitik. Die Haushaltskonsolidierung spielte eine dominierende Rolle, verbunden mit dem Versprechen, zu diesem Zweck nicht auf Steuererhöhungen zurückzugreifen. New Labour hatte sich für die ersten beiden Jahre an die Haushaltspläne der konservativen Vorgängerregierung gebunden und setzte die Konsolidierung konsequent 3 4 um. Steuerliche Entlastungen wurden durch die Abschaffung von Steuervergünstigungen sowie die Erhöhung indirekter Steuern gegenfinanziert (u.a. durch die Erhöhung der Mineralölsteuer und die Einführung einer Energiesteuer für Unternehmen). Für die 2 3 4
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zweite Legislaturperiode wurde die Fortführung dieser Haushaltspolitik angekündigt. Darüber hinaus sollten neue Steuergutschriften für Familien mit Kindern eingeführt und die untere Bemessungsgrenze der Einkommensteuer ausgeweitet werden, ohne den mittleren und oberen Einkommensteuertarif anzuheben. In der Sozialpolitik von New Labour wurde die Bedeutung „sozialer Gerechtigkeit“ mit der Inklusion in den Arbeitsmarkt inhaltlich neu bestimmt. Äußerungen zum Gesundheits- und Rentensystem blieben im Wahlprogramm 1997 hingegen relativ vage. Erst 1999 wurden aufgrund des Medienechos auf eine Grippeepidemie Teile eines im Dezember 1997 veröffentlichten Gesetzesentwurfes zum National Health Service (NHS) umgesetzt. Von den Tories eingeführte Wettbewerbselemente wurden durch kooperative Gremien ersetzt, privatwirtschaftliche Managementstrukturen ausgebaut und zusätzliche Mittel bereitgestellt, die an die Erfüllung neuer nationaler Qualitäts- und Effizienzstandards ge-
In diesem Artikel des Parteiprogramms wurde bis dahin die Verstaatlichung der Produktionsmittel zum Ziel erklärt. Die Staatsverschuldung sank von 58,9% des BIP im Jahr 1997 um über 10 Prozentpunkte auf geschätzte 46,9% im Jahr 2001 (OECD 2000). Entlastet wurden Geringverdiener, vor allem Familien mit niedrigen Einkommen und kleine und mittelständische Unternehmen. U.a. wurde der Einstiegssatz der Einkommensteuer gesenkt und Einkommensbeihilfen in negative Steuern umgewandelt.
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bunden wurden. Finanziert wurde das Maßnahmenpaket durch eine Erhöhung der Sozialabgaben und durch das Einfrieren geplanter Steuersenkungen. Die staatliche Rentenversicherung sollte als Grundversicherung beibehalten und die Bezieher niedriger Renten besser gestellt werden. Insgesamt wurden die Anreize, eine private oder betriebliche Rentenversicherung abzuschließen („Contracting out“) weiter gestärkt. Die Entwicklungslinien des britischen Rentenmarktes sind in ihren Grundzügen von New Labour fortgeführt worden, allerdings mit einigen Verbesserungen für die Bezieher der Niedrigstrente (Disney et al. 2001; Ward 2002). Die arbeitsmarktpolitischen Ankündigungen im Wahlprogramm 1997 waren umfangreich und detailliert. Den Kern bildete das Welfare to WorkProgramm, das sich vor allem an arbeitslose Jugendliche und Alleinerziehende sowie an Langzeitarbeitslose 6 richtete. Weiterhin sprach sich die Partei für die Einführung eines Mindestlohnes aus und setzte eine Kom5
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mission (LPC, Low Pay Commission) ein, die den 1999 in Kraft getretenen Vorschlag dazu erarbeitete. Die Ankündigung des Ausbaus der Arbeitnehmerrechte erschöpfte sich im Employ7 ment Relations Act 1999 , der auf die EU-Sozialcharta zurückzuführen ist. Die New Deals und weitere Programme der aktiven Arbeitsmarktpolitik wurden wie angekündigt in der zweiten Legislaturperiode weitergeführt, ebenso wir die mittlerweile durchgeführte Zusammenlegung der Arbeits- und Sozialämter in sogenannte JobCenter Plus. Die britische Mehrheitsdemokratie kennt neben der Regierung keine relevanten institutionellen Vetospieler. Die Regierung Blair hat keine Versuche unternommen, den Einfluss bi- oder tripartistischer Gremien zu stärken. Die rechtlichen Rahmenbedingungen der Gewerkschaften wurden wie angekündigt im Wesentlichen beibehalten („fairness, not favours“). Die sensible Frage der Anerkennung der Gewerkschaft als Verhandlungspartner in Unternehmen wurde durch einen Kom-
Im Wahlprogramm 2001 findet sich ein 10-Jahres-Plan: Bis 2005 sollen 10.000 neue Ärzte und 20.000 zusätzliche Krankenschwestern eingestellt werden, 7.000 zusätzliche Krankenhausplätze entstehen, dezentrale Entscheidungsstrukturen gestärkt, nationale Qualitätsstandards und weitere Public Private Partnerships geschaffen sowie zusätzliche staatliche Investitionen in Höhe von sieben Milliarden Pfund bereitgestellt werden. Die New Deals bestehen aus unterschiedlichen Angeboten der Aus- oder Weiterbildung, subventionierter Beschäftigung oder Arbeit bei einer kommunalen gemeinnützigen Einrichtung oder einer Umweltorganisation. Begleitet werden die Programme von einer intensiven Beratung. Arbeitslosen, die keine der Optionen wahrnehmen, wird die Arbeitslosenunterstützung gekürzt. Finanziert wurden die New Deals durch die sogenannte Windfall Tax, eine Steuer auf Gewinne privatisierter Energieversorgungsunternehmen. Beschränkung der durchschnittlichen Wochenarbeitszeit auf 48 Stunden, Ausweitung des bezahlten Mutterschaftsurlaubs, Rechtsanspruch auf den vorhergehenden Arbeitsplatz nach Erziehungsurlaub sowie höhere Obergrenzen für Entschädigungszahlungen im Falle einer Kündigung.
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promiss gelöst. In diesem Zusammenhang ist die Ausgangssituation im Vergleich zu den anderen untersuchten Ländern besonders wichtig. Auch wenn viele Maßnahmen der Labour-Regierung dekommodifizierenden Charakter besitzen, hat sich der grundlegende Charakter des britischen Systems unter Tony Blair nicht verändert: Die Finanz-, Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik von New Labour besitzt die im europäischen Vergleich liberalste Ausrichtung.
2.2 Niederlande (1994-2002) Die Koalition mit Rechts- und Linksliberalen unter Wim Kok konnte ab 1994 auf dem eingeschlagenen Reformpfad der christdemokratisch geführten Koalitionsregierungen der 80er Jahre und der Großen Koalition von CDA und PvdA von 1989 bis 1994 aufbauen (Visser und Hemerijck 1998). Programmatisch hat sich die PvdA aufgrund des Widerstandes des gewerkschaftlichen Flügels bis heute nicht neu positioniert, auch wenn die Programmdebatte durch die Wahlniederlage 2002 erneut an Brisanz gewann. Ausgehend von hohen Defiziten und hoher Staatsverschuldung wurde in 8
der Haushaltspolitik seit 1994 ein konsequenter Konsolidierungskurs über die gesamten zwei Legislaturperioden 9 verfolgt. Durch die Einführung der Ökosteuer konnten 1996 Senkungen direkter Steuern durchgeführt werden, vor allem der Niedriglohnbereich wurde steuerlich entlastet. Von 1995 bis 1998 sank der Anteil der Steuern am BIP um 2,7 Prozentpunkte, der Anteil der Staatsausgaben am BIP sank im gleichen Zeitraum um 5 Prozentpunkte (OECD 1998: 49). Diese Politik wurde auch in der Legislaturperiode 1998-2002 fortgesetzt. Die Steuerreform 2001 brachte eine Gesamtentlastung in Höhe von 2,3 Milliarden Euro mit sich. Gesenkt wurden hauptsächlich die Einkommensteuertarife und die Lohnnebenkosten, im Gegenzug wurden die Ökosteuer und die Mehr10 wertsteuer erhöht. In der Sozialpolitik hat es in den 90er Jahren eine Reihe von Reformen gegeben. Zwischen 1994 und 1996 wurde die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall privatisiert. Das Krankengeld wird seither von den Arbeitgebern getragen, die Lohnfortzahlung wurde von 75% auf 70% reduziert. Ähnliche Regelungen
Eine Gewerkschaft muss in den Fällen anerkannt werden, wenn im Unternehmen 50% Gewerkschaftsmitglieder sind oder 40% der Arbeitnehmer für die Anerkennung stimmen. Betrug das durchschnittliche Haushaltsdefizit von 1990-1994 noch 4,2% des BIP, so sank es von 1995-2000 auf durchschnittlich 1,5% des BIP. 10 Die Mehrwertsteuer wurde von 17,5% auf 19% erhöht. Die Einkommensteuerreform 2001 sieht eine Differenzierung hinsichtlich unterschiedlicher Einkommensarten vor (Arbeitseinkommen und Mieten werden progressiv besteuert, Einkommen aus Unternehmensbeteiligungen pauschal mit 25%, Zinseinkünfte mit 30%). Die Vermögenssteuer wurde abgeschafft. Neben Steuererleichterungen wurde vor allem eine Vereinfachung des alten Systems angestrebt. 9
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traten 1997 und 1998 für die Erwerbsunfähigkeitsversicherung in Kraft. Die angestrebte Internalisierung der Kosten sollte den Missbrauch der Erwerbsunfähigkeitsrente eindämmen. 1995 wurden die Anspruchs- und Zumutbarkeitskriterien im Arbeitslosenversicherungsgesetz deutlich verschärft (Cox 1998; OECD 1998, 2000a). Ab 1996 sind nur noch Alleinerziehende mit Kindern unter fünf Jahren von der Pflicht zur aktiven Beschäftigungssuche ausgenommen, für Sozialhilfeempfänger werden Reintegrationspläne erstellt und bei Ablehnung der Aus- oder Weiterbildungsmaßnahmen erfolgt die Kürzung von Transferleistungen. Diese Maßnahmen wurden von wichtigen Strukturreformen begleitet. Zwischen 1994 und 2000 wurden die bipartistischen Aufsichtsgremien der Sozialversicherungen durch unabhängige Kontrollgremien ersetzt. Durch die institutionellen Neuordnungen wurde der Einfluss der Sozialpartner zu Gunsten des direkten Regierungseinflusses zurückgedrängt. Die Grundlage für die Arbeitsmarktpolitik der 90er Jahre bildeten hingegen weiterhin Abkommen zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern („Nieuwe Koers“ 1993; „Flexibiliteit en Zekerheid“ 1996). Im Rahmen von Tarifabschlüssen wurde durch Öffnungsklauseln die Lücke zum gesetzlichen
Mindestlohn verringert. Zusätzlich wurden gesetzliche Bestimmungen für Zeitarbeitsfirmen vereinfacht, Kriterien für die Arbeitsinvalidität verschärft und Modellversuche zur Verbesserung der Effizienz von Arbeits- und Sozialämtern gestartet. Die Arbeitsämter konzentrieren sich fast ausschließlich auf Problemgruppen, private (Zeitarbeits) Agenturen vermitteln den größten Teil der Arbeitslosen. Das neue Arbeitszeitgesetz von 1996 legte neue Höchstgrenzen von Wochenarbeitszeit, Überstunden, Nacht- und Sonntagsarbeit fest, ermöglichte gleichzeitig jedoch eine kurzfristig sehr flexible Anwendung. 1995 und 1996 wurden mehrere Lohnsubventionsprogramme aufgelegt, die v.a. im öffentlichen Sektor Arbeitsplätze für Langzeitarbeitslose bereitstellten („Melkert-Jobs“). 1999 trat das „Flexicurity“-Gesetz zu Arbeitszeit und Kündigungsschutz in Kraft. Die Neuregelung des Kündigungsschutzes stellte eine leichte Flexibilisierung für reguläre Beschäftigungsverhältnisse dar, andererseits sind die Rechte von Beschäftigten mit Zeitarbeitsverträgen und „subangestellten“ Selbstständigen gestärkt worden (Green-Pedersen et al. 2001c). Das Arbeitszeitanpassungsgesetz von 2000 verpflichtete die Arbeitgeber sogar, einem Wunsch auf Verlängerung oder Verkürzung der Arbeitszeit des Arbeitnehmers nachzukommen, sofern
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nicht besondere betriebliche Gründe dem entgegenstehen. Die Sozialpartner spielten bei diesen Reformen eine wichtige Rolle. Auf dem Gebiet der Arbeitsmarktpolitik bestand ein großer Teil der Gesetzgebung in der Kodifizierung von bipartistischen Arran11 gements. Durch institutionelle Neuordnungen hat sich in der Sozialpolitik hingegen der „Schatten der Hierarchie“ deutlich verstärkt. Den zahlreichen Reformen lag kein umfassender Plan zugrunde, wie es die Rede vom „Poldermodell“ vermuten lässt. Der Wandel vollzog sich in vielen kleinen Schritten, aber mit erstaunlicher Beständigkeit.
2.3 Schweden (ab 1994) Maßgeblichen Einfluss auf die programmatische Neuausrichtung der schwedischen SAP hatte die Wirtschaftskrise zu Beginn der 90er Jahre. Die Herstellung ausgeglichener Budgets ist seitdem auch programmatisch zu einem wichtigen Zwischenziel zur Verwirklichung des überragenden Zieles der Vollbeschäftigung geworden (SAP 2001). Die SAP hält weiter am universalistischen Wohlfahrtstaat fest und sieht seinen Kern in der Bereitstellung staatlicher Dienstleistungen für Gesund-
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heit, Pflege und Bildung; nur begrenzt sollen in diesen Bereichen private Angebote zugelassen werden. Sie sollen Anreize zur Effizienzsteigerung des öffentlichen Dienstes setzen. Diese staatlichen Dienstleistungen werden als Ausdruck sozialer Gerechtigkeit als Gleichheit der Lebenschancen verstan12 den. Das Ziel ist auch unter neuen Herausforderungen die „faire Umverteilung von Wohlstand“ (Persson 2001). Nach 7 Jahren Regierung bündelte das neue Grundsatzprogramm 2001 die Erfahrungen. Bei Übernahme der Regierungsverantwortung 1994 sah die SAP keine Alternative zur Haushaltskonsolidierung, die mit Kürzungen von Transfer- und Dienstleistungen und Steuererhöhungen und Ausgabenbegrenzungen einherging (Lachman u.a. 1995: 21ff.), betonte aber immer wieder den temporären Charakter der Maßnahmen. 1994 wurde die Körperschaftssteuer von 30 auf 28% gesenkt, die Einkommenssteuer für obere Einkommensgruppen 1995 von 20 auf 25% angehoben. Weiterhin wurden ökologische Steuern eingeführt, hauptsächlich als Reaktion auf Mehrwertsteuersenkungen im Zuge von EU-Angleichungen. Der Arbeitnehmeranteil zur
Voraussetzung war die seit dem Wassenaar-Abkommen festzustellende Prioritätenverschiebung innerhalb der Gewerkschaften von Lohnsteigerungen zu Beschäftigungswachstum (Visser/Hemerijck 1998; van der Veen/Trommel 1999). 12 In Abgrenzung zum Begriff der faktischen Chancengleichheit beinhaltet eine Gleichheit der Lebenschancen einen andauernden gleichen Zugang der Bürger zu sozialen Grundgütern, deren Bereitstellung durch den Staat zu gewährleisten ist (Meyer 2002: 72ff.).
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Sozialversicherung wurde um ca. 5 Prozentpunkte erhöht. Insgesamt führten diese und weitere kleinere Änderungen zu einer Steigerung des Steuer- und Abgabenaufkommens (OECD 1999: 168). Gleichzeitig wurden Ausgabenobergrenzen für alle Haushaltsposten eingeführt und die Abgaben der Zentralregierung an die unteren Körperschaften begrenzt oder gekürzt, so dass es auf dieser Ebene zu Friktionen bei den sozialen Dienstleistungen kam. Insgesamt kann man auf diesem Feld einen kurzfristigen Rückzug, jedoch keine Abkehr des Staates von seinen Allokations- und Redistributionsmöglichkeiten feststellen. In der Sozialpolitik wurden nach 1994 die Verschärfungen der konservativen Regierung zuerst zurückgenommen, dann wurden in den Jahren 1995-97 Transferleistungen auf breiter Front 13 gekürzt. Der temporäre Charakter dieser Maßnahmen zur Haushaltkonsolidierung wurde 1998 deutlich, als die Transferleistungen bei Arbeitslosigkeit und Krankheit wieder auf 80% angehoben wurden, verbunden mit der Ankündigung weiterer Erhöhungen. Begründet wurde dies mit der erfolgreichen Haushaltskonsolidie-
rung, zudem sollte die Kaufkraft der Haushalte gestärkt werden (SAP 2002). Auch die durch Konsolidierungsmaßnahmen unter Druck geratenen sozialen Dienstleistungen sollen mittlerweile wieder verstärkt gefördert werden. Die Unterstützung der Bevölkerung der SAP hängt wesentlich von der Effizienz und Güte der öffentlichen Dienstleistungen ab. Zu diesem Zweck sollen Marktinstrumente (z.B. interne Preismechanismen) eingeführt werden, ohne den Dienst völlig zu privatisieren. Eine (vorsichtige) Marktöffnung wurde auch mit der Einführung einer verpflichtenden fondsgestützten Altersversor14 gung vorgenommen. In der Arbeitsmarktpolitik wurde mit dem 1996 verabschiedeten Beschäftigungsgesetz das Prinzip des „Förderns und Forderns“ gestärkt (OECD 1997: 113f.). Dadurch sollten die Ressourcen auf Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen konzentriert werden. Ein zusätzlicher Marktanreiz wurde mit der zeitlichen Begrenzung der Arbeitslosenunterstützung auf 3 Jahre geschaffen, nur in Ausnahmefällen ist die Verlängerung auf vier Jahre möglich. Seit 2000 müssen alle Personen, die Arbeitslosen-
13 Revidiert wurden die Senkung des Mutterschaftsgelds von 90% auf 80%; die Steigerung der Altersgrenze der Teilzeitrente von 60 auf 61 Jahre, die Senkung der Teilzeitrente von 65% auf 55% der Bemessungsgrundlage, und der Wegfall des Anspruchs auf Arbeitslosengeld bei Teilnahme an aktiven Arbeitsmarktprogrammen. 1995/97 wurden u.a. die Lohnersatzleistungen bei Arbeitslosigkeit und Krankheit von 80% auf 75% des Lohnes gekürzt. 14 Das bisherige Rentensystem mit steuerfinanzierter Grundrente und beitragsfinanzierte Zusatzrenten wurde auf eine rein beitragsfinanzierte Sozialversicherung umgestellt, allerdings beinhaltet diese immer noch eine Garantierente. Der Beitragssatz liegt bei 18,5% der Bemessungsgrundlage, davon fließen 2,5% in frei wählbare, aber staatlich lizensierte Fonds.
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unterstützung beziehen und weniger als 27 Monate regulär in Beschäftigung waren, an einem Arbeitsmarktprogramm teilnehmen. Aufgrund des Parteienwettbewerbs mit der Linkspartei und des Widerstands der Gewerkschaften wurde die Rigidität der Arbeitsschutzgesetzgebung nur marginal gelockert. Die Beschäftigungspolitik wurde unter das Leitwort ‚Aktivierung’ gestellt, ohne an der zentralen Bedeutung staatlicher Interventionen in den Arbeitsmarkt zu rütteln. Zusammengefasst hat eine Vermarktlichung nur an den Rändern des Wohlfahrtsstaates stattgefunden. Eine einheitliche Richtung war nicht zu erkennen, nach vorübergehenden Kürzungen ist die Ausgangssituation wieder hergestellt. Dies liegt nicht zuletzt am Machtpotenzial der Gewerkschaften. Auch wenn deren Einfluss auf die SAP zurückgegangen ist (Arter 1994), so muss sie doch das Konfliktpotential 15 dieser Gruppe berücksichtigen. Auch wenn die SAP bestimmte Anpassungen als Minderheitsregierung mit bürgerlichen Partnern durchsetzte, konnte sie die Gewerkschaften soweit einbinden, dass die temporären Kürzungen und die Aktivierung akzeptiert wurden. Diese Zustimmung erreichte sie durch das Bekenntnis zum hohen
Niveau der Sicherungssysteme und der öffentlichen Dienstleistungen.
2.4 Dänemark (1993-2001) In ihrem Grundsatzprogramm und den Wahlprogrammen der 90er Jahre hält die dänische Sozialdemokratie (SD) an den Zielen der sozialen Inklusion und Vollbeschäftigung fest. Erkennbar ist jedoch eine Veränderung der Instrumente, die verstärkt auf den Einzelnen gerichtet wurden. Der Staat soll nach dem Prinzip der ‚Rechte und Pflichten’ in die Lebensgestaltung seiner Bürger zur Verbesserung der Beschäftigungsfähigkeit eingreifen dürfen, sofern Leistungen in Anspruch genommen werden. Dieses Eingehen auf Funktionserfordernisse des Marktes soll kompensiert werden durch die Bereitstellung großzügiger Sozial- und Dienstleistungen. Der weitgehend deregulierte Arbeitsmarkt wird von der SD nicht in Frage gestellt. Eckpunkte der kurzfristig expansiven Haushaltspolitik (PLS Consult/ Jensen 1996) ab 1993 waren eine Senkung aller Einkommenssteuersätze und eine kurzfristige Erhöhung der staatlichen Investitionen in Bildung und Infrastruktur. Erst zeitlich verzögert wurde dies durch eine Verbreiterung der Steuerbasis und eine Einführung von Umweltsteuern gegenfinanziert (OECD 2000: 109-143).
15 Die Gewerkschaften können aufgrund der Parteienkonkurrenz der SAP mit der Linkspartei glaubhaft damit drohen, sich mittelfristig andere Bündnispartner zu suchen.
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Die dänische Sozialdemokratie stellte die sofortige Haushaltskonsolidierung zugunsten eines Wachstumsimpulses zurück. Allerdings hatte man sich auf die Konsolidierung des Haushaltes über den Konjunkturzyklus hinweg programmatisch festgelegt. Begünstigt durch das stabile Wirtschaftswachstum war es der SD möglich, nach der Einkommenssteuersenkung 1994 auch in den folgenden Jahren die Steuersätze zu senken (OECD 1999: 144). Dadurch, verbunden mit der Steigerung der ökologischen Verbrauchssteuern, stieg der Anteil der indirekten Steuern (in % des BIP), während der Anteil der direkten Steuern leicht sank. In der Sozialpolitik blieb die Transferhöhe von Ersatzleistungen unverändert und der öffentliche Dienst wurde in seinem Umfang erhalten. Ein Teil der Sozialpolitik wurde in den Dienst der Beschäftigungspolitik gestellt: Zum einem wurden 1993 die drei Programme zum zeitweiligen Ausstieg aus dem Erwerbsleben (Elternurlaub, Bildungsurlaub, Sabbaturlaub) ausgebaut, um subventionierte Beschäftigung im Rahmen der aktivierenden Arbeitsmarktpolitik zu fördern. Zum anderen wurde das umfassende System der Frühverrentung beibehal-
ten und blieb ein staatliches Instrument zur künstlichen Verknappung des Arbeitskräfteangebots. Bei den Verhandlungen zur Arbeitsmarktreform III (1998) kam es zu einem Kompromiss mit den bürgerlichen Oppositionsparteien über eine moderate Kürzung des Frühverrentungspro16 gramms. Während bei den vorangegangenen Reformen die Rentenhöhe unangetastet blieb, wagten sich die Sozialdemokraten diesmal an diese heikle Frage. Das führte zu massiven Einbrüchen der Sozialdemokraten bei Umfragen. Die Reformen in der Arbeitsmarktpolitik wurden durch die begleitende wissenschaftliche Diskussion dieses 17 Themas begünstigt. Schon die konservative Vorgängerregierung hatte aktivierende Maßnahmen einführen wollen (Jobtraining, Ausbildung, Ausrichtung auf Employability), verknüpft mit deutlichen Leistungskürzungen. Entsprechende Verhandlungen zwischen den Parteien verliefen allerdings im Sande. 1993 griffen die Sozialdemokraten die Vorschläge zur Aktivierung auf. Zwar wurde die Leistungsdauer reduziert, die Höhe blieb aber unangetastet. Zentrale Elemente der dreistufigen Reform (1994, 1995, 1998) waren: (1) Die sukzessive Kür-
16 Einführung einer Abgabe als Leistungsvoraussetzung, Verlängerung der Teilnahmedauer zum Leistungserhalt, Reduzierung der Leistung, Senkung des allgemeinen Pensionsalters von 67 auf 65 Jahre. 17 Zuletzt in einer Serie von Papieren der Arbeitsmarktkommission (eingesetzt von der bürgerlichen Regierung, bestehend aus den Sozialpartnern), das letzte Mal in einem Papier von 1992 (Zeuthen-Report).
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zung der Leistungsdauer von 9 auf 4 Jahre und eine längere und früher einsetzende Aktivierungsphase, (2) die Ausdehnung der Personengruppe mit verpflichtender Teilnahme, (3) eine Konzentrierung der Aktivierungsmaßnahmen auf Bildung und „Training on the Job“ und (4) individuell abgestimmte Aktionspläne. Dieser Aktivierungsplan wird als Vertrag zwischen Arbeitslosen und Arbeitsamt geschlossen, der die Rechte und Pflichten des Arbeitslosen festlegt. Daneben wurde das zentralistische System der Arbeitsmarktverwaltung in 14 Regionen dezentralisiert. Während die nationale Verwaltung fast ausschließlich für die Evaluierung zuständig ist, wurde die Implementierung den regionalen Arbeitsverwaltungen übergeben. Diese sind tripartistisch besetzt (Gemeinden, regionale Arbeitsgeber und Gewerkschaften) und legen konkrete lokale Maßnahmen fest. Besonders die Gewerkschaften konnten dadurch Einfluss zurückgewinnen, den sie durch die Dezentralisierung der Tarifverhandlungen verloren hatten. Die SD-Regierung nutze zur Umsetzung ihres Programms geschickt die Ressourcen aus, die durch die informelle Konsenskultur in Dänemark bereitstehen. Die relevanten Interessenverbände wurden über Kommissionen
schon im Vorfeld des Gesetzgebungs18 prozesses eingebunden. Vor allem in der Beschäftigungspolitik wurde die Implementation weitgehend in die Hände der Tarifpartner gelegt. Die SD nutzte den direkten Zugriff (den „Schatten der Hierarchie“) auf die sozialen Sicherungssysteme dazu, die Tarifparteien zur Mitarbeit zu bewegen.
2.5 Deutschland (ab 1998) Über ein eindeutiges programmatisches Profil verfügten die deutschen Sozialdemokraten beim Regierungswechsel 1998 nicht, dementsprechend brach der im Wahlkampf stillgelegte Konflikt zwischen den „Traditionalisten“ und „Modernisierern“ bereits ein halbes Jahr nach Regierungsbeginn wieder auf – angeheizt vor allem durch das wirtschaftsliberale Schröder-Blair-Papier. Die Partei folgte diesem „von oben“ verordneten Modernisierungskurs nur sehr zögerlich, und auch die daraufhin begonnene Grundsatzprogrammdebatte konnte bisher kaum etwas zur Klärung des innerparteilichen Konfliktes zwischen den Verteidigern des sozialstaatlichen Status quo und den Befürwortern von Deregulierungen und Liberalisierungen beitragen. Die erste Legislaturperiode der Regierung Schröder kann jedoch als ein „Etappensieg“
18 1993 hatte die SD-geführte Koalition allerdings eine parlamentarische Mehrheit, um die erste Arbeitsmarktreform durchzusetzen – im von Minderheitsregierungen und Konsenssuche geprägten politischen System Dänemarks ein seltenes ‚Window of Opportunity’.
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der Modernisierer interpretiert werden (Egle/Henkes 2003). Die programmatische Debatte kreist v.a. um den Grundwert der sozialen Gerechtigkeit und den Bedeutungsinhalt der „Gleichheit“ (Ergebnis- vs. Chancengleichheit). In der Steuer- und Haushaltspolitik fand innerhalb der Legislaturperiode ein deutlicher Politikwechsel statt (Zohlnhöfer 2003): Während die erste, von Lafontaine verantwortete Steuerreform vor allem Arbeitnehmerhaushalten zugute kam und die Wirtschaft belastete, wurden mit der zweiten Steuerreform unter seinem Nachfolger Eichel deutliche Steuerentlastungen für Unternehmen durchgeführt. Zuvor schwenkte man auf einen Konsolidierungskurs ein. Die Steuersenkungen gingen deutlich über die im Wahlprogramm angekündigten Maßnahmen 19 hinaus. Mit der Ökosteuer wurden indirekte Steuern erhöht, um den Rentenversicherungsbeitrag zu senken. Die angekündigte Blockade der oppositionellen CDU im Bundesrat wurde durch selektive Anreize für bestimmte Länderregierungen umspielt (Merkel 2003). Nach der Wiederwahl im Herbst 2002 beschloss die rot-grüne Regierung aufgrund der prekären Finanz-
lage des Staatshaushaltes und der Sozialversicherungssysteme diverse Maßnahmen zur Einnahmenerhöhung, außerdem sind inzwischen auch Kürzungen im Sozialsystem geplant („Agenda 2010“). Dagegen beschritt die Regierung in der Sozialpolitik zunächst einen staatsorientierten Weg, da sie mit der Einbeziehung sog. „Scheinselbstständiger“ und geringfügig Beschäftigter in die Sozialversicherung eine Politik der Mehreinnahmen (anstelle von Leistungskürzungen) verfolgte, und mit der Reform der sog. 630-DM-Jobs den Arbeitsmarkt weiter regulierte. In der Gesundheitspolitik wurde einer zunehmenden Eigenvorsorge der Patienten eine klare Absage erteilt und die wenigen Elemente der Eigenbeteiligung sogar zurückgenommen. Statt dessen sollten die Kosten durch staatliche Regulierungen gedämpft werden. Nach heftigen Protesten der Ärzte- und Pharmaverbände wurden diese Maßnahmen zurückgenommen. Im Zuge der Rentenreform 2000 wurde das Leistungsniveau der gesetzlichen Rente abgesenkt und mit der Einführung einer freiwilligen kapitalgedeckten Zusatzrente eine Teilprivatisierung vorgenommen, bei der der Staat
19 So wurde der Einkommensteuereingangssatz 25,9% auf 15 % gesenkt (wie im Wahlprogramm versprochen), der Spitzensteuersatz jedoch von 53% auf 42 %, obwohl nur 49 % angekündigt wurden. Während im Wahlprogramm eine Senkung des Körperschaftsteuersatzes nur vage „auf ein international vergleichbares Niveau“ angekündigt wurde, wurde er von 40% (für einbehaltene Gewinne) bzw. 30% (für ausgeschüttete) auf einheitliche 25 % gesenkt. Außerdem wurden Veräußerungsgewinne aus Beteiligungsverkäufen von inländischen Kapitalgesellschaften für Kapitalgesellschaften steuerfrei gestellt.
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mit der Zertifizierung und Förderung weiterhin tätig ist. In der Arbeitsmarktpolitik fanden keine Liberalisierungen statt, Lockerungen der Vorgängerregierung beim Kündigungsschutz und der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall wurden zurückgenommen. Für arbeitslose Jugendliche wurde ein staatlich finanziertes Qualifizierungs- und Beschäftigungsprogramm aufgelegt. Mit dem Job-AQTIV-Gesetz wurden erste Maßnahmen einer aktivierenden Arbeitsmarktpolitik durchgesetzt (Blancke/Schmid 2003). Das strategische „Schlüsselprojekt“ der Regierung, das Bündnis für Arbeit, war der Versuch, das hohe Blockadepotenzial der Gewerkschaften für marktöffnende Reformen in der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik zu verringern und eine beschäftigungsfördernde Lohnpolitik zu erreichen. Das Bündnis scheiterte, da die Regierung den dafür nötigen „Schatten der Hierarchie“ 20 nicht spenden konnte (Hassel 2000) und sie ihre potenziellen Tauschgüter 21 bereits eingelöst hatte. Die Hartz-Kommission kann als eine Fortsetzung des Bündnis für Arbeit mit anderen Mitteln interpretiert werden, da auch hier versucht wurde, die Gewerkschaften einzubinden. Während die drohende Blockade
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des Bundesrates bei der Verabschiedung der Steuer- und Rentenreform durch entsprechendes Bargaining zweimal umgangen werden konnte, gelang es der Regierung nicht, eine marktöffnende Politik im Bereich des Arbeitsmarktes gegen den linken Parteiflügel der SPD und vor allem gegen die Gewerkschaften durchzusetzen.
2.6 Frankreich (1997-2002) Programmatisch betrieb der 1997 mit einem Linksbündnis an die Macht gekommene Parti Socialiste eine Revitalisierung „republikanischer“ Werte (Beilecke 1999), die einen Gegenentwurf zum (neo-)liberalen Globalisierungsdiskurs darstellen. Mit dem Begriff des „Voluntarismus“ wurde die Rehabilitierung der Politik gegenüber ökonomischen Sachzwängen gefordert. In der europaweit geführten Debatte um den „Dritten Weg“ vertrat der PS mit der Programmschrift „Vers un monde plus juste“ eine eigenständige und kritische Position. Eine Revision klassischer sozialdemokratischer Ziele war nicht zu beobachten – selbst das Instrument keynesianischer Fiskal- und Geldpolitik wurde vom PS weiterhin als erfolgversprechend angesehen.
20 Die Gewerkschaften weigerten sich mit Verweis auf die institutionell verankerte Tarifautonomie, über Lohnpolitik zu verhandeln. 21 So z.B. die Korrekturen der Regierung Kohl (Kündigungsschutz, Lohnfortzahlung), Scheinselbstständigkeit und geringfügige Beschäftigung; das erst später verabschiedete Betriebsverfassungsgesetz kann eventuell als eine Kompensation für die Rentenreform interpretiert werden, der die Gewerkschaften erst nach langem Zögern zustimmten. 22 Die angekündigten Blockaden der Opposition waren allerdings in erster Linie dem Parteienwettbewerb geschuldet und weniger mit programmatischen Differenzen zu erklären (Merkel 2003).
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In der Steuer- und Haushaltspolitik konnte die Regierung durch selektive Steuererhöhungen und -senkungen und durch entsprechende Erhöhungen sozialer Leistungen (s.u.) eine umverteilende Wirkung und eine Kaufkraftsteigerung hervorrufen. Neben der Entlastung der Privathaushalte (vor allem mit geringen Einkommen) wurden Unternehmen durch eine temporäre Erhöhung der Kör23 perschaftssteuer zunächst belastet und Kapitaleinkommen höher besteuert. Gesenkt wurden hingegen die Wohnungssteuer und die Mehrwertsteuer. Durch die Erhöhung der Sozialsteuer CSG bei gleichzeitiger Senkung der Krankenversicherungsbeiträge der Arbeitnehmer sollte einerseits die Kaufkraft gesteigert, andererseits die Finanzierungsgrundlage der Krankenversorgung 24 verbreitert werden. Erst das Haushaltsjahr 2001 brachte überraschende, im Wahlprogramm nicht angekündigte Steuererleichterungen für Besserverdienende und Unternehmen, die umfangreichsten in der Geschichte der 25 V. Republik. Im Widerspruch zum Wahlprogramm 1997 wurde die Privatisierungspolitik der Vorgängerregierung weitergeführt. Das Konzept der öffentli-
chen Daseinsvorsorge durch den „service public“ blieb jedoch bestehen: Es gab zwar eine zögerliche Marktöffnung, allerdings bestand keine Absicht, hier die Kontrolle des Staates abzugeben. In der Sozialpolitik wurde mit der Einführung der universellen Krankenversicherung CMU eine Versorgungslücke im Sozialsystem geschlossen, die vor allem bei Geringverdienern auftrat. Die Kosten für die obligatorische Zusatzversicherung für Geringverdiener werden vom Staat übernommen, die Versicherten können ihre Zusatzversicherung allerdings frei wählen. Bei der Rentenfinanzierung hielten die Sozialisten am reinen Umlageverfahren fest, da sie die Einführung von Pensionsfonds (nach dem gescheiterten Versuch der Vorgängerregierung) ablehnte. Die konfliktfähigen Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes standen einer solchen Reform ebenfalls skeptisch gegenüber. Die Regierung beschränkte sich darauf, in Expertenkommissionen unter Einbindung der Sozialpartner Vorschläge für eine Rentenreform erarbeiten zu lassen. Weitere Maßnahmen in der Sozialpolitik waren Anhebungen von Sozialleistungen (u.a. Mindestlohn, Arbeitslo-
23 Die Körperschaftssteuer stieg für 1998 von 36,7% auf 41,6 % für Unternehmen mit über 50 Millionen FF Umsatz. Diese temporäre Erhöhung wurde bis 2000 sukzessiv zurückgenommen. 24 Die CSG wird im Gegensatz zu den Sozialversicherungsbeiträgen nicht nur auf die Lohneinkommen, sondern auf alle Einkommensarten (auch auf Kapitaleinkommen) erhoben. 25 Die wichtigsten Maßnahmen waren bei der persönlichen Einkommenssteuer die Senkung des Eingangssatzes von 10,5% auf 7 % und des Spitzensteuersatzes von 54% auf 52,5 %, und bei der Unternehmensbesteuerung die Absenkung der Körperschaftssteuer für KMU von 36,7% auf 15 % , für Großunternehmen von 36,7% auf 33,3% bis jeweils 2003 (OECD 2001: 57 f).
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senunterstützung und Sozialhilfe). Für Besserverdienende wurden die Familienbeihilfen aufgrund eingeführter Bedürftigkeitsprüfungen gekürzt. In der Arbeitsmarktpolitik wurden durch ein Beschäftigungsprogramm für Jugendliche ca. 300.000 Arbeitsplätze vorwiegend im öffentlichen Sektor 26 geschaffen. Um Substitutionseffekte zu vermeiden, wurden für die neu geschaffenen Stellen in Zusammenarbeit von Regierung, Gebietskörperschaften und gemeinnützigen Vereinen eigene Beschäftigungsprofile erstellt (Uterwedde 2000). Bei der Einführung der 35-Stunden-Woche versuchte die Regierung mit der „Konferenz über Beschäftigung, Löhne und Arbeitszeit“ vergeblich die Sozialpartner einzubinden. Gegen den hinhaltenden Widerstand der Arbeitgeber legte sie die Rahmenbedingungen der Arbeitszeitverkürzung fest, die konkrete Ausgestaltung der Arbeitszeiten wurde 27 jedoch den Sozialpartnern überlassen. Dabei profitierten die Arbeitgeber von der Einführung von Jahresarbeitszeitkonten (d.h. Flexibilisierung der Arbeitszeiten), den großzügigen staatlichen Lohnkostenzuschüssen (bzw. Senkung
ihrer Sozialversicherungsbeiträge) und Anreizen bei Einstellungen im Niedriglohnbereich. Eine von den Sozialpartnern übernommene Reform der Arbeitslosenunterstützung brachte zwar keine neuen Pflichten für Arbeitslose mit sich, aber durch die Einführung von persönlichen Eingliederungsplänen sollte der Druck auf Arbeitslose zur Aufnahme einer Beschäftigung erhöht werden. Da im Zuge dieser Reform aber auch die bisherige Degressivität des Arbeitslosengeldes abgeschafft wurde, wird der Aktivierungserfolg dieser Maßnahme unterschiedlich beurteilt (OECD 2001: 91; Tuchszirer 2001). Aufgrund der in Frankreich schwach ausgeprägten Sozialbeziehungen fiel es der Regierung schwer, die Sozialpartner erfolgreich einzubinden. Dies wird an der gescheiterten tripartistischen Konferenz zur Einführung der Arbeitszeitverkürzung und der attentistischen Rentenpolitik deutlich. Allerdings konnte im Zuge der Implementierung der Arbeitszeitverkürzung und des Programms gegen die Jugendarbeitslosigkeit eine leichte Verbesserung der Beziehungen erreicht werden.
26 Stand Ende 2000, nach einer Studie des Arbeitsministeriums (<http://www.nsej.travail.gouv.fr>). Im Rahmen dieses Programms neu geschaffene Arbeitsplätze gibt es zwar auch in privaten Unternehmen, hauptsächlich aber in öffentlichen Einrichtungen, Gebietskörperschaften, Vereinen und Stiftungen. Da die jeweiligen Beschäftigungsverhältnisse vom (Zentral-)Staat darüber hinaus mit 80 % des Mindestlohnes (SMIC) bezuschusst werden, kann man diese Maßnahmen als öffentliches Beschäftigungsprogramm charakterisieren. Qualifizierungsmaßnahmen im Rahmen des Programms sind zwar möglich und erwünscht, allerdings nicht institutionalisiert. 27 Von 1997 bis Ende 2000 wurden durch die Arbeitszeitverkürzung nur ca. 240.000 Arbeitsplätze geschaffen, während der gesamte Beschäftigungszuwachs in diesem Zeitraum 1,7 Mio. betrug.
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Sozialdemokratische Reformpolitik in Europa
3. Konvergenz und Divergenz sozialdemokratischer Reformpolitik Die Untersuchung der sechs sozialdemokratisch geführten Länder zeigt zwar bedeutende Unterschiede in der Programmatik und Politik der jeweiligen Parteien auf, trotzdem lässt sich folgende gemeinsame „Richtung“ einer sozialdemokratischen Reformpolitik feststellen: In allen Ländern außer Frankreich ist eine – wenn auch unterschiedlich stark ausgeprägte – Priorität der Haushaltskonsolidierung zu erkennen. Daneben können, abgesehen von temporären Steuererhöhungen in Frankreich (Unternehmenssteuern) und Schweden (Einkommens- und Vermögenssteuern) in allen Ländern Steuersenkungen beobachtet werden. Zusätzliche Einnahmen generieren alle Regierungen über eingeführte oder erhöhte Ökosteuern. In der Arbeitsmarktpolitik ist der Trend zu einer aktivierenden Arbeitsmarktpolitik zu nennen – in allen Ländern wurde das Prinzip des Forderns und Förderns institutionalisiert. Diese Maßnahmen zur Steigerung der Beschäftigungsfähigkeit sind jedoch mit unterschiedlich starken Sanktionen (Leistungskürzungen) begleitet, wenn Arbeitslose ihren Verpflichtungen nicht nachkommen. Auch verfolgen die meisten sozialdemokratischen Parteien – wenigstens verbal – eine Politik der Flexibilisierung des
Arbeitsmarktes, allerdings variieren die nationalen Gesetzgebungen noch deutlich. In der Sozialpolitik ist jedoch keine klare Tendenz festzustellen: Frankreich und Großbritannien erhöhten Sozialleistungen, die Niederlande nahmen Kürzungen vor, in Dänemark und Schweden wurde die Bezugsdauer reduziert, während Deutschland weitgehend beim Status quo verharrte. In der Rentenpolitik führten immerhin vier Länder (GB, D, NL, S) eine Teilprivatisierung ein oder bauten sie aus – jedoch ausgehend von sehr unterschiedlichen Niveaus. Am weitesten fortgeschritten auf dem Pfad der Marktanpassung ist die Labour Party, die das wirtschaftspolitisch liberalste Untersuchungsland regiert und diesen Pfad kaum verließ. Einen Ab- und Umbau des Wohlfahrtsstaates führte die PvdA durch, die aber ebenfalls auf den Reformen der Vorgängerregierung (z.T. mit eigener Beteiligung) aufbauen konnte. Die SPD und der PS, deren Regierungspolitik viele Gemeinsamkeiten besitzen, unterscheiden sich jedoch in programmatischer Hinsicht: Während die SPD vom ungelösten Konflikt zwischen Modernisierern und Traditionalisten geprägt ist, hat sich der PS bisher bewusst gegen eine programmatische Neuausrichtung entschieden. Die däni-
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schen und schwedischen Sozialdemokraten haben sowohl programmatisch wie auch hinsichtlich der verfolgten Politik einen weniger radikalen Wandel als New Labour und die PvdA vollzogen: Sie führten nur einen moderaten und zeitlich befristeten Umbau des Wohlfahrtstaates durch. Lässt sich jenseits dieser Divergenzen eine gemeinsame Neuorientierung sozialdemokratischer Ziele beobachten? In der Sozial- und Arbeitsmarktpolitik werden die Ziele des kollektiven Sozialschutzes und der Vollbeschäftigung weiterhin vertreten, wobei auf der Ebene der Politikinstrumente eine Revision festzustellen ist. Neu justiert wurde das Verhältnis von staatlicher Leistung und individueller Eigenverantwortlichkeit. In der Steuer- und Haushaltspolitik bleibt der Politikwechsel nicht auf die Instrumente beschränkt, sondern wird durch einen Wechsel bei den Politikzielen (vgl. zum Konzept: Hall 1993) begleitet. In Konkurrenz zum Ziel der Umverteilung tritt das der Haushaltskonsolidierung, welches sogar Priorität genießt. Dieser Revisionismus ist in den sozialdemokratischen Parteien unterschiedlich stark ausgeprägt, aber doch ein Zeichen eines gemeinsamen Weges sozialdemokratischer Reformpolitik. Allerdings sind die untersuchten Länder auf diesem Weg unterschied-
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lich weit fortgeschritten. Die Divergenz kann mit den Opportunitätsstrukturen des nationalen Handlungskontextes erklärt werden. Als besonders erklärungskräftig dafür, ob sozialdemokratischen Parteien nennenswerte Anpassungsmaßnahmen durchführen konnten oder nicht, haben sich folgende Faktoren erwiesen:
a) Das vorgefundene Politikerbe: Die Bereitschaft zu unpopulären Reformen des Sozialstaates steigt (sowohl in der Bevölkerung als auch bei den handelnden Akteuren der Sozialdemokratie), je schlechter die ökonomischen outcome-Indikatoren sind (Arbeitslosenquote, Haushaltsdefizit, usw.). Erst wenn alle relevanten Akteure glauben, dass eine Beibehaltung des sozialstaatlichen Status quo weiter krisenverschärfend wirkt, ist der Handlungsdruck für Reformen des Sozialstaates groß genug. Wurden entsprechende Reformen schon von der Vorgängerregierung (GB) oder gemeinsam mit der wichtigsten Konkurrenzpartei (NL) durchgeführt, so kann die Sozialdemokratie diesen Weg problemlos weiter beschreiten. Muss jedoch die Sozialdemokratie mit sozialen Einschnitten beginnen, wird die Reformreichweite begrenzt – dies gilt insbesondere dann, wenn sie vor ihrer Regierungsübernahme erfolgreich ge-
Sozialdemokratische Reformpolitik in Europa
gen marktorientierte Maßnahmen der Vorgängerregierung mobilisiert hatte (F und D). Vergleichbare Reformen können dann erst nach einer gewissen Zeit von der Sozialdemokratie selbst in Angriff genommen werden (wie ab 2003 in Deutschland).
b) Die Struktur des Sozialstaates: Ein hochregulierter Arbeitsmarkt institutionalisiert eine konfliktfähige Gruppe von Insidern, die (als Stammklientel der Sozialdemokratie) über die Wahlarena eine Flexibilisierung des Arbeitsmarktes verhindern bzw. verzögern kann. Ein beitragsfinanzierter und segmentierter Wohlfahrtstaat hemmt Reformen, da autonome Sozialversicherungen mit ihren Selbstverwaltungsorganen zusätzliche Akteure hervorbringen, die ein Interesse an Bestandswahrung haben. Leistungen autonomer Sozialversicherungen sind aufgrund des Äquivalenzprinzips und der Tatsache, dass Versicherte durch ihre Beiträge Rechtsansprüche auf Leistungen erworben haben, nur erschwert in das Konzept der „Aktivierung“ einzubinden.
c) Die Struktur und Organisation der Gewerkschaften: Sektorale Gewerkschaften mit mäßigem Organisationsgrad und schwachen Spitzenverbänden vertreten
primär die Interessen ihrer entsprechenden Klientel (Insider-Orientierung) und lassen sich kaum in umfassende Tauschstrategien einbinden (D, F). Dieser Effekt wird durch das Institut der Tarifautonomie verstärkt (D). Starke, umfassende Gewerkschaften können jedoch in unpopuläre Reformen mit längerem Zeithorizont eingebunden werden, was den Handlungsspielraum einer sozialdemokratischen Partei vergrößert (S, DK). Ähnliches gelingt, wenn die Gewerkschaften noch in korporatistische Institutionen eingebunden sind (NL). Den größten Reformspielraum hat eine Regierung bei schwachen Gewerkschaften, die kaum Konflikt- und kein Vetopotential besitzen (GB).
d) Die Konfiguration des Parteienwettbewerbes: Linkssozialistische und christdemokratische Parteien können sich als „Bewahrer des Sozialstaates“ profilieren und marktorientierte Reformen einer sozialdemokratischen Regierung hemmen – besonders innerhalb einer Regierungskoalition (F). In Systemen mit relevanten linken Parteien bei sozialdemokratischer Dominanz können Wahlverluste aber kompensiert werden, wenn das linke Lager in der Summe stärker als das rechte Lager bleibt und die Sozialdemokratie als
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Minderheitsregierung weiterregieren kann (DK, S). Der Handlungsspielraum kann auch durch eine Große Koalition vergrößert werden (NL), der die christdemokratische Konkurrenz absorbiert. Die hohen Wahlniederlagen der sozialdemokratischen Parteien in Schweden (1998) und den Niederlanden (1994) illustrieren das Risiko der Abwahl der Sozialdemokratie bei den ersten nationalen Parlamentswahlen nach Beginn umgangreicher Sozialstaatsreformen, das aus den genannten Gründen in diesen Ländern aber vermindert werden konnte und somit den Handlungsspielraum vergrößerte. Somit war der Handlungsspielraum für umfassende Reformen in Frankreich und Deutschland deutlich enger als in Großbritannien, aber auch geringer als in den skandinavischen Ländern. In den Niederlanden konnten zwei potentiell
hemmende Faktoren einer marktorientierten Reformpolitik umgangen werden: Die Christdemokraten waren während der ersten Reformmaßnahmen in eine Große Koalition eingebunden, und das Blockadepotential der Gewerkschaften konnte innerhalb bewährter korporatistischer Institutionen in eine Ressource umgewandelt werden. In den reformaversen Ländern Frankreich und Deutschland wurde bzw. wird eine Reformpolitik aufgrund des schwierigen nationalen Kontextes verzögert, nicht aber verhindert. Die im Frühjahr 2003 in Angriff genommenen Sozialstaatsreformen der SPD-Regierung (Agenda 2010) illustrieren, dass sowohl die ökonomischen als auch die elektoralen Kosten umso höher ausfallen, je länger entsprechende Reformen hinausgezögert werden – was die deutschen Sozialdemokraten augenblicklich leidvoll erfahren müssen.
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Biografische Notiz Alle vier Autoren sind wissenschaftliche Angestellte im DFG-Projekt „Sozialdemokratische Antworten auf integrierte Märkte – Dritte Wege im inter-
nationalen Vergleich“ unter der Leitung von Prof. Dr. Wolfgang Merkel am Institut für Politische Wissenschaft der Universität Heidelberg.
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Christoph Egle, Christian Henkes, Tobias Ostheim und Alexander Petring
Christoph Egle M.A., geboren 1.02.1974, Studium der Politischen Wissenschaft, Philosophie und Soziologie an der Universität Heidelberg und am Institut d'Etudes Politiques d'Aix-en-Provence, Arbeitsschwerpunkte: Parteien- und Policy-Forschung (insbesondere Sozialdemokratie und grüne Parteien); Politische Theorie (insbesondere Demokratietheorie und politischer Liberalismus);
Christian Henkes M.A., geboren 29.01.1972, Studium der Politischen Wissenschaft, Pädagogik und Volkswirtschaftslehre an der Universität Mainz, Arbeitsschwerpunkte: vergleichende Politikwissenschaft (insbesondere sozialdemokratische Parteien und Policy, und skandinavische politische Systeme); Politische Theorie (insbesondere Theorie der Minderheitenrechte);
Tobias Ostheim M.A., geboren 30.01.1970, Studium der Politischen Wissenschaft an der Universität Heidelberg, seit 1999 Wiss. Ang. am Institut für Politische Wissenschaft der Universität Heidelberg; Arbeitsschwerpunkte: Vergleichende Policy-Forschung (insbes. Europäische Policies, Sozialdemokratische Regierungspolitik); Methoden empirischer Sozialforschung; webbasierte Lernsysteme.
Alexander Petring M.A., geboren 31.05.1976, Studium der Politischen Wissenschaft, Volkswirtschaftslehre und Philosophie an der Universität Heidelberg, Arbeitsschwerpunkte: Wirtschaftspolitik (insbesondere Deutschland und Großbritannien); Politische Theorie (insbesondere Staatstheorie, Liberalismus, Rational Choice);
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Plädoyer für eine Große Koalition zur Sanierung des deutschen Sozialstaats von Franz Walter Vielleicht war es wirklich nur ein Pyrrhussieg, damals am 22. September 2002. Viel Sinn jedenfalls machte eine zweite Legislaturperiode „Rot-Grün“ nicht. Schon den rot-grünen Wahlkämpfern fiel auf den Marktplätzen in den langen und oft deprimierenden Frühjahrs- und Sommermonaten 2002 nicht sonderlich viel ein, wenn die ratsuchenden Bürger sie nach den weiteren sozialökologischen Projekten fragten. Im Grunde war ja das spezifisch Rot-Grüne – von der Homoehe bis zur Ökosteuer – abgearbeitet, erledigt, erreicht. Und im Köcher befanden sich keine weiteren Pfeile mehr. Auch in den Regionalparlamenten war die Zahl rot-grüner Allianzen in den vier Jahren zuvor kräftig zusammengeschmolzen. Allein zwei Regierungen dieses Typs gab und gibt es noch in den 16 Bundesländern der deutschen Republik. RotGrün regiert somit gewissermaßen ohne Fundament. Die Regierung kann kühne Konzepte entwickeln und schöne Agenden aufstellen, wie sie mag und möchte. Ohne die Zustimmung des Bundesrates, ohne die bürgerliche Mehrheit dort, kann sie
nichts bewegen, nichts wirklich kraftvoll durchsetzen. Machtpolitisch sind die Grünen für die Sozialdemokraten ohne Wert. Schröder braucht Merkel und Koch, nicht Fischer und Trittin. Und dadurch kommt eine neue Regierungsvariante zyklisch in die Debatte und in den medialen Verdacht: die Große Koalition. Man kann sich ganz sicher sein: auch in den nächsten Monaten wird in schöner Regelmäßigkeit über sie geredet, geschrieben, gestritten. Und die Kritiker eines solchen Regierungsbündnisse werden zweifelsohne besonders schrill protestieren. Sie werden uns in zahlreichen Kommentaren mahnend darüber belehren, dass sich im Falle einer Großen Koalition erst recht der Mehltau der Stagnation über die bundesdeutsche Gesellschaft legt. Dass die Volksparteien sich in diesem Fall noch weiter angleichen und anpassen. Dass das Parlament noch stärker entmachtet wird. Dass das Land dann vollends in Lethargie und Bräsigkeit versinkt. Natürlich auch: Dass die politischen Extreme an Zulauf gewinnen. So reden die 55 bis 60 Jahre
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Franz Walter
alten Meinungseliten in den Lehrerzimmern, Universitäten und Chefredaktionen schließlich schon seit nunmehr gut 35 Jahren, seit sie sich als junge Menschen in den Zeiten von Jimmy Hendrix und Janis Joplin über das Kabinett Kiesinger/Brandt außerparlamentarisch empörten. Doch stimmten all die sinistren Unheilserwartungen schon damals nicht, bei der ersten und bislang einzigen Große Koalition der Republik. Und sie werden auch dann nicht Realität, wenn im Herbst Wolfgang Clement oder wer auch immer mit Angela Merkel oder wen auch immer koalieren sollte. Wenn, wie gesagt. Im Gegenteil: Große Koalition haben in institutionell hochfragmentierten Systemen wie der Bundesrepublik als einzige politische Formationen die Chance, wirklich weitreichende Weichenstellungen vorzunehmen und harte Zumutungen auch an die Mitte der Gesellschaft zu richten. Sie erhöhen außerdem – und ganz entgegen eines verbreiteten Vorurteils – die Souveränität und den Spielraum der Parlamentsfraktionen. Und wenn sie ihre Aufgabe erfüllt haben, nötigen sie die Großparteien wieder zur schärferen Abgrenzung voneinander, fördern dadurch die Politisierung, schärfen die Differenz. Da sich überdies die Geister an einer solchen Koalition besonders leidenschaftlich und erregt
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scheiden, geben sie den kritischen Köpfen Auftrieb, erhöhen die öffentliche Wachsamkeit und steigern infolgedessen das politische Gesamtinteresse. So erlebten wir denn auch schon am Ende der Großen Koalition von Kiesiger nicht der Durchmarsch der politischen Extreme, auch nicht die viel befürchtete autoritäre Deformation und erst recht nicht die häufig beschworene gesamtgesellschaftliche Apathie, sondern den Beginn des sozialliberalen Aufbruchs und der neuen Ostpolitik, die Entstehung allerlei partizipationsfreudiger Bürgerinitiativen und kunterbunter sozialer Bewegungen. Eine Große Koalition, kurzum, hat die Funktion, durch eine Allianz von Bürgertum und Arbeitnehmern – statt der sonst üblichen Binnenintegration nur des einen Lagers – die großen und fälligen Reformen wenn nötig auch mit verfassungsändernden Mehrheiten zu realisieren und im Anschluss daran die Voraussetzungen für eine neue Politik und Kultur diesseits ihrer selbst zu schaffen. So alle dreißig bis fünfunddreißig Jahre könnte das die deutsche Republik gut gebrauchen. Insofern wäre eine solche Koalition auch jetzt wieder mit guten Gründen fällig. Denn viel geht, wie jedermann weiß, seit Monaten nicht mehr zusammen in der deutschen Innenpolitik. Und das wird auch erst einmal so bleiben.
Plädoyer für eine Große Koalition zur Sanierung des deutschen Sozialstaats
Dabei sind die Probleme, die dieser Republik zu schaffen machen, Legion. Wir alle können sie inzwischen im Schlaf herunterbeten: Deutschland leidet an einer beispiellosen Wachstumsschwäche; die Investitionsquote ist bedrückend gering und nähert sich rezessiven Werten; die Kommunen stehen vor der Pleite; die öffentlichen Einrichtungen sind abschreckend marode; Schulen und Hochschulen schleppen sich mühsam durch die Maläse einer dramatischen Unterfinanzierung; die Bundeswehr ist nur bedingt einsatzfähig; das Schienennetz der Bundesbahn braucht eine flächendeckende Remedur; das Gesundheitswesen droht zu kollabieren; und über den gesellschaftlichen Zukunftszusammenhang tickt weiterhin die demographische Bombe. Von der dauerhaften Massenarbeitslosigkeit gar nicht zu reden. Keines der Probleme ist neu; nichts davon hat primär die Regierung Schröder zu verantworten; das alles hat sich in den letzten dreißig Jahren Zug um Zug aufgeschichtet. Weder Brandt noch Schmidt noch Kohl noch Schröder ist der große Befreiungsschlag gelungen, auf den die Wähler gleichwohl irgendwie hoffen. Aber da können sie wohl noch lange warten, zunehmend verdrossen, zynisch oder einfach nur – demoskopisch hinreichend belegt – gleichgültig gegenüber
Politik und Parteien. Denn keine kleine Koalition wird in Deutschland den gordischen Knoten zerhauen können, selbst wenn sie die tüchtigsten Pragmatiker und klügsten Visionäre in ihren Reihen hätte. Denn es gibt kaum ein anderes demokratisches Land der Welt, in dem der politische Gestaltungsraum machtinstrumentell so begrenzt ist wie in Deutschland. Nirgendwo jedenfalls ist das Vetodepot der Opposition so aufgefüllt wie hierzulande. In England etwa ist die Opposition durch und durch ohnmächtig; sie kann lärmen, polemisieren und resolutionieren, es interessiert niemanden. In Deutschland aber ist die Opposition machtpolitisch stets mit von der Partie, über ihre Ministerpräsidenten, im Bundesrat, in den öffentlich-rechtlichen Gremien, über ihre Repräsentanten und Parteimitglieder in den Tarifauseinandersetzungen, in den üblichen korporatistischen Bündnissen. Das hat natürlich viel mit den föderalen Strukturen und Kompetenzen zu tun, die ebenfalls ein Unikum in dieser Welt sind. Eine Regierung in Deutschland kann nicht einfach regieren, wie sie es für gut und richtig hält und wofür sie eigentlich auch gewählt wurde. Eine Regierung in Deutschland braucht zum Erfolg fast durchweg die große Oppositionspartei. Aber diese Opposition ist ihrerseits natürlich keineswegs am
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Franz Walter
Erfolg der Regierung interessiert. Und so ereignet sich immerfort das, was zunehmend mehr Menschen in dieser Republik auf die Nerven geht: die zähen Stellungskriege zwischen Regierung und Opposition, das monatelange Gefeilsche und Gezerre um einen dann denkbar unzureichenden Kompromiss, oft genug auch einfach nur Blockade und Paralyse. Wir werden all dies in den nächsten Monaten ermüdend oft ein weiteres Mal erleben. Nur wenn die Opposition kopflos durch die Landschaft irrt, wie die CDU nach Abgang von Kohl und Schäuble 1999/2000 oder die SPD unter Klose und Scharping in der ersten Hälfte der 1990er Jahre, vermag ein taktisch gewiefter und kaltblütiger Regierungschef den Spielraum vorübergehend zu erweitern. Aber damit kann auch der große Spieler Schröder nicht mehr ernsthaft rechnen, da die Merkels, Kochs und Stoibers dazugelernt haben, mittlerweile zu lafontainistischen Obstruktionen und schröderschen Raffinessen reif und fähig sind. So bleibt allein die Große Koalition. Sie ist gewissermaßen die zumindest zeitweise erforderliche innere Konsequenz aus dem kooperationsdemokratisch angelegten Institutionengefüge der bundesdeutschen Republik. So wie Deutschland verfasst ist, gelingt Politik nur durch Kooperation, nur dadurch,
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dass beide Parteien gleichermaßen am gouvernementalen Erfolg interessiert sind. Entweder man verändert im Kern die Verfassungsordnung – aber wer will das schon diesseits einiger rhetorischer Provokationen – oder man lässt sich von Fall zu Fall auf großkoalitionäre Zweckbündnisse ein, sonst, ja sonst geht es mit der kumulativen Krisenentwicklung in Deutschland dramatisch weiter, gleichviel übrigens ob die heißersehnte weltwirtschaftliche Trendwende nun irgendwann kommt oder auch nicht. Einiges spricht im übrigen dafür, dass die große Koalition noch zwei weitere Fehlentwicklungen korrigiert, über die wir uns in den letzten Jahren häufig beklagen: den Souveränitätsverlust des Parlaments und die Entpolitisierung der Parteien. In der Tat haben die Parlamentsfraktionen der Regierungsparteien in den letzen Jahren an Einfluss enorm eingebüßt. Viele der großen gesellschaftlichen Debatten sind bekanntermaßen in Kommissionen, Räten und Gremien verlagert worden. Und sobald sich in den Bundestagsfraktionen von SPD und Grünen Minderheitenauffassungen auch nur vorsichtig herauszukristallisieren beginnen, greift sofort und rüde der Disziplinierungsdruck der „eigenen Regierungsmehrheit“ zu. In der Tat: knappe Majoritäten erzwingen Einordnung und Subalter-
Plädoyer für eine Große Koalition zur Sanierung des deutschen Sozialstaats
nität. Große Mehrheiten aber verschaffen Raum, ermöglichen auch quere Diskussionslinien, lassen gar innerkoalitionäre Opposition zu. Exakt so sah es aus in den Jahren 1966-1969. Man kann das im übrigen sehr schön in den Erinnerungen des damaligen sozialdemokratischen Fraktionschefs Helmut Schmidt nachlesen, in denen er überaus einleuchtend resümiert, „dass in der Geschichte der Bundesrepublik das Parlament niemals eine derart eigenständige Rolle und ein so entscheidendes Gewicht gegenüber der Regierung gehabt hat wie in den drei Jahren“ der Großen Koalition; „weder vorher noch nachher hat es eine klarere Gegenüberstellung von Exekutive und Legislative gegeben, niemals eine wirksamere Kontrolle durch das Parlament.“ Von der Einflussmehrung der Abgeordneten hat die gesamte Innenpolitik und Debattenkultur im Parlament noch in den 70er Jahren erheblich profitiert. Seither ist viel davon wieder verloren gegangen. Die Politik ist in der Folge langweiliger geworden, die Qualität der politischen Eliten gesunken. Gerade bei den Jungparlamentariern der beiden Regierungsparteien vermisst man Kontur und Substanz, argumentative Schärfe und konzeptionellen Weitblick, Originalität und Eigensinn, Verwegenheit und Mut. Auch in dieser Hinsicht also wäre eine großkoalitionär be-
dingte Aufwertung von Parlament und Fraktionen, von Debatte und Diskurs nur wünschenswert. Schließlich wird die Große Koalition, sobald sie einigermaßen die Großaufgaben gelöst hat und der zweiten Legislaturhälfte zusteuert, wieder die beiden Parteien politisieren. Auch das hat man in den 1960er Jahren gut verfolgen können. Bis zum Eintritt in die Große Koalition betrieben die Sozialdemokraten als Oppositionspartei lediglich eifrig die Anpassung an die regierende Union, wollten nur die „beste CDU aller Zeiten“ sein, wie es selbstironisch in der SPD hieß. Doch ab 1968 suchten die Sozialdemokraten in der Koalition mit der CDU die Unterscheidbarkeit, das scharfe Eigenprofil. Und sie fanden beides in der Außenund Wirtschaftspolitik. Deutlicher waren die Unterschiede zwischen Union und Sozialdemokraten in den gesamten sechziger Jahren nicht als damals, zum Ausgang der Großen Koalition. Und das hat die Republik im weiteren ungemein beflügelt, hat neue Debatten und Bewegungen entfacht, neue Werte und Kulturen angestoßen. Eine Wiederauflage der Großen Koalition im Sommer oder Herbst 2003 könnte durchaus ähnliche Folgen haben. In den ersten beiden Jahren haben die beiden Großparteien gewiss zuvörderst die Krisenagenda
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abzuarbeiten – gemeinsam, unideologisch, kompromissfähig, pragmatisch eben. Dann aber werden sie – schon aus Gründen des Wahlkampfes und um die Oppositionsparteien nicht zu stark wachsen zu lassen – Differenz und Distinktion herausstellen, werden die unterschiedliche Substanz ihrer Werte und Leitideen hervorheben, werden erstmals nach Jahren wieder über Programmatisches nachdenken. Beides braucht die deutsche Gesellschaft: eine mittlere Frist wirklich handlungsfähigen und problemlösenden Pragmatismus, dazu aber und danach auch langfristig ausgerichtete Großdebatten über Leitplanken, Zielperspektiven und normativen Grundlagen der Politik. Die Große Koalition könnte für das eine und das andere Impuls und Voraussetzung sein. Natürlich: Mag schon sein, dass nicht alles so schön kommen muss, wie es hier gewiss recht optimistisch ausgemalt wurde. Aber die Gefahren für Demokratie und Liberalität sollte man erst recht nicht übertreiben. So furchtbar groß ist ein Große Koalition im Vierparteiensystem nun auch nicht mehr. Im Parlament würden diesmal, im Unterschied zu 1966, zwei selbstbewusste Oppositionsparteien lauern, die mächtig Druck machen können und werden. Und da sind überdies noch alle die vielen jungen und ehrgeizigen Haupt-
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stadtredakteure des deutschen Journalismus, die oft bedauerlicherweise nicht sonderlich viel von Politik verstehen, aber als Experten des hämischen Kommentars den Großkoalitionären tagtäglich tüchtig einheizen werden. Uninteressanter – oder wie sagt man gerne: bleierner – wird es daher in Berlin nicht zugehen, sollte es tatsächlich zu einer Großen Koalition kommen. Aber man muss eine solche Koalition natürlich wollen, muss sie zielstrebig anstreben, frühzeitig lagerübergreifend Kontakte herstellen, durchaus ganz im Stillen Vertrauen aufbauen, personelle Brücken schlagen. Herbert Wehner hatte dies in der ersten Hälfte der 1960er Jahren zäh, kalt und virtuos betrieben. Nächtelang trank der Diabetiker mit den Granden der Union Wein, schickte ihnen zu Weihnachten selbstgebackene Christstollen – und gewann sie auf solche Weise für sich. So holte der sächsische Machtstratege die Union in das Bündnis mit den lange stigmatisierten Sozialdemokraten (Und als ab 1969 alles vorbei war, interessierte sich Wehner keine Sekunde mehr für die über Jahre gehätschelten und mit allerlei Liebenswürdigkeiten umworbenen Christdemokraten). Wehner übrigens wäre ganz gewiss nie ein Dogmatiker eines „rot-grünen Regierungsprojekts“ gewesen. Wehner hätte längst subkutan
Plädoyer für eine Große Koalition zur Sanierung des deutschen Sozialstaats
schon mit aller ihm eigenen Energie und Skrupellosigkeit an neuen Optionen und Allianzen gebastelt. Nun steht Wehner der Sozialdemokratie und der bundesdeutschen Politik seit über 20 Jahren bekanntermaßen nicht mehr
zur Verfügung. Und ein neuer, zeitgemäßer Herbert Wehner? So recht mag man ihn nicht erkennen. Vielleicht hocken die politischen Lager auch deshalb so starr, unbeweglich und steril in ihren Schützengräben.
Prof. Dr. Franz Walter, Professor für Parteienforschung an der Universität Göttingen, jüngste Buchveröffentlichung: Die SPD. Vom Proletariat zur neuen Mitte, Berlin 2002.
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Magazin
Eine Idee haben und Probleme lösen Ist die Parteiendemokratie in Ostdeutschland nur eine tapfere Illusion – oder hat sie vielleicht doch noch eine Chance? von Klaus Ness
Die Parteiendemokratie steckt in der Krise. Immer weniger Menschen werden Mitglieder der Parteien. Die Ursachen wurden schon vielfach analysiert: Die Auflösung sozialmoralischer Milieus, die zunehmende Individualisierung in Zeiten der globalisierten Ökonomie, die Aversion gegen vermachtete und korrupte Parteienstrukturen. Dennoch wird die Parteiendemokratie immer noch als alternativlos wahrgenommen. Und das mit Recht: Die Transformation der untergehenden DDR in eine parlamentarische Demokratie ist auch deshalb gelungen, weil es die neu entstandenen oder demokratisch gewendeten Parteien gab. Doch die ostdeutsche Parteienlandschaft, ihre Struktur, ihr Binnenleben und ihre Repräsentanten – das alles ist etwas anders als in Westdeutschland. Vielleicht auch moderner und zukunftsfähiger?
I. Die SPD zum Beispiel. Peter Glotz 1981, Karl-Heinz Blessing 1991, Franz
Müntefering und Matthias Machnig 2001: Alle zehn Jahre versuchen sich die Organisationschefs der Partei an der Reform und Erneuerung der Sozialdemokratie. Der wichtigste Beweggrund der kampagnenhaften Bemühungen der obersten Parteiarbeiter war und blieb dabei stets die Bewahrung der SPD als Mitgliederpartei. Peter Glotz mühte sich 1981 um die Zukunft einer westdeutschen Partei, die seinerzeit noch stolze 956.490 Mitglieder zählte. Karl-Heinz Blessing, erster Bundesgeschäftsführer der SPD nach der deutschen Vereinigung, konnte sich 1991 immerhin über die Mitgliedsbeiträge von 919.871 gesamtdeutschen Genossen freuen, Franz Müntefering und Matthias Machnig fanden 2001 jedoch nur noch 717.513 registrierte Sozialdemokraten in der unterdessen modernisierten Mitgliederdatenbank. Als die deutsche Sozialdemokratie im Mai 2003 ihren 140. Geburtstag feierte, konnten sich nur noch weniger als 700.000 Genossinnen und Genossen selbst gratulie-
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ren. Die SPD hat also in den vergangenen 20 Jahren mehr als eine Viertelmillion Mitglieder verloren – trotz der inzwischen stattgefundenen Vereinigung Deutschlands, trotz allen bisherigen Reformbemühungen. Und der Trend ist nicht gestoppt. Haben die Parteimanager versagt? Haben all die vielen Kommissionssitzungen, die dicken Diskussionspapiere, die wissenschaftlichen Expertisen professoraler Politologen und die schön gebundenen Bücher zur Zukunft der Volksparteien gar nichts gebracht? Kann sich die SPD damit trösten, dass sich auch der CDU-Mitgliederbestand zwischen 1991 und 2001 von über 750.000 auf weniger als 600.000 Parteigänger reduzierte? Müssen sich letztlich alle Volksparteien eingestehen, dass das in ihren Reformkommissionen mantrahaft vorgetragene Bekenntnis, sie seien klassische Mitgliederpartei und wollten das – selbstverständlich – auch dauerhaft bleiben, nicht mehr ist als hilfloses Pfeifen im dunkelsten Wald? Man hört sie schon „Ketzer“ und „Weltuntergangsprophet“ schreien, all die modernistischen Apologeten der „internetbasierten Netzwerkpartei“, die meinen, das neueste Ei des Kolumbus zur Rettung der Volksparteien entdeckt zu haben. Aber auch diese Art der Abwehr von Selbstzweifeln gehört
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seit langem zum Ritual. Denn die Hinweise darauf, dass die Zukunft der als Massenorganisationen aus den sozialmoralischen Milieus des Industriezeitalters stammenden Parteien endlich sein könnte, sind ja beileibe nicht besonders neu. Bereits 1993 nannte Steffen Reiche, einer der Gründer der ostdeutschen SPD, die von Karl-Heinz Blessing betriebene Debatte „SPD 2000“ eine „tapfere Illusion“. Aus seiner Erfahrung beim Aufbau des bei Wahlen in Ostdeutschland erfolgreichsten Brandenburger Landesverbandes kam Reiche zu dem Schluss, dass die westdeutsche SPD „das Bild ihrer Zukunft in der SPD-Ost vor sich“ hat. Mit dieser Prophezeiung löste der junge Landesvorsitzende in der SPDWest bestenfalls mitleidiges Kopfschütteln aus. So gönnerhaft wie besserwisserisch gab man ihm den Ratschlag, doch bitteschön aktivere Ortsvereinsarbeit zu betreiben und sich auf diese Weise einfach um mehr Mitglieder zu bemühen. Als Reiche seinen Kritikern berichtete, dass sein damals knapp 7.000 Mitglieder zählender Brandenburger Landesverband 2.300 kommunale Mandate besetze und gar nicht genügend Kandidaten für alle zu besetzenden Mandate finden könne, erntete er als Reaktion nur ungläubiges Schweigen. Tempi passati. Mittlerweile häufen sich die Berichte, dass
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die SPD in weiten Gebieten Bayerns nicht mehr mit Ortsvereinen präsent ist und auch in anderen ländlichen Regionen Westdeutschlands kaum genügend Kandidaten für Kommunalwahlen findet. Heute machen sich die Reformer an der Parteispitze keine Illusionen mehr darüber, dass die SPD in Ostdeutschland in absehbarer Zeit über ihre knapp 30.000 Mitglieder kaum hinaus kommen kann. Aber natürlich wird für den Westen unbeirrt am alten Idealbild festgehalten. Bei Matthias Machnig, bis Anfang 2003 Bundesgeschäftsführer der Partei, liest sich das so: „Hinzu kommt, dass die Mitgliederdichte aller Parteien… in den ostdeutschen Bundesländern so dünn ist, dass der Begriff Mitgliederpartei als eher westdeutsches Konzept betrachtet werden muss.“ Es ist schon verblüffend: Die Wirklichkeit hat sich auch im Westen der Republik längst verändert. Genau deshalb müsste man sich in den Parteizentralen dafür interessieren, wie die Erfahrungen im Osten, wo auch mit wenigen Mitgliedern die Aufgaben einer Partei erfolgreich wahrgenommen werden, für den Westen nutzbar gemacht werden könnten. Stattdessen hält man stur am alten Mantra fest. Auch heute noch gilt Christian Morgensterns geflügeltes Wort, dass nicht sein kann, was nicht sein darf.
II. Das gesellschaftliche Milieu, aus dem sich die SPD in der Ära der Industrialisierung rekrutierte, benötigte die Partei als Schutzraum und als Vehikel für den eigenen sozialen Aufstieg. Die Partei war eine Ruhezone im harten Alltag, sie verschaffte Bildungserlebnisse, erlaubte Zugänge zum Leben, die das Bürgertum der aufstrebenden Industriearbeiterschaft versagte. Die Sozialdemokratie war das institutionalisierte Versprechen, das „Noch-nicht-Sein“ (Ernst Bloch) zu verwirklichen. Ihr historischer Erfolg, dieses Versprechen in vielen Bereichen Wirklichkeit werden zu lassen, macht der SPD als Organisation heute das Leben schwer. Die Partei als Schutzraum wird nicht mehr gebraucht, Bildungszugänge sind dank sozialdemokratischer Reformpolitik heute deutlich weniger blockiert. Und neue Informationstechnologien lassen das Referat des Bundestagsabgeordneten im Ortsverein über die aktuelle Regierungspolitik älter erscheinen als die Schlagzeile der Tageszeitung von gestern. Eine Partei ist zwar auch heute noch ein Raum der Gesellung und Vergemeinschaftung. Aber eben nur einer von vielen, die inzwischen auch Facharbeitern und Angestellten offen stehen: Schützenvereine, Bürgerinitiativen – aber auch der Tennisclub und
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das Fitnessstudio. Wie alle anderen Parteien ist die SPD also zunehmend darauf angewiesen, ihre unmittelbaren Aufgaben im demokratischen Staat zu erfüllen und ihre Existenzberechtigung auf diese Weise nachzuweisen. Sie muss an der politischen Meinungsbildung der Bevölkerung mitwirken, Personal für politische Ämter rekrutieren und qualifizieren. Und vor allem muss sie alltagstaugliche Lösungen für politische Probleme entwickeln, mehrheitsfähig machen und durchsetzen. Tobias Dürr hat Recht: „Wo keine Kollektivgesinnung und kein Liedgut, kein Milieu und kein Vorfeld die Menschen noch an die Parteien binden, da wird diesen auf die Dauer alleine die Arbeit an der besseren Lösung, der besseren Politik helfen.“ Statt vergangenen großen Zeiten hinterher zu trauern, wird die SPD sich die Frage stellen müssen, ob sie dieser Aufgabe wirklich hinreichend gerecht wird. Vielleicht ist die SPD in Ostdeutschland wegen ihrer anderen Geschichte und Bedingungen gezwungenermaßen in der Lage gewesen, einige Fähigkeiten und Kenntnisse zu entwickeln, die dem angeschlagenen westdeutschen Tanker SPD helfen können, seine Lage zu erkennen und wieder mehr Wasser unter den Kiel zu bekommen.
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Die heutige Sozialdemokratie in Ostdeutschland ist nicht von Arbeitern gegründet worden. Ihre Keimzelle war eine Gruppe von Intellektuellen im Umfeld der Evangelischen Kirche. Die noch illegale Gründung als SDP am 40. Jahrestag der DDR in einem Gemeindehaus im brandenburgischen Schwante war eine mutige Tat – aber sie war eben auch die Kopfgeburt einiger weniger Menschen, die Zeit sei reif, um mit dieser Parteigründung die herrschenden Verhältnisse zum Tanzen zu bringen. Die Gründer wollten einen Beitrag dazu leisten, den Alleinvertretungsanspruch der SED zu brechen. Diese wichtigste Aufgabe, die ihren Gründung legitimierte, löste die SDP gemeinsam mit anderen neu gegründeten Parteien, Initiativen und Millionen Menschen auf den Straßen der DDR. Und zwar schneller als sie selbst zu hoffen gewagt hatte. Ihre Analyse hatte also gestimmt, die Zeit war gekommen. Ihre eigentliche „Gründung“ als dauerhafte Partei und damit die Bewährungsprobe, ob sie auch die Zukunft gestalten wolle und könne, stand der ostdeutschen Sozialdemokratie aber erst noch bevor. Es ist unüblich, aber plausibel, den 6. Mai 1990 als das entscheidende Gründungsdatum der ostdeutschen SPD anzusehen. Das war der Tag, an dem in der vergehenden DDR die ersten freien
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Kommunalwahlen stattfanden. Auf einen Schlag gelangten mit dieser Kommunalwahl Tausende von ostdeutschen Sozialdemokraten, die zu DDR-Zeiten nicht in politischer Verantwortung gewesen waren, in Kreistage, Stadtverordnetenversammlungen und Gemeindeparlamente. Hunderte wurden gleichsam aus dem Stand zu Landräten und Bürgermeistern, Beigeordneten, Jugendamtsleitern oder Kämmerern. In einer Zeit dramatischen Umbruchs, großer Ungewissheit und rechtlicher Unsicherheit mussten sie überall an den Graswurzeln einer aufgewühlten Gesellschaft zwischen Rügen und dem Fichtelberg buchstäblich das Ausbrechen des Chaos verhindern. Sie mussten gleichzeitig Neues lernen und Entscheidungen von großer Tragweite treffen, außerdem noch eine Partei aufbauen und mit all ihrem Handeln das Vertrauen der Menschen in die Sozialdemokratie rechtfertigen. Es war eine ungeheuere Aufgabe, die viele der 1990 verantwortlichen Sozialdemokraten mit Bravour gemeistert haben. Die harte Arbeit der Kommunalpolitiker in der ersten Stunde des demokratischen Neubeginns war das wichtigste Unterpfand der Etablierung nicht nur der Sozialdemokratie, sondern auch der Parteiendemokratie in Ostdeutschland überhaupt.
Dabei stützte sich die ostdeutsche SPD besonders auf eine soziologische Gruppe unter ihren Neumitgliedern, um die sich Peter Glotz als Bundesgeschäftsführer der westdeutschen Sozialdemokratie schon in der ersten Hälfte der achtziger Jahre ohne nennenswerten Erfolg bemüht hatte: Das waren die Angehörigen der technischen Intelligenz. Viele sozialdemokratische Landräte und Bürgermeister der Nachwendezeit waren hoch qualifizierte, pragmatische, in der Lösung praktischer Alltagsprobleme geübte Diplomingenieure. Es waren Menschen, die das System der DDR ablehnten, weil sie dessen ökonomische Ineffizienz aus der Erfahrung ihres Arbeitsalltags sehr genau kannten – und weil sie sich zugleich daran stießen, wie im Staat der SED vernünftige und praktikable Lösungen aus ideologischen Gründen verhindert wurden. Die Angehörigen dieser Gruppe begrüßten den Neuanfang, der auch einen Bruch in ihrer Biografie bedeutete, weil sie die alten Eliten ablösen und schnell lebenspraktische Veränderungen herbeiführen wollten. Ihre Neugier, ihr Ehrgeiz, besonders aber ihre praktische Vernunft waren wichtige Voraussetzungen dafür, dass der Transformationsprozess auf kommunaler Ebene gelingen konnte. Diese tatkräftige Generation der 35 bis 45
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Jahre alten Ingenieure war nicht nur für die SPD ein Glücksfall, sondern auch für die Demokratie in Ostdeutschland insgesamt. Sie waren und sind unideologisch, verwurzelt in ihrer Region, sozial verantwortlich und pragmatisch ins Gelingen verliebt. In der Kommunalpolitik sind Parteien über ihre Repräsentanten unmittelbar erlebbar. Hier wird ihre Kompetenz, geeignetes Personal zu rekrutieren und zu qualifizieren, von den Bürgern ganz direkt wahrgenommen. Hier entstehen Vertrauen und Bindung – und hier werden Vertrauen und Bindung zuweilen auch wieder verspielt. Die SPD hat diese Erkenntnis in den vergangenen Jahrzehnten vernachlässigt. Dem Niedergang der SPD in Bundesländern ging in der Regel ihr Niedergang in den größeren Städten dieser Länder voraus. Das klassische Beispiel für diesen Mechanismus ist Frankfurt am Main, aber auch die Stadtstaaten Berlin und Hamburg haben ihn seit den siebziger Jahren erlebt. Franz Müntefering und Matthias Machnig haben in ihren Vorschlägen zur Parteireform dieses Problem erkannt und mit der Gründung einer „Kommunalakademie“ für kommunale Leitungsfunktionen den Versuch gestartet, eine Antwort zu entwickeln. Diese Initiative ist beispielsweise in Brandenburg durch eine Landes-Kommunalakade-
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mie ergänzt worden, in der bereits im ersten Jahr 120 jüngere Parteimitglieder in Rhetorik, kommunalem Haushalts- und Baurecht qualifiziert wurden, die sich bei den Kommunalwahlen 2003 erstmals um ein Mandat in kommunalen Vertretungen bewerben. Aufschlussreich ist in diesem Kontext, dass die Brandenburger SPD-Kommunalakademie zwar gegründet wurde, um die örtlichen Parteigliederungen zu motivieren, frühzeitig geeignete Kandidaten für die Kommunalwahlen zu gewinnen. Der unerwartet große Ansturm auf das Angebot zeigt aber auch, wie Parteien neue Aktivisten und Mitglieder gewinnen können: Sie müssen neue und vor allem exklusive Angebote schaffen, die so nur bei ihnen zu erhalten sind. Und diese Angebote müssen so gut sein, dass sie auch außerhalb der Partei verwertbar sind. In Brandenburg ist das Angebot aus der Not heraus entstanden. In der Not wächst aber das Rettende auch – vielleicht für die Parteien im Osten und im Westen?
III. Im Jahr 1988 erschreckte Wolfgang Michal, ein damals 32 Jahre alter ehemaliger Redakteur der sozialdemokratischen Parteizeitung „Vorwärts“, seine Parteispitze mit seinem Buch Die SPD – staatstreu und jugendfrei. Akribisch
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und kenntnisreich beschrieb er, wie es seiner Partei gelungen war, innerhalb eines guten Jahrzehnts von der blühenden Hoffnungsträgerin der Nach-Apo-Jugend zur fast jugendfreien Zone zu verkümmern. In den frühen siebziger Jahren war eine ganze Generation von reformbegeisterten jugendlichen „Willy-Wählern“ in die SPD geströmt. Sie machte sich mit vielen Illusionen und noch mehr Enthusiasmus auf den Weg, mit der SPD eine neue Welt zu schaffen. Innerhalb weniger Jahre überschritt die SPD die Schwelle von einer Million Mitgliedern, von denen nun fast 350.000 jünger waren als 35 Jahre. Aber schon wenige Jahre später, am Ende der Ära Schmidt war davon kaum noch etwas übrig. Die SPD hatte es nicht verstanden, eine Mehrheit der ihr hoffnungsvoll zugeströmten Menschen zu integrieren. Noch schlimmer, sie hatte es weitgehend nicht einmal versucht. Das zunächst aggressiv-feindliche Auftreten eines Teils der Partei gegen die entstehenden neuen sozialen Bewegungen der Frauen-, Friedens-, Ökologie- und Dritte-Welt-Gruppen beförderte letztlich sogar die Entstehung der neuen Konkurrenz „Die Grünen“, die sich zur Jugendpartei schlechthin der achtziger Jahre entwickelten. In diesem Prozess wurde ein Teil der jüngeren SPD-Mitglieder, der mit den
neuen sozialen Bewegungen sympathisierte, aus der Partei heraus gedrängt. Dieser Aderlass endete erst mit dem Wechsel auf die Oppositionsbänke in den Jahren 1982/83. Schlimmer und verhängnisvoller für die weitere Entwicklung der Sozialdemokratie waren aber die Selbstüberschätzung und die Selbstgefälligkeit in ihrer Jugendarbeit. In weiten Teilen der Partei gilt selbst heute noch der Satz, dass für die Jugendarbeit die Jusos zuständig sind. Das war eine Situation, mit der sich beide Seiten gut einrichten konnten: Hier die Partei, die der aufmüpfigen, schon bald aber nicht mehr nennenswert störenden Jugend einen Spielplatz eingerichtet hatte, dort die Jusos, die sich in einer Parallelwelt jenseits des wirklichen Lebens tüchtig austoben konnten. Anfang der achtziger Jahre kümmerten sich Helmut Kohl und die anderen Granden der Christdemokratie sorgfältig darum, dass Roland Koch, Christian Wulff, Christoph Böhr und die anderen Funktionäre der Jungen Union jener Zeit fleißig Rhetorikseminare besuchten und Stipendien der Konrad-Adenauer-Stiftung für ihre Jura- oder BWLStudien erhielten. Zur gleichen Zeit registrierte die Presse sehr genau, dass die sozialdemokratische Parteispitze Juso-Bundeskongresse fast vollständig ignorierte, ja sich dort nicht einmal
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mehr der Diskussion stellte. Im Ergebnis sind Roland Koch und Christian Wulff heute Ministerpräsidenten. Und die Juso-Bundesvorsitzenden der achtziger Jahre kennt kein Mensch mehr. Das fast schon sträfliche Versagen der SPD in ihrer Jugendarbeit in den siebziger und achtziger Jahren ist eine der wesentlichen Ursachen ihrer heutigen Krise. Das quantitative und qualitative Loch, welches das Unvermögen der Partei geschlagen hat, eine gezielte Nachwuchsförderung zu betreiben, gefährdet heute in den Ländern und in den kommenden Jahren im Bund ihre Regierungsfähigkeit. Die ostdeutschen Landesverbände sind seit 1989/90 in einer völlig anderen Situation. Sie schleppen nicht die Altlasten der westdeutschen Sozialdemokratie mit sich herum. Die SPD in Ostdeutschland wurde fast ausschließlich von Angehörigen der jüngeren und mittleren Generation gegründet. Fast alle ihre Mitglieder gingen mit vergleichbaren Startvoraussetzungen in die Verantwortung von Ämtern, Mandaten und Funktionen. Keiner hatte die Zeit oder die Chance, eine anstrengende, vielleicht auch lehrreiche „Ochsentour“ durch die Partei anzutreten. Die engagierten Mitglieder waren zu wenige, die Aufgaben groß – für manche zu groß. Voraussetzung für die Übernahme von Verantwortung war
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und ist die Bereitschaft zum Engagement und zur Qualifikation: eine große Chance für junge Menschen, die gefordert und gefördert werden wollen. Ein gezieltes Fordern und Fördern junger Parteimitglieder wird zwar über die Zukunft aller Parteien nicht nur in Ostdeutschland entscheiden. Für die SPD wird es aber geradezu überlebensnotwendig. Die Generation der 20- bis 30-Jährigen in der ostdeutschen SPD, beispielsweise der junge Bundestagsabgeordnete Carsten Schneider aus Erfurt, die stellvertretende SPD-Landesvorsitzende Katrin Molkentin in Brandenburg und der Landtagsabgeordnete Matthias Brodkorb in Mecklenburg-Vorpommern müssen genauso das Bild ihrer Partei prägen wie Matthias Platzeck, Harald Ringstorff und Christoph Matschie.
IV. Seit Bill Clinton wissen wir in Deutschland was ein spin doctor ist. Auch wenn der SPD-Generalsekretär im Frühsommer 2002 auf Parteikonferenzen den sozialdemokratischen „Mundfunk gegen den Rundfunk“ beschwor – bei der Vorbereitung der heißen Wahlkampfphase setzte er doch mehr auf die Beratung durch Meinungsforschungsinstitute, auf die mediengerechte Inszenierung der Wahlkampfevents und die Bildsprache
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von Werbetextern, die ihr Können sonst an die großen Marken der Konsumindustrie verkaufen. Koordiniert wurde das alles von gut qualifizierten Parteimanagern, die sich ihren letzten Schliff bei der Beobachtung der Wahlkämpfe der amerikanischen Demokraten geholt hatten und es gerne geschehen ließen, dass Medien sie zu den neuen spin doctors stilisierten. Nach dem Motto „Alle Macht den Profis“ wurde die Parteimitgliedschaft mit ihren roten Sonnenschirmen und ihrem selbst gebackenen Kuchen zur bloßen Staffage und Zuschauerkulisse einer ausgefeilten Kampagne. Und als diese endlich gut lief, waren es auch alle zufrieden. Der Trend, der mit der Wahlkampagne 1998 in Deutschland erstmals richtig wirkungsmächtig wurde, scheint unaufhaltsam. Die Parteien richten ihre „Kampa“ oder ihre „Arena“ ein, in den war rooms der Zentralen werden von wenigen hoch qualifizierten, motivierten und gut gestylten Menschen ständig Meinungsumfragen studiert, Begriffe auf ihre Massenwirksamkeit getestet sowie Anzeigen und Werbespots entwickelt. Der Ortsvereins- und Kreisvorsitzende, ja selbst der örtliche Bundestagskandidat nimmt das Fertigprodukt zur Kenntnis, darf sich über Erfolge freuen oder über Misserfolge ärgern. Am Ende der Kampagne hebt
das Raumschiff mit den Profis wieder ab; womöglich wird es vier Jahre später wieder an der gleichen Stelle landen. In der Zwischenzeit aber dilettieren die Parteiamateure weiter – an der Konsolidierung ihres Kommunalhaushaltes, an einer neuen Rentenreform. Oder an der Zukunft des Sozialstaates. Dieser etwas zynisch anmutende Blick verweist auf den blinden Fleck der laufenden Debatte über die vermeintlich notwendige Professionalisierung der Parteien: Wahlkampf ist die Ausnahme, die Lösung praktischer Probleme und die Entwicklung langfristiger Lösungsstrategien sind der Alltag politischer Parteien. Langfristig kann keine noch so gut gemachte Kampagne konzeptionelle Defizite und mangelnde praktische Lösungskompetenz der handelnden Akteure überdecken – eine Erfahrung, die gerade die rot-grüne Koalition nach der Bundestagswahl 2002 atemberaubend schnell und heftig machen musste. Die Sozialdemokratie merkt derzeit, dass eine Partei sich ihres Sinns entleert, die sich zwar ihr Image virtuell entwickeln lässt, den Meinungsstreit über ihre politischen Inhalte aber nicht mehr ernsthaft führt. Eine Partei, die sich durch veränderte Realitäten ihres Sinns und ihrer Ziele nicht mehr sicher ist, kann zwar kurzfristig und ersatzweise von Profis eine modisch-attraktive Sinn-
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wolke generieren lassen, dauerhaft aber wird sie nicht lebensfähig sein. Und eine Partei, die sich von spin doctors abhängig gemacht hat, muss erst wieder lernen, alleine zu gehen. Sie muss lernen, vor allem sich selbst zu professionalisieren – also ihre eigenen Mitglieder durch ihre eigenen Mitglieder. Bildungsarbeit, Qualifizierung, Meinungsstreit, ja auch die ideenpolitische Kontroverse sind in den Parteien aus der Mode geraten. Aber gerade in Zeiten tiefgehenden Wandels und großer Verunsicherung sind sie bitter notwendig. In Ostdeutschland ist heute mit Händen zu greifen, dass die Menschen aus der Starre der Transformationsphase erwachen. Das Ende der Nachwendezeit weckt bei vielen das Bedürfnis, sich ihrer selbst und der Verhältnisse zu vergewissern, eine neue Haltung zu entwickeln, an den Umbauprozessen im neuen, sich insgesamt verändernden Deutschland aktiv teilzunehmen. Das kann zur großen Chance für Parteien werden, die dafür offen stehen und das Mitmachen zulassen. Um diese Menschen zu erreichen, sie für ein Engagement zu gewinnen, müssen Parteien intellektuell attraktiver werden. Sie müssen aber auch handfeste Angebote machen, die das Mitmachen lohnen, weil sie individuelle Qualifikationen verbessern und ein konkretes Abrechnen des eingebrachten Engagements
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ermöglichen. Nicht nur im Osten gibt es dafür das Bedürfnis. Die Frage ist, ob Parteien diese Nachfrage befriedigen können – und wollen.
V. In einer Dienstleistungsgesellschaft sind auch Parteien Dienstleister. Mit ihrem spezifischen Angebot bedienen sie aber nicht nur Haltungen, sie übermitteln umgekehrt auch Haltungen und Erwartungen an eine Gesellschaft und geben ihnen eine Richtung. Ihr Erfolg hängt nicht nur davon ab, ob sie in der Lage sind, Konflikte in einer komplexen Gesellschaft zu moderieren und mehrheitsfähige Lösungsansätze qualifiziert in die Tat umzusetzen. Sie müssen auch eine Idee davon haben, warum und – vor allem – wie eine Gesellschaft funktionieren soll. Die Unterscheidbarkeit von Parteien macht sich also nicht nur an ihrer Kompetenz zur Lösung von Problemen fest, sondern auch an ihren damit je verbundenen Vorstellungen vom künftigen Zusammenleben der Gesellschaft. Erfolgreich werden also in Zukunft diejenigen Parteien sein, denen es gelingt, diese Einheit aus Idee und praktischer Kompetenz zu verdeutlichen. Und die geeignetes Personal haben, um genau dies glaubwürdig zu kommunizieren. Alle Befragungen zeigen, dass die Menschen sich Politiker wünschen,
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die Authentizität mit Kompetenz und Engagement verbinden. Die große Verehrung, die etwa Regine Hildebrandt in Ost und West auch noch nach ihrem Tod entgegengebracht wird, belegt das Bedürfnis, das danach bei den Menschen besteht. Womöglich ist gerade dies die Chance einer neuen Generation von Politikern aus dem Osten, die ihre politische Sozialisation nach der Wendezeit erlebten. Sie sind die erste Generation, die nicht verfangen ist in die politischen Ränke- und Sandkasten-
spiele der alten Bonner Republik. Die erste Generation, die Authentizität aus der Lösung der Transformationsprobleme gewonnen und dabei einen klaren Blick für den Reformbedarf des neuen Deutschland entwickelt hat. Sollte diese Generation der Platzecks und Tiefensees einen gesamtdeutschen Anspruch entwickeln, könnte sie vielleicht nicht nur die Parteiendemokratie wiederbeleben. Sie könnte auch den nötigen Reformschub für ganz Deutschland auslösen.
Klaus Ness, Landesgeschäftsführer der SPD Brandenburg. Der Beitrag ist ein Vorabdruck aus dem von Tanja Busse und Tobias Dürr herausgegebenen Buch „Das neue Deutschland. Die Zukunft als Chance“, das Ende September 2003 im Aufbau-Verlag erscheint.
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Der Weg aus dem PISA-Loch Erfolgreiche Schritte für die Brandenburger Schulen von Martin Gorholt
1. Das Wissen um die Ergebnisse von Bildungsprozessen vergrößert sich von Jahr zu Jahr. Alle 3 Jahre findet der internationale PISA-Test (15-jährige) statt, im Frühjahr diesen Jahres haben wir die Ergebnisse des internationalen IGLUTests (Grundschule Klasse 4) erhalten, Ende des Jahres wird der nationale IGLU-Vergleich veröffentlicht. Dem entspricht nicht das gesicherte Wissen um die Gründe der Ergebnisse und das Wissen um die Möglichkeiten, die Ergebnisse zu verbessern. Wissenschaftliche Wirkungsanalysen über bestimmte Maßnahmen oder auch von konkretem Lehrerhandeln liegen kaum vor. Deshalb sind wir bei der Fehleranalyse als auch bei vorgeschlagenen Maßnahmen auf Plausibilitätsannahmen angewiesen, die sich auf Vergleiche mit anderen Bundesländern oder internationale Vergleiche beziehen. Bei diesen Vergleichen sollten wir uns eher auf die internationale Spitze beziehen als auf die deutsche Spitze, da die deutsche Spitze international wiederum nur Durchschnitt ist. Dabei ist zu
beachten, ob bei Übernahme von einzelnen Instrumenten die Passfähigkeit zum Gesamtsystem gegeben ist, ob bestimmte Maßnahmen in das andere kulturelle und mentale Umfeld passen und an das vorhandene Qualifikationsniveau der Bildungsakteure anknüpfen. Auch für die nach den IGLU-Ergebnissen wieder neu aufgeflammte Strukturdiskussion gilt es, dies zu beachten. Beim IGLU-Test ist der Abstand Deutschlands zur Weltspitze deutlich geringer als bei PISA, wenn auch der deutsche Rangplatz im vorderen Mittelfeld zu relativieren ist, da viele Länder, die beim PISA-Test vor Deutschland lagen, sich an IGLU nicht beteiligten. Richtig ist, dass das dreigliedrige, mit den allgemeinen Förderschulen sogar viergliedrige deutsche Schulsystem vor allem an den Schnittstellen Selektion vor Förderung stellt, Schulzeit durch zu häufiges Sitzenbleiben und Schulformwechsel verplempert und Bildungslagen durch ein entsprechendes Lernumfeld zementiert. Es gibt jedoch in Deutschland für grundlegende Strukturreformen in Richtung auf ein ein-
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heitliches Schulsystem auch nach der Grundschule keinen politischen Konsens, so dass eine solche Reform nicht kontinuierlich und stabil machbar wäre. Zum anderen gilt das oben gesagte, die Lehrkräfte müssten zum Beispiel lernen mit heterogenen Lerngruppen umzugehen und einen auf die einzelnen Schüler und ihren Förderbedarf zugeschnittenen Unterricht zu organisieren. In Deutschland realistischer durchsetzbar ist ein zweigliedriges Schulsystem, das nach der Wende von der CDU in drei neuen Ländern eingeführt wurde. In Brandenburg wäre eine solche Schulstruktur schon wegen der zurückgehenden Schülerzahlen im ländlichen Raum eine Notwendigkeit, auf die sich die große Koalition leider nicht verständigen konnte. Neben vielen Einzelpunkten können als plausible Hauptgründe für das schlechte Brandenburger PISA-Ergebnis das nichtvorhandene gemeinsame Qualitätsverständnis von Schule und Unterricht und die fehlende Evaluationskultur in den 90er Jahren genannt werden. Bei allen neu zu ergreifenden Maßnahmen ist zu bedenken, dass diese nur dann Schule wirklich verändern, wenn die Implementation professionell erfolgt. Deshalb ist weniger oft mehr, da nicht viele oberflächliche Veränderungen sondern wenige durchgreifende Veränderungen mehr be-
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wirken. Dabei ist die Konzentration auf die Veränderung jeder Einzelschule und deren Ergebnisorientierung der einzig mögliche und richtige Weg.
2. Es gibt keinen direkten Zusammenhang zwischen der eingesetzten Menge an Geld und den erzielten Bildungsergebnissen. Bremen und Brandenburg waren neben Sachsen-Anhalt die Schlusslichter bei PISA, Brandenburg allerdings mit einem Drittel geringerer Stückkosten als Bremen (Bernhard Muszynski). Ein leistungsfähiges Bildungssystem setzt jedoch kontinuierlich angemessen hohe Ausgaben voraus. Für Brandenburg wird es besondere Anstrengungen verlangen, trotz der deutlich über den anderen neuen Bundesländern liegenden jährlichen Haushaltsbelastungen durch Zinszahlungen für die Anfang der 90er Jahren höhere Neuverschuldung und das aufgebaute Wohnungsbauvermögen eine klare Prioritätensetzung auf Bildung durchzusetzen und durchzuhalten. Die Agenda 2010 könnte in der Bundesrepublik eine neue grundlegende Prioritätensetzung einleiten. Im Mittelpunkt des staatlichen Handelns steht nicht mehr die Umverteilung von Geld, sondern die Verteilung von Chancen durch Bildung. Vorbild könnte das „skandinavische Hochbildungs-Mo-
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dell“ (Matthias Horx) sein, das Bildungsprozesse dem Strukturwandel voraus organisiert, die Qualifikation der Frauen durch Kinderbetreuung voll nutzt und Bildung und Weiterbildung als Kernelemente der Sozialpolitik sieht. Eine solche Hochbildungsgesellschaft könnte als realistische Zukunftsvision mobilisierungsfähig sein.
3. In der aktuelle Bildungsdebatte besteht weitgehende Einigkeit über das zu entwickelnde Steuerungsmodell. Die Selbständigkeit der Schulen ist zu erweitern bei gleichzeitig klarer externer Standardsetzung und Kontrolle des Outputs, Kontrolle an Hand der Ergebnisse, also der Leistungen der Schülerinnen und Schüler. Selbständigkeit von Schule bezieht sich auf die schrittweise Erweiterung von Handlungsspielräumen auf den Feldern Budgetrecht, Personalhoheit, Fortbildung und Unterrichtsorganisation. Die selbständige Schule setzt sich ein Schulprogramm, das insbesondere zur Qualitätsentwicklung dient. Die externe Standardsetzung erfolgt über die Rahmenlehrpläne und Qualitätsstandards. Die externe Standardüberprüfung erfolgt durch zentrale Tests und Prüfungen (in Brandenburg: Klasse 2, Klasse 10, Zentralabitur, Vergleichsarbeiten mit Beispielaufgaben
in 5 und 8) und die deutschlandweiten bzw. internationalen Tests. Wichtig dabei ist, dass die externen Informationen in internes Handeln umgesetzt werden. Ab 2004 sollen bundesweit über die Kultusministerkonferenz vereinbarte Standards vorliegen. Ob diese Standards den Kriterien des vom Bundesbildungsministerium in Auftrag gegebenen Gutachtens von Eckhard Klieme u.a. entsprechen und Kompetenzen beschreiben, deren Erreichen mithilfe eines nationalen Testverfahrens überprüft werden kann, ist allerdings noch offen bzw. eher zu bezweifeln. Die interne Evaluation erfolgt durch regelmäßige Kontrolle über das Erreichen der Ziele des Schulprogramms und durch ein regelmäßiges Feedback von Lehrern, Schülern und Eltern bezüglich der Unterrichtsund Schulqualität.
4. Im Mittelpunkt der Veränderungen steht die Veränderung von Unterricht. Dabei geht es um stärkere Beachtung des Literacy-Ansatzes, also um das Umgehen mit Wissen, das Lösen von Problemen und das Anwenden von Wissen. Es geht um Leseförderung und Entwicklung einer Lesekultur. Es geht um regelmäßige Diagnose des Lernstandes der Schülerinnen und Schüler und die Entwicklung von individuellen Lernplä-
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nen für jeden einzelnen Schüler. Nicht Selektion, sondern Förderung steht im Mittelpunkt. Es geht um einen flexiblen Unterricht, der nicht nur die Lernziele fragend entwickelt, sondern sich abwechselt mit Selbstlernen und von einander Lernen der Schüler, selbständigem Umgang mit Medien, so dass Lehrkräfte auch entlastet werden und stärker die Schülerinnen und Schüler beobachten können. Es geht darum, schulmüde Jugendliche zu erreichen, durch stärkeren Praxisbezug und externe Praxisphasen. Da es zentral um die Verbesserung von Unterricht geht, sind die Verbreitung der Ergebnisse des Sinus-Projekts (Veränderung des mathematisch-naturwissenschaftlichen Unterrichts) oder Projekte wie Leseförderung und Lernstandsdiagnostik oder Phasen von jahrgangsübergreifendem Unterricht mindestens ebenso wichtig wie die „spektakuläreren Maßnahmen“ Prüfungen Ende der Klasse 10 oder das Zentralabitur.
5. Ein Konsens in der Bildungsdebatte ist die stärkere Betonung der Frühförderung. Auch in den Kindertagesstätten geht es um Standardsetzungen, aber auch um konkrete Praxishilfen bei der Lernstandsdiagnostik, beim Interesse wecken an Büchern, an der Natur und an den Naturwissenschaften oder
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bei der Entwicklung von sozialen Kompetenzen. Sprachstandsmessungen sollten nicht wie in den meisten Bundesländern kurz vor der Einschulung stattfinden, sondern kontinuierlich die Kita-Zeit begleiten. In Brandenburg kann eine solche Messung an die „Grenzsteine der Entwicklung“ anknüpfen. Die Bedeutung der Frühförderung ergibt sich aus dem Vergleich mit anderen Ländern wie Frankreich oder den skandinavischen und aus den neueren Erkenntnissen der Gehirnforschung. Durch die deutsche Zuordnung der Kitas zur Jugendhilfe fehlt zur Umsetzung von Bildungsstandards fast vollständig ein System zur Implementation, Unterstützung und Evaluation. Der Aufbau eines solchen Systems mit Hilfe der Verbände der freien Träger, der Ansätze von Forschung und Praxisunterstützung und der Schulsysteme müsste Priorität besitzen. Das „Vorschuljahr“ könnte beispielsweise gemeinsam gestaltet werden durch ein Netzwerk von Kitas und Grundschulen, die Standards definieren und kooperativ Lernentwicklungen fördern.
6. Angesichts der Bedeutung dieser Berufe müssten eigentlich die Besten Lehrer und Erzieher werden wollen. Dies ist der entscheidende Unterschied
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zu Ländern wie Finnland, wo das Lehrerstudium hoch begehrt und auf jeden Studienplatz mehrere Bewerber kommen. Die Professionalität von Lehrern ist eine Frage der Qualifikation und der Motivation. Eine Reform der Erzieher/innen- und Lehrer/innen-Ausbildung muss deshalb immer gleichzeitig die Erhöhung der Qualität der Ausbildung und die Stärkung ihrer Attraktivität im Blick haben. Denn auch in Brandenburg ist im Lehrer- und im Erzieherbereich absehbar, wann es einen akuten Mangel an Bewerbern geben wird. Erzieherausbildung und Lehrerbildung ist ein kontinuierlicher Prozess. Die dritte Phase, also die berufsbegleitende, laufende Fortbildung ist deshalb deutlicher in den Blick zu nehmen und auf Anreizsysteme hin zu überprüfen. In der ersten und zweiten Phase der Ausbildung sind die Strukturen weniger entscheidend (wobei Straffung der ersten Phase immer richtig ist) als die gesetzten und umgesetzten Standards, in Bezug auf die zu erwerbenden Kompetenzen in den Unterrichtsfächern, in den Erziehungswissenschaften, in den Fachdidaktiken und in den schulpraktischen Studien. Weder das Qualifikationsspektrum noch der Bedarf an Fachkräften sprechen dafür, für den Erzieherberuf das Abitur vorauszusetzen. Vielmehr sollte
auch hier Flexibilität gelten und als Aufbaustudium insbesondere für Leitungsfunktionen ein Studium entwickelt werden, wie es an der FH Potsdam mit dem bachelor of education geplant ist. Wichtig ist, dass die gesellschaftliche Wertschätzung für den Erzieher- und Lehrerberuf sich deutlich erhöht und sich dies auch niederschlägt auf die Institutionen, die für diese Ausbildung zuständig sind, die Hochschulen und Universitäten. Das gilt insbesondere für die Bildung des Zentrums für die Lehrerbildung an der Universität Potsdam, was zentral die Interessen der Lehrerbildung an der Hochschule wahrnimmt und in allen Instanzen die Wertigkeit der Ausbildung erhöht.
7. Bildung ist nicht nur Pädagogik und Didaktik, sondern fast in gleicher Weise Management, Ökonomie und Organisation. Das Gesamtsystem Bildung muss professioneller, effizienter und effektiver werden. Wir brauchen mehr Professionalität auf allen Ebenen. Dies beginnt bei einem Ministerium, dass sich auf seine Kerngeschäfte konzentriert und deutlich Prioritäten setzt. Dies endet bei der Unterrichtsorganisation eines jeden Lehrers bei der Vorbereitung, der Durchführung und der Auswertung. Wir brauchen eine neue
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Kultur der Zusammenarbeit in den Kollegien durch eine Rückmeldekultur, die Arbeit der Fachkonferenzen und gegenseitige Unterrichtsbesuche. Wir brauchen auch eine neue Arbeitszeitregelung für Lehrkräfte. Die Schulleitung übernimmt Verantwortung für die Ergebnisse und damit für die Schulund Unterrichtsentwicklung, aber auch für Personalführung und -Entwicklung, Weiterbildung, Rekrutierung und Qualifizierung der Lehrkräfte. Zwischen Ministerium und Schule liegen die Schulaufsicht, das Unterstützungs- und Beratungssystem, die Qualitätskontrolle, die Fortbildungseinrichtungen und das sich in Brandenburg im Aufbau befindliche Visitationssystem. Inwieweit dieses Gesamtsystem optimal funktioniert, hat viel mit Organisation und Effizienz, aber auch mit professioneller Personalentwicklung auf jeder Ebene zu tun.
8. Der demographische Wandel wird gravierende Auswirkungen auf das Bildungssystem in Brandenburg und in den anderen neuen Ländern haben. Auf der einen Seite könnte die Ausnahmesituation Marktwirtschaft im Bildungsbereich, dass sich nämlich nur die besten Schulen durchsetzen und die schlechten Schulen schließen, auch zu mehr Qualität führen. Das setzt voraus,
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dass sich die Schulwahl der Eltern tatsächlich nach ihrer Qualität richtet, was wiederum Markttransparenz und freien Marktzugang (zumutbare Wege) voraussetzt. Auf der anderen Seite ist das System „Schulen und auch Lehrer auf Abruf“ (Baumert) wenig qualitätsfördernd. Insbesondere das Management der Lehrerzuweisung nach Lehrerbedarf und Lehrernachfrage führt zu Diskontinuitäten, Instabilitäten und auch zu der Situation, dass Schulleitungen sich nur begrenzt für ihre Lehrer und ihr Lehrerkollegium verantwortlich fühlen können. Inwieweit sich die vielfältigen Anstrengungen zur Steigerung der Qualität in Brandenburg positiv auswirken oder die negativen Auswirkungen durch die Konsequenzen des demographischen Wandels durchschlagen, werden die nächsten Jahre zeigen. Auch die Auswirkungen des demographischen Wandels auf die Funktion der Einzelsysteme ist zu beachten. So wird sich z.B. das Gymnasium auf einen größeren Anteil der Schülerschaft und damit auch auf eine größere Heterogenität einstellen müssen, da politisch eine höhere Abiturquote beim Blick auf den internationalen Vergleich gewünscht ist. Dabei wäre es gleichzeitig wünschenswert, dass die Flexibilität für die einzelnen Schulformen größer würde. Das beinhaltet z.B. die KMK-Festlegun-
Der Weg aus dem PISA-Loch
gen für Differenzierungsunterricht in der Gesamtschule. Letztlich gilt, je friktionsloser und im Bezug auf die Auswirkungen planmäßiger der demographische Wandel bewältigt wird, desto weniger wird die Qualität von Schule darunter leiden bzw. werden die ergriffenen Maßnahmen zur Qualitätssteigerung konterkariert. Der Beschluss und die planmäßige Umsetzung des Schulressourcenkonzepts sind für die Qualität von Schulunterricht genau so wichtig, wie die Maßnahmen zur Qualitätssteigerung.
9. Die Grundlage für eine neue Kultur des Lernens und der Leistung bilden neue Kooperationsformen zwischen den Akteuren von Bildung, Betreuung und Erziehung im Interesse der Kinder und Jugendlichen. Im Mittelpunkt steht das Dreiecksverhältnis von Leh-
rern, Schülern und Eltern, wobei zu beachten ist, dass dort die staatliche und die private Sphäre aufeinander treffen. Eine neue Kultur von Respekt und Vertrauen kann durch Verhaltensvereinbarungen, Erziehungsbündnisse und Elternseminare erreicht werden. Multiplikatorwirkungen von Fortbildung und Erfahrung können sich nur in einem Netzwerk entfalten. Zu den Kooperationsfeldern gehören Kita und Schule, Hort und Schule, Jugendhilfe und Schule, Kulturarbeit und Schule. Eine neue Kooperationskultur und neue Netzwerke entstehen durch neue Arbeitszeiten der Lehrkräfte und neue Unterrichts- und Lernzeiten in der Schule. Eine solche Kultur entsteht in neuen kreativen Ganztagsangeboten, die sich rund um die Schule entwickeln, die Unterricht ergänzen und ein anregungsreiches Klima und Umfeld schaffen.
Martin Gorholt, Leiter Ministerbüro und Pressesprecher im Bildungsministerium Brandenburg
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Verfassungsreform und ostdeutsche Interessen von Klaus Faber
Entflechtung im deutschen Föderalismus und auf EU-Ebene Wir stehen am Anfang einer neuen verfassungspolitischen Debatte. Insbesondere süddeutsche Verteidiger der Landeszuständigkeiten, seit Ende März dieses Jahres unter starkem Einfluß ihrer Finanzminister ebenso die Regierungschefs der Länder, fordern, die Kompetenzen des Bundes zurückzuschneiden sowie Grau- und Mischzonen im Bund-Länder-Verhältnis abzuschaffen. Auf diese Vorschläge hat die Bundesregierung inzwischen mit eigenen Vorstellungen zur Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung reagiert. Anregungen zur „Föderalismusreform“, so das von manchen Ländervertretern verwandte Debattenetikett, gibt die gleichzeitig stattfindende Diskussion über die Ergebnisse des EU-Konvents. In der EU geht es, bei allen Unterschieden, wie in Deutschland um die Abgrenzung zwischen zwei Ebenen der Willensbildung, nämlich zwischen den Verantwortungsgebieten der EU-Staaten und der EU-Instanzen. Die EU-Organe trifft seit langem der Vorwurf, unaufhaltsam die eigenen Befugnisse auszudehnen.
Weder Bildungs- noch Wissenschaftsoder Kulturfragen sind frei von nicht unerheblichen EU-Einwirkungen. Mit Zustimmung der EU-Mitgliedsländer, genauer: auf ihr Betreiben, wird auch die klassische Außenpolitik von der EUEbene in Anspruch genommen, in wesentlichen Fragen allerdings manchmal mehr durch Formelkompromisse als durch tragfähig abgestimmte Positionen, wie zuletzt der Irak-Krieg gezeigt hat. Das hindert aber viele EU-Länder, darunter Deutschland, nicht daran, die Einsetzung eines europäischen Außenministers zu fordern. Vor allem wegen der Unterschiede im Bündnisstatus der EU-Mitgliedsländer und der Existenz der NATO blieb der militärische Sektor – die Spitze der traditionell definierten Staatsmacht – im EU-Aktionsspektrum bislang weitgehend ausgenommen. Das soll sich nach der Vorstellung Frankreichs, Deutschlands, Belgiens und Luxemburgs allerdings ändern. Eine Verbesserung der EU-Koordination sowie der demokratischen Legitimation der EU-Exekutive, aber ebenso
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Klaus Faber
die Eindämmung und klare Abgrenzung der EU-Kompetenzen schreiben vor diesem Hintergrund viele Länder als Reformziel auf ihr Panier. Zu ihnen gehört Deutschland, trotz der erwähnten Positionen, die in ihrer Wirkung vielleicht in die entgegengesetzte Richtung führen könnten; Deutschland bemüht für die eigene Aufassung als Argumentationsansatz u.a. sein Subsidaritätsverständnis, das von den EU-Behörden allerdings überwiegend nicht geteilt wird. „Entflechtung“ ist, wie die jüngsten Länderinitiativen und die darauf folgende Bundesreaktion zeigen, in Deutschland auch ein Stichwort der innerstaatlichen Verfassungsdiskussion. Einige verbinden die Föderalismusreform mit der Idee, den Territorialbestand der sechzehn Länder zu durchforsten. Weniger Bundesländer mit, so die Hoffnung, größerer Finanzkraft sollen danach Träger der Landesstaatlichkeit sein. Auf der anderen Seite des Debattenspektrums hat Bundeskanzler Gerhard Schröder im Wahlkampf 2002 Rahmenkompetenzen des Bundes für die Bildung sowie eine stärkere Bundes-
beteiligung bei der Bildungsfinanzierung vorgeschlagen. Die Bundesregierung hat in ihrer Stellungnahme zu den Länderpositionen einen derartigen Gedanken nicht explizit aufgegriffen, allerdings für die gemeinsame Bildungsplanung von Bund und Ländern einen „verpflichtenden Verfassungsauftrag“ gefordert, der insbesondere zu „bundesweit verbindlichen Standards“ in der Bildung führen soll. Außerdem schlägt der Bund als Ersatz für die auch nach seiner Auffassung künftig wegfallende BundLänder-Gemeinschaftsaufgabe Hochschulbau eine modifizierte, flexible Bundeshochschulförderung mit „inhaltlichen Gestaltungsrechten“ vor. Für andere Gebiete sieht die Bundesposition ausdrücklich die Stärkung von Bundeszuständigkeiten vor, etwa für den Umwelt- und Verbraucherschutz oder für den Schutz deutschen Kulturgutes vor Abwanderung in das Ausland. Gleichzeitig werden Verzichtsangebote gemacht, z.B. für Regelungskompetenzen des Bundes im Bereich der allgemeinen Rechtsverhältnisse der Presse oder des Jagdwesens.
Verfassungsreform und kooperativer Föderalismus Verfassungsänderungen setzen in Deutschland Zwei-Drittel-Mehrheiten im Bundestag und im Bundesrat voraus.
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Verfassungsreformen mit durchgreifenden Auswirkungen auf das BundLänder-Verhältnis sind infolgedessen
Verfassungsreform und ostdeutsche Interessen
erst ein Mal, während der Großen Koalition von 1966 bis 1969, auf den Weg gebracht und umgesetzt worden. Eine Neuauflage der Großen Koalition ist in der nächsten Zeit nicht sehr wahrscheinlich. Ähnliches gilt – mit oder ohne Große Koalition – für wichtige Verfassungsänderungen. Selbst wenn 2003 eine Große Koalition gebildet werden sollte, wäre der Zeitraum für die – erforderliche – vorbereitende Diskussion über derartige Änderungen und für die danach bis 2006 zu treffende Entscheidung wohl zu kurz. Ein Konsens über die Grundzüge einer an und für sich notwendigen Verfassungsreform ist in Deutschland nämlich noch nicht abzusehen. Insoweit unterscheidet sich die Ausgangsposition 2003 von derjenigen vor der Finanzverfassungsreform von 1969. Damals gab es eine weitgehende Übereinstimmung über die Zielsetzung und die Instrumente. „Kooperativer Föderalismus“ war in den sechziger Jahren eine politische Beschreibung der angestrebten Neuordnung, wie sie vor allem in den 1969 eingeführten neuen Bund-Länder-Gemeinschaftsaufgaben, etwa für den Hochschulbau, die Forschungsförderung, die Bildungsplanung, die regionale Wirtschaftsförderung oder die Agrarstruktur Ausdruck fand. Der Bund hatte sich bereits längere Zeit vor der
69er Verfassungsreform, einem Bedürfnis der Staatspraxis folgend, u.a. an der Förderung des Hochschulbaus, der Forschung oder von Stipendien beteiligt. Die Verfassungsreform von 1969 legalisierte in diesen und in anderen Bereichen die damals von allen Beteiligten anerkannte Bund-LänderMischfinanzierung. Die verfassungspolitische Debatte ist inzwischen von dem früheren Konsens zum kooperativen Föderalismus abgekommen. Politikverflechtung ist nach Auffassung vieler Kommentatoren die Folge des neuen Systems von BundLänder-Gemeinschaftsaufgaben und sonstiger, bereits vor 1969 vorhandener und nicht im Verfassungsrecht fixierter Formen der Länderzusammenarbeit, etwa in der Kultusministerkonferenz, oder der Bund-Länder-Kooperation. Die Ausschaltung des Parteienwettbewerbs um Wählermehrheiten und die Neigung zu Allparteienkoalitionen in den einstimmig beschließenden Koordinationsgremien gehörten zu den prägenden Merkmalen der Politikverflechtung in Deutschland, so bereits 1978 ein Bericht der Bundesregierung über die strukturellen Probleme des föderativen Bildungssystems (Bericht der Bundesregierung vom 22. 2. 1978, BT-Drs. 8/1551, s. dazu auch Glotz/Faber: Grundgesetz und Bildungswesen, in: Benda/Maihofer/Vogel, Handbuch des Ver-
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Klaus Faber
fassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland. Berlin, New York, 2. Aufl. 1994, S. 1415 ff.). Verstärkt werden die Verflechtungstendenzen durch das im deutschen Wahlbalancesystem im Laufe einer Legislaturperiode fast schon regelmäßig zu beobachtende
Phänomen, dass Bundestagsmehrheiten durch Bundesratsmehrheiten konterkariert werden – was nicht nur auf die zustimmungsbedürftigen Bundesgesetze Auswirkungen hat, deren Bedeutung in der Gesetzgebungspraxis eher zu – als abnimmt.
Änderungsvorschläge der Länder und des Bundes Einen Lösungsansatz sehen daher die meisten in der Entflechtung der „grauen Zone“ in der Bund-LänderZusammenarbeit, in der Länder-Selbstkoordination oder im Bundestag/Bundesrat-Verhältnis. Die Vorstellungen zur Entflechtungsrichtung stimmen allerdings oft nicht überein. Die Finanzminister vor allem der finanzstarken Länder und, ihnen folgend, jetzt ebenso die Länderregierungschefs denken z.B. daran, bei gleichzeitiger Übertragung höherer Steueranteile auf die Länder die Bundesfinanzierungsbeteiligung im Rahmen der Bund-Länder-Gemeinschaftsaufgaben einzuschränken. Andere, darunter, wie erwähnt, auch die Bundesregierung, treten auf bestimmten Gebieten für neue Bundesaufgaben ein; in Teilbereichen, z.B. bei der bundesweiten Festlegung von Bildungsstandards, soll damit die LänderSelbstkoordinierung (u.a. in der KMK) ersetzt werden.
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Bei der Überprüfung der Zustimmungsbedürftigkeit von Bundesgesetzen lassen die Landesregierungen Gesprächsbereitschaft mit ihrer Position erkennen, zunächst auf Bundesvorschläge zu warten. Die Bundesregierung regt auf diesem Gebiet u.a. an, die Zustimmungspflicht des Bundesrats auf Bundesgesetze zu begrenzen, die „Länderbelange unzweifelhaft tangieren“. Ob diese Auffassung zu einer Einigung führen kann, bleibt offen. Weitere in der Öffentlichkeit diskutierte Punkte einer möglichen Verfassungsreform, z.B. die Direktwahl des Bundespräsidenten oder Volksbefragungen auf der Bundesebene, spielen in der Länderkonzeption und der Bundesantwort keine Rolle. Die Länderneugliederung erwähnt der Bund in seiner Stellungnahme mit einem Appell zur Nutzung der vorhandenen Instrumente in Art. 29 des Grundgesetzes. Die Länder hatten diese Frage in ihrem vorausge-
Verfassungsreform und ostdeutsche Interessen
henden Positionspapier nicht angesprochen. Vielleicht abgesehen vom Sonderfall Berlin-Brandenburg besteht zur Zeit wenig Bereitschaft für eine weitergehende Länderneugliederung. Stellt man auf die bislang zu erkennenden Tendenzen von Länderregierungschefs und Bundesregierung ab, ist zur Zeit eine Einigung nur auf einigen begrenzten Gebieten vorstellbar. Das gilt etwa für die Auffassung der Regierungen, die Gemeinschaftsaufgabe Hochschulbau in der bislang geltenden Form aufzugeben (wozu allerdings Mecklenburg-Vorpommern einen Vorbehalt erklärt hat), für die im Grundsatz erklärte Bereitschaft, die Regelungen für Bundesfinanzhilfen zu reformieren und zu präzisieren, oder für die Absicht, den Bereich der Bundesrahmenkompetenzen neu zu ordnen, ihn überwiegend oder ganz zwischen Bund und Ländern aufzuteilen und dabei auch flexible Neuregelungen
einzuführen. Derartige Neuregelungen sollen Öffnungsklauseln zugunsten der Länder nach dem Muster des „opting out“ zulassen, wie es etwa das kanadische Föderalismussystem kennt. Im Detail bestehen jedoch auch auf diesen Gebieten regelmäßig Differenzen, z.B. in der Frage, ob die Gemeinschaftsaufgabe Hochschulbau einfach gestrichen oder, so der bereits erwähnte Bundesvorschlag, durch eine neue Förderzuständigkeit des Bundes ersetzt werden soll. Ähnliches gilt für die anderen Beispiele. Die konkreten Änderungsvorhaben der Bundes- und Landesseite zielen dort häufig in die jeweils entgegengesetzte Richtung; die Landesregierungen fordern nicht selten mehr Kompetenzen für die Länder, der Bund mehr Bundeseinfluß – was letztlich den Erwartungen entspricht und die bekannten Interessenbindungen der Gesprächspartner zeigt.
Öffentliche Debatte, nicht nur Regierungsabstimmung Im Bundestag ist Anfang Mai ein Antrag der Fraktionen der SPD, von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP eingebracht worden; er fordert, gegen die insoweit ohne Ländervorbehalt erklärte Position der Länderregierungschefs, die gemeinsame Bildungsplanung beizubehalten und die Arbeit
der Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung (BLK) fortzusetzen. Der Antrag macht auch im Verfahren auf ein Problem aufmerksam. Ob und auf welchem Weg die Debatte auch außerhalb von Verhandlungsrunden der Regierungen des Bundes und der Länder
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Klaus Faber
vor dem abschließenden Gesetzgebungsverfahren geführt werden soll, ist noch nicht geklärt. Man kann gegen eine Öffnung der Diskussion über den Kreis der Regierungen von Bund und Ländern hinaus nicht einwenden, bei der Föderalismusreform gehe es im wesentlichen um Bund-Länder – und im übrigen häufig um technisch komplizierte Fragen. Wer die Entflechtung von Zuständigkeiten, eine Stärkung des Wettbewerbs und die Verbesserung der Transparenz in der politischen Verantwortung des Bundes und der Länder als Zielsetzung der Reform deklariert, kann die Willensbildung für eine derartige Verfassungsänderung nicht so organisieren, das sie alle diese Grundsätze zunächst einmal außer acht läßt. Es darf deshalb nicht dazu kom-
men, das sich die Regierungen des Bundes und der Länder unter Ausschluß der Öffentlichkeit in einer Art Allparteienkoalition auf eine Reihe von Vorschlägen für eine Verfassungsänderung einigen und anschließend die an der Gesetzgebung beteiligten Körperschaften – Bundestag und Bundesrat – in eine Ratifizierungslage geraten, wie wir sie als Folge von Bund-Länder-Abkommen oder von KMK-Beschlüssen kennen. Für Verfassungsänderungen von einigem Gewicht ist ein Vorbereitungsverfahren notwendig, das von Anfang an die Öffentlichkeit und die Parlamente stärker einbezieht, als dies bei einem auf die Exekutiven konzentrierten Abstimmungsprozeß möglich ist. Ob der EUKonvent auf diesem Gebiet Anregungen geben kann, bleibt zu prüfen.
Problematische Tendenzen in den Länder- und Bundespositionen Zur Zielsetzung der Änderungsansätze sind ebenso kritische Anmerkungen erforderlich. Dabei geht es nicht nur um die – nur schwer zu begründende – Begrenzung der Reform auf das BundLänder-Verhältnis. Auch die Initiativen zur Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung lassen nicht immer überzeugende Schwerpunktsetzungen erkennen. In den Ländervorschlägen zeichnen sich gut bekannte Positionen
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der Finanzseite ab. Viele Finanzminister sahen und sehen z.B. in der Bindung von Landesmitteln im Rahmen der vom Bund und den Ländern gemeinsam finanzierten Gemeinschaftsaufgaben, etwa für den Hochschulbau, die Forschungsförderung oder die regionale Wirtschaftsförderung, eine vor allem in Zeiten knapper Kassen unerwünschte Einschränkung ihrer finanzpolitischen Operationsmöglichkeiten. Eine verfas-
Verfassungsreform und ostdeutsche Interessen
sungspolitische Neuordnung sollte sich jedoch auch in diesem Zusammenhang der Prüfung stellen, ob die mit einer derartigen Privilegierung verbundene Prioritätensetzung für bestimmte Gemeinschaftsaufgaben ohne ausreichende Kompensation aufgegeben werden kann. Durchschlagende Gründe etwa für eine ersatzlose Streichung des gemeinsam finanzierten Hochschulbaus sind, um ein konkretes Beispiel zu nennen, vor dem Hintergrund des deutschen Hochschulrückstands wohl kaum geltend zu machen. Das führt in diesem Fall zu der nicht ohne weiteres positiv zu beantwortenden Folgefrage, ob der Bundesvorschlag für eine flexible Hochschulförderung nach seinem Volumen und taktischem Wert in der Verfassungsdebatte als adäquate Ersatzlösung für die
umfassende Mitfinanzierung des Hochschulbaus angesehen werden kann. Bei den Bundesvorschlägen fällt zudem auf, das die Auffassungen der einzelnen Fachressorts in der Bundesregierung offenbar eine entscheidende Rolle bei der Formulierung bestimmter Passagen gespielt haben. Das kann zu problematischen Ergebnissen führen. das ein gesamtstaatliches, eine Verfassungsänderung tragendes Interesse eine deutliche Verstärkung der Bundeskompetenzen für den Umweltschutz und den Verbraucherschutz rechtfertigen soll, nicht dagegen eine entsprechende, mindestens gleichgewichtige Zuständigkeitserweiterung auf den Gebieten Wissenschaft und Bildung, ist eine These, die in der Prioritätenabwägung kaum überzeugen kann.
Modernisierungsrückstand in Wissenschaft/Bildung und Verfassungsreform Deutschlands Defizite in der Wissenschaft und in der Bildung sind nicht erst seit den PISA-Publikationen, die sich mit Teilausschnitten des Schulbereichs befassen, bekannt. Anerkannte und in der Sache unumstrittene OECD-Vergleiche belegen Deutschlands Rückstand bei den Hochschulausgaben pro Kopf der Bevölkerung. Die USA geben z.B. auf diesem Gebiet – pro Kopf der Bevölkerung
– mehr als doppelt so viel wie Deutschland aus; in ungefähr gleicher Höhe bewegen sich die Pro-Kopf-Leistungen Finnlands oder Schwedens. Deutschland hat bei den Hochschulzugangsberechtigten, den Studierenden oder den Hochschulabsolventen deutlich kleinere Anteile am jeweiligen Altersjahrgang als andere wichtige Länder, mit denen wir international im Wettbewerb ste-
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hen. Auf allen diesen Gebieten liegen ostdeutsche Regionen gegenüber dem westdeutschen Schnitt darüber hinaus zurück – was u.a. Auswirkungen auf den innerdeutschen Standortwettbewerb hat. In Ostdeutschland ist noch über einen langen Zeitraum eine besondere Wissenschaftsförderung des Bundes erforderlich, um den vorhandenen Rückstand auszugleichen. In anderen Sektoren des deutschen Bildungssystems gibt es gleichfalls beachtliche Defizite. Sie sind aber zumeist einem Kernbereich der Landeszuständigkeiten – dem Schulwesen – zuzuordnen oder liegen in dessen Nähe, etwa im Vorschulbereich. Auf diesem Gebiet den Bundeseinfluß durch Verfassungsänderungen oder auf anderem Wege wesentlich erweitern zu wollen, wäre kein erfolgversprechendes Unternehmen – und, mit Blick auf die Machtbalance in der Zuständigkeitsverteilung, wohl nicht zweckmäßig. Sinnvoll ist demgegenüber, was eine mögliche Aufgabenerweiterung für den Bund anbelangt, eine Schwerpunktsetzung im Wissenschaftsbereich (vor allem im Hochschulwesen), in der beruflichen Bildung und bei bestimmten Querschnittsaspekten (u.a. Abschlüsse; auch die Sicherung von Bildungsstandards könnte in diesem Zusammenhang eine Rolle spielen). Eine dabei angestrebte stärkere Finanzierungsbeteiligung des Bundes in
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der Wissenschaft könnte, wiederum im Sinne des Entflechtungsziels, die Länder entlasten und sie zu höheren Anstrengungen in ihrem eigenen zentralen Zuständigkeitsgebiet, der Schulpolitik, motivieren. Eine ausreichende Bundesmitfinanzierung kann die zwischen den Ländern, vor allem im OstWest-Verhältnis, bestehenden Strukturunterschiede in gewissem Umfang ausgleichen und das deutsche Hochschulwesen insgesamt voranbringen. Durch Verfassungsänderung eingeführte neue Finanzierungsinstrumente sollten flexibel sein, aber auch eine Verstetigung der Finanzleistungen sichern; starre Länderschlüssel entsprechen nicht diesen Erfordernissen. Diese Kriterien könnte z.B. eine Bundesgesetzgebungskompetenz erfüllen, die zum Ziel hat, die Hochschulstruktur zu fördern und zu verbessern. Eine derartige neue Bundesgesetzgebung sollte allgemein an die Zustimmung des Bundesrates gebunden werden – u.a. als Kompensation für den Verlust von Zustimmungsvorbehalten bei BundLänder-Vereinbarungen oder im Rahmen von Gemeinschaftsaufgaben. Eine Entlastung der Länder durch den Bund ist übrigens bereits vor einer Verfassungsänderung möglich, wie die Hochschulsonderprogramme seit dem Ende der 80er Jahre gezeigt haben. Auch für andere Wege, wie für die
Verfassungsreform und ostdeutsche Interessen
Errichtung einer nationalen Stiftung für Bildung und Wissenschaft nach dem Vorbild der Kulturstiftung oder für eine
Erhöhung des Bundesfinanzierungsanteils bei der Ausbildungsförderung, ist keine Verfassungsänderung notwendig.
Debatte in den Ländern Für die Beibehaltung eines hohen Finanzierungsengagements des Bundes im Wissenschaftsbereich und der Gemeinschaftsaufgabe Hochschulbau haben sich inzwischen – gegen die deutliche Mehrheitsposition der Länderregierungschefs – auch Wissenschaftsminister der Länder ausgesprochen. Dem Bundesvorschlag für eine neue, flexible Bundesförderung im Hochschulbereich wird dabei zum Teil von Landesvertretern unterstellt, der Bund wolle auf diese Weise „Rosinenpickerei“ betreiben und sein Engagement auf wenige Hochschulen beschränken. Die Gemeinschaftsaufgabe Hochschulbau sei, so die Gegenargumentation von Landesministern, weiterhin notwendig, vor allem um gleich-
wertige Lebensverhältnisse und die internationale Wettbewerbsfähigkeit zu sichern. Aus vergleichbaren Gründen votieren Landeswissenschaftsminister gegen die Änderungsvorschläge des Bundes zur Forschungsförderung, nach denen bestimmte Forschungseinrichtungen, z.B. die Max-Planck-Institute, ganz vom Bund, andere, wie die Institute der Leibniz-Gemeinschaft (früher: Blaue-ListeInstitute), allein von den Ländern finanziert werden sollen. Viele sind allerdings für die Auflösung der BLK, aber gleichzeitig für eine Stärkung der Länderselbstkoordination in der KMK. „Entflechtung“ ist also im eigenen Zuständigkeitsbereich nicht immer ein überzeugendes Argument.
Zukunftsperspektiven, soziale Gerechtigkeit und ostdeutsche Interessen Die innerhalb der Länder – vielleicht etwas spät – kontrovers geführte Debatte macht deutlich, das die Föderalismusreform nicht im Schnellverfahren einer Regierungsabstim-
mung durchgezogen werden kann. Sie zeigt zudem, das für eine Verfassungsrevision dieser Größenordnung neben dem Entflechtungs- und Modernisierungsziel auch eine Prioritäten-
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entscheidung in der Sache erforderlich ist. Der deutsche Investitionsrückstand sowie die nach wie vor bestehenden Ost-West-Unterschiede in Wissenschaft und Bildung sprechen, um es noch eimal zu betonen, auch im Rahmen einer Verfassungsreform für eine gesamtstaatliche Schwerpunktsetzung vor allem in diesem Bereich. Soziale Gerechtigkeit setzt mehr denn je den chancengleichen Zugang zu allen Bildungswegen voraus. Die Ausschöpfung der Begabungsreserven ist für unsere Position im internationalen Wettbewerb eine entscheidende Größe, auch vor dem Hintergrund des zunächst im Osten, dann in ganz Deutschland zu erwartenden demographischen Rückgangs. Zukunftsperspektiven durch Investitionen für Wissenschaft und Bildung zu eröffnen, ist ein zentrales Anliegen sozialer Gerechtigkeit im regionalen Ausgleich und im Generationenverhältnis – ein Anliegen, das Verzichtleistungen und Anstrengungen auf anderen Gebieten rechtfertigt.
Trotz der anerkannten Änderungsbedürfnisse, die sich, selbstverständlich, nicht nur auf die Bereiche Bildung und Wissenschaft beziehen, sind die Erfolgsaussichten der eingeleiteten Verfassungsrevision zurückhaltend zu beurteilen. Die Debatte zur Föderalismusreform sollte aber in jedem Fall im Verfahren und in der Argumentation der Bedeutung des verfassungspolitischen Vorhabens gerecht werden. Sie muß die Chancen für eine Modernisierung der bundestaatlichen Ordnung offen halten, für die es schon seit längerer Zeit gute Gründe gibt. Die ostdeutschen Länder haben an einem Erfolg der Reformansätze ein besonderes Interesse. Für sie ist es entscheidend, das eine Grundgesetzänderung die notwendigen Instrumente für gesamtstaatliche Infrastrukturinvestitionen nicht aufgibt, sondern verbessert. Auch vor einer Verfassungsänderung sollten die bereits jetzt vorhandenen Fördermöglichkeiten vor allem dazu intensiver genutzt werden, den Ausbaustand im Hochschulbereich voranzubringen.
Klaus Faber, Rechtsanwalt in Potsdam und Geschäftsführender Vorsitzender des Wissenschaftsforums der Sozialdemokratie in Berlin, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern. Der Artikel erschien zuerst in Frankfurter Hefte/Neue Gesellschaft 12/2002.
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Notizen
Notizen
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Heft 19 • Juli 2003
Tr a m p o l i n oder Hängematte ? Die Modernisierung des Sozialstaates
Fotos: Andreas Altwein/ddp, Steffen Leiprecht/ddp, Montage: Weber Medien