perspektive21 - Heft 20

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Demographie, Abwanderung und Politik in Ostdeutschland

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Wirtschaft und Umwelt Kräfteverhältnisse – brandenburgisches Parteiensystem Brandenburgische Identitäten Der Islam und der Westen Bilanz vier Jahre sozialdemokratisch-bündnisgrünes Reformprojekt Ende der Nachwendezeit. PDS am Ende? Der Osten und die Berliner Republik Trampolin oder Hängematte? Die Modernisierung des Sozialstaates.

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Heft 20 • Dezember 2003

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Zur Zeit sind noch folgende Titel lieferbar:

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Brandenburgische Hefte für Wissenschaft & Politik

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Seit 1997 erscheint „Perspektive 21 – Brandenburgische Hefte für Wissenschaft & Politik“.

perspektive 21 · Brandenburgische Hefte für Wissenschaft und Politik · Heft 20 · Dezember 2003

SPD-Landesverband Brandenburg, Friedrich-Ebert-Straße 61, 14469 Potsdam PVSt, DPAG, Entgelt bezahlt, A47550


Das neue Deutschland

Tobias Kaufmann/ Manja Orlowski (Hg.)

„Ich würde mich auch wehren...“

Kr ise im Westen, Umbr uch im Osten – wie wir gemeinsam Chancen beg reifen und Refor men durchsetzen. Mit Beiträgen von: Frank Decker, Wolfgang Engler, Matthias Platzeck, Uwe Rada, Landolf Scherzer, Alexander Thumf ar t und vielen anderen

Antisemitismus und Israel-Kritik – Bestandsaufnahme nach Möllemann 160 Seiten, Paperback, ISBN 3-936130-04-3, 12,80 €

Die Bestandsaufnahme namhafter Autoren in diesem Buch wirft Schlaglichter auf die wichtigsten Teile der Möllemann-Debatte, sie erklärt Hintergründe und Zusammenhänge, ohne wissenschaftlich abstrakt zu werden und sie ist eine klare Meinungsäußerung gegen antisemitischen Populismus. Spätestens nach Möllemanns Ausspruch, Israels Ministerpräsident Scharon und der jüdische Journalist Michel Friedman selbst förderten Antisemitismus, werden sich viele Juden in diesem Land gewünscht haben, eine größere Zahl ihrer nicht-jüdischen Mitbürger hätte ihnen ermutigend zugerufen: „Ich würde mich auch wehren“. Dieses Buch soll nicht zuletzt so ein Zuruf sein. „Das Echo, das Möllemann mit seinen Anwürfen gegen Paul Spiegel und Michel Friedman erzeugt hat, ist nach wie vor enorm. Porzellan ist zerschlagen worden, und zwar mutwillig und vorsätzlich. Das Vertrauen wieder herzustellen, wird deshalb nicht einfach sein.“ Julius H. Schoeps Das neue Deutschland Die Zukunft als Chance Herausgegeben von Tanja Busse und Tobias Dürr 336 Seiten. Broschur. s 15,90 (D) ISBN 3-351-02553-X

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Hebbelstraße 39, 14469 Potsdam Tel. 0331-201 39 -0, Fax 0331-201 39 20, Mail: info@weber-medien.de Wir liefern versandkostenfrei auf Rechnung.


Inhalt

Der Letzte macht das Licht aus?! Demographie, Abwanderung und Politik in Ostdeutschland Vorwort

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Magazin Matthias Platzeck Zukunft braucht Herkunft

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Thema Thomas Kralinski

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Zwischen halb voll und halb leer

Dr. Harald L. Sempf Demographische Entwicklungen der Nachwende und ihre Auswirkungen in Brandenburg

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Thomas Thrun und Bärbel Winkler-Kühlken Sicherung von Infrastrukturangeboten in dünn besiedelten Regionen

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Michael Scheske, Klemens Schmitz und Olaf Gründel Auswirkungen der demographischen Veränderungen auf kommunale Finanzen

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Christian Maaß und John Siegel Verwaltung und Politik in der schrumpfenden Mark

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Interview mit Manfred Stolpe Erfahrungen der Menschen als wichtigstes Potenzial

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Impressum

Herausgeber SPD-Landesverband Brandenburg Redaktion Klaus Ness (ViSdP) Benjamin Ehlers Klaus Faber Klara Geywitz Thomas Kralinski Lars Krumrey Christian Maaß Till Meyer Manja Orlowski Silke Pamme Anschrift Friedrich-Ebert-Straße 61 14469 Potsdam Telefon 0331 - 200 93 – 0 Telefax 0331 - 270 85 35 Mail Perspektive-21@spd.de Internet http://www.perspektive21.de Bezug Bestellen Sie Ihr kostenloses Abonnement direkt beim Herausgeber. Senden Sie uns eine Mail.

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Gesamtherstellung, Vertrieb Weber Medien GmbH Hebbelstraße 39 14469 Potsdam


Vorwort

Liebe Leserinnen und Leser der „Perspektive 21“! Zuerst können wir uns selbst gratulieren: ein Jubiläumsheft ist entstanden. Dies ist die 20. Ausgabe der Perspektive 21. Seit nunmehr sechs Jahren diskutieren wir in unseren Brandenburger Heften sowohl aktuelle als auch langfristige politische Themen unserer Zeit. Ich möchte die Gelegenheit nutzen, Ihnen für Anregungen zu danken und Sie gleichzeitig ermuntern, weiter an den Diskussionen in den „Perspektiven“ teilzunehmen. In diesem Heft widmen wir uns den demographischen Veränderungen in Brandenburg. Die Bevölkerungsentwicklung in der Mark, aber auch in den anderen Bundesländern, hat zwei Seiten. Zum einen sind nach 1990 die Geburtenzahlen regelrecht eingebrochen. Auch heute noch hat Brandenburg die niedrigste Geburtenrate in Deutschland – diese Entwicklung trifft das ganze Land. Die zweite Säule der Bevölkerungsentwicklung in Brandenburg besteht in den Wanderungsbewegungen. Während die Region um Berlin nach wie vor über positive Wanderungssalden verfügt, ziehen aus den „äußeren“ Regionen Brandenburgs immer mehr – vor allem junge – Menschen fort. Die jüngste Bevölkerungsprognose für Brandenburg bestätigt diesen Trend und weist ein zunehmend gespaltenes

Land auf: zum einen die nachhaltig schrumpfende Peripherie, zum anderen der so genannte Berliner „Speckgürtel“, wo auch in den kommenden Jahren die Bevölkerungszahl konstant bleibt bzw. sogar noch steigt. Umfragen zeigen, dass für die Menschen die Abwanderung junger Menschen eines der wichtigsten Themenfelder ist. Die Brandenburger SPD beschäftigt sich bereits seit einiger Zeit mit den Folgen der Bevölkerungsentwicklung. Im Kern geht es darum, auf der einen Seite Wachstumszentren zu stärken und auszubauen. Auf der anderen Seite muss das Ziel sein, den peripheren ländlichen Regionen Entwicklungschancen offen zu halten und sie mit den Wachstumszentren zu verknüpfen. Für die SPD ist dies nicht zuletzt auch eine Frage der Gerechtigkeit. Matthias Platzeck mischt sich mit seinem Beitrag „Zukunft braucht Herkunft“ in die aktuelle Modernisierungsdiskussion ein. Er schlägt die Brücke zwischen den notwendigen Veränderungen und ihrer Anbindung an die Lebenslagen der Menschen. Für den Brandenburger Ministerpräsidenten haben die Reformen für effizientere Wirtschaft, für exzellente Bildungseinrichtungen und bürgernahe Verwaltung eine wichtige Voraussetzung: Menschlichkeit. Oder

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wie es Matthias Platzeck ausdrückt: „Der Wandel speist sich aus unseren eigenen Stärken“. Für ihn gibt es keine Zukunft ohne Herkunft, ohne Wurzeln und ohne Orientierung. Ich bin mir sicher, die Diskussion um die Intensität und die zeitliche Abfolge der Reformen – sei es auf Bundes- oder auf Landese-

bene – wird uns auch in den kommenden Monaten begleiten. Viel Spaß beim Lesen der 20. Ausgabe unserer Perspektiven 21 wünscht Ihnen

Ihr Klaus Ness

perspektive 21 im Internet Die Hefte 1-19 sind im Internet unter www.perspektive21.de als pdf-Datei zum Download verfügbar.

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Zukunft braucht Herkunft Warum es ohne starke Traditionen kein modernes Brandenburg gibt von Matthias Platzeck

I. Fast anderthalb Jahrzehnte liegt das Ende der DDR inzwischen zurück, doch auf einmal wächst in ganz Deutschland das Interesse an den ostdeutschen Verhältnissen vor 1989. Der Osten ist „angesagt“. Millionen haben in den vergangenen Monaten den Film Good Bye Lenin im Kino gesehen, noch mehr sogar im Fernsehen die so genannten DDR-Shows. Zugleich stehen Bücher wie Jana Hensels Zonenkinder oder Meine freie deutsche Jugend von Claudia Rusch weit oben auf den gesamtdeutschen Bestsellerlisten. Neugierig fragen heute 16-Jährige ihre Eltern und Lehrer:„Wie war das eigentlich damals bei euch?“ Was passiert da überhaupt? Kehrt die trotzige „Ostalgie“ der frühen neunziger Jahre zurück? Will irgendwer die DDR zurückhaben? Ich glaube das nicht. Was jetzt passiert, ist etwas anderes. Die neue Neugier auf die eigene Geschichte ist ein ermutigendes Zeichen – ein Beleg dafür, dass unser Land an Normalität gewinnt. Niemand in Ostdeutschland sehnt sich heute im Ernst zurück nach der Zeit mit Honecker, HO und MfS. Doch hinter uns liegen inzwischen zum Glück auch die

ersten Nachwendejahre, als in der neuen Bundesrepublik jegliche Hinterlassenschaft der DDR von vornherein als minderwertig galt. Dass manche Aspekte beispielsweise des damaligen Bildungsund Gesundheitswesens nicht so völlig unsinnig waren, konnte man nach 1989 jahrelang nicht aussprechen, ohne sofort als ewiggestriger „Ostalgiker“ zu gelten. Das ist vorbei. Allen ist klar: Wenn wir heute über die DDR reden, dann geht es um Geschichte, um Vergangenes, das nicht zurückkehren wird. Auch die Nachwendezeit ist zu Ende. Heute braucht keiner mehr zu verteufeln, was an der DDR nicht durchweg schlecht war; umgekehrt muss heute niemand noch verteidigen, was am Staat der SED einfach nicht zu verteidigen war und ist. Auf diese Weise gewinnen wir alle zusammen an Gelassenheit. Ich halte das für einen echten Fortschritt.

II. Aber wieso ist das ein Thema, das mich interessiert? Sind Politiker nicht dafür zuständig die Zukunft zu organisieren, für Modernisierung und Fortschritt zu sorgen, statt sich mit Geschichte und

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Matthias Platzeck

Herkunft zu beschäftigen? Natürlich sind sie das – und genau deshalb hat meine Regierung ihre Absicht erklärt, das „moderne Brandenburg“ zu schaffen. Es ist kein Geheimnis: Unser Land steht vor riesengroßen Herausforderungen. Bewältigen kann Brandenburg diese Aufgaben im 21. Jahrhundert nur als ein modernes, sich beständig erneuerndes Gemeinwesen: mit effizienter Wirtschaft, mit hochwertiger Infrastruktur, mit hervorragenden Bildungs- und Forschungseinrichtungen sowie einer jederzeit bürgernah und flexibel agierenden Verwaltung. Wir werden viele neue Ideen, sehr viel Einfallsreichtum, Experimentierfreude und Improvisationstalent brauchen, um Probleme zu lösen, die es in vergleichbarer Weise nie zuvor gegeben hat. Kein Zweifel: Jede Politik des Weiterso verbietet sich in dieser Lage von selbst. Wo die Herausforderungen ungewohnt sind, helfen gewohnte Instrumente eben nicht mehr weiter. Auf neue Fragen müssen wir neue Antworten geben. Schon deshalb bleibt uns in Brandenburg gar nichts anderes übrig, als modern und innovativ zu sein. Aber Modernisierung ist kein Wert an sich. Sie ist immer nur Mittel, niemals Ziel und Zweck vernünftiger Politik. Und sie hat Voraussetzungen. Menschen vertragen nicht beliebig viel Wandel und Beschleunigung. Sie können nicht immer wieder ganz von vorn anfangen – und sie

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wollen das auch nicht. Wo sich allzu viel zugleich verändert, machen sie irgendwann nicht mehr mit. Selbst die notwendigste Modernisierung gelingt nur dann, wenn die Erneuerung durch Vertrautes flankiert wird. Deshalb stehen Modernität und Geschichte eben nicht, wie manche meinen, im Widerspruch. Sowohl die neoliberalen Marktradikalen wie die Anhänger der kalten Modernisierung von rechts irren sich auf fatale Weise: Eine Modernität, die über die Köpfe der Menschen hinwegfegt wie eisiger Wind, ist in Wahrheit gar keine. Denn wo es nur noch um ökonomische „Zwänge“ geht, da spielen die Wünsche, Hoffnungen und Bedürfnisse der Menschen, Familien und gewachsenen Gemeinschaften bald keine Rolle mehr. Die seelenlose Modernisierung passt nicht zu Brandenburg. Richtig und angemessen ist hier wie anderswo das genaue Gegenteil: Damit Modernität lebenswert wird, braucht sie Menschlichkeit. Denn Zukunft ohne Herkunft gibt es nicht. Ich glaube, es gibt keinen besseren Beweis für diese These als das aktuelle Interesse gerade auch junger Ostdeutscher an Filmen, Büchern und Ausstellungen über die DDR: Mitten im gesellschaftlichen Wandel wächst der Wunsch nach Wurzeln, nach Herkunft, nach Orientierung. Auch das gehört zur Modernisierung. Es klingt widersprüchlich, ist aber meiner Ansicht nach unbestreitbar:


Zukunft braucht Herkunft

Menschen sind vor allem dann zu Veränderungen bereit, wenn sie erkennen, dass diese Veränderungen ihnen dabei helfen, ihr eigenes Leben so zu leben,wie sie es in ihren Familien, Freundeskreisen und Gemeinschaften leben wollen. Die Freiwilligen Feuerwehren etwa, die vielen Sport- oder Gesangsvereine, die aktiven Innungen und lebhaften Bürgerinitiativen – all das vermeintlich so Unmoderne ist heute in Wirklichkeit moderner und unersetzlicher denn je. Es ist der „Kitt“, der unserer Gesellschaft zusammenhält. Neues gedeiht am besten dort, wo das Bestehende intakt ist, Vertrauen gibt und Sicherheit spendet. Genau deshalb wäre es ein großes Missverständnis, das moderne Brandenburg als künstliches Gegenmodell zur heutigen Lebenswirklichkeit in unserem Land zu begreifen. Das Gegenteil trifft zu: Die größte und wichtigste Ressource für die Zukunft Brandenburgs sind seine Menschen und deren Gemeinschaften. Das moderne Brandenburg entsteht inmitten unserer Gesellschaft – und aus ihr heraus.

III. Die Einsicht, dass erfolgreiche Modernisierung von Voraussetzungen lebt, hat nicht im geringsten mit Genügsamkeit oder gar Mutlosigkeit zu tun. Dazu besteht auch überhaupt kein Anlass. So ernst die Probleme unseres Landes sind: Brandenburg wird in Zukunft in dem

Maße zunehmend erfolgreich sein, wie es seine Potentiale erkennt – und entschlossen nutzt: Gelegen mitten in Europa, rund um eine der größten Metropolen des Kontinents und an der Nahtstelle zu den Zukunftsmärkten der neuen EU-Beitrittsländern, noch dazu ausgestattet mit einigen der schönsten Naturlandschaften Deutschlands, steht Brandenburg heute erst am Anfang seiner möglichen neuen Aufwärtsentwicklung. Jetzt kommt es darauf an, was wir gemeinsam aus unseren Chancen machen. Ein weit verbreitetes Missverständnis ist, dass es Strukturprobleme in Brandenburg nur im ländlichen Raum gibt. Das ist nicht so. Die Probleme des Wandels stellen sich im Umfeld Berlins auch, aber sie stellen sich anders. Trotzdem ist es natürlich so, dass viele Entwicklungen rings um Berlin uns Mut machen, dass sie Beispiele sind für einen gelungenen Strukturwandel. In den Kreisen Potsdam-Mittelmark, Oberhavel und Barnim steigen die Einwohnerzahlen stark; Falkensee ist eine der am schnellsten wachsenden Städte Deutschlands überhaupt. In und um Potsdam blühen Kultur und Wissenschaft, erfolgreiche Unternehmen aus zukunftsträchtiger Branchen wie der Biotechnologie siedeln sich hier zunehmend an, und auf dem Filmgelände in Babelsberg arbeiten heute bereits wieder so viele Menschen wie vor 1989. Kurz, das brandenburgische Umland von Berlin ist

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Matthias Platzeck

insgesamt auf einem guten Weg. Nur besteht Brandenburg eben bei weitem nicht nur aus Potsdam, nicht nur aus Falkensee, Kleinmachnow, Erkner oder Bernau. Dass die ländlicheren Regionen unseres Landes wie Uckermark und Prignitz, Niederlausitz und Märkisch-Oderland wirtschaftlich und demographisch weit weniger günstig dastehen, ist kein Geheimnis.Vergessen wird jedoch zuweilen, dass auch hier schon heute erfolgreich gewirtschaftet wird. Vier der fünf größten Unternehmen unseres Landes haben ihre Standorte gerade in diesen Regionen: die BASF in Schwarzheide, EKO in Eisenhüttenstadt,Vattenfall in der Lausitz, dazu die Deutsche Bahn mit ihren Standorten Wittenberge, Cottbus und Eberswalde. Das moderne Brandenburg entsteht nicht über Nacht und auch nicht aus der Retorte, sondern in vielen einzelnen Schritten. Der Wandel speist sich aus unseren eigenen Stärken. Es ist richtig, dass die Zahl der Arbeitsplätze in der Land- und Forstwirtschaft zwischen 1989 und heute von über 200.000 auf 30.000 gesunken ist. Doch ebenso richtig ist, dass im gleichen Zeitraum viele Tausende neue und zukunftsträchtige Arbeitsplätze geschaffen wurden. Bereits heute leben in Brandenburg fast 100.000 Menschen vom Fremdenverkehr – und unsere Potentiale haben wir damit noch längst

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nicht ausgeschöpft. Bereits heute arbeiten in der großen Zukunftsbranche Umwelttechnik 30.000 Menschen. Bereits heute haben sich mit den Triebwerkstandorten von MTU und Rolls-Royce völlig neue Industrien in Brandenburg angesiedelt. Und bereits heute erwerben an den brandenburgischen Universitäten und Fachhochschulen 33.000 Studierende in zahlreichen neuen Studienfächern hochwertige Kenntnisse und Qualifikationen, die das Fundament für neue Arbeitsplätze und neuen Wohlstand in unserem Land legen.

IV. Gewiss, der Wandel verläuft regional höchst uneinheitlich und ungleichzeitig – wie könnte es anders sein? Gerade deshalb erachte ich es für eines der dringlichsten Ziele meiner Regierung, den inneren Zusammenhalt Brandenburgs zu bekräftigen und zu erneuern. Brandenburg wird das Land aller seiner Bürgerinnen und Bürger bleiben, ob sie nun in der Stadt leben oder auf dem Dorf, im Einzugsbereich der hauptstädtischen SBahn oder weitab von Berlin. Es liegt auf der Hand, dass diese Aufgabe angesichts dramatisch knapper öffentlicher Kassen in absehbarer Zeit nicht ein für allemal zu lösen sein wird. Die langfristigen Prognosen der Bevölkerungs- und Wirtschaftsentwicklung in den Randregionen unseres Landes sind


Zukunft braucht Herkunft

wenig ermutigend. Dennoch wäre es völlig falsch, Problemen auszuweichen, nur weil es einfache und auf Anhieb durchschlagende Lösungen für sie nun einmal nicht gibt. Brandenburger warten nicht auf Wunder. Völlig zu Recht aber fordern sie von der Politik Orientierung, Ehrlichkeit und nüchternen Realitätssinn. Diese Diskussion über unser Bild von einer Gesellschaft der Zukunft ist kein theoretischer Luxus. Sie berührt das Grundverständnis der SPD. Unsere Grundwerte sind Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität. Ja, es ist richtig: Vieles ist im Wandel. Viele Instrumente und Konzepte sind heute aus der Zeit gefallen. Auf viele Herausforderungen brauchen wir ganz neue Antworten. Aber die Grundwerte unserer Partei sind heute so aktuell, wie sie es damals waren. Nicht unsere Grundwerte müssen wir neu erfinden, wir müssen sie anwenden auf neue Probleme. Wie buchstabiert man Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität heute in einer veränderten Welt? Wie können wir unsere Grundwerte mit den Reformschritten so verbinden, dass sie heute schon das Bild einer besseren Zukunft für unser Land ergeben. Das ist der Ausgangspunkt für alle unsere Reformvorschläge. Alle einzelnen Schritte dienen diesem einen Ziel – eine bessere und sichere Zukunft in Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität. Unsere Initiativen sind darum Schritte auf einem Weg, dessen

Ziel klar definiert ist. Das gilt für jedes Politikfeld. Bei all dem geht es um eine Politik der Reformen nach dem Leitbild sozialer Gerechtigkeit. Dafür bietet die SPD die beste Garantie. Denn der Kampf für mehr Teilhabe am Leben, für faire Chancen für alle, für Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität war das Gründungsund Leitmotiv der SPD während ihrer langen 140-jährigen Geschichte. Manche singen heute das Hohelied der individuellen „Eigenverantwortung“. Meine eigene Antwort darauf ist klar: Gut ist, was die Menschen stärkt. Aber eine vernünftige Alternative zum Leitbild der solidarischen Gesellschaft mit Rechten für alle, aber auch mit gegenseitigen Verpflichtungen kann ich nicht erkennen. Dieser Leitidee des gesellschaftlichen Zusammenhalts gerade in schwierigen Zeiten fühle ich mich selbst verpflichtet – aus Überzeugung, aber auch aus Lebenserfahrung. Jeder weiß doch: Wo alle gemeinsam anpacken, da lässt sich einfach mehr erreichen. Solche Überlegungen wären allerdings nicht viel wert, hätten sie keine praktischen Konsequenzen. Die aber ziehen wir in Brandenburg angesichts von Bevölkerungsrückgang, wirtschaftlichem und demographischem Wandel in vielfacher Weise. So stärkt es den inneren Zusammenhalt unseres Landes, dass wir für die verbesserte Erreichbarkeit aller seiner Regionen sorgen. Deshalb haben wir beim

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Matthias Platzeck

Bund den Bau der A 14 durchgesetzt, deshalb werden wir die Oder-Lausitz-Trasse bauen und auch den Elbe-Elster-Kreis verkehrstechnisch enger anbinden. Zugleich werden wir unser vorbildliches Regionalbahnsystem weiter verbessern und, um die Chancen der EU-Osterweiterung für unser Land zu nutzen, weitere Grenzübergänge nach Polen schaffen. Entschlossen fortsetzen werden wir zugleich den Abbau unnötig aufwändiger und überflüssiger Bürokratie, den wir mit der neuen Bauordnung, dem Naturschutz- und dem Denkmalschutzgesetz begonnen haben. Wenn wir die Zahl der Beschäftigten im Landesdienst im Zeitraum von 2000-2007 um insgesamt 12.400 Stellen verringert haben, dann bedeutet dies eben nicht nur eine dringend notwendige Sparmaßnahme. Vielmehr werden wir auf diese Weise zugleich die Voraussetzungen für übersichtliche und bürgerfreundlichere Verwaltungsstrukturen schaffen. Zukunft für alle in Brandenburg bedeutet vor allem auch die vielfältige Hochschullandschaft, die in den neunziger Jahren in unserem Land entstanden ist. Weil Wissenschaft heute wie nie zuvor die Basis für Arbeit und Wohlstand legt, nehmen wir unsere Forschungseinrichtungen weiterhin gezielt von Sparmaßnahmen aus. Auf keinem anderen Gebiet versprechen heutige Investitionen so viel zukünftigen Nutzen und Ertrag für un-

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sere gesamte Gesellschaft. Aus den ständig wachsenden Netzwerken der Zusammenarbeit zwischen Hochschulen und Unternehmen entstehen die Innovationen, die unsere Unternehmen brauchen, um im Wettbewerb erfolgreich zu sein. Dass Brandenburg seinen hart erarbeiteten Ruf als „Wissenschaftsland“ weiter ausbaut, liegt deshalb im ureigenem Interesse aller Bürgerinnen und Bürger – auch derer unter uns, die selbst keine Forscher sind oder werden wollen. Zukunft entsteht, wo Menschen sich zu Hause fühlen können. Noch stärker als bisher werden wir uns deshalb künftig auch auf die Erneuerung und Belebung unserer Innenstädte in den regionalen Zentren konzentrieren. Es sind vor allem diese Mittelpunkte des regionalen Lebens, in denen Lebensqualität ihren Ort hat und Wachstumspotentiale heranreifen. Überhaupt werden es gerade die vielen unspektakulärer Ideen und Vorhaben auf lokaler Ebene sein, die in der Summe dafür sorgen, dass Brandenburg auch in Zukunft ein lebenswertes Land für seine Bürgerinnen und Bürger bleibt. Oft ist hierbei gerade das Unscheinbare wichtig: Heute bereits hilft das moderne Konzept der Rufbusse, die den herkömmlichen Taktverkehr ersetzen, dabei mit, die Mobilität der Menschen in den Kreisen Uckermark und Barnim zu sichern. Zunehmend werden in Zukunft mobile Hausärzte und Apotheken,Waren


Zukunft braucht Herkunft

und Dienstleistungen zu den Menschen kommen, wo der umgekehrte Weg zu weit oder zu beschwerlich wäre. Und Schulen wiederum können in Zukunft zu multifunktionalen Orten des Gemeinschaftslebens in ländlicher Regionen werden, an denen Vereinsleben und gelebter Bürgersinn ihren Mittelpunkt finden.

V. Aber wir müssen noch weiter denken. Klar ist, dass Lebenschancen in Zukunft immer stärker davon abhängen werden, ob jemand genug weiß und kann: Im 21. Jahrhundert wird Bildung der entscheidende Schlüssel zu Arbeit und gesellschaftlicher Teilhabe sein. Zugleich wird es sich unsere Gesellschaft insgesamt schlicht nicht leisten können, dass Menschen ohne die Chance bleiben, ihre Potenziale so gut wie irgend möglich auszuschöpfen. Selbst wenn es derzeit noch unrealistisch erscheint: Schon in wenigen Jahren werden unserer Wirtschaft ausgebildete Fachkräfte fehlen – auch bei uns in Brandenburg. Deshalb muss schon heute gelten: Jede und jeder einzelne wird gebraucht! Nie-

mand ist überflüssig! Dass es keinen Nachteil für die Bildungschancen und damit zugleich die Lebensperspektiven von Menschen bedeuten muss, aus abgelegenen Regionen zu stammen, haben uns übrigens die skandinavischen Länder längst erfolgreich vorgemacht. Von ihnen können wir nicht nur in dieser Hinsicht eine Menge lernen. Für uns in Brandenburg bedeutet das, dass wir die schulischen Ganztagsangebote deutlich ausweiten werden. Und wir müssen mit der Sekundarschule eine unideologische, vernünftige Antwort auf die demographische Herausforderung der nächsten Jahre geben. Gewiss, der Weg in das in einem solidarischen Sinn moderne Brandenburg ist nicht leicht. Die Zeiten sind schwierig, die Mittel knapp – sie werden es auf absehbare Zeit bleiben. Doch das Ziel meiner Politik ist sehr klar. Im 21. Jahrhundert muss Brandenburg ein Land für alle sein, die in ihm leben. Ein Land der Bildung und der lebenslangen Chancen. Ein Land der guten Ideen und der wirtschaftlichen Dynamik. Ein modernes Land mit starken Traditionen. Anders wird es nicht gehen. Denn ohne Herkunft keine Zukunft.

Matthias Platzeck, Ministerpräsident des Landes Brandenburg und SPD-Landesvorsitzender

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Zwischen halb voll und halb leer Wie die Bevölkerungsentwicklung Land und Leute prägt. Und verändern wird. von Thomas Kralinski Menschen ziehen an einen anderen Ort, finden eine neue Heimat. Im Prinzip das Normalste der Welt. Was aber ist, wenn innerhalb von nur 13-14 Jahren jeder Vierte oder Fünfte fortzieht? Ist das dann auch noch normal? Tiefe Furchen graben sich in die Stirn aller Statistiker, sobald die Rede auf die Bevölkerungsentwicklung kommt.

Deutschland mit weniger als 75 Mio. Einwohnern in 30 Jahren? Ein mögliches Szenario. Noch tiefer aber werden die Furchen der Statistiker, wenn es um die Lage im Osten geht. Denn dort vollziehen sich innerhalb weniger Jahre Veränderungen, die in dieser Stärke bisher kaum gemessen wurden.

I. Flucht. Das Drama nahm seinen Lauf mit dem Fall der Mauer. Mit ihr zog die Mobilität nach Ostdeutschland. Und die Menschen von dort weg. Gab es vor der Wende ca. 25 Wohnortwechsel pro 1.000 Einwohner pro Jahr, waren es nach Wende fast doppelt so viele (47). Per saldo zogen zwischen 1989 und 2002 über 1,3 Mio. Menschen in den Westen, auf der Suche nach Arbeit, nach Bildung, nach neuem Lebensglück. Dieser Track gen Westen ist seit der Wende nie zum Stillstand gekommen. Zwar klang der erste Wanderungsschub Mitte der 1990er Jahre ab –

doch das negative Wanderungssaldo mit dem Westen blieb. Seit 1997 nun steigt nicht nur die Arbeitslosigkeit sondern auch das Wanderungssaldo der neuen Ländern wieder. Das Land Brandenburg ist dabei im Unterschied zu den anderen neuen Ländern in der „komfortablen“ Situation, dass die Abwanderung in den Westen bis 2000 durch Zuwanderung aus Berlin kompensiert wurde. Dies allerdings um den Preis, dass die Entwicklungsunterschiede zwischen dem Berliner Umland und den anderen Regionen beständig größer wurden. Denn in der Uckermark

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Thomas Kralinski

Einwohnerzahl Brandenburgs, Sachsens und der alten Länder im Vergleich Brandenburg

Sachsen

alte Länder

in Mio.

1989= 100

in Mio.

1989= 100

in Mio.

1989= 100

1961

2,6

100

5,5

112

56,2

91

1970

2,7

101

5,4

111

60,7

98

1980

2,7

101

5,2

106

61,5

99

1989

2,6

100

4,9

100

62,1

100

2000

2,6

99

4,4

90

67,0

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2010

2,5

95

4,1

83

66,2

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Quelle: Statistische Landes- und Bundesämter, eigene Berechnungen

oder Prignitz ist die Entwicklung nicht viel anders als im Erzgebirge, in der Altmark oder in der Lausitz, wo die Abwanderung in den vergangenen Jahren stark angewachsen ist. Mittlerweile legt sich die Abwanderung nicht mehr gleichmäßig über das Land. Vor allem die jungen Leute verlassen die neuen Länder in Scharen. Hinzu kommt: es sind vor allem die gut Ausgebildeten, die gehen. Sie sind unter den Fortziehern besonders stark vertreten. Abiturienten finden sich unter den Abwanderern doppelt so wie 1

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in der „normalen“ erwachsenen Bevölkerung. Bei den Frauen ist der Abituranteil sogar drei mal so hoch. Mit den Hochschulabsolventen sieht es nicht anders aus. Haben normalerweise knapp 11 % der Erwachsenen ein Diplom, sind es unter den Fortziehern ca. 20 %.1 Der Osten blutet intellektuell aus – und unterscheidet sich damit heute nicht sehr von der Situation vor dem Mauerbau. Wer Karriere machen will, sei es in der Wirtschaft, in Kultur, Kunst oder Politik geht in den Westen. Dabei

Dies ergab eine repräsentative Studie unter in die alten Länder abgewanderten Sachsen (Statistisches Landesamt 2002: Wanderungsanalyse; Statistisches Landesamt 2003: Regionalisierte Wanderungsanalyse). Ältere Studien zum Thema lassen darauf schließen, dass die Ergebnisse auf Brandenburg und die anderen neuen Länder übertragbar sind.


Zwischen halb voll und halb leer

sind es vor allem die Frauen, die zuerst gehen. Es ist schon paradox. Der Osten hat mit seinem großflächig ausgebauten Kinderbetreuungsnetz einen Standortvorteil, um den ihn viele „WestFrauen“ beneiden. Kommen auf hundert Kleinkinder in Brandenburg 52 Krippenplätze, in Sachsen immer noch 24, sind es in Bayern oder SchleswigHolstein nur ein bis zwei. Ein Erbe der DDR – die hohe „Erwerbsneigung der Frauen“ – kommt so in erster Linie dem Westen zu gute. Denn die Frauen könnten im Osten zwar ihre Kinder betreuen lassen, einzig der Job fehlt. Die Folge: sie verlassen das Land und suchen sich Jobs im Westen. Eine dritte Strukturveränderung macht sich in den Regionen fest. Die Großstadtregionen im Osten haben Tritt gefasst. Sei es Leipzig, Dresden oder Berlin – die Abwanderung ist nach Suburbanisierung und Westwanderung der 1990er Jahre zur Ruhe gekommen bzw. wird sogar kompensiert durch Zuzug von außen. Es zieht wieder Leben in die Städte ein. Auch für Potsdam ist eine ähnliche Entwicklung festzustellen. Vor allem junge Menschen zieht es in die Großstädte, die nun wieder Einwohner gewinnen. Sie sind der Hoffnungsschimmer am Horizont des Ostens. Auch das Berliner Umland profitiert weiter von den Berlinern, die „ins Grüne“ ziehen wollen. Zwar hat der

Trend nachgelassen, zum Stillstand ist er jedoch nicht gekommen. Doch die Euphorie sollte nicht darüber hinweg täuschen, dass Untersuchungen noch große Abstände in punkto Arbeitsplätze, Arbeitslosigkeit und Attraktivität zwischen den Ballungszentren in Ost und West hervorbringen. Doch vor dem Licht gibt es auch einen Tunnel: Die peripheren Regionen des Ostens – auch in Brandenburg – laufen leer. Vor allem die jungen Leute sehen zu, dass sie fortkommen. In den vergangenen Jahren verließen ca. 5 % aus der Altersgruppe der 18-25jährigen jährlich die Lausitz, das Erzgebirge oder die Prignitz. Innerhalb weniger Jahre verlieren diese Regionen schnell ein Viertel bis ein Drittel der jungen Generation. Im Straßenbild lässt sich das schon deutlich beobachten: es sind schlicht keine jungen Menschen mehr da. Der ländliche Raum wird so langsam zum Altersheim. Zumal neben den Fortgezogenen auch die Zahl der Pendler in den letzten Jahren angestiegen ist. 36.000 Brandenburger – das ist eine Verdoppelung innerhalb der letzten Jahre – pendeln Woche für Woche, Monat für Monat in die alten Länder und entlasten damit den heimischen Arbeitsmarkt. Oft ist das Pendeln über hunderte Kilometer nur eine Vorstufe zum Fortzug. Das Muster ist dabei ein altbekanntes: für überholt gehaltene

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Thomas Kralinski

Familienstrukturen – der Mann als Ernährer – tauchen wieder auf. Der Mann fängt an zu pendeln, zieht später ganz an den Arbeitsort und holt dann seine Familie nach. Die massive und plötzliche Mobilität ist für die Ostdeutschen ungewohnt. So sind in den letzten Jahren in der Summe über 1 Mio. Menschen allein aus Sachsen fortgezogen, das ist fast jeder Vierte. Aus einer immobilen Gesellschaft ist über Nacht eine hypermobile geworden. Nach der Wende war der Fortzug meist noch mit Hoffnung verknüpft, mit Hoffnung auf neue Arbeit, das große Geld oder die langersehnte Freiheit. Die Ostdeutschen waren auf der Suche nach ihrem ganz persönlichen pursuit of happiness. Doch diese Suche ist mittlerweile der Ernüchterung gewichen. Viele, die zurückkommen wollten, sind im Westen geblieben. Nicht immer weil es ihnen so gut gefällt, sondern häufig auch, weil das Glück um ihre alte Heimat noch immer einen Bogen macht. Kleine Kolonien von Ostdeutschen machen sich im Westen breit. Kleine Kolonien, wo man sich ab und an ein Stück „Heimat“ gönnt. So führte die neue Zeit auch zu Absurditäten: ein kleiner sächsischer Internetversandhandel spezialisierte sich auf die wieder aufgetauchten Ostprodukte – und macht sein größtes Geschäft prompt

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im Westen. Im April 2003 war die Eröffnung des ersten Ostprodukteshops in München sogar der Aufmacher einer Tageszeitung. Der Fortzug beschäftigt die Leute. Denn nach den Anfangsjahren hat der Möbelwagen, der von Ost nach West fährt, die Aura des Aufbruchs verloren. Zu oft werden Familien auseinander gerissen. Langsam kommt bei den Menschen an: dieses Land sucht noch immer nach dem Glück. Oder viel profaner: nach Jobs. Viel mehr als früher ist heute der Fortzug mit ökonomischen Notwendigkeiten verknüpft – und mit einer gewissen Hoffnungslosigkeit.

Lohn und Job müssen stimmen. Befragung unter Fortziehern in die alten Länder: • Voraussetzung für Rückkehr Arbeitsplatz 51 % Verdienst 31 % Lebens- und Zukunftsperspektiven 4% • Gründe für Nicht-Rückkehr bessere Verdienstmöglichkeiten bessere Arbeitsbedingungen bessere Lebens- und Zukunftsperspektiven familiäre Gebundenheit

42 % 10 % 22 % 14 %


Zwischen halb voll und halb leer

Jedoch, wenn sich Chancen ergeben, wollen viele Alt-Ossis auch wieder zurück. Kurz nach der Entscheidung über den Bau des neuen BMW-Werks in Leipzig haben sich für 5.500 neue Jobs über 90.000 Menschen beworben – darunter nicht wenige, die wieder zurück in den Osten wollen. Doch die Hürden für die Rückkehrer sind höher geworden in den letzten Jahren. Eine erste Studie unter den Fortgezogenen hat aufgeräumt mit der Hoffnung, die Menschen würden schon wieder zurückkommen, wenn es Arbeit gibt. Unter den jungen Abiturienten will nur noch jeder 10., unter den jungen Hochschulabsolventen nur noch jeder 5. zurückkehren. Dabei spielen neben dem Job vor allem auch angemessene Löhne eine zunehmend wichtige Rolle. Auch die Unternehmer erwarten die Lohnangleichung für den Osten erst am St.-Nimmerleinstag. Eine Umfrage in den boomenden Zweigen der ostdeutschen Industrie ergab, dass 24 % der Unternehmen die Lohnangleichung bis 2010 erwarten, 43 % die Angleichung nicht in absehbarer Zeit sehen.2 Dabei würden die Geschäftsführer gern mehr zahlen wollen, einzig es fehlt den ostdeutschen Betrieben schlicht die Kraft, höhere Löhne zahlen zu können. Denn mittlerweile hat sich herum 2

gesprochen, dass niedrige Löhne langsam aber sicher zum Fluch werden. Denn Motivation und die Bereitschaft, sich dauerhaft in Verzicht zu üben, sinken. Gute Leute gehen und so fällt es den Unternehmen im Osten immer schwerer, hoch Qualifizierte an ihre Unternehmen zu binden. Abwanderung aus peripheren Regionen hat es in Deutschland immer gegeben – doch seit dem Weltkrieg nicht mehr in so großer Zahl und so kurzer Zeit. Die Abwanderung im Osten ist zugleich Ergebnis und Ursache ökonomischer und sozialer Veränderungen. Die Ostdeutschen sortieren sich stärker nach Gewinnern und Verlierern im Wendeprozess. Die Generation der heute 50- bis 60jährigen hat in den letzten Jahren nicht nur (mehrfach) den Job gewechselt oder verloren. Sie sind auch diejenigen, die heute die Stimmung in den neuen Ländern dominieren. Wer Anfang der 1990er Jahre nicht gleich gegangen ist, hat sich seitdem versucht durchzuschlagen. Wer Pech hatte, kam in Schleifen von Arbeitslosigkeit, ABM und Weiterbildungen. Jobs waren häufig unterhalb der Qualifikation – und entsprechend niedrig waren die Löhne, die ohnehin weiter unter „West-Niveau“ lagen. Das Ergebnis werden in einigen

Michael Behr/ Antje Weiß 2003: Robuste Wirtschaft – anhaltende personalwirtschaftliche Probleme. Zur Personalund Nachwuchskräftesicherung im verarbeitenden Gewerbe.

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Thomas Kralinski

Jahren auch deutlich niedrige Renten sein. Während die Babyboomer des Westens eine Generation im wirtschaftlichen Wohlstand ist, sind ihre Altersgenossen im Osten eine „tragische“ Generation. Die Erfahrungen dieser „ElternGeneration“ werden jedoch heute auf die Jungen übertragen. Für die heute 20- bis 40jährigen Ostdeutschen kam die Wende meist gerade (noch) zum richtigen Zeitpunkt. Sie sind die Wende-Gewinner, auch wenn es viele unter ihnen sehr schwer hatten, als die

Betriebe zuerst die Jungen und die Alten entlassen haben. Allerdings haben die Jungen in den letzten Jahren auch von ihren Eltern gelernt: dass man im Osten kaum Karriere machen kann, dass materieller und sozialer Aufstieg begrenzt sind. Die Folge: die Jungen meiden industrielle Ausbildungen und ziehen in den Westen, sobald sich die Möglich- oder Notwendigkeit ergibt. So ist Abwanderung Folge vieler erlebter Wende-Erfahrungen und verstärkt diese gleichzeitig.

II. Verweigerung. Der Fortzug der Leute ist jedoch nicht das einzige Problem – langfristig noch nicht einmal das wichtigste. Der Fall der Mauer und die damit verbundenen Umbrüche haben die Menschen so stark verunsichert, dass sie sich selbst eigene Kinder nicht mehr zutrauten – mit enormen Folgen. Im Ergebnis sank die Geburtenrate quasi über Nacht um mehr als die Hälfte. Aus der Bevölkerungspyramide wird nun ein Pilz werden – die Nachfahren gehen aus. Wurden kurz vor der Wende in Brandenburg noch 35.000 Babys geboren, waren es 1993 nur noch 12.000. Seitdem stiegen die Geburtenzahlen zwar wieder auf ca. 18.000 – bleiben aber weit unter

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dem Niveau der Vorwendezeit. Ostdeutschland hatte in den 1990er Jahren die geringste Geburtenrate der Welt, nur im Vatikan werden noch weniger Kinder geboren. Bisher gingen die Statistiker davon aus, dass die „Geburtsverweigerung“ der Frauen bald ein Ende haben wird und die Brandenburger Frauen, wie im Westen, im Durchschnitt 1,4 Kinder bekommen werden. Doch davon kann keine Rede sein, seit 2000 sinken die Geburtenzahlen wieder. Wenn die Anzahl der neu geborenen Kinder etwas über die Seelenlage der Nation, über das Zukunftsvertrauen der Menschen sagt, dann sieht es schlecht aus


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in Ostdeutschland. Hieß es bisher beschwichtigend, viele Frauen würden ihre Kinderwünschen einfach nur „nach hinten“ verschieben, lässt sich nun bald nichts mehr verschieben. Abgesehen davon tut die Abwanderung ihr übriges. Denn mit den jungen Frauen, die die neuen Länder verlassen haben, gingen auch die ungeborenen oder gerade geborenen Kinder. Mittlerweile stellen viele Gemeinden fest, dass ihre Schulplanungen von der Wirklichkeit überholt wurden und die Zahl der Schulanfänger bis zu 20 % unter den aus den Geburtenzahlen errechneten Werten liegt. Die Familien sind in der Zwischenzeit fortgezogen. Die Folge wird eine besonders schnell alternde Gesellschaft sein, eine Gesellschaft, in der Kinder immer seltener werden. Zumal sich die niedrigen Geburtenzahlen immer wieder fortpflanzen und durch die Bevölkerungspyramide arbeiten werden. Der Einbruch bei den Geburtenzahlen und die Abwanderung der jungen Leute trifft vor allem die kleinen Orte: sie sterben aus. Zuerst ging der Konsum, dann kam kein Zug mehr. Erst ging die Post, später wurden die Briefkästen abgebaut, das wöchentliche Dorfkino gibt es schon längst nicht

mehr. Kneipen oder Klubs existieren auch kaum noch. Kitas und Schulen wurden in den letzten Jahren geschlossen. Nach den Sparkassenfilialen stehen nun sogar die Geldautomaten auf der Streichliste. Die beiden erfolgreichsten Volksbegehren in Ostdeutschland waren nicht umsonst die eines klassischen Zentrums-Peripherie-Konflikts. Im Jahr 2001 ging es um den Erhalt regionaler Sparkassen. 2003 wurden in Sachsen mehrere hunderttausend Unterschriften gesammelt, um kleine Schulen erhalten und den verbliebenen Kindern wohnortnahe Bildung ermöglichen zu können. Das Aufbegehren der Provinz könnte noch weitergehen. Die Menschen abseits der Großstädte fühlen sich Schritt für Schritt abgehängt. Neue Lösungen sind gefragt. Wie sollen die Gemeinden von morgen aussehen, wenn die verbleibende Bevölkerung zum „alten Eisen" gehört? Wo sollen sich die Menschen treffen, wie kann den verbleibenden Familien, Kindern gar, ein lebenswertes Umfeld geboten werden? Beide Entwicklungen – Geburtenrückgang und Abwanderung – verstärken sich nun wechselseitig – und dies besonders drastisch in der Brandenburger Provinz.

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Thomas Kralinski

III. Umbau. Durch die Überlagerung von Geburtenentwicklung und Abwanderung wird der Osten Deutschlands das „Experimentierfeld“ für die demographische Zukunft vieler europäischer Länder. Denn auch dort werden die Bevölkerungszahlen in den nächsten Jahrzehnten zurückgehen. In Brandenburg kommt die Besonderheit hinzu, dass ein Landesteil – das Berliner Umland – wächst, während „der Rest“ des Landes ähnliche Schrumpfungsprozesse wie die anderen neuen Ländern durchlebt. Dadurch wird die Solidarität zwischen den Landesteilen besonders gefragt sein – genauso wie eine differenzierte Strategie, die Wachstum und Schrumpfung gleichermaßen im Blick behält. Welche Zukunft haben die Kommunen und mit ihnen die Bürger, wenn die Einwohnerzahlen teilweise um mehr als ein Viertel – wie in Cottbus oder Schwedt – zurückgehen? Wie sieht Hoffnung für Menschen aus, wenn jeder 3. Nachbar verschwindet? Wenn die Kinder immer weniger Freunde haben, mit denen sie spielen können? Wo ist der Ausweg aus der Spirale nach unten? Hier stehen die Kommunen häufig noch am Anfang. Noch tun sie sich schwer mit der Erkenntnis, dass interkommunale Zusammenarbeit das Gebot

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der Stunde ist. Dass Multifunktionalität Voraussetzung für öffentliches Leben im ländlichen Raum ist. Dass eine Schule genauso auch Kindergarten, Hort, Bibliothek und Kulturhaus sein kann. Der Lernprozess setzt langsam ein und macht klar, dass „Fortschritt“ eben nicht immer nur „Aufbau“ oder „Bestandssicherung“ ist. Ganz praktisch wird hier der Wachstumsbegriff neu definiert. Dabei stellt sich heraus, dass Umbau viel komplizierter als Neubau ist und die entsprechenden Handlungsund Denkstrukturen nicht so schnell umzustellen sind, wie es nötig wäre. Die ostdeutschen Kommunen müssen einen Crash-Kurs hinlegen und binnen kürzester Zeit erneut lernen, mit sich völlig verändernden Rahmenbedingungen umzugehen. Nach der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Transformation geht der Osten Deutschlands nun unweigerlich in die vierte, die demographische Transformation. Paradoxerweise müssen dabei sogar Fehler korrigiert werden, die erst ein paar Jahre alt sind. So wurden viele Abwasser- oder Kläranlagen Anfang der 1990er Jahre schlicht überdimensioniert. Doch solche Anlagen funktionieren rein physikalisch nur bei einer Mindestdurchlaufmenge, so dass bei stark rückgängiger Bevölkerung sogar


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neue Anlagen nötig sein könnten. Es hat ein paar Jahre gedauert, bis die ersten Orte den Umbau gestalten lernten. Oft heißt das Abriss – oder neudeutsch „Rückbau“. Die berüchtigten Plattenbauten weichen als erstes. Für manchen schließt sich dabei der Kreis. Der ehemalige brandenburgische Bauminister hat noch in der DDR den Aufbau der Retortenstadt Schwedt geplant, in den 1990er Jahren war er für die Modernisierung der Platten zuständig, nun werden sie abgerissen. Eine Karriere der besonderen Art. Dabei entstehen auch kreative Lösungen. Denn die Wohnblöcke wurden wie Legosteine zusammengesetzt – und genauso kann man sie auch wieder auseinander nehmen. In Dresden hat man deshalb einfach drei Stockwerke gekappt und ab und an einen Aufgang herausgenommen und so aus einem Block

eine Reihenhaussiedlung gemacht. Das know how der Ostdeutschen über das Plattenrecycling ist mittlerweile sogar international gefragt, denn der RGW (oder „Comecon“, wie man im Westen sagte) hatte auch die sozialistischen Wohnformen vereinheitlicht. So interessieren sich jetzt die Wohnungsgesellschaften aus dem Moskauer Süden für die Plattensanierung im Berliner Osten. Bruderhilfe der anderen Art. Auch ein großer Teil der Gemeinden im Umfeld der großen Städten mit ihren uniformen Reihen- und Einfamilienhäusern werden in den nächsten Jahren die Schrumpfung lernen müssen. Die Landung auf dem Boden der Tatsachen wird für die „suburbs" am härtesten sein, denn sie sind in den vergangenen Jahren massiv gewachsen. – Und werden nun langsam wieder schrumpfen.

IV. Labor. Die neue Selbstfindung der Städte und Gemeinden erfolgt dabei unter größten finanziellen Anstrengungen, denn durch die schwächelnde ostdeutsche Wirtschaft liegen die Steuereinnahmen der Kommunen weit unter denen ihrer westdeutschen Counterparts. Neue Formen wechselseitiger Zusammenarbeit werden nötig sein.

Die Kommunen verfügen in der Regel über eine große Zahl an leerstehenden Gebäuden und Brachflächen. Nicht absehbar ist derzeit, wie der nach wie vor große Renovierungsbedarf durchgeführt werden soll – und für wen. Dass Häuser einfach in sich zusammen fallen, dass sich alte Straßen absenken, ist in den vielen Orten keine Seltenheit

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Thomas Kralinski

mehr. Die Stadt Leipzig ist nun in die Offensive gegangen und lässt alte baufällige Häuser gleich ganz abreißen und errichtet an ihrer Stelle kleine Parks und Spielplätze. Doch auch andere Modelle sind denkbar. Denn auch die Unternehmen werden erkennbar an Fachkräftemangel leiden. Ihr Problem ist, dass sie die nötigen – knappen – Arbeitskräfte kaum mit höheren Löhnen werden locken können. Es fällt ihnen schon schwer genug, die guten Leute überhaupt vor Ort zu halten. An dieser Stelle könnten neue Kooperationsformen zwischen Kommunen und Unternehmen entstehen. Während die Gemeinden ein Interesse am Erhalt ihrer Bausubstanz, an möglichst geringem Leerstand und natürlich florierenden Unternehmen haben, müssen die Betriebe zusehen, wie sie ihre Arbeitskräfte entlohnen und halten können. So könnten Grundstücke, Wohnungen und Häuser von den Kommunen über die Unternehmen an Arbeitnehmer ausgereicht werden. Der Land-fürLohn-Deal könnte als Lohn- und Rentenergänzung fungieren, die Unternehmen entlasten und gleichzeitig die Arbeitnehmer an Ort und Betrieb binden. Und bestenfalls auch lokale Bautätigkeit auslösen. Erste Gemeinden gehen Schritte in diese Richtung. So hat eine Gemeinde

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im Spreetal ein Gelände ausgeschrieben, mit dem Ziel ein innovatives und nachhaltiges Unternehmenskonzept zu fördern. Solche kleinen Schritte gehen auch andere Orte. Das kleine Ostritz an der Grenze zu Polen hat nach dem Wegbruch von mehreren tausend Arbeitsplätzen in der Umgebung – nicht zuletzt im Braunkohletagebau – sein Heil in der kompletten Umstellung der Energieversorgung gesucht. Als energieökologische Modellstadt versorgt sich der Ort nun vollkommen aus erneuerbaren Energien und speist mittlerweile sogar in die Netze ein. Neue Wege werden hier gegangen, die ohne die Umbrüche der letzten Jahren binnen so kurzer Zeit nicht denkbar gewesen wären. Einige Experten sehen die Zukunft der peripheren Regionen bereits im Rentnerparadies, dem „Florida Deutschlands“ – nur ohne Sonne. Auch da gibt es bereits erste aktive Schritte. Neue Nischen im Tourismus gilt es zu entdecken, wenn die neuen Rentner kurze und nicht allzu ferne Reisen unternehmen. Auch der öffentliche Verkehr – auf den ersten Blick durch den Bevölkerungsrückgang stark bedroht – braucht neue Grundlagen. Bereits heute sind in einigen ostdeutschen Orten ganze Buslinien auf öffentliche Taxis umgestellt, die Mobilität vor allem für ältere Menschen sichern. Wie die vielen alten Men-


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schen versorgt werden, wird eine spannende Herausforderung werden. Der deutsche Osten wird hier eine Vorreiterrolle einnehmen, gewollt oder nicht. Man wird hier experimentieren mit Instrumenten, wie Ärzte in der Peripherie zu halten sind, mit Fahrdiensten, um den älteren Mitbürgern das Einkaufen zu ermöglichen. Neue Wege wird die netzbasierte Hilfe für die alternde Generation ermöglichen. Das mag heute noch wie ein Widerspruch in sich klingen – für viele Menschen könnte dies aber bedeuten, länger in der Heimat zu bleiben. Wenn Frankreich seine Bürger in den 1980er Jahren mit Minitel ausstatten konnte, warum soll dies in der deutschen Peripherie nicht auch möglich sein? Einkaufen, Arztbesuch, Bestellung von Dienstleistungen über das Internet will erlernt werden. Erstaunlich wenig wird zwischen Oder und Elbe Zuwanderung als ernst zu nehmende Alternative angesehen – und das trotz der Nähe zu den neuen EU-Nachbarn. Zum einen weil man weiß, dass beispielsweise Tschechien ganz ähnliche bevölkerungsstrukturelle Probleme aufweist wie die neuen Länder. Gleichzeitig setzt sich immer mehr die Vermutung durch, dass – im Falle von tatsächlichen Zuwanderungsströmen – diese gleich in den „richtigen Westen“ führen und einen Bogen um Lausitz und Uckermark

machen werden. Allenfalls die boomenden Großstadtregionen im Osten werden eine entsprechende Anziehungskraft entwickeln können. Da im Osten eine erstaunliche Gleichzeitigkeit von akutem Fachkräftemangel und hoher Arbeitslosigkeit herrscht, würde Zuwanderung die Ostdeutschen auch vor besondere Integrationsleistungen stellen. Denn Arbeitskräfte werden in den Bereichen benötigt, wo in den letzten Jahren bereits erhebliche Anpassungsleistungen erbracht wurden – was meist nur ein anderes Wort für Arbeitslosigkeit ist. Gerade die Arbeiter, die die in der Industrie benötigten Fähigkeiten nicht oder nicht mehr haben, würden sich bei starker Zuwanderung endgültig im Abseits sehen. Deshalb kommen Öffnungsversuche nur mühsam in Gang, am weitesten sind sie im Grenzgebiet an der Oder. Dort, wo alte Städte wie Görlitz oder Frankfurt 1945 auseinander gerissen wurden, versucht man vorsichtig, neue Brücken zu bauen. Der Druck gegen solche Grenz-Öffnungen kommt dort meist aus den kleinen Arbeiter- und Bürgerschichten – und entlädt sich in latenter Unzufriedenheit und Ausländerfeindlichkeit. Doch ganz langsam bröckelt der Widerstand, denn die Menschen fangen an zu lernen. In Görlitz kommt der Umsatz in den Geschäften mittlerweile zu einem Drittel aus Polen.

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Thomas Kralinski

Das Theater stünde ohne die Besucher von jenseits der Neiße – für die man nun polnische Obertitel und komplette

polnische Inszenierungen macht – längst auf der Schließungsliste.

IV. Öffnung. Gebraucht wird ein neuer Pakt zwischen Zentrum und Peripherie – gerade in Brandenburg, wo die Entwicklungen so weit auseinander klaffen. Zur Zeit sieht es so aus, als hätte der Berliner Speckgürtel mit seinen gerade erst entstandenen Vororten noch eine Weile relative Ruhe vor dem demographischen Wandel. Lediglich in Potsdam und im Havelland werden bis 2020 noch Bevölkerungszuwächse erwartet, in zwei weiteren Kreisen (Potsdam-Mittelmark und Oberhavel) bleibt die Einwohnerzahl konstant. Zuerst wird es die peripheren Gebiete in voller Härte mit Alterung, Jugendlosigkeit und Bevölkerungsrückgang erwischen. Da steht dann die Frage, wie viel Rückzugsraum die Gesellschaft noch braucht, wie viel ihr Landschaftspflege und Ruhe wert ist. Wie lässt sich eine solche Gesellschaft steuern? Was wird aus der Demokratie mit ihren vielfältigen Institutionen? Wird die Entvölkerung gleichzeitig zu einer Verschlankung und Vereinfachung gesellschaftlicher und staatlicher Strukturen führen?

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Erste Ansätze dieser Art sind ab und an zu hören, wenngleich vor allem in der Hoffnung, dadurch schnelleres wirtschaftliches Wachstums zu ermöglichen. Dabei könnte die Verkleinerung unserer Institutionen eine Notwendigkeit werden, um sie überhaupt funktionstüchtig zu halten. Die Parteien im Osten machen bereits erste Erfahrungen mit der Personalknappheit. Auslese um gutes Personal findet dort kaum noch statt – vielerorts ist man froh, überhaupt Kandidaten für öffentliche Ämter zu haben. Die Qualität politischer Führung und gesellschaftlicher Steuerung wird auf eine neue Belastungsprobe gestellt. Die drei „großen“ Parteien der neuen Länder versuchen sich meist in einer Öffnung zu Experten und eröffnen Quereinsteigern schnelle Aufstiegsmöglichkeiten. Zwar wurde dies – auch in der alten Bundesrepublik – schon oft angekündigt, ist aber häufig schnell wieder eingeschlafen. Für die ostdeutsche Demokratie könnte dies der Weg sein, der ihr Überleben überhaupt ermöglicht.


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Angesichts der zurückgehenden Steuerungskapazitäten könnte aber auch eine „Direkt-Demokratisierung“ ins Haus stehen. Sie kann helfen, Verständnis bei den Bürgern zu wecken, Kreativität zu mobilisieren und lokale Autonomie und Handlungsspielräume wiederbeleben, sie mitzunehmen und zu aktivieren beim neuen Umbau. Familien- und Kinderfreundlichkeit, altersgerechtes Leben wird eine größere Rolle spielen, als dies bisher der Fall ist. Das kann die Stunde der Kommunen werden, die den Veränderungsdruck zuerst auffangen müssen. Noch sind viele Fragen offen, noch gibt es mehr Fragen als Antworten. Dabei sind es häufig die kleinen Projekte und Initiativen, die neue Wege aufzeigen. Die bundesdeutsche Öffentlichkeit tut gut daran, sich solche Initiativen genau anzuschauen und zu unterstüt-

zen. Es gibt nur wenige Umfragen über die Bedeutung der Abwanderung. In Sachsen sehen konstant über 90 % der Menschen die Abwanderung der jungen Menschen als das drängenste Problem im Land an – damit hat dieses Thema sogar Arbeitsmarkt- und Wirtschaftsfragen verdrängt.3 Der Westen hat diese Entwicklung eher ignoriert. Die Vierte, die demographische, Transformation ist auch die Chance für Wiedergutmachung. Bisher wurden die Veränderungs- und Anpassungsleistungen der Ostdeutschen nur wenig gewürdigt. Doch der alternde Westen steht selber vor großen Umbrüchen. Er täte gut daran, der Bevölkerungsveränderungen im Osten und den Reaktionen darauf die Beachtung zu schenken, die sie verdienen. Denn hier lernt die Zukunft von ganz Deutschland laufen.

Thomas Kralinski, Politikwissenschaftler und Referent des SPD-Landesverbandes Brandenburg Dies ist die bearbeitete Fassung eines Artikels aus dem Buch von Tobias Dürr & Tanja Busse (Hg.): Das neue Deutschland. Die Zukunft als Chance, das im Aufbau-Verlag erschienen ist.

3

Institut für Marktforschung Leipzig für die SPD-Landtagsfraktion (2001, 2002): Sachsenstudie

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Demographische Entwicklungen der Nachwende und ihre Auswirkungen in Brandenburg von Dr. Harald L. Sempf

Die tendenziell absolut sinkenden Bevölkerungszahlen in den entwickelten Industrieländern der westlichen Hemisphäre führen zu gravierenden Veränderungen in unterschiedlichen Gesellschaftsbereichen. In Deutschland werden u.a davon betroffen sein: das umlagefinanzierte Rentensystem, die Wohnungsbaupolitik, der Ausbau und das Angebot von Infrastrukturen u.v.m. Neben dem absoluten Trend spielt jedoch auch die regionale Disparität der demographischen Entwicklung eine erhebliche Rolle, die hier insbesondere für die Region Berlin-Brandenburg näher betrachtet werden soll. In der frühen Nachwendezeit von 1989-1993 hat sich die Bevölkerungsanzahl in den neuen Bundesländern um mehr als eine Million verringert; allein von 1989/1990 verlor die DDR 742.000 Menschen. Für den hohen Rückgang waren insbesondere die 1 2

Wanderungsbewegungen in die alten Bundesländer ausschlaggebend.1 Allerdings lässt sich anhand des Vergleich der Bevölkerungsentwicklung beider deutscher Staaten feststellen, dass die Bundesrepublik West von 1950 bis 1975 ein nahezu stetiges Bevölkerungswachstum zu verzeichnen hatte, das dann bis 1985 stagnierte und erst zum Ende der 80er Jahre wieder erheblich stieg. Währenddessen wurde in der DDR trotz der expansiven Sozialund Familienpolitik eine ausschließlich abnehmende Tendenz sichtbar.2 Die überdurchschnittlich hohen innerdeutschen Migrationen gingen zum Ende der 90er Jahre zurück und waren zwischen Ost und West im Saldo nahezu ausgeglichen, seitdem ist der Wanderungssaldo jedoch wieder angestiegen. Ein Großteil der Wanderungen vollzieht sich eher intraregional, so z. B. registriert Seitz (1998, S. 2) einen „anhaltenden Sub-

Es kann nur darüber spekuliert werden, um wie viel höher diese Zahl ausgefallen wäre, wenn es nicht zu einer sofortigen Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion gekommen wäre. Die Debatten um einen assoziierten Status oder einen sog. „dritten Weg“ hat es ja ernsthaft gegeben. Die Entwicklungen wurden in der alten Bundesrepublik nicht etwa durch Geburtenraten, die die Sterberaten der deutschen Bevölkerung übertrafen, erreicht, sondern vorrangig durch Migration aus EG-Ländern, der DDR und dritten Staaten.

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Dr. Harald L. Sempf

Wanderungsbilanz Ost-West III/1989 – III/1991 in Tausend 50 18 1

3

5

7

12

12

22 16

0

-50 -51

-47 -56

-58 -73

-85

-88 -100

-150

-200 -199

-250 Zuzüge in die Neuen Bundesländer und Berlin (Ost)

-266

Fortzüge aus den Neuen Bundesländer und Berlin (Ost) -300 III/89

IV/89

I/90

II/90

III/90

IV/90

I/91

II/91

III/91

Quelle: Wirtschaftsatlas Neue Bundesländer, 1994, S. 23

Entwicklung der Bevölkerung in der BRD und der DDR 1950-1990 70 Mio. 60 Mio.

BRD

50 Mio. 20 Mio. DDR

10 Mio.

0 1950

1955

1960

1965

1970

Quelle: Wirtschaftsatlas Neue Bundesländer , 1994, S. 22

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1975

1980

1985

1990


Demographische Entwicklungen der Nachwende und ihre Auswirkungen in Brandenburg

urbanisierungsdruck … in der Region Berlin-Brandenburg.“ So bestehen eben nicht nur erhebliche Disparitäten zwischen der Metropole Berlin und Brandenburg – die offensichtlich sind, sondern auch zwischen einzelnen Regionen Brandenburgs. Brandenburg ist das einzige neue Bundesland, das für den Zeitraum von 1991-2000 einen positiven Bevölkerungssaldo aufweist. Alle anderen neuen Länder haben teilweise empfindliche Bevölkerungsverluste aufzuweisen. Als Ursache dafür kann aber in Brandenburg nicht ein Geburtenüberschuss ausgemacht werden, sondern es muss vorrangig die Migration von Berlinern nach Brandenburg als Ursache herangezogen werden. „Eine zunehmende Zahl von Berlinern – insbesondere aus dem Einkommensmittelstand – kehrt der Hauptstadt den Rücken und sucht sich ein Eigenheim im Brandenburger Umland. … Seit der Wende sind ca. 72.000 Berliner netto … nach Brandenburg ausgewandert.“ (Seitz, 1997, S. 2) Ein Effekt, der nach fast 30 Jahren abgeschotteter Insellage Westberlins die Siedlungsentwicklung anderer Metropolen nur auf natürliche Weise ‚nachholt‘, bzw. an sie Anschluss sucht.3 So sehen einige Demographen für Brandenburg 3

bis 2010 „einen Wanderungsgewinn von 200.000 Einwohnern“ (Mahnke, 1998, S. 9). Es werden nach diesen Schätzungen 400.000 Personen aus Berlin nach Brandenburg kommen, jedoch werden auch 200.000 aus Brandenburg nach Berlin umziehen. „Diese (‚Berliner Migranten‘) stammen in der Regel aus eher finanzkräftigen Schichten, was für Brandenburg fiskalpolitisch eine positive Entwicklung bedeutet.“ (a.a.O.) Auch wenn aktuell Meldungen von zurückkehrenden Berlinern aus Brandenburg berichten, dürfte der Trend dennoch bestehen bleiben, wenngleich er sich zukünftig weiter abschwächt. Die Unterschiede zwischen Berlin und Brandenburg gelten in der Bevölkerungsdichte und der Siedlungsstruktur als die extremsten innerhalb Deutschlands. Berlin weist mit 3,4 Mio. Einwohnern die größte Bevölkerungskonzentration unter den Siedlungen Deutschlands auf. Die Siedlungsstruktur Brandenburgs ist hingegen durch den hohen Anteil von Kleingemeinden geprägt. In Brandenburg wiesen 2001 ca. 90 % der Gemeinden weniger als 2.000 Einwohner auf – dort leben ca. 28 % der Bevölkerung. In zwei Dritteln der Gemeinden bzw. Ortsteilen liegt die Einwohnerzahl sogar unter 500

Vgl. dazu z.B. insbesondere die Siedlungsentwicklung in Hamburg, München, aber auch Paris, London, New York sowie in Moskau.

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Dr. Harald L. Sempf

Bevölkerungsentwicklung in den neuen Bundesländern 1991-2000 Brandenburg

Mecklenburg-V.

+2,1 %

-3,4 %

Sachsen

Sachsen-Anhalt

-3,5 %

-5,3 %

Thüringen -3,2 %

Quelle: Statistisches Bundesamt, 2001, http://www.statistik-bund.de/jahrbuch/jahrtab1.htm

Natürliche Bevölkerungsentwicklung in Brandenburg 1991-1999 1991

1992

1993

1994

1995

1996

1997

1998

1999

-14,0

-15,9

-16,8

-16,0

-13,9

-12,5

-10,4

-9,2

-8,1

Quelle: LDS Brandenburg, 2001, http://www.brandenburg.de/lds/daten/bev/tab26.htm; Angaben in Tausend (Saldo aus Lebendgeburten und Sterbefällen)

Personen. Das Land Brandenburg zählt nach der Gemeindegebietsreform zwar nur noch ca. 700 Gemeinden, aber nur neun Prozent der Brandenburger wohnen in ländlichen Gemeinden oder Ortsteilen von Großgemeinden. Auch die Bevölkerungsdichte zeigt die gegensätzliche Siedlungsstruktur deutlich: Berlin nimmt mit 3.700 Einwohner/km2 eine der größten Besiedelungsdichten von Deutschlands Städten ein. Brandenburg dagegen wird mit ca. 88 Einwohner/km2 zu den am dünnsten besiedelten Bundesländern gezählt.4 (LDS, 2001; SLB, 2001) Den seit der Wiedervereinigung Deutschlands einsetzende Suburbanisierungsdruck in der Region beobachte u.a. Seitz und 4

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zeichnete dieses Entwicklung nach. Dabei kommt er zu folgendem Ergebnis für den Metropolenraum BerlinBrandenburg: Wie eingangs beschrieben, ist Brandenburg bisher das einzige ostdeutsche Bundesland, das seine Bevölkerungszahl aufgrund der Migration von Berlinern in das Umland steigern konnte. „Diese Bevölkerungswanderungen führen nach den Erfahrungen in Westdeutschland, aber auch in anderen Ländern dazu, dass sich auch die Wanderungsbewegungen der Betriebe von Berlin nach Brandenburg erhöhen werden.“ (Seitz, 1998, S. 3) Zudem bestehen zwischen Berlin und Brandenburg ausgeprägte Stadt-Um-

Selbst die unmittelbar an Berlin angrenzenden Kreise erreichen lediglich 135 Einwohner/km2. Im übrigen Brandenburg liegt die Bevölkerungsdichte noch darunter, wobei viele Kreise sogar eine Dichte von 50 Einwohner/km2 unterschreiten.“ (Winkel, 1994, S. 26)


Demographische Entwicklungen der Nachwende und ihre Auswirkungen in Brandenburg

land-Beziehungen, die u.a. in erheblichen Pendlerverflechtungen zeigen und dadurch eine gemeinsame Wirtschaftsregion begründen. Dass es sich bei Berlin und Brandenburg um einen gemeinsamen Wirtschaftsraum handelt, verdeutlichen diese Zahlen anschaulich, denn 112.000 Brandenburger Pendler stellen mehr als 10 % aller Erwerbstätigen Brandenburgs dar. Das Fazit Mahnkes (1998, S. 9) fällt „trotz der in der Summe positiven und stabilen Entwicklung“ aufgrund der zu erwartenden starken regionalen Disparitäten gemischt aus: „Es wird Problemräume mit einer Abwanderung von über 10 Prozent geben, etwa aus der Prignitz und Teilen der Uckermark. … Zuwanderungen sind hingegen für den engeren Verflechtungsraum zu

erwarten, vor allem im sogenannten Speckgürtel… Die Ziele der ‚Dezentralen Konzentration‘ …, die Entwicklung zu steuern, sind bislang nicht erreicht. Das daraus resultierende weitere Auseinanderklaffen der einzelnen Regionen dürfte sich in den kommenden Jahren als Hauptproblem der (Brandenburger – a.d.V.) Landesentwicklungspolitik erweisen.“ Bei der Untersuchung der Bevölkerungsentwicklung unter regionalen Gesichtspunkten zeigen sich nämlich stark gegensätzliche Entwicklungen. Nach den Angaben des LDS Brandenburg6 (www.brandenburg.de/lds/ daten/bev/tab30.htm) haben sich die Bevölkerungsgewichte in den beiden Teilräumen gegensätzlich entwickelt. Während die Bevölkerungsanzahl im äußeren Entwicklungsraum kontinuier-

Migrationssaldo in der Region Berlin-Brandenburg (in Tausend) 1991 - 1997 5 2,0

1,2

-0,2

0

-0,7

0,6

0

0 0,2

-0,8

-5 -3,9 -10

engeres Umland

-9,8

Peripherie

-15 -14,5 -20 -19,0 -25 -30 1991

1992

1993

1994

1995

1996

-28,0 1997

Quelle: Statistische Landesämter Brandenburg und Berlin, vgl. Seitz, 1998, S. 3 Negative Zahlen: Nettozuzug von Berlin nach Brandenburg Positive Zahlen: Nettozuzug von Brandenburg nach Berlin

5 6

Vgl. zu Migration und Pendlerbewegungen ausführlich Seitz, 1997. Angaben erfolgen nach dem Gebietsstand vom 31.12.1999, Angaben 1981 basieren auf Ergebnissen der Volkszählung, Angaben 1990 stellen die Ausgangsbasis der Bevölkerungsfortschreibung in den neuen Bundesländern dar.

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Dr. Harald L. Sempf

Pendlerverflechtungen Berlin Brandenburg, 1993 - 1997 120 112 104,2

100 94,7 90,3

90,3

80 60 50,3 47,8 40,8

40

Pendler von Brandenburg nach Berlin (1.000)

33,1 25,7

20

Pendler von Berlin nach Brandenburg (1.000)

0 1993

1994

1995

1996

1997

Quelle: Seitz, 1997, S. 4

lich abnimmt, hat sie sich im engeren Verflechtungsraum nach einem Rückgang im Wendejahr 1990 deutlich gegenüber dem Stand von 1981 erholt und wächst seit 1995 beständig. Die Untersuchung der Bevölkerungsveränderungen nach einer kreisscharfen Abgrenzung kommt zu ähnlichen Ergebnissen.7 Auch nach der in dieser Untersuchung angenommenen Aufteilung der Räume zeigt sich in der Gliederung nach Landkreisen eine analoge Entwicklung. Während alle Landkreise im engeren Verflechtungsraum Zuzugsgebiete sind und erhebliche Zuwächse an Bevölke7

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rung aufweisen, unterliegen alle Landkreise im äußeren Entwicklungsraum massiven Bevölkerungsverlusten. Für den betrachteten Zeitraum 1996-1999 konnte bspw. der Landkreis PotsdamMittelmark seine Bevölkerungszahl je 1.000 Einwohner im Jahresmittel um weitere 33 Neubürger netto vergrößern. Im Gegenzug hat der Landkreis Oberspreewald-Lausitz in der gleichen Periode über 14 Altbürger je 1.000 Einwohner pro Jahr im Durchschnitt netto verloren. Die Siedlungsbewegungen richten sich somit eindeutig in Richtung Zentrum, in den engeren Verflechtungsraum aus. Einzige Ausnahme bildet im

Da exakte Daten der Teilräume seitens Brandenburgs nicht erhoben bzw. nicht veröffentlicht werden und sich damit einer wissenschaftlichen Begutachtung entziehen, müssen modellhafte Vereinfachungen vorgenommen werden, die einen möglichst nahen Realitätsbezug aufweisen. Für diese aggregierten Untersuchungen werden folgende Abgrenzungen getroffen: Alle Landkreise und kreisfreien Städte, die eine geographische Grenze mit Berlin aufweisen und damit einen Teil des engeren Verflechtungsraumes auf ihrem Hoheitsgebiet besitzen, bilden hier den engeren Verflechtungsraum. Alle anderen Landkreise und kreisfreien Städte, die keine geographische Grenze mit Berlin aufweisen, deren gesamtes Hoheitsgebiet ausschließlich im äußeren Entwicklungsraum liegt, bildet den äußeren Entwicklungsraum.


Demographische Entwicklungen der Nachwende und ihre Auswirkungen in Brandenburg

Verflechtungsraum die Landeshauptstadt Potsdam, die ihrerseits einem Suburbanisierungsdruck unterlag und Bevölkerungsverluste aufweist. Dieser Suburbanisierungsdruck kann quasi im Mirkobereich deutlich auch an der Beziehung zwischen der Stadt Cottbus und dem sie vollständig umschließenden Landkreis Spree-Neiße, dokumentiert werden. Der Landkreis SpreeNeiße überkompensierte seine Bevölkerungsverluste durch Zuzüge aus der Stadt Cottbus. Die aktuell im Land

Brandenburg umgesetzte Gemeindegebietsreform schafft ansatzweise Voraussetzungen, damit gerade im äußeren Entwicklungsraum die vorhandenen Ressourcen konzentriert werden, um vitale Lebensfunktionen gesellschaftlicher Strukturen in den Zentren zu erhalten – leider oft wider bessere Einsicht der Betroffenen. Die Herausforderungen an die Landesund Kommunalpolitik in den nächsten Jahren sind groß. Einerseits muss in erheblichem Umfange in Infrastruktur

Bevölkerungsentwicklung in aggregierten Teilräumen von 1981 - 1999 3.000.000

Land Brandenburg

2.500.000 2.000.000 1.500.000

1981

1990

engerer Verflechtungsraum

1998

1.684.680

916.527

1.702.942

887.433

1.815.366

787.038

0

1.877.944

500.000

789.108

1.000.000

1999

äußerer Entwicklungsraum

Quelle: LDS Brandenburg, 2001, Sempf, 2002, S.202

33


Dr. Harald L. Sempf

Bevölkerungsentwicklung nach Landkreisen und kreisfreien Städten in Brandenburg (Bevölkerungszunahme/-abnahme je 1.000 Einwohner) Engerer Verflechtungsraum Land-

1996

1997

1998

1999

kr.

Äußerer Entwicklungsraum 1996

Land-

-99*

kr.

1996

1997

1998

1999

1996 -99*

BAR

19,1

31,8

26,3

24,0

25,3

EE

-4,4

-4,9

-7,0

-13,5

-7,5

LDS

19,7

20,9

25,5

15,7

20,5

OPR

-3,1

0,3

-4,1

-8,0

-4,9

HVL

18,4

25,0

28,1

26,9

24,6

OSL

-11,1

-13,6

-16,5

-15,3

-14,1

MOL

14,2

22,2

22,2

19,6

19,6

PR

-9,9

-14,0

-8,3

-11,6

-11,0

OHV

18,4

26,7

31,2

27,9

26,0

SPN

8,9

7,0

-1,1

-3,4

2,8

LOS

11,3

10,4

8,3

0,7

7,7

UM

-8,0

-8,6

-12,4

-10,6

-9,9

PM

25,6

38,9

39,4

28,5

33,1

BRB

-18,0

-24,0

-23,7

-19,7

-21,4

TF

14,2

19,8

17,2

15,5

16,7

CB

-19,6

-19,6

-30,7

-35,7

-26,4

P

-13,6

-21,8

-15,7

-6,3

-14,4

FF

-12,7

-24,0

-28,3

-25,1

-22,5

Quelle: LDS Brandenburg, 2000, 2001, Kreischarakteristik, * Jahresmittel 1996-1999, Sempf, 2002, S.203 Engerer Verflechtungsraum: Barnim (BAR), Dahme-Spreewald (LDS), Havelland (HVL), Märkisch-Oderland (MOL), Oberhavel (OHV), Oder-Spree (LOS), Potsdam-Mittelmark (PM), Teltow-Fläming (TF), Potsdam (P) Äußerer Entwicklungsraum: Elbe-Elster (EE), Ostprignitz-Ruppin (OPR), Oberspreewald-Lausitz (OSL), Prignitz (PR), Spree-Neiße (SPN), Uckermark (UM), Brandenburg an der Havel (BRB), Cottbus (CB), Frankfurt/Oder (FF)

im engeren Verflechtungsraum investiert werden, um Versorgungsfunktionen für die wachsenden Bevölkerung aufrecht zu erhalten. So errichtet z.B. der Landkreis Havelland nahe der Stadtgrenze zu Berlin ein neues Gymnasium, während gleichzeitig im westlichen Havelland aufgrund der zurückgehenden Schülerzahlen Schulen geschlossen werden müssen. Darüber hinaus steigt so-

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wohl die Nachfrage nach Ausbau der Straßeninfrastruktur als auch an einer Ausweitung des öffentlichem Personennahverkehr im Berliner Umland stetig an. Andererseits werden aufgrund der sinkenden Bevölkerungszahlen und damit zurückgehenden Nutzungen, Investitionen in die Infrastruktur im äußeren Entwicklungsraum immer schwerer politisch zu vertreten sein. Öffentliche und


Demographische Entwicklungen der Nachwende und ihre Auswirkungen in Brandenburg

private Versorgungsfunktionen drohen im äußeren Entwicklungsraum mittelfristig zusammenzubrechen. Ein Beispiel: Der durch die Landkreise organisierte ÖPNV, der gegenwärtig noch maßgeblich über den von Bund und Land finanzierten Schülerverkehr ermöglicht wird, erfährt bei den schrumpfenden Schülerzahlen zukünftig Ausdünnungen in einem Umfang, dass einzelne Gemeinden gefährdet sind, ihren Zugang zu öffentlichen Transportdienstleistungen zu verlieren. Die negativen Bevölkerungsentwicklungen werden alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens in Brandenburg berühren und einen nachhaltigen Einfluss auf die Lebensqualität im ländlichen Raum ausüben, wie z.B. Einzelhan-

del, Gesundheitsdienstleistungen, Kulturangebote etc. Erhebliche politische und finanzielle Kraftanstrengungen werden von Nöten sein, um bei sinkenden öffentlichen Ressourcen (Fördermittel, Landes- und Bundeszuweisungen) und stagnierender, oder sogar abnehmender Steuerkraft das bestehende Angebot für eine weiter schrumpfende Bevölkerung auch nur aufrecht zu erhalten, von einer Verbesserung ganz abgesehen. Zur Begegnung dieser Entwicklung kann von politischer Seite nur ein marktgerechtes, sozio-ökonomisch zukunftsfähiges, aber regionaldifferenzierte Maßnahmebündel umgesetzt werden, von denen bereits einige existieren und auf ihre Umsetzung warten.

Dr. Harald L. Sempf, Betriebs- und Volkswirt, persönlicher Referent des Landrates Havelland

35


Dr. Harald L. Sempf

Literatur Wirtschaftsatlas Neue Bundesländer, 1994. Landesbetrieb für Datenverarbeitung und Statistik Brandenburg, www.brandenburg.de/lds/daten/bev/tab26.htm www.brandenburg.de/lds/daten/bev/text.htm Mahnke, L.: Langfristprognose für die demographische und wirtschaftliche Entwicklung der Region Berlin-Brandenburg, in: 2. Forum Zukunft Brandenburg, 2025 in der Mitte Europas, 1998. Seitz, H.: Aktuelle Entwicklungstrends am Arbeitsmarkt und Infrastrukturaufbau in Berlin-Brandenburg, Arbeitsbericht 86, 1997. Seitz, H.: Migration, Arbeitsmarkt, Wirtschaft und öffentliche Finanzen in Brandenburg und den anderen ostdeutschen Ländern, Europa-Universität Viadrina Frankfurt/Oder und Zentrum für Europäische Wirtschaftsfor-schung (ZEW) Mannheim, 1998. Sempf, H.: Regionale Wirtschaftspolitik vor dem Hintergrund des regionalen Standortwettbewerbs – Eine Untersuchung am Beispiel des Landes Brandenburg, 2002. Statistisches Bundesamt www.statistik-bund.de/jahrbuch/ jahrtab1.htm Statistisches Landesamt Berlin, www.statistik-berlin.de/framesets/ berl.htm Winkel, R.: Fallbeispiel: Dezentrale Konzentration im Großraum Berlin-Brandenburg, Arbeitsberichte, Tagungsbeiträge zur Raumentwicklungspolitik, Institut für Regionalentwicklung.

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Sicherung von Infrastrukturangeboten in dünn besiedelten Regionen Eine besondere Herausforderung des demographischen Wandels von Thomas Thrun und Bärbel Winkler-Kühlken

1. Handlungsbedarf Die Bevölkerungszahl Ostdeutschlands ging in den 1990er-Jahren aufgrund des drastischen Geburtenrückgangs und erheblicher Ost-West-Wanderungen stark zurück. Abnahmen von bis zu 20 % innerhalb einer Dekade zeigen in einigen Kommunen eine bei-

spiellose Dynamik auf. Im europäischen Vergleich wird die brisante Entwicklung noch deutlicher: Von 209 EURegionen gehören sechs ostdeutsche Regionen zu den zehn am stärksten von abnehmender Bevölkerung betroffenen Regionen. Auch in Zukunft ist in

Bevölkerungsentwicklung 1990-2020 in Ost- und Westdeutschland nach Raumtypen 110 Ländliche Räume – West Verstädterte Räume – West 105 Agglomerationsräume – West 100 Agglomerationsräume – Ost

Ländliche Räume – Ost 90 Verstädterte Räume – Ost

85

Datengrundlage: BBR Bevölkerungsprognose 1999-2020

2020

2018

2016

2014

2012

2010

2008

2006

2004

2002

2000

1998

1996

1994

1992

80 1990

indexiert (1990 = 100)

95

IfS Institut für Stadtforschung

37


Thomas Thrun und Bärbel Winkler-Kühlken

den ostdeutschen ländlichen Regionen mit weiteren Abnahmen insbesondere aufgrund der kaum beeinflussbaren Sterbeüberschüsse zu rechnen. Ländliche und zugleich peripher gelegene Räume sind von dieser Entwicklung in besonderer Weise betroffen. Diese Regionen weisen im bundesdeutschen Vergleich die geringsten Bevölkerungsdichten aus, so dass typische Standardformen der Daseinsvorsorge bereits schwierig realisierbar sind. Mit immer weniger Nutzern stößt die Bereitstellung von Infrastrukturleistungen schnell an Tragfähigkeitsgrenzen. Die fehlende Auslastung und damit steigenden Kosten führen zwangsläufig zu Angebotsreduzierungen und sogar Schließungen. Der Einzugsbereich vergrößert sich zu Lasten der Erreichbarkeit. Zusätzlich verändert sich der Altersaufbau der Bevölkerung stark. Die Zahl älterer, wenig mobiler Menschen nimmt

sogar absolut zu – beispielsweise wird in der Region Lausitz-Spreewald (ohne Anteil Berliner Umland) die Zahl der über 75-Jährigen bis 2020 um zwei Drittel gegenüber dem Stand von 2000 zunehmen. Die Einbrüche bei den Jahrgängen der 1990er Jahre, die zukünftig als „Wellental“ den altersspezifischen Infrastrukturbedarf prägen, erschweren eine kontinuierliche Planung der Daseinsvorsorge. Dies betrifft u. a. Kindergärten, Bildungseinrichtungen, Kulturund Sportstätten und den öffentlichen Nahverkehr. Den Kommunen droht Versorgungsmangel, verbunden mit erheblichem Image-Verlust. Weitere Abwanderungen, insbesondere von jungen Menschen, sind die Folge; Anreize für Zuwanderungen fehlen. Gewerbe- und Dienstleistungsbetriebe verlieren Nachfragepotenzial und die Kommunen mit den Einwohnern zugleich Steuerkraft.

2. Modellregionen zur Anpassung der Infrastruktur Mit dem Aktionsprogramm „Modellvorhaben der Raumordnung“ unterstützt das Bundesministerium für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (BMVBW) die Erprobung und Umsetzung innovativer Ansätze und Instru1

38

mente in der praktischen Raumordnung. Das Aktionsprogramm wird vom Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung (BBR) betreut.1 Mit dem Projekt „Anpassungsstrategien für ländliche/periphere Regionen mit star-

Nähere Informationen zu Modellvorhaben der Raumordnung unter www.bbr.bund.de/raumordnung/moro.htm.


Sicherung von Infrastrukturangeboten in dünn besiedelten Regionen

kem Bevölkerungsrückgang in den neuen Ländern“ 2 soll in Modellregionen beispielhaft aufgezeigt werden, welche zukunftsgerichteten, kooperativen Lösungsstrategien für eine bedarfsgerechte und wirtschaftliche Infrastruktur in schrumpfenden ländlichen Regionen entwickelt werden können. Dieses Modellvorhaben wird vom IfS Institut für Stadtforschung und Strukturpolitik GmbH wissenschaftlich begleitet und evaluiert. Die konkreten Modellregionen wurden im April 2002 über ein Bewerbungsverfahren unter den ländlichen/peripheren Planungsregionen ausgewählt: • Region Mecklenburgische Seenplatte (Mecklenburg-Vorpommern), • Region Lausitz-Spreewald ohne Berliner Umland (Brandenburg), • Region Ostthüringen: Landkreise Saalfeld-Rudolstadt und Saale-OrlaKreis (Thüringen). Die Regionen Mecklenburgische Seenplatte und Lausitz-Spreewald sind Ausschnitte der im bundesdeutschen Vergleich großräumig sehr dünn besiedelten Bereiche in Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg sowie im Norden Sachsen-Anhalts. Der ostthüringische Modellraum ist hingegen ein dünn besiedelter Teilraum innerhalb des dichter besiedelten mitteldeutschen Raumes. 2

Alle Landkreise der Modellregionen haben eine Bevölkerungsdichte von unter 150 Einwohnern pro km2 – dem Orientierungswert des BBR für dünn besiedelte Räume. In allen Landkreisen der Mecklenburgischen Seenplatte sowie in zwei der vier Landkreise in der Region LausitzSpreewald liegt die Bevölkerungsdichte sogar unter der Hälfte dieses Wertes. Zu den ländlichen Strukturmerkmalen der Räume tritt in allen drei Fällen eine peri-

Homepage des Projekts: www.regionale-anpassung.de.

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Thomas Thrun und Bärbel Winkler-Kühlken

phere Lage hinzu (große Entfernung zu Ballungsräumen, teilweise EU-Außengrenze). Die Topographie (Wasser, Gebirge, Bergbau) bildet in den Regionen durch Zerschneidungseffekte darüber hinaus teilräumlich besonders periphere Lagen. Mit der Entwicklung von Anpassungsstrategien in den Modellregionen wird der Schrumpfungsprozess

erstmals mit integrierten, überregionalen Anpassungskonzepten aktiv in größeren Gebietseinheiten gestaltet. Die Übertragbarkeit der Modellinhalte auf andere betroffene Regionen ist dabei von großer Bedeutung. Denn auch in Westdeutschland – dies zeigen langfristig angelegte Bevölkerungsprognosen – wird das Thema der Alterung und des Rückgangs der Bevölke-

Siedlungsstrukturelle und topographische Merkmale der Modellregionen Modellregion

Mecklenburgische Seenplatte

Äußerer Entwicklungsraum der Region LausitzSpreewald

Landkreise Saalfeld-Rudolstadt und Saale-OrlaKreis (Ostthüringen)

Fläche

5.810 km2

ca. 6.750 km2

2.182,9 km2

Einwohner

325.502 (2000)

610.591 (1999)

231.477 (2000)

2

2

106 EW/km2

Einwohnerdichte

56 EW/km

90 EW/km

Bevölkerung 1990-2000

-8,2%

-9,2%

-8,2%

Arbeitslosenquote

22,9% (2000)

23,1% Region insgesamt (2002)

16,1% (2000)

Kreise der Modellregion

Müritz Mecklenburg-Strelitz Demmin Neubrandenburg (kreisfreie Stadt)

Städte >20.000 Einwohner

Neubrandenburg (72 TEW) Cottbus (109 TEW) Neustrelitz (23 TEW) Forst (24 TEW) Waren (22 TEW) Senftenberg (25 TEW) Lübbenau (20 TEW)

Saalfeld (30 TEW) Rudolstadt (28 TEW)

Topographische Besonderheiten

Netz von Seen und Fließgewässern, 44% der Region Schutzgebiet, kleine Siedlungseinheiten (51% der Siedlungen weniger als 50 Einwohner)

erhebliche Unterschiede in der Besiedlungsdichte innerhalb der Modellregion, Braunkohletagebaugebiet

Ausschnitt der Mittelgebirgsschwelle des Thüringer Waldes, des Thüringer Schiefergebirges und des Thüringer Vogtlandes

entfernt von Ballungsraum, EU-Außengrenze

entfernt von Ballungsraum

Periphere Lage

40

entfernt von Ballungsraum

Elbe-Elster Dahme-Spreewald Oberspreewald-Lausitz Cottbus (kreisfreie Stadt)

Saalfeld-Rudolstadt Saale-Orla-Kreis


Sicherung von Infrastrukturangeboten in dünn besiedelten Regionen

rung mit seinen räumlichen Folgen zunehmend wichtiger. Das Modellvorhaben bietet die Möglichkeit, die Gemeinden und Bürger vor finanzieller Überforderung zu bewahren, die ein überdimensioniertes Angebot von Infrastrukturleistungen nach sich zieht. Dabei können die Regionen für Bewohner und Dienstleistungsanbieter durch

ein kleineres aber „feineres“ Angebot attraktiver gemacht werden. Durch den regionalen öffentlichen Dialog kann die Identität der Bewohner mit ihrem Umfeld gestärkt und damit nicht zuletzt Abwanderungen entgegengewirkt werden.

3. Dialog als zentrales Prozesselement Von besonderer Bedeutung für das Gelingen des Modellvorhabens ist die Organisation des Dialogprozesses zwischen Fach- und Regionalplanern, regionalen Akteuren, Kommunal- und Regionalpolitikern sowie Trägern von regionalen Initiativen. Traditionelle Konzepte und Instrumente der Regionalentwicklung, die typischerweise auf die Induzierung oder die Organisation von Wachstum ausgerichtet sind, sind für Schrumpfungsprozesse nicht geeignet. Auf der Agenda der Modellregionen stehen daher zwei vordringliche Aufgaben: Erstens muss ein sukzessiver Umdenkungsprozess eingeleitet werden. Planer und Politiker müssen erkennen, dass eine rückläufige Bevölkerungsentwicklung aufgrund der demographischen Determinanten unumkehrbar ist. Zweitens ist dem Schreckgespenst der Schrumpfung mit kreati-

ven Ideen und neuartigen Konzepten entgegenzutreten. Nur über diesen Weg kann der bevorstehende Prozess aktiv gestaltet und zum Vorteil der Regionen genutzt werden. Von besonderer Bedeutung ist dabei die Kooperation bzw. die Überwindung von Konkurrenzverhalten insbesondere zwischen Kommunen, um durch die Zusammenarbeit zumindest ein Mindestniveau in der Region zu halten, anstatt jeweils eigenständige, aber mangels Nachfrager nicht tragfähige Einrichtungen anzustreben. Der Dialogprozess im Modellvorhaben der Raumordnung setzte zu Beginn des Vorhabens mit einem Initialworkshop mit Vertretern ostdeutscher Regionen mit ländlichen, dünn besiedelten Räumen ein. In moderierten Arbeitsgruppen wurden die grundsätzlichen Handlungsfelder

41


Thomas Thrun und Bärbel Winkler-Kühlken

für Anpassung identifiziert und prioritäre Themen diskutiert. Innerhalb der drei Modellregionen erfolgt die Bearbeitung einzelner Themenfelder (Schule, Medizin etc.) in Arbeitsgruppen, in denen relevante Akteure staatlicher und kommunaler Institutionen sowie privater Einrichtungen (z. B. Verbände, Krankenkassen) beteiligt sind. Zur breiteren Einbindung regionaler Akteure und der Öffentlichkeit wurden bis Juli 2003 in den Regionen jeweils zwei Regionalforen durchgeführt. Auf diesen halbtägigen Veranstaltungen erörterten jeweils 50 bis 100 Teilnehmer die Notwendigkeit (Schwerpunkt 1. Runde) und mögliche Ansätze (Schwerpunkt 2.

Runde) zur Weiterentwicklung der Infrastruktur. Während die Ideen überwiegend auf generelle Zustimmung trafen, zeigte sich für einzelne Ansätze weiterer Abstimmungsbedarf. Dies betraf insbesondere Fälle, in denen bereits Aussagen zu konkreten Einrichtungen oder Gebieten getroffen wurden. Über die Regionen hinaus erfolgt ein Erfahrungsaustausch auf drei Wegen: der kontinuierliche Austausch der Regionen untereinander, die Durchführung von zwei Erfahrungsworkshops3 sowie der Transfer wichtiger (Zwischen-)Ergebnisse in die Fachöffentlichkeit, u.a. über die Projekt-Homepage www.regionale-anpassung.de.

4. Handlungsfelder der Infrastrukturanpassung Die Modellregionen haben unter Berücksichtigung ihres regionalen Handlungsbedarfs die aus ihrer Sicht wichtigsten konkreten Projekte zur Weiterentwicklung der Infrastruktur identifiziert. Die Projekte ordnen sich wie folgt in die generellen Handlungsfelder der Infrastrukturanpassung ein: • Im Handlungsfeld „Soziale Infrastruktur“ liegt aktuell der größte Handlungsbedarf. Es geht einerseits um die Aufrechterhaltung wohnortnaher Bil3

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dungsangebote durch die Modifikation der Schulstruktur (gebietskörperschaftsübergreifende Abstimmung, z.T. jahrgangsübergreifender Unterricht), die Anpassung der Berufsschulstruktur sowie technische und organisatorische Optimierungen beim Schülerverkehr. Andererseits steht die Anpassung der sozialen Einrichtungen an die alternde Bevölkerung im Vordergrund, insbesondere im Bereich der Medizin, aber auch die Möglichkeit de-

Der erste 1. Erfahrungsaustausch fand zum Thema „Bevölkerungsrückgang und Infrastruktur – Erfahrungen aus dem In- und Ausland“ am 02.12.2002 in Berlin statt.


Sicherung von Infrastrukturangeboten in dünn besiedelten Regionen

zentraler Angebote durch „Dorfzentren“ (Ostthüringen), in denen verschiedene Angebote durch die gemeinsame Ressourcennutzung tragfähig angeboten werden sollen. • Das Handlungsfeld „Technische Infrastruktur“ ist ein weiterer Schwerpunkt der Modellregionen. Das ÖPNVAngebot soll durch die Entwicklung eines neuen Gemeinschaftsverkehrs mit flexiblen Bedienungszeiten (Lausitz-Spreewald), die Bündelung der ÖPNV-Angebote (kreisübergreifendes Besteller-/Betreibersystem in Ostthüringen) oder die besondere Berücksichtigung des Schülerverkehrs (Mecklenburgische Seenplatte) verbessert werden. Ver- und entsorgungstechnische Fragestellungen werden in der Region Ostthüringen mit der Prüfung alternativer Lösungen der Wasserverund -entsorgung behandelt. • Das Handlungsfeld „Handel/Dienstleistungen/Verwaltung“ wird mit Ausnahme des Projekts „Dorfzentren“ von den Modellregionen nicht behandelt. Ansätze in diesem Handlungsfeld sind bereits bekannt und erforscht (z.B. Nachbarschaftsläden, Bürgerämter etc.)4 und stellten so gesehen keine Herausforderung im Sinne eines Modellvorhabens dar. Für das Handlungsfeld besteht insoweit 4

kein Forschungs-, sondern angesichts des fortgesetzten Rückzugs des Handels aus der Fläche ein Implementationsbedarf. • Die ersten Ansätze zum Handlungsfeld „Siedlungs- und Landschaftsbild“ beschränkten sich auf den Stadtumbau in kleinen Städten. Da dieses Thema im Programm Stadtumbau Ost bearbeitet wird, findet es im Modellvorhaben keine besondere Berücksichtigung. • Das Handlungsfeld „Kommunikation“ wird nur am Rande bearbeitet, etwa als Möglichkeit zur Verbesserung des Bildungsangebots (E-Learning) oder der medizinischen Versorgung (Telemedizin). Dieses Handlungsfeld kann von den Raumordnern, die jeweils die Initiatoren und Motoren des Modellvorhabens sind, nur schwer bedient werden. Insoweit müssten noch Partner über die sich ausweitende regionale Diskussion gefunden werden (u.a. durch geplante Beteiligung der Fachhochschulen). Wie die Übersicht der Handlungsfelder zeigte, können im Modellvorhaben insbesondere Ergebnisse zur sozialen und technischen Infrastruktur erwartet werden. Diese sektoralen Ansätze müssen in Gesamtstrategien eingebunden

Siehe z. B. Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung (BBR): Nachbarschaftsdienste in dünn besiedelten Gebieten, eine Auswertung von Konzept- und Fallstudien, Bonn 2001.

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Thomas Thrun und Bärbel Winkler-Kühlken

werden. In der Region Lausitz-Spreewald ist mit der Fortschreibung des Regionalplanentwurfs und der Fortsetzung des Lokale-Agenda-Prozesses die Einbindung der fachlichen Ansätze expliziter Projektgegenstand des Modell-

vorhabens. In den anderen beiden Modellregionen ist erst die Rahmensetzung der sich in der Aufstellung befindlichen Landesentwicklungspläne Mecklenburg-Vorpommerns und Thüringens abzuwarten.

5. Erste Strategieansätze Der Zwischenstand im Sommer 2003 ist dadurch gekennzeichnet, dass die Regionen in den von ihnen behandelten Bereichen umfangreiche Bestandsbewertungen durchgeführt und daraus – unterschiedlich weit konkretisiert – Ansätze zur Weiterentwicklung erarbeitet haben. Eine Zusammenführung zu Gesamtstrategien und die Prüfung der politischen Konsensfähigkeit der Ansätze durch Beschlüsse oder Umsetzungsmaßnahmen steht noch aus. Im Folgenden sind einige konkrete Beispiele skizziert. Fortschreibung des Regionalplanentwurfs Lausitz-Spreewald: Ein gültiger Regionalplan liegt in der Region noch nicht vor; der einzige gültige Teilplan „Zentrale Orte“ soll jetzt grundlegend überarbeitet werden. Unter den Bedingungen einer weiter rückläufigen Bevölkerung gewinnt die Bündelung von Infrastruktureinrichtungen in Zentralen Orten eine besondere Bedeutung. Die bisherige Zentrale-

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Orte-Systematik in Brandenburg mit einer Vielzahl von Ebenen und Sonderfunktionen sowie zahlreichen Orten mit Funktionszuweisungen wird dem nicht mehr gerecht – insbesondere, wenn nach der anstehenden Gemeindegebietsreform in der Region fast die Hälfte der Gemeinden Zentrale Orte wären. Von der zuständigen Arbeitsgruppe wurden verschiedene Möglichkeiten zur Weiterentwicklung des Zentrale-Orte-Konzepts erörtert und auf dem 2. Regionalforum vorgestellt: • Weiterentwicklung der Ausstattungsmerkmale hinsichtlich der geänderten altersstrukturellen Bedingungen, • Verzicht auf Ausstattungskataloge, • Zusammenfassung der unteren Stufen (Klein- und Grundzentren), • Funktionszuweisung nur für leistungsfähige Gemeinden, • Priorität von Grund-/Kernfunktionen (Soziales/Medizin/Verkehr), • Orientierung bei neuen Großgemeinden auf Siedlungsschwerpunkt(e),


Sicherung von Infrastrukturangeboten in dünn besiedelten Regionen

• Schließung von Ausstattungslücken durch „unkonventionelle Lösungen“ (siehe auch unten Beispiele zu kleinen Schulen und zur medizinischen Versorgung), • Berücksichtigung der siedlungsstrukturellen Unterschiede; keine Funktionszuordnung nach festem (einwohnerbezogenen) Schema. Die Straffung der zentralörtlichen Gliederung stieß im Rahmen der Foren nicht auf Widerspruch der kommunalen Ebene, wobei allerdings bisher noch keine konkrete Betroffenheit von Gemeinden gegeben ist, da die Grundgedanken nicht in räumlich konkrete Entwürfe umgesetzt wurden. Für eine räumliche Konkretisierung ist eine umfassende Erhebung der Ausstattungen und eine Bewertung der Gemeindepotenziale erforderlich. Auf Grundlage der Erhebungen der Arbeitsgruppe soll daher mit Unterstützung eines externen Gutachters eine weitere Bewertung erfolgen. Berufsschulstruktur in der Region Mecklenburgische Seenplatte: In der Region Mecklenburgische Seenplatte wird bereits ein Konzept zur Weiterentwicklung der Berufsschulstruktur diskutiert.5 Gemeinsam mit dem in der Nachbarregion gelegenen Landkreis UeckerRandow erarbeitete eine Arbeitsgruppe 5

eine Strategie zum Umgang mit den ab 2006/07 sich mehr als halbierenden Berufsschülerzahlen. Erste Vorgabe des Planungsverbands war der Erhalt mindestens eines Berufsschulstandorts pro Kreis bei gleichzeitiger Einhaltung der landesrechtlichen Vorgabe zu Mindestgrößen der Klassen bzw. der täglich anwesenden Schülerzahl. Die Zahl der den Gebietskörperschaften unterstellten Berufsschulen muss entsprechend der prognostizierten Schülerzahlen von acht auf fünf reduziert werden. Voraussetzung ist die Konzentration der einzelnen Schulen auf ausgewählte Ausbildungsfächer (fachliche Profile). Statt also Ausbildungsgänge mit der Gefahr unvollständiger Klassen doppelt anzubieten, wird die Aufrechterhaltung zukunftsfähiger Ausbildungsangebote an einem Standort der Region gesichert. Unter Inkaufnahme längerer Anfahrtswege einiger Schüler und Lehrer könnte so eine breite Palette von Ausbildungsgängen in der Region erhalten bleiben. Nachdem Abstimmungsschwierigkeiten zwischen den kreislichen Trägern auftraten, da die Reduzierung der Schulen strukturbedingt nicht proportional erfolgen sollte bzw. konnte, wird nunmehr ein über die Abstimmung hinausgehendes Kooperationsmodell entwickelt. Eine einzige regionale Berufsschule,

Regionaler Planungsverband Mecklenburgische Seenplatte – AG Berufsschulstruktur, Berufsschulstruktur Mecklenburgische Seenplatte – Entwurf, Neubrandenburg August 2002.

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Thomas Thrun und Bärbel Winkler-Kühlken

die von einem gemeinsamen Zweckverband getragen wird und mehrere Filialstandorte hat, soll eine größere Flexibilität sowohl hinsichtlich der künftigen fachlichen Veränderungen (neue Berufsfelder) als auch der kommunalen Lastenverteilung beinhalten. Kleine Schulen in Ostthüringen: Schwerpunktthema zur Zukunft der Bildung ist in den Kreisen Saalfeld-Rudolstadt und Saale-Orla-Kreis die dauerhafte Tragfähigkeit „Kleiner Schulen“ mit weniger als einer Klasse pro Jahrgang. Anhand von Übergangsquoten und Befragungen von Lehrkräften weiterführender Schulen konnten keine Hinweise auf eine Benachteiligung von Schülern bestehender Grundschulen mit jahrgangsübergreifendem Untersicht gefunden werden. Voraussetzung für erfolgreiches Lernen in dieser Klassenform ist jedoch die Fähigkeit und Bereitschaft der jeweiligen Lehrkräfte zu einem binnendifferenzierten Unterricht. Weiterführend wurde die wirtschaftliche Tragfähigkeit über eine differenzierte, trägerübergreifende Erhebung der Kosten von Schulen unterschiedlicher Größenordnungen geprüft. Der Vergleich der Kosten zeigte zwar Mengeneffekte bei den größeren Schulen, aber nicht proportional zur Größe. Dies ist auf die Erschließung von Sparpotenzialen bei existenzbedrohten kleineren Schulen zurückzuführen. Im

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Ergebnis erwies sich eine der zwei betrachteten kleinen Schulen nicht nur pädagogisch, sondern auch wirtschaftlich gleichwertig zu einer „normalen“ Schule. Die dezentrale kleine Schule kann damit dauerhaft eine wohnortnahe Schulversorgung gewährleisten, wenn das derzeitige Schülerniveau gehalten wird. Im weiteren Projektverlauf soll die Übertragbarkeit auf Regelschulen geprüft werden. Sicherstellung der medizinischen Versorgung: Das Thema Sicherstellung der medizinischen Versorgung ist kein originäres Thema der Raumordnung. Angesichts einer weiteren Ausdünnung ambulanter und stationärer Versorgung in ländlichen Regionen bei gleichzeitiger Alterung der Einwohner wächst das raumordnerische Interesse. Alle drei Modellregionen haben zu diesem Themenfeld dringenden Handlungsbedarf formuliert und Arbeitsgruppen eingesetzt. In der Modellregion Mecklenburgische Seenplatte wurde bereits eine differenzierte Analyse der räumlichen Verteilung der Haus-, Fach- und Zahnärzte sowie der Apotheken erarbeitet. Kennzeichnend ist bereits heute eine deutliche Konzentration auf die Städte der Region. Zukünftig wird einerseits die Zahl der über 65-Jährigen und damit die Zahl der stark auf medizinische Versorgung angewiesenen Menschen zunehmen,


Sicherung von Infrastrukturangeboten in dünn besiedelten Regionen

und andererseits werden in den nächsten zehn Jahren voraussichtlich über zwei Fünftel der Hausärzte altersbedingt ausscheiden. Versorgungsengpässe sind angesichts der Nachwuchsproblematik für Ärzte im ländlichen Bereich absehbar. Erste Überlegungen für eine angepasste, angemessene Versorgung gehen hier – wie in den anderen Regionen auch – in Richtung auf

mehr Kooperation zwischen stationären und ambulanten Ärzten, die Einrichtung von Gesundheitszentren und mobilen Sprechstunden. Für die weitere Arbeit ist eine Zusammenarbeit mit den Vertretern der Kassenärztlichen Vereinigung (Sicherung der ambulanten Versorgung), der Länder (Sicherung der stationären Versorgung) und der Ärzte vor Ort beabsichtigt.

Fazit und Ausblick Die räumliche Planung ist aufgefordert, einen Paradigmenwechsel zu vollziehen: von der Wachstumsorientierung hin zur Stabilisierung von Regionen durch die Umorganisation von Infrastrukturen nach neuen Auslastungskriterien oder die Neustrukturierung des Angebots. Die Modellregionen gehen einige Schritte in diese Richtung. Sie nutzen damit die Chancen, die sich aus einem offensiven Umgang mit der Thematik ergeben, nämlich rechtzeitig die zukünftige Entwicklung zu analysieren, den Hand-

lungsbedarf zu erkennen und gestaltend auf die Verbesserung der Lebensverhältnisse in schrumpfenden Regionen Einfluss zu nehmen. Akzeptanz für neue, unkonventionelle Konzeptionen kann nur erzielt werden, wenn unter allen Beteiligten Konsens hergestellt und in der Öffentlichkeit dafür geworben wird. Das Modellvorhaben bietet dafür ein Forum. Nachdem die Ideen entwickelt wurden, ist es nunmehr erforderlich, dass aus einzelnen Handlungsansätzen umsetzungsreife, integrierte Konzepte entstehen.

Dipl.-Ing. Thomas Thrun, Dipl.-Ing. Bärbel Winkler-Kühlken, wissenschaftlicher Mitarbeiter bzw. Projektleiterin IfS Institut für Stadtforschung und Strukturpolitik GmbH Berlin www.ifsberlin.de

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Auswirkungen der demographischen Veränderungen auf kommunale Finanzen Das Beispiel Uckermark von Michael Scheske, Klemens Schmitz und Olaf Gründel

Mit dem vorliegenden Beitrag sollen anhand empirischer Untersuchungen im Landkreis Uckermark dargestellt werden, welche Auswirkungen die bisherigen demographischen Entwicklungen auf die Kommunalfinanzen haben. Ferner werden die Folgen untersucht, die sich daraus für die Kommunalhaushalte und das öffentliche Leistungsangebot ergeben. Aufbauend auf den Ergebnissen der empirischen Untersuchung werden abschließend Handlungsstrategien aufgezeigt.

1. Die demographische Entwicklung in der Uckermark Wie alle peripheren Regionen in Brandenburg gehört auch die Uckermark zu den Gebieten mit den größten Bevölkerungsverlusten. Obwohl auf einer Fläche von 3.058 Quadratkilometern nur 149.000 Menschen leben, ist der Verlust der Bevölkerung weiterhin enorm. Seit 1994 hat der Landkreis 9,1 % seiner Bevölkerung verloren und die Tendenz ist steigend. Prognosen gehen von einem Verlust von 17,2 % bis zum Jahr 2010 und von 23,2 % bis zum Jahre 2015 aus.1 Dabei hat diese Entwicklung zwei Ursachen: Zum einen ist sie begründet im „Geburtenknick“ der 1

Nachwendezeit, zum anderen spiegelt sie die Auswirkungen der räumlichen Mobilität der Bevölkerung wider. Die natürliche Bevölkerungsbewegung in der Uckermark hat seit 1990 einen negativen Saldo, das heißt es gibt mehr Todesfälle als Geburten. Konstatiert werden muss jedoch, dass sich dieses Verhältnis in den letzten Jahren nicht mehr vergrößert, sondern kleiner wird: Gab es 1994 noch 992 Todesfälle mehr als Geburten, so waren es im Jahre 2001 nur noch 470. Dieser Entwicklung entgegengesetzt ist die räumliche Bevölkerungsbewe-

Landesamt für Datenverarbeitung und Statistik, Landesumweltamt Brandenburg: Bevölkerungsprognose des Landes Brandenburg 1996-2015, Oktober 1997, S. 13. Für die Projektarbeit ist insbesondere Matthias Stübig und Anett Kühne und Melanie Cerovsky zu danken.

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Michael Scheske, Klemens Schmitz und Olaf Gründel

gung. Hier steigt der Negativsaldo zwischen Weg- und Zugezogenen weiterhin: Im Jahr 2000 verließen 1.876 Menschen mehr die Uckermark als Personen zuzogen. Diese rein quantitative Veränderung hat allein schon Auswirkungen auf die Bereiche des öffentlichen Lebens, in denen Verteilungen „pro Kopf“ gemessen werden. Um allerdings die vollständige Dimension des Problems erfassen und gegebenenfalls Handlungsalterna-

tiven entwickeln zu können, ist die Veränderung der sozialen Bevölkerungsstruktur genauso in den Blick zu nehmen wie die räumliche Bevölkerungsentwicklung in der Uckermark. Es sind in erster Linie die erwerbsfähigen Personen, die sich außerhalb der Uckermark eine neue Existenz aufbauen und die Region verlassen. Die Folgen sind eine radikale Veränderung der Altersstruktur der uckermärkischen Bevölkerung in den nächsten Jahren.

Bevölkerungsentwicklung und Altersstruktur im LKU 1994-2015 Variante I in Tsd. Personen Insgesamt

davon männlich

weiblich

unter 20 Jahre

20 bis 65 Jahre

über 65 Jahre

80.047 79.121 78.568 78.070 77.176 76.446 75.295 75.370 74.840 74.350 74.010 73.770 73.550 73.320 73.060 72.790 72.360 72.040 71.700 71.330 70.930 70.500

81.975 81.189 80.461 79.593 78.547 77.640 76.445 75.800 74.940 74.160 73.530 73.020 72.560 72.100 71.640 71.160 70.810 70.310 69.790 69.240 68.680 68.100

41.636 40.344 39.262 37.726 36.044 34.431 32.716 31.610 30.170 28.770 27.480 26.120 24.780 23.510 22.330 21.360 20.620 20.470 20.540 20.690 20.860 20.980

101.254 100.081 99.411 99.021 98.271 97.245 95.646 95.510 94.650 93.830 93.100 92.660 92.270 92.410 92.400 92.460 92.640 92.480 91.540 90.350 88.870 87.290

19.132 19.885 20.356 20.916 21.408 22.410 23.378 24.060 24.950 25.900 26.960 28.010 29.060 29.500 29.970 30.130 29.910 29.400 29.410 29.540 29.890 30.330

Jahr 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001* 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015

162.022 160.310 159.029 157.663 155.723 154.086 151.740 151.170 149.770 148.510 147.540 146.790 146.110 145.420 144.700 143.950 143.180 142.350 141.480 140.570 139.610 138.600

* ab 2001 gerundete Prognose Quelle: LDS Brandenburg

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Auswirkungen der demographischen Veränderungen auf kommunale Finanzen

Die Binnenmigration innerhalb der Uckermark ist vor allem durch das Phänomen der Stadtflucht geprägt. So hat die Bevölkerung im städtischen Raum von 1990 bis 2001 um 17,6 % abgenommen, während im ländlichen Raum lediglich ein Verlust von 2,4 % zu verzeichnen war.2 Am stärksten war die Stadt Schwedt betroffen: Hier sank die Bevölkerungszahl um 24 %. Im ländlichen Raum können vor allem die stadtnahen Kommunen Wanderungsgewinne verbuchen, während der Norden und Nordosten des Kreises von besonders großer Abwanderung betroffen sind.

Gleichwohl soll nicht der Eindruck entstehen, man stände einem neuen unberechenbaren Phänomen gegenüber, dem man nur mit hilfloser Resignation und Missachtung begegnen kann. Zum einen sind Wanderungsbewegungen keine historischen Einmaligkeiten und lassen sich so auch erklären und beschreiben, zum anderen lassen sich auch die Felder ziemlich deutlich abstecken, auf denen in den nächsten Jahren Veränderungen entstehen. Somit kann ein eindeutiger Handlungsauftrag abgeleitetet werden.

2. Allgemeine Haushaltslage der Uckermark Die finanzielle Lage des Landkreises seit 1996 durch einen strukturellen Fehlbetrag im Verwaltungshaushalt gekennzeichnet. Insbesondere im laufenden Haushaltsjahr 2001 und 2002 hat sich die Finanzsituation dramatisch verschlechtert. Konnte in den Jahren 1994 bis 1996 noch ein ausgeglichener Haushalt erreicht werden, wuchs der jährliche Fehlbedarf seit 1997 kontinuierlich auf einen derzeitigen Fehlbetrag von insgesamt 19 Mio. € an. Mit 135 € pro Einwohner gab es 2001 den bisher höchsten Pro-Kopf2

Fehlbedarf in der Geschichte des Landkreises Uckermark. Die Auswirkungen dieser defizitären Haushaltslage haben verheerende Folgen für die Erfüllung der anstehenden Kreisaufgaben und die zukunftsorientierte Investitionstätigkeit des Landkreises. Insoweit kann der Landkreis keine weitreichenden Impulse zur Ankurbelung der regionalen Wirtschaft und Überwindung der Strukturschwäche setzen. Zusätzliche Kreditaufnahmen zur Finanzierung von Investitionen stehen nicht zur Disposition, da der Landkreis

Die Zahlen beziehen sich auf die Kommunen in den Strukturen vor der Gemeindegebietsreform.

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Michael Scheske, Klemens Schmitz und Olaf Gründel

seine finanzielle Leistungsfähigkeit bereits ausgereizt hat und zudem auch gar nicht mehr kreditfähig ist. Selbst EU-Fördermittel können aufgrund fehlender Eigenmittel zur Ko- bzw. Vorabfinanzierung der Maßnahmen nicht in dem Maße abgerufen werden, wie dringend nötig wäre. Folgende Abbildung zeigt die Entwicklung der Einnahmen und Ausgaben pro Kopf bis 2001.3 Aufgrund erheblicher Einnahmeverluste kam es seit 1997 zu stagnierenden bis leicht

rückläufigen Gesamteinnahmen. Auf der Ausgabenseite ist seit Bestehen des Landkreises insgesamt ein klarer tendenzieller Anstieg der Gesamtausgaben zu verzeichnen. Die veränderte demographische Situation hat einen entscheidenden Einfluss auf die finanzielle Situation einer Kommune. Dies soll anhand der Entwicklung der Einnahmen und Ausgaben des Landkreises Uckermark aufgezeigt werden.

Einnahmen und Ausgaben pro Kopf im Landkreis Uckermark 1994-2001 in € 1.200

1.000

800

600

400

200

0 1994

1995

1996

1997 Einnahmen

1998

1999

2000

2001

Ausgaben

Quelle: Landkreis Uckermark

3

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Wenn oft auf die relativ hohe Finanzausstattung der brandenburgischen Landkreise gegenüber den Landkreisen in den anderen ostdeutschen Bundesländern verwiesen wird, so ist zu beachten, dass die Landkreise in Brandenburg einen größeren Aufgabenbestand besitzen.


Auswirkungen der demographischen Veränderungen auf kommunale Finanzen

3. Demographische Entwicklung und Kommunalfinanzen am Beispiel der Uckermark4 3.1 Stand: Die aktuellen Auswirkungen demographischer Entwicklungen auf den Kreishaushalt Die Einnahmen der Kommunen sind u.a. bestimmt durch die wirtschaftliche Situation, die demographische Situation und die Höhe der Abgabenquoten. Vor diesem Hintergrund wirkt sich die demographische Entwicklung besonders negativ auf die Haupteinnahmeposten aus: Zum einen sinken die Steuereinnahmen erheblich, da es gerade die Erwerbsfähigen sind, die sich außerhalb der Region eine neue Existenz aufbauen. Zum anderen sind die Zuweisungen an die Kommunen stark von der Zahl der Einwohner abhängig. Sowohl die Schlüsselzuweisungen des Landes als auch viele andere Ausgleichszahlungen werden pauschal pro Kopf ausgereicht. Darüber hinaus ist im überproportional anwachsenden Anteil der über 60-Jährigen und damit Nichterwerbsfähigen ein weiterer Grund für die Verminderung von Steuereinnahmen zu sehen. Diese Situation lässt sich auch für die Uckermark nachzeichnen: Es fällt auf, dass gerade die pro-Kopf gebundenen Schlüsselzuweisungen, die 1994 noch ca. 4 5

30 % der Gesamteinnahmen im Verwaltungshaushalt ausmachten, aufgrund des permanenten Rückgangs der Bevölkerungszahlen stetig gesunken sind:Von 32,69 Mio. € für 1994 auf 24,09 Mio. € im Jahr 2001. Damit sank auch der Anteil der Schlüsselzuweisungen an den Gesamteinnahmen des Verwaltungshaushaltes für das Jahr 2001 auf 18,3 %. Hingegen stieg der absolute Wert der Kreisumlage permanent, aber unter den Erwartungen bleibend, an. Ihr Anteil an den Gesamteinnahmen des Landkreises wuchs zwar von 22,5 % für 1994 auf 29,6 % im Jahr 2001, konnte aber die Einnahmeverluste bei den Schlüsselzuweisungen nicht ausgleichen. Helmut Seitz macht darauf aufmerksam, dass diese bevölkerungsabhängigen Einnahmeverluste über steigendes Realwachstum und Inflationseffekte in unterproportional steigenden Gesamteinnahmen abgefedert werden können.5 Die wirtschaftliche Situation der Uckermark ist angesichts der Arbeitslosenquote von 25 %, der starken Konzentration auf agrarische Produktion und des sich nach den Konjunkturen in den letzten Jahren verschlechternden Zustandes des Baugewerbes nicht

Für die vorbereitenden Arbeiten im Rahmen des Projektseminars ist Sven Bodenbach und Detlef Noack zu danken. Vgl. Helmut Seitz, Kommunalfinanzen bei schnell schrumpfender Bevölkerung in Ostdeutschland. Eine politikorientierte deskriptive Analyse, Frankfurt/Oder 2002.

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Michael Scheske, Klemens Schmitz und Olaf Gründel

Zuweisungen, Umlagen und Einnahmen des Verwaltungshaushaltes des Landkreises Uckermark von 1994-2001 in Mio. € Einnahmeart 1994 1995 Allgemeine Zuweisungen 34,476 39,809 (nur vom Land) davon Schlüsselzuweisungen 32,684 31,052 29,1 % 23,3 % Allgemeine Umlagen 25,278 28,435 (nur Kreisumlage) 22,5 % 21,3 % Einnahmen Verwaltungshaushalt zusammen

1996 1997 1998 1999 2000 2001 32,922 28,484 31,875 32,293 34,255 34,718 31,069 21,8 % 31,602 22,2 %

29,887 19,1 % 32,515 24,5 %

28,456 21,1 % 34,749 25,7 %

22,574 16,3 % 35,175 25,5 %

23,745 16,9 % 38,510 27,4 %

24,085 18,3 % 38,998 29,6 %

112,47 133,05 142,52 132,56 135,07 138,13 140,79 131,71 100 % 100 % 100 % 100 % 100 % 100 % 100 % 100 %

Quelle: Landkreis Uckermark, eigene Berechnungen

dazu angetan, die defizitären kommunalen Haushalte zu entlasten. So sind die Gesamteinnahmen des Verwaltungshaushaltes (VwHh) der Uckermark in den Jahren 1990 bis 1999 zwar gestiegen, seitdem aber rückläufig. Weitaus folgenreicher sind die Veränderungen der Ausgabenstruktur, die aus der demographischen Entwicklung ergeben. So sind es stets die „Ränder“ der Bevölkerung, also die jüngeren und älteren Jahrgänge, die besonders auf öffentliche Zuweisungen angewiesen sind. Hinzu kommen angesichts der schlechten gesamtwirtschaftlichen Lage die überproportionalen Belastungen der öffentlichen Haushalte durch Sozialleistungen. Davon sind die Kommunen als unterstes Netz der sozialen Absicherung besonders betroffen Dies spiegelt sich auch in der momentanen Ausgabenbelastung der Uckermark wider: Seit vielen Jahren sind steigende Zahlen an Sozialhilfeempfängern

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und damit einhergehend Mehrausgaben für Sozialhilfe zu verzeichnen. Die folgende Tabelle zeigt, dass die Sozialhilfeempfängerquote trotz sinkender Bevölkerungszahlen des Landkreises von 2,7 % im Jahr 1994 auf 3,3 % im Jahr 2000 stieg. Damit liegt der Landkreis permanent über der durchschnittlichen brandenburgischen Sozialhilfeempfängerquote und befindet sich seither auf einem brandenburgischen Spitzenniveau. Von 1994 bis Jahresbeginn 2000 wurden insgesamt rund 64 Mio. € an Sozialhilfe gezahlt. Das sind circa 22 Mio. € mehr als im Landesdurchschnitt. Die Entwicklung der Sozialhilfeausgaben zeigt in den ersten drei Jahren des Bestehens des Landkreises einen dramatischen Anstieg. Insgesamt stiegen die Sozialhilfeausgaben von anfangs 9,7 Mio. € auf 25,3 Mio. € im Jahr 2001. Unter Berücksichtigung des Faktors Bevölkerungszahl stiegen die Sozialhilfeausgaben pro Kopf sogar von anfänglich


Auswirkungen der demographischen Veränderungen auf kommunale Finanzen

Einwohnerzahl, Hilfeempfänger, Sozialhilfequote, Sozialhilfeausgaben und Sozialhilfeausgaben pro Kopf im Landkreis Uckermark 1994-2002 Jahr

Einwohner

Hilfeempfänger

1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002

162.022 160.310 159.029 157.663 155.723 154.086 151.740 148.606 145.715

4.411 4.642 4.504 5.312 4.531 4.525 4.939 5.494 5.599

Sozialhilfequote in % Landkreis BrandenUckermark burg 2,72 1,57 2,90 1,71 2,83 1,73 3,36 2,20 2,90 2,30 2,94 2,22 3,25 2,23 3,70 2,54 3,84 2,76

Sozialhilfeausgaben in Mio. € 9,661 16,640 28,788 24,588 24,115 23,988 25,242 25,344 n. a.

Sozialhilfeausgaben/ Kopf in € 59,63 103,80 181,02 155,95 154,86 155,68 166,35 170,54 n. a.

Quelle: Landkreis Uckermark, eigene Berechnungen

59,63 € auf 170,54 € im Jahr 2001. Diese Entwicklung zeigt deutlich den Einfluss der demographischen Entwicklungen auf die Höhe der Sozialhilfeausgaben. Neben den Sozialausgaben sind es vor allem die Kostenremanenzeffekte, die sich bei sinkender Bevölkerung bemerkbar machen. Wenn bei sinkender Bevölkerungszahl auch die Ausgaben in bestimmten Bereichen sinken, weil beispielsweise weniger Infrastruktur vorgehalten werden muss, so verändern sich diese Kosten nicht proportional zu den geringeren Einwohnerzahlen. Die vorhandenen Fix-Kosten verteilen sich auf weniger Köpfe und steigen dadurch für den Einzelnen. Verwaltungsleistungen verteuern sich dadurch. Mit einem tatsächlichen Bevölkerungsrückgang auf 148.606 Einwohner für Ende 2001 stiegen die Kosten der Leistungserstellung von

63,3 Mio. € für 1994 um 21,9 % auf 77,2 Mio. € im Jahr 2001. Unter Berücksichtigung des Faktors Bevölkerungszahl stiegen die Kosten der Leistungserstellung pro Kopf von 391 € für 1994 sogar um 32,9 % auf 519 € für 2001. Interessant ist auch die Entwicklung der Personalausgaben, die 1994 noch den Großteil der Kosten der Leistungserstellung ausmachten. Aufgrund der vorgenommenen Personalkürzungen, die im Zuge des Bevölkerungsrückganges notwendig waren, sanken die Personalkosten bis 2001 insgesamt um 7,2 %. Unter Berücksichtigung der tatsächlichen Bevölkerungszahl stiegen die Personalkosten pro Kopf allerdings leicht um 1,2 %. Hinsichtlich der gesenkten Personalkosten passte sich die Kreisverwaltung insgesamt aber doch angemessen den sich veränderten demographischen Bedingungen an.

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Michael Scheske, Klemens Schmitz und Olaf Gründel

Einwohnerzahl und Kosten der Leistungserstellung im Landkreis Uckermark 1994-2000 Jahr

Einwohner

1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001

162.022 160.310 159.029 157.663 155.723 154.086 151.740 148.606

Kosten der Kosten der LeistungserLeistungserstellung in Mio. € stellung/Kopf in €

63,332 69,680 75,613 78,172 81,485 76,879 76,052 77,194

390,89 434,66 475,47 495,82 523,27 498,94 501,20 519,45

davon Personalkosten in Mio. €

davon Personalkosten/ Kopf in €

33,015 33,373 32,850 31,526 31,286 31,332 31,214 30,641

203,77 208,18 206,57 199,96 200,91 203,34 205,71 206,19

Quelle: Landkreis Uckermark, eigene Berechnungen

3.2 Prognose: Einfluss der demographischen Entwicklungen auf den künftigen Kreishaushalt Der schon bei der IST-Analyse festgestellte Trend wachsender Ausgaben und sinkender Einnahmen aufgrund der demographischen Entwicklung wird auch in den nächsten Jahren fortbestehen. Konkrete Berechnungen zur Finanzentwicklung, insbesondere unter Berücksichtigung der demographischen Entwicklungen, liegen bis 2005/06 vor. Dennoch soll eine Prognose bis zum Jahre 2015 gewagt werden, um so grundsätzliche Auswirkungen der demographischen Veränderung auf die Haushaltssituation zu beschreiben. Auf der Einnahmenseite ist die Entwicklung der von der Bevölkerungszahl abhängigen Schlüsselzuweisungen ein wichtiger Punkt, machen sie doch auch in Zukunft rund 20 % der Einnahmen 6

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des Verwaltungshaushaltes aus. In diesem Zusammenhang wäre der prognostizierte Bevölkerungsrückgang bis 2015 von bis zu 20 % eine ausschlaggebende Größe für die künftige Höhe der Schlüsselzuweisungen des Landes. Doch das Land plante, die Schlüsselzuweisungen abweichend von der Bemessungsgrundlage Bevölkerungszahl ab 2002 dauerhaft zu erhöhen. Gleichzeitig sollte aber die Investitionspauschale erheblich gekürzt werden. Dadurch hätte die Uckermark trotz erhöhter Schlüsselzuweisungen bis zum Jahr 2005 insgesamt rund 6 Mio. € weniger Finanzzuweisungen vom Land erhalten.6 Entgegen dieser geplanten Regelung wurde sowohl bei den Schlüsselzuweisungen als auch bei der Investitionspauschale kräftig gekürzt. Statt der geplanten 26,9 Mio. € erhält der Landkreis demnach nur 24,5 Mio. € Schlüsselzuwei-

Berücksichtigt sind nicht die Auswirkungen der aktuellen Debatten um die Finanzierung der kommunalen Haushalte.


Auswirkungen der demographischen Veränderungen auf kommunale Finanzen

Zuweisungen, Umlagen und Einnahmen des Verwaltungshaushaltes des Landkreises Uckermark von 2001-2005 in Mio. € Einnahmeart Allgemeine Zuweisungen (nur vom Land) davon Schlüsselzuweisungen

2001 34,718 26,4 % 24,085 18,3 %

2002 36,224 26,3 % 26,083 18,9 %

Allgemeine Umlagen (nur Kreisumlage)

38,998 29,6 %

40,221 29,2 %

Einnahmen Verwaltungshaushalt zusammen

131,71 100 %

137,614 100 %

2003 37,181 26,5 % 26,892 19,2 % 24,540* 40,623 28,9 % 39,700* 140,204 100 %

2004 40,344 28,1 % 29,904 20,9 % ? 41,436 28,9 % ? 143,382 100 %

2005 41,032 28,3 % 30,532 21,1 % ? 41,850 28,9 % ? 144,805 100 %

* Korrekturen der Landesregierung, vgl.: Ministerium des Inneren des Landes Brandenburg: * Hinweise zur Aufstellung der Haushaltspläne für das Jahr 2003 und für die Finanzplanung; Potsdam 28.08.2002. Quelle: Landkreis Uckermark, eigene Berechnungen

sungen für das Haushaltsjahr 2003. Diese Kürzungen der Zuweisungen sind auf die massiven Steuermindereinnahmen des Landes und der Kommunen für 2001 zurückzuführen; ein Trend der auch in Zukunft anhalten wird. Angesichts dieser Entwicklung ist es unabhängig von der demographischen Entwicklung unmöglich, die künftige Höhe der Schlüsselzuweisungen zu ermitteln. Ein weiterer Punkt betrifft die anhaltende Abwanderung der Fachkräfte im Zuge der demographischen Entwicklung. Dadurch werden auch die Steuereinnahmen der Gemeinden sinken, was unmittelbare Auswirkungen auf die Höhe der Kreisumlage hat. Aufgrund der Steuermindereinnahmen aller Brandenburger Kommunen im Haushaltsjahr 2001 von -11,2 % im Vergleich zum 7

Vorjahr, ändert sich künftig auch die Umlagegrundlage für die Kreisumlage.7 Damit fällt die Kreisumlage für das Haushaltsjahr 2003 mit 39,7 Mio. € um rund 0,9 Mio. € geringer aus als erwartet. Aufgrund des zu prognostizierten anhaltenden Prozesses der Abwanderung von Fachkräften und der anhaltenden wirtschaftlichen Schwäche der Uckermark, sind auch weitere Steuermindereinnahmen künftig zu erwarten. Somit ist auch zu erwarten, dass die Kreisumlage in den folgenden Jahren unter den Erwartungen der Kreisverwaltung bleiben und ggf. auch weiter absinken wird. Die künftige Entwicklung der Ausgabenseite ist eng mit der rückläufigen Bevölkerungszahl und der veränderten Alters- und Sozialstruktur verbunden.

Vgl. Ministerium des Inneren des Landes Brandenburg, Hinweise zur Aufstellung der Haushaltspläne für das Jahr 2003 und für die Finanzplanung; Potsdam 28.08. 2002

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Michael Scheske, Klemens Schmitz und Olaf Gründel

Einwohner, Sozialhilfeausgaben und Sozialhilfeausgaben pro Kopf im Landkreis Uckermark bis 2015 Jahr

Einwohner

Sozialhilfeausgaben in Mio. €

Sozialhilfeausgaben pro Kopf in €

1994 … 2001 2002 2003 2004 2005 … 2015

162.022

9,661

59,63

151.170 149.770 148.510 147.540 146.790

25,344 27,741 28,158 28,581 28,867

167,65 185,22 189,60 193,72 196,66

138.600

37,925

273,63

Quelle: Landkreis Uckermark, eigene Berechnungen

Einerseits ist im Bereich Jugend und Bildung mit einer Verringerungen Ausgaben zu rechnen. Im Zuge der demographischen Entwicklungen wird es zu einer Verschiebung der künftigen Nachfragestruktur nach öffentlichen Leistungen kommen. In der Folge ergeben sich auch Veränderungen in der Ausgabenstruktur des Landkreises. Aufgrund der prognostizierten zunehmenden „Alterung“ der uckermärkischen Bevölkerung können in den Bereich Bildung, Jugend und Freizeit Ausgaben, insbesondere beim Betrieb öffentlicher Einrichtungen, eingespart werden. Damit verbunden sind auch sinkende Zuweisungen und Zuschüsse für laufende Zwecke an die Gemeinden z.B. für den Betrieb von Kitas und weiterer in gemeindlicher Trägerschaft befindlicher öffentlicher Einrichtungen. In diesen Zusammenhang kommt es bei einem anhaltenden Bevölkerungsrückgang auch zu Schließungen von Schulen und damit

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zu sinkenden Ausgaben kommen. Problematisch dabei bleiben aber die geschlossenen, schwer verkäuflichen Liegenschaften, die auch im Leerstand Unterhaltungskosten mit sich bringen. Andererseits werden von der sinkenden Bevölkerungszahl keine positiven Impulse für den Bereich der Sozialausgaben erwartet. Die Sozialausgaben werden insgesamt von 35,2 Mio. € für 2001 auf voraussichtlich 39,54 Mio. € im Jahr 2005 steigen. Ein Grund für diese Entwicklung ist, dass die für die Sozialausgaben relevante Bevölkerungsschicht von dem bestehenden Abwanderungsprozess weniger erfasst wird. Auslöser des negativen Wanderungssaldos sind vielmehr die jungen und mobilen Einwohner, die auf der Suche nach einem Ausbildungs- oder Arbeitsplatz den Landkreis verlassen werden, so dass der Anteil der Sozialhilfeempfänger weiter steigen wird.


Auswirkungen der demographischen Veränderungen auf kommunale Finanzen

Unter Berücksichtigung der Bevölkerungsprognose wird es bis 2005 zu einem Anstieg der Sozialhilfeausgaben auf 28,867 Mio. € kommen, was einem Anstieg der Sozialhilfeausgaben pro Kopf auf 196,66 € entspricht. Bis 2015 wird deshalb auch trotz sinkender Bevölkerungszahl mit weiter steigenden Sozialhilfeausgaben zu rechnen sein. In Anlehnung an die Prognose für 2001 bis 2005 könnten sich die Sozialhilfeausgaben bis 2015 auf 37,925 Mio. € erhöhen, was einer Zunahme der Sozialhilfeausgaben pro Kopf auf bis zu 273,63 € bedeuten würde. Kostenremanenzeffekte treten aber auch künftig im Betreich der gesamten Kosten der Leistungserstellung, inklusive der Personalkosten auf. Dieses Urteil lässt sich zumindest aus der Analyse der dazu relevanten Daten von 2001 bis 2005 ziehen. Wie in nachstehender Tabelle zusammengefasst, steigen die Kosten der Leistungserstellung pro Kopf, trotz eines prognostizierten Bevölkerungsrückganges um rund 32 € auf 542,68 € für das Jahr 2005. Dabei steigen künftig auch speziell die Personalkosten leicht an, so dass sich in Folge des Bevölkerungsrückganges die Personalkosten pro Kopf um rund 7 € auf 209,88 € im Jahr 2005 erhöhen. Dieser Tendenz nach würden die Kosten der Leistungserstellung auf einen Pro-KopfWert von 619,23 € und insbesondere die

Personalausgaben auf einen Pro-KopfWert von 225,32 € im Jahr 2015 steigen. Anders betrachtet müssten, unbeachtet des Inflationseffektes, die Kosten der Leistungserstellung bis 2015 ab sofort um insgesamt rund 6 Mio. € gesenkt werden, um den heutigen ProKopf-Wert von 535 € zu erhalten. Dabei müssten bei den Personalausgaben ab sofort rund 2,3 Mio. € insgesamt eingespart werden, um auch 2015 Personalausgaben pro Kopf von momentanen 204 € erreichen zu können.

3.3 Zusammenfassung Wie in der Abbildung auf Seite 61 graphisch dargestellt ist, hat der spezifische demographische Wandel auch künftig einen starken Einfluss auf die Entwicklung der Finanzen des Landkreises Uckermark. Erstens sind die auf der Einnahmenseite zurückgehende Kreisumlage und die rückläufigen Finanztransfers des Landes eng mit der demographischen Entwicklung verbunden. Als Folge des anhaltenden Bevölkerungsrückganges und der Veränderungen der Alters- und Sozialstruktuer werden die Schlüsselzuweisungen des Landes, sowie die Kreisumlage der Gemeinden an den Landkreis auch künftig weiter sinken. Zweitens stehen aber auch die rasant steigenden Ausgaben für Leistungen zur Sozialhilfe und die steigenden Kosten

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Michael Scheske, Klemens Schmitz und Olaf Gründel

Einwohnerzahl und Kosten der Leistungserstellung im Landkreis Uckermark bis 2005 davon Personalkosten in Mio. €

davon Personalkosten/ Kopf in €

390,89

33,015

203,77

77,194 80,179 79,988 79,675 79,660

510,64 535,35 538,60 540,02 542,68

30,641 30,575 30,659 30,718 30,809

202,69 204,15 206,44 208,20 209,88

85,825 (74,151)

619,23 (535,00)

31,229 (28,274)

225,32 (204,00)

Kosten der Kosten der LeistungserLeistungserstellung in Mio. € stellung/Kopf in €

Jahr

Einwohner

1994 … 2001 2002 2003 2004 2005 … 2015

162.022

63,332

151.170 149.770 148.510 147.540 146.790 138.600

Quelle: Landkreis Uckermark

der Leistungserstellung pro Kopf direkt mit der demographischen Entwicklung in Verbindung. Durch die Abwanderungen arbeitsfähiger Bevölkerungsgruppen kommt es zu einer Verschiebung in der Sozialstruktur und zur Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage des Landkreises. Während der Anteil der arbeitsfähigen Bevölkerung sinkt, steigt nicht nur der Anteil der Sozialhilfeempfänger an der Gesamtbevölkerung, sondern

auch deren Zahl. Da sich dieser Trend auch in Zukunft fortsetzen wird, ist in der Folge mit weiter steigenden Ausgaben für die Sozialhilfe zu rechnen. Und drittens werden mit einer sinkenden Bevölkerungszahl auch einige öffentliche Einrichtungen, wie Schulen etc. geschlossen, was sich in mehr oder weniger starken Minderausgaben niederschlagen wird.

4. Handlungsstrategien Trotz der Notwenigkeit des Handelns machen die Ergebnisse der Untersuchung klar, dass eine demographische Trendwende in der Uckermark finanzpolitisch im Moment nicht realisierbar ist. So können die schwerwiegenden räumlichen Bevölkerungsverluste nicht durch

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eine breite Investitions- und Förderpolitik umgekehrt werden. Einerseits können aufgrund der allgegenwärtigen Finanzprobleme weder von Seiten des Landes noch von Seiten des Kreises Finanzmittel bereit gestellt werden, um bspw. die schlechten Arbeitsmarktbe-


Auswirkungen der demographischen Veränderungen auf kommunale Finanzen

Der Einfluss demographischer Entwicklung auf die Finanzen des LKU

Quelle: eigene Darstellung

dingungen grundlegend zu verbessern und so die starke Abwanderung arbeitsfähiger Altersgruppen eindämmen. Andererseits sind Forderungen der Kommunen, die Schlüsselzuweisungen als Ausgleich für den Bevölkerungsverlust zu erhöhen, unbegründet. Ein Vergleich der Höhe der Pro-Kopf-Schlüsselzuweisungen aller Landkreise in Brandenburg bringt ein erstaunliches Ergebnis zu Tage: Die Landkreise des äußeren Entwicklungsraumes mit überdurchschnittlich starkem Bevölkerungsrückgang erhalten nach den geltenden Berechnungsgrundlagen bereits durchschnittlich höhere Schlüsselzuweisungen pro

Kopf (153 €/Einwohner). Demgegenüber erhalten die Landkreise des engeren Verflechtungsraumes mit überdurchschnittlichen Bevölkerungszuwächsen lediglich 124 €/Einwohner an Schlüsselzuweisungen vom Land. Im Ergebnis erhalten die vom Bevölkerungsverlust am stärksten betroffenen Kreise bereits höhere Schlüsselzuweisungen. Deshalb muss die Kreisverwaltung selbst langfristige Strategien entwerfen, wie mit dem Problem der sich verändernden demographischen Situation umzugehen ist. Diese Strategien müssen der veränderten Lage Rechnung tragen. Ein Weg ist die Senkung bevöl-

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Michael Scheske, Klemens Schmitz und Olaf Gründel

kerungsabhängiger Ausgaben, was über einen Abbau des vorgehaltenen Leistungsangebotes möglich ist. Hier sollte das bestehende Angebot kritisch hinterfragt und den prognostizierten demographischen Veränderungen optimal angepasst werden. Dadurch können künftige Mehrkosten vermieden werden. Veränderte Nachfragestrukturen, insbesondere im Bereich der öffentlichen Infrastruktur, müssen frühzeitig erkannt werden und in einer Anpassung des entsprechenden Leistungsangebotes münden. Dies soll an einigen Beispielen verdeutlicht werden. 1. Optimale Auslastung von öffentlichen Einrichtungen: Neben der Schließung oder Zusammenlegung von öffentliche Einrichtungen sind auch technische Änderungen oder Umbauten zu erwägen, um die Nebenkosten den sinkenden Nutzerzahlen anzupassen.

2. Optimale Entwicklung der Infrastruktur: Künftige Vorhaben zum Ausbau der Verkehrs- oder Telekommunikationsinfrastruktur sind stärker an den künftigen Pro-Kopf- und Folgekosten zu messen. Die eigenen Kosten der Infrastrukturanpassung sollten möglichst durch die Einbindung von Fördermittel gesenkt werden. 3. Senkung der Kosten der Leistungserstellung: Hier ist vor allem der Personalbedarf der demographischen Entwicklung anzupassen. Doch muss als Ausgleich zum Abbau des Leistungsangebotes die Qualität des verbleibenden Angebotes deutlich verbessert werden. Nur so können notwendige Einsparmaßnahmen realisiert und gleichzeitig weitere Abwanderungen aufgrund des Abbaus der öffentlichen Infrastruktur vermieden werden.

Michael Scheske, Kommunalwissenschaftliches Institut der Universität Potsdam (KWI)

Klemens Schmitz, Landrat des Landkreises Uckermark

Olaf Gründel, Kommunalwissenschaftliches Institut der Universität Potsdam (KWI)

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Verwaltung und Politik in der schrumpfenden Mark Ein Diskussionsbeitrag von Christian Maaß und John Siegel* „Insgesamt werden in der Sekundärstufe I voraussichtlich 195 von ehemals 435 Schulen (Schuljahr 1999/2000) – das sind nahezu die Hälfte aller Schulen – aus dem Netz genommen werden müssen. Dabei befinden sich 4 von 5 der nicht mehr benötigten Schulen im äußeren Entwicklungsraum.“

(Landtag Brandenburg, Drucksache 3/4888)

Die kommenden Jahre werden an Herausforderungen für das Land Brandenburg nicht ärmer. Neben der gravierenden Unterfinanzierung der öffentlichen Haushalte und der anhaltend hohen Arbeitslosigkeit stellt die Entwicklung der peripheren Räume ein zentrales Problem des Landes Brandenburg dar. Diese in der Landesplanung als äußerer Entwicklungsraum bezeichnete Region ist durch den Wegzug junger Menschen, eine extrem geringe Zahl von Geburten, Überalterung, dem Rückzug privater und öffentlicher Dienstleister und der Erosion wirtschaftlicher Grundlagen gekennzeichnet. Stammt die Einteilung des Landes in Verflechtungs- und Entwicklungs-

*

raum noch aus der Nachwendezeit mit ihren Erwartungen – und wie man heute oft erkennen muss: Illusionen – stellt sich die Frage nach der Entwicklung des äußeren Entwicklungsraumes heute umso dringender. Was bedeutet denn Entwicklung in Schwedt, Guben, Wittenberge und Premnitz? Momentan vor allem der als Stadtumbau bezeichnete Rückbau – man denke nur an den Abriss leerstehender Plattenbauten. Neben dem Stadtumbau findet der Rückbau vor allem in den Bereich Kita und Schule statt. In Wissenschaft und Praxis wird bezüglich dieser Städte von Schrumpfung gesprochen. Das Problem hat inzwischen alle Ebenen der Politik erreicht. Viele Kommu-

Die Autoren bedanken sich bei Frau Katharina Bachmann für die Durchsicht des Manuskripts.

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Christian Maaß und John Siegel

nen sind bereits seit Jahren mit der negativen Entwicklung konfrontiert. Der Landtag – etwa im Petitionsausschuss, wenn sich dieser mit der Frage von Schulschließungen befassen muss – und die Landesregierung – so zumindest bei richtiger Wahrnehmung der Printmedien – werden zunehmend mit der Thematik konfrontiert. Es scheint auch so, dass kaum ein Politikfeld nicht betroffen ist. Die disparate Entwicklung im Land ist eine Herausforderung des ganzen Landes. Zum einen ist die Entwicklung auch im engeren Verflechtungsraum kein Selbstläufer, dies gilt u.a. für den Bereich der zu tätigenden Infrastrukturinvestitionen. Zum anderen bindet die Peripherie bei weiterhin ungebremster Negativentwicklung öffentliche Ressourcen, die das Land insgesamt nicht weiter aufbringen kann. Unabhängig davon, wie problematisch die Entwicklung gesehen wird

– die Skala reicht von der „öffentlichen Verelendung“ bis hin zu einem „Gesundschrumpfen“ – stimmen Autoren und Institutionen darin überein, dass der zentrale Trend der Bevölkerungsentwicklung nicht grundsätzlich geändert werden kann. Davon ausgehend wird nachfolgend in Thesenform ein Diskussionsbeitrag dazu geleistet, wie die Entscheidungsträger auf den unterschiedlichen Ebenen und in den Institutionen im Land Brandenburg sich der Herausforderung in den nächsten Jahren stellen können. In Anbetracht des dringenden Handlungsbedarfs wird in Teilen bewusst provokant formuliert. Einleitend sei noch darauf verwiesen, dass die klassische Form öffentlicher Problemlösung in diesem Fall nicht in Betracht kommt: aufgrund der finanziellen Situation können keine zusätzlichen Ressourcen zur Verfügung gestellt werden.

1. Für die peripheren Räume des Landes Brandenburg ist das Schrumpfen als ein reales Phänomen zu akzeptieren, das auch Politik und Verwaltung konkret verändert. Für den äußeren Entwicklungsraum erwartet die Bevölkerungsprognose des Landesbetriebs für Datenverarbeitung und Statistik (LDS) noch einmal einen Bevölkerungsrückgang um 15 Prozent gegenüber 2001 und das, zumal viele

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Städte unnd Gemeinden im Vergleich von 1990 bis heute bereits deutlicch an Einwohnern verloren haben. Damit bestätigen sich die Aussagen der Wissenschaft, dass der Prozess des Schrumpfens anhält. So steht nun nicht


Verwaltung und Politik in der schrumpfenden Mark

die Umkehrung des Trends oder ein erneutes Wachstum auf der Tagesordnung, sondern das Ziel, das Schrumpfen sinnvoll zu begleiten und abzufedern. Dabei gilt es u.a. die negativen Folgewirkungen zu begrenzen. Soll dieser Prozess erfolgreich verlaufen, bedarf es einer politischen, kulturellen und psychologischen Aufarbeitung. Prof. Seitz aus Frankfurt (Oder) spricht in diesem Zusammenhang von der Notwendigkeit der „mentalen Anpassung an schrumpfende Bevölkerungszahlen“. Wie wird eine solche Aufarbeitung möglich? Wie kann sie so erfolgen, dass sie nicht in einen Fatalismus umschlägt, der nicht mehr ist, als ein bloßes Abwarten? Die Schwierigkeit ergibt sich gerade auf kommunaler Ebene durch die größere auch persönliche Nähe der gesellschaftlichen und politischen Akteure zu „ihren“ Einrichtungen in den Dörfern und Städten. In diesem Zusammenhang stellen sich u.a. folgende Fragen: • Wie kann eine solche Politik erfolgreich verkauft werden, die nicht auf Wachstum, sondern in weiten Teilen auf die Verwaltung von Mangel und Abbau reduziert ist? • Wie kann ein Zusammenhalt in regionalen Netzwerken geschaffen werden, die in einer Region mit abnehmender Bevölkerung dennoch notwendige Angebote vorhalten?

• Wie kann der Widerspruch zwischen der gerade von jungen Menschen geforderten Mobilität – sie sollen sich Ausbildungs- und Arbeitsplätze in den alten Ländern suchen – und dem Wunsch, sie im Land zu halten aufgelöst werden und insbesondere den jungen und leistungsfähigen Kräften vermittelt werden, dass sie in den peripheren Räumen eine Chance haben? • Wie kann ein Klima erzeugt werden, dass einen gerechten und funktionalen Ausgleich der Interessen ermöglicht, wenn bspw. Orte auf ihre Schule verzichten müssen, währenddessen in anderen Orten die Schulen erhalten bleiben? Wie ist es also möglich, die Akteure dazu zu bewegen, einer gezielten Aufgabe von Standorten zuzustimmen und auf einen ruinösen Wettbewerb zwischen den Standorten zu verzichten und dabei trotzdem den Willen zum Engagement für die eigene Stadt, die eigene Gemeinde aufrecht zu erhalten? Drei Punkte sollen dazu vorgebracht werden. Zum ersten wird trotz des weiter stattfindenden parteipolitischen Wettbewerbs auf Landesebene in einigen Punkten ein Mehr an Offenheit und Ehrlichkeit notwendig sein. Auf der Landesebene mit ihrer Vorbildwirkung – sowohl für die Bürgerinnen und Bürger

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Christian Maaß und John Siegel

als auch für die Akteure in den Parteien – und breiteren Wahrnehmung sind die Grundlagen dafür zu schaffen, dass bestimmte notwendige Entwicklungen auf Landes- und kommunaler Ebene erkannt und die Wirkungsmächtigkeit verfügbarer Steue-rungsinstrumente nicht nur realistisch beurteilt, sondern auch realistisch dargestellt werden. Es scheint geboten, sich von einer hauptsächlich mit bloßen Ankündigungen agierenden Politik, die oft nur als symbolisch bezeichnet werden kann, zu verabschieden. So hat das Innenministerium die vielleicht noch mit der Problemsituation im Land zu begründende – in weiten Teilen aber wenig überzeugende Zentralisierung im Bereich der Gemeindestrukturen – mit dem Euphemismus „Starke Gemeinden“ verschleiert. (Hier sei auf die fehlende Entschlusskraft der zwischen 1994 und 1999 mit absoluter Mehrheit regierenden SPD verwiesen, die ihre parlamentarische Mehrheit nicht für die Durchführung der bereits als notwendig betrachteten Gemeindegebietsreform zu nutzen in der Lage war.) Angesichts der Situation im Land gab und gibt es viele gute Argumente für eine Gemeindegebietsreform. Die neu gebildeten Einheitsgemeinden und Ämter insbesondere im äußeren Entwicklungsraum sind indessen in vielen Fällen keine starken Gemeinden. Sollen Bürgermeister und Gemeindevertreter

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ebenso wie Landräte und Kreistagsabgeordnete zukünftig Prozesse des Schrumpfens auch im Bewusstsein der Bevölkerung erfolgreicher gestalten, muss klarer werden, welche Problemlösungsmöglichkeiten überhaupt bestehen. Ohne dem parteipolitischen Wettbewerb um Wählerstimmen unnötig naiv gegenüberzustehen, kann festgestellt werden, dass genau diese Wettbewerb – sollte er weiterhin zu großen Teilen mittels überzogener öffentlicher Leistungsversprechen geführt werden – für die schrumpfenden Regionen keinesfalls zielführend ist. In der Legislaturperiode zwischen 1998 und 2002 verfolgte die Bundesregierung kurzfristig und wenig nachhaltig das Konzept des aktivierenden Staates. Ein Ansatz möglichst breiter Aktivierung und Mobilisierung in den schrumpfenden Regionen kann ebenfalls dazu beitragen, die kulturellen und psychologischen Probleme in den schrumpfenden Regionen zu mildern oder sogar zu lösen. Diese Aktivierung kann jedoch nicht von außen geschehen, sondern es braucht Aktivitätspole in den einzelnen Städten und Gemeinden. Dabei kann es sich um Vereine, Kirchengemeinden oder ähnliche Zusammenschlüsse handeln. Wichtig ist die Unterstützung der Netzwerke, wobei zumeist neben einer geringen und zielgerichteten materiellen Unter-


Verwaltung und Politik in der schrumpfenden Mark

stützung Anerkennung und Ermunterung ganz wesentliche Elemente sind. Hier sind auch die Spitzen der Landespolitik gefordert, Aufmerksamkeit und Anteilnahme zu investieren. Hilfreich wäre in diesem Zusammenhang auch eine stärkere Sensibilisierung der Medien. Zum einen geht es darum, das Thema öffentlichkeitswirksam anzusprechen. Dabei ist wichtig, dies nicht nur punktuell zu transportieren. Außerdem ist eine Differenziert-

heit erforderlich, die vor allem mit dem Qualitätsanspruch des öffentlich-rechtlichen RBB korrespondieren sollte. Einerseits bedarf es einer aufgeklärten Berichterstattung über die schrumpfenden Regionen, andererseits sind Qualitätsverbesserungen in Umbauprozessen (z.B. Wohnumfeldverbesserungen) und funktionale Lösungsansätze (z.B. Neuorganisation öffentlicher Leistungserbringung) aufzugreifen.

2. Die Möglichkeit zur angemessenen Reaktion auf die demographische Herausforderung setzt die Fähigkeit von Politik und Verwaltung zu strategischem Denken und Handeln voraus. Die aktuelle Bevölkerungsentwicklung ist nicht neu oder gar überraschend, sondern verläuft in der jetzigen Form bereits seit der Wiedervereinigung bzw. der Neugründung des Landes Brandenburg. Es ist längst bekannt, dass der Saldo in den peripheren Räumen Brandenburgs negativ ist – wie übrigens auch in SachsenAnhalt und Mecklenburg-Vorpommern. Diese Gebiete liegen europaweit im Spitzenfeld der Regionen, die auch weiterhin am stärksten schrumpfen werden. Das eigentlich Überraschende ist also nicht die Entwicklung selbst, sondern die Art und Weise, ob und wie sie als Problem wahrgenommen wird. Es ist nicht zu bestreiten, dass man den Wandel der

Bevölkerungsstruktur nicht dramatisieren muss. Es kann auch durchaus plausibel argumentiert werden, dass das Phänomen gar nicht als Problem, also als zu ändernder bzw. zu verhindernder Zustand zu begreifen ist. Die Entwicklung kann auch als Prozess „nachholender Modernisierung“ begriffen werden. Die Menschen haben die Freiheit, sich den Ort für ihr Leben selbst zu wählen; de facto sind sie aber wohl doch eher durch die widrigen ökonomischen Umstände gezwungen, ihre Heimat zu verlassen. Das spricht nicht für das Versagen des Marktes, weil es nicht die Aufgabe des Marktes sein kann, überall und für jeden Arbeitsplätze zur Verfügung zu stellen.

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Christian Maaß und John Siegel

Erst recht gilt das für den Staat, der seine Möglichkeiten überschätzen würde, wenn er versucht wäre, diese Lücke zu schließen. Gerade das sollten die vergangenen Jahre gezeigt haben: ein zweiter Arbeitsmarkt (der gar kein Markt, sondern reine Planwirtschaft ist) schafft keine Perspektiven für die Betroffenen; er täuscht bestenfalls darüber hinweg, wie dramatisch die Lage tatsächlich ist. Weniger bedeutend als die Frage, welche Programme aufgelegt werden, um mit den Folgen der Veränderungen zurechtzukommen, ist die der Suche nach Antworten auf strategische Herausforderungen zugrunde liegender Problemlösungsmuster. Zuweilen hat es den Anschein, dass Politik und Verwaltung zunächst solange die Augen verschließen, bis sich bestimmte Probleme nicht mehr ignorieren lassen. Gerade in Brandenburg ging man fröhlich davon aus, dass die positive Entwicklung im engeren Verflechtungsraum um Berlin herum die Verluste in der Peripherie kompensieren würde. Das ist grundsätzlich nicht einmal falsch gedacht, wenn man das Land insgesamt betrachtet. Dass diese Perspektive aber oberflächlich ist und die entgegengesetzten Entwicklungspfade sehr unterschiedliche Strategien erfordert hätten, wurde mit der eher symbolischen Unterscheidung von engerem Verflechtungs- und äußerem

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Entwicklungsraum mehr verschleiert als berücksichtigt. Zwar wurden Kreisgebiets- und Funktionalreform so gestaltet, dass sie den veränderten Bedingungen Rechnung trugen, von der Entwicklung einer „langfristigen Perspektive“ konnte aber kaum die Rede sein. Schließlich bilden Strukturentscheidungen später den Rahmen für die gesellschaftliche Problemlösung, sie dürfen aber nicht mit ihr verwechselt oder gleichgesetzt werden. Dazu wäre es zunächst notwendig, die Handlungs-, Lern- und Reaktionsfähigkeit staatlicher und kommunaler Institutionen zu thematisieren und zu entwickeln. An dieser Stelle fehlte vor allem ein Leitbild, das tatsächlich einen Orientierungsrahmen liefern kann – und es fehlt bis heute. Keiner Partei, keinem Entscheidungsträger ist es bis heute gelungen, stringente und tragfähige Zielvorstellungen und Strategien zu entwickeln, zu kommunizieren und zur Grundlage politischer und administrativer Prozesse und Entscheidungen zu machen. Begriffe wie Analyse, Reflexion, Selbstkritik oder Vision klingen in Brandenburg fast zynisch – eine geradezu absurde Tatsache. Nicht nur Ziele und bewusste Strategien sind kaum zu erkennen; es scheint auch nur begrenzt den Willen zu geben, der Verantwortung für die Entwicklung des Landes dadurch gerecht zu werden,


Verwaltung und Politik in der schrumpfenden Mark

dass eine politische Führung praktiziert wird, die viel deutlicher als bisher über Repräsentatives hinausgeht. Zu beseitigen wäre dieser Zustand zunächst durch ergebnisoffene Diskussionsprozesse mit breiter Beteiligung. Diese wären anfänglich darauf zu richten, Ideen zu sammeln und zu bewerten. Ergänzt werden könnten sie

durch Evaluationen über die tatsächlichen Auswirkungen des Wandels als Entscheidungsgrundlage für die politischen Institutionen. Strategische Entscheidungen sind dann grundsätzlich mit Maßnahmen und Ressourcen zu verknüpfen, wenn man sich Wirkungen dadurch wenigstens erhoffen möchte.

3. Kooperative Strukturen und Prozesse gesellschaftlicher Problemlösung entwickeln und nutzen, um zivilgesellschaftliche und wirtschaftliche Potenziale systematisch integrieren zu können. Um eine Verbesserung und größere Wirksamkeit politischer und administrativer Strategien erreichen zu können, ist zunächst die Einsicht notwendig, dass staatliche und kommunale Institutionen allein keine befriedigende Problemlösung garantieren können. Es heißt Abschied nehmen von dem „Staat, von dem man nichts hält, aber alles erwartet“ (DER SPIEGEL). Der Vorteil neuer „Governance-Strukturen“, also innovativen institutionellen Arrangements zur gesellschaftlich-politischen Problemlösung und Schaffung von Möglichkeiten, ist es, dass spezifische Kompetenzen genutzt werden können, die dem Staat bzw. den Kommunen für sich gar nicht oder nur sehr begrenzt zur Verfügung stehen. Dabei geht es einerseits um die „Aktivierung der Zivilgesell-

schaft“: Hier liegen umfassende Untersuchungen und praktische Erfahrungen vor, wie die Potenziale bürgerschaftlichen Engagements in verschiedenen Formen und zu unterschiedlichen Zwecken nutzbar gemacht werden können. Andererseits können auch die Vorteile bestimmter Koordinationsformen, etwa des Marktes genutzt werden. Grundsätzlich gilt es zu überlegen, wer Beiträge zum Verständnis des Problems, dessen Ursachen und dem Aufzeigen und Begehen von Lösungswegen leisten kann. Dazu müssen Politik und Verwaltung über den eigenen Tellerrand hinaus schauen, ohne das berechtigte Selbstbewusstsein zu verlieren. Landtag und Landesregierung, kommunale Vertretungskörperschaften und Verwaltungen sind verantwortlich, notwendige Ent-

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Christian Maaß und John Siegel

scheidungen zu treffen und diese umzusetzen. Aber sie können Spielräume erschließen, die ihr dabei helfen, ihre Aufgabe zu bewältigen und dabei noch die Akzeptanz zu erhöhen und die Legitimationsgrundlage zu verbreitern. Die jeweiligen Handlungsorientierungen dürfen dabei nicht ignoriert oder konterkariert werden: Verwaltungshandeln muss rechtmäßig sein, politische Entscheidungen brauchen Mehrheiten, Partner aus der Wirtschaft müssen Gewinne erzielen und Bürgerinnen und Bürger wollen, dass ihre Anliegen ernstgenommen werden. Das setzt aber Kommunikation voraus, verbunden mit der Bereitschaft, andere zu verstehen und ihre Ab- und Ansichten zu akzeptieren, ohne dass man sie selbst teilen muss. Das fängt

schon bei der Frage an, was eigentlich ein Problem ist und hört auch nicht bei der Antwort auf, wie ein Problem gelöst werden könnte. Hinzu kommen die spezifischen Erfordernisse der praktischen Umsetzung und nicht zuletzt die Frage, wie die Vorhaben finanziert werden können. Hier kann man schon durch Beobachtung und Lernen aus den Erfahrungen anderer neue Potenziale erschließen. Jedenfalls muss Kooperation als Lernprozess begriffen werden, in dem Fehler gemacht werden können, aber auch erkannt werden und zu Veränderungen führen. Der Wandel der Bevölkerungsstruktur darf nicht als Problem des Staates, sondern muss als Herausforderung für die Gesellschaft verstanden werden.

4. Der Wandel der Bevölkerungsstruktur muss als strategisches Handlungsfeld für Land und Kommunen erkannt werden Erkennt man den Wandel der Bevölkerungsstruktur als Herausforderung für Politik und Verwaltung an, dann umreißt man damit ein strategisches Handlungsfeld, das umfassende Impli-kationen für die einzelnen politischen und administrativen Ebenen aufweist. Dafür gibt es bereits Ansätze in einigen Politikfeldern (u.a. Stadtumbau), dennoch soll hier noch einmal die grundsätzliche Herangehensweise skizziert werden.

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Zunächst gilt es, Analysen durchzuführen, die für die Kreis- und Landesebene ermitteln, welche Auswirkungen der Bevölkerungsrückgang hat. In besonders betroffenen Kommunen können darüber hinaus spezifische Untersuchungen gemacht werden, soweit die Vermutung begründet erscheint, dass sich übergreifende Strategien hier nicht als zweckmäßig erweisen, weil spezielle Rahmenbedingungen, Problementwick-


Verwaltung und Politik in der schrumpfenden Mark

lungen oder Ursachen vorliegen. Anschließend sind Handlungsoptionen zu ermitteln. Dazu ist zu prüfen, wie andere Kreise oder Länder agieren, die ebenfalls von akutem Bevölkerungsrückgang betroffen sind. Es sind dann unter breiter Einbeziehung verschiedener Akteure Strategien auf Kreis- und Landesebene zu entwickeln, welche die systematischen Handlungspotenziale nutzen. Die Strategieentwicklung ist zwischen Land, Kreisen und Kommunen vertikal und horizontal zu koordinieren. Koordination bedeutet dabei nicht, dass Lösungen „von oben nach unten“ vorgegeben oder gar vorgeschrieben werden. Vielmehr ist Transparenz darüber herzustellen, wie die einzelnen Ge-bietskörperschaften auf dem Weg der Bewältigung voranschreiten, welche Maßnahmen sie umsetzen und welche Ergebnisse sie dabei erzielen. Vorstellbar ist auch, dass gemeinsame oder individuelle Modellprojekte realisiert werden, um kreative Formen der Problemlösung zu testen und zu evaluieren. Grundsätzlich gilt, dass es eine gemeinsame Finanzierungs- und Umsetzungsverantwortung für den Er-

folg der Strategien gibt. Dabei gelten natürlich die rechtlichen Rahmenbedingungen. Sofern dies durch den Landesgesetzgeber möglich ist, müssen aber auch Experimentiermöglichkeiten geschaffen werden, etwa durch gesetzliche Experimentierklauseln. Für den Erfolg in diesem Handlungsfeld ist es notwendig, die Einzelaktivitäten in den verschiedenen Politikfeldern und auf den unterschiedlichen Ebenen so zu koordinieren und abzustimmen, dass sie auf gemeinsame Ziele ausgerichtet werden, ohne dabei die Spielräume für Kreativität und Lernen einzuschränken. Das bedeutet auch, Kompetenzen anhand der rechtlichen Rahmenbedingungen festzulegen und vor allem klar abzugrenzen, um eine „organisierte Unverantwortlichkeit“ zu vermeiden. Zur Strategieumsetzung ist es erforderlich, dass Handlungsnotwendigkeiten offen benannt werden, Handlungsspielräume erkannt und offensiv genutzt werden. Es ist zweifellos Aufgabe der politischen Verantwortungsträger, die Führung und Verantwortung in diesem Prozess zu übernehmen.

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Christian Maaß und John Siegel

5. Prozesse der kommunalen Regionalisierung können die angemessene struktur- und aufgabenbezogene Anpassung an den Strukturwandel unterstützen. Sie sind aber als dezentrale Entwicklung zu verstehen und dürfen nicht zu einer Ausdehnung der Landeskompetenzen und damit zur weiteren Aushöhlung der kommunalen Selbstverwaltung führen. Die kommunale Selbstverwaltung ist eine wichtige Stütze der Demokratie und der bürgernahen Verwaltung in Deutschland. Das viel beschworene Prinzip der Subsidiarität findet darin seine reale Ausprägung. Daher sind die Kreise und Kommunen in ihrer Handlungsfähigkeit zu stärken und nicht weiter zu schwächen. Dies setzt allerdings auch voraus, dass die kommunalen Institutionen ihre Reformpotenziale konsequent nutzen und sich nicht allein darauf beschränken, ihre – berechtigten – Forderungen an die übergeordneten Ebenen zu richten. Das gilt zuallererst für die Verwaltungsreform im Sinne des Neuen Steuerungsmodells (NSM). Dieser Reformtrend steht für grundlegende Veränderungen in Richtung stärkerer Kunden- und Kostenorientierung und hat sich nicht nur bundes-, sondern weltweit als Muster für kommunale Reformen durchgesetzt. Erstaunlich ist, dass in Brandenburg diese Entwicklung ein Schattendasein führt – angesichts der teilweise katastrophalen Situation in den Kommunen eigentlich unbegreif-

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lich. Zwar kann man argumentieren, dass den Kommunen selbst das Geld für die Reform fehlt (was eine Milchmädchenrechnung ist) oder sich das Land zuwenig als „Enabler“ bzw. Unterstützer für reformwillige Kommunen eingesetzt hat (was zwar stimmt, aber mit der Forderung nach Autonomie kaum vereinbar ist). Was auch immer nun der Grund für die „Zurückhaltung“ in Sachen Neues Steuerungsmodell ist: Bislang ist keine ernsthafte Alternative in Sicht, wenn man trotz oder gerade wegen widriger Rahmenbedingungen eine Verbesserung der Handlungsfähigkeit und vor allem der Leistungserbringung für die Bürgerinnen und Bürger erreichen will. Außerdem muss sich jede Kommune, die Forderungen an andere stellt, die Frage gefallen lassen, ob sie alles ihr Mögliche getan hat, ihre Probleme selbst zu lösen. Wo keine, unzureichende oder nur symbolische Anstrengungen unternommen wurden, kann zweifellos keine große Hilfsbereitschaft erwartet werden.


Verwaltung und Politik in der schrumpfenden Mark

Auch jenseits einer Optimierung à la NSM bestehen Chancen, angemessen auf die Veränderungen zu reagieren. So sind z.B. neue Möglichkeiten interkommunaler Zusammenarbeit auszuloten und zu nutzen. So weit dazu die Schaffung entsprechender Rahmenbedingungen notwendig ist, ist das Land gefordert, diesen Anforderungen gerecht zu werden. Auch hier können durch Ausnahmeregelungen, Experimentierklauseln oder Modellprojekte neue Möglichkeiten eröffnet werden, die einerseits zu einer Steigerung der Effizienz, andererseits aber zu einer Aufrechterhaltung der Versorgung mit öffentlichen Dienstleistungen vor Ort führen können. Das gilt für die gemeinsame Leistungserbringung zwischen Kommunen, Kreisen und unteren Landesbehörden. Regionalisierung – wie etwa bei der Schaffung von Regionalschulämtern – kann dabei zu einem Trend werden, der Ausdruck des Versuches ist, bei geringer werdender Nachfrage nach den Leistungen der Verwaltung trotzdem die Mindestgröße der jeweiligen Einheiten zu erhalten und den Bürgerinnen und Bürgern so keine zu weiten Wege zumuten zu müssen. Tendenziell wird man aber zumindest in diesem Punkt Abstriche in Kauf nehmen müssen, allerdings ohne dass jemand auf die ihm zustehenden Ansprüche verzichten muss bzw. öffentliche „Servicewüsten“ entstehen. Dabei können die Möglichkeiten von

„Electronic Government“ ebenso genutzt werden wie neue Organisationsformen (z.B. Bürgerämter bzw.„one-stop-shops“). Für die Verwaltung bedeutet das auch und gerade im operativen Geschäft Veränderungen und mehr Verantwortung, die aber auch mit mehr Freiräumen und Entscheidungskompetenzen einhergehen müssen. Grundsätzlich ist dabei zu beachten, dass es kein allgemeingültiges Rezept für alle Probleme gibt, die aus dem Bevölkerungsrückgang resultieren. So geht zum Beispiel nicht grundsätzlich der Bedarf nach allen Leistungen zurück, sondern vor allem der nach personenbezogenen öffentlichen Dienstleistungen (wie Schulunterricht), aber auch hier ist zu differenzieren. Zweifellos wird die Nachfrage nach Gesundheitsversorgung oder Altenpflege in den von der „Schrumpfung“ betroffenen Regionen nicht so stark sinken, ja wegen der relativ starken Abwanderung der „jungen Generation“ sogar zunehmen. Daher ist nach politikfeldspezifischen Lösungen zu suchen, denen Zweckmäßigkeitserwägungen und vor allem saubere Analysen zugrunde liegen. Geradezu absurd wäre das Ansinnen, eine zweite staatliche Verwaltungsebene einzuführen, wie in Form von Regierungsbezirken. Erstens ist die Schaffung zusätzlicher Strukturen nur dann zu rechtfertigen, wenn die Bevölkerung

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Christian Maaß und John Siegel

und damit die Zahl der staatlichen Aufgaben insgesamt wächst – doch das Gegenteil ist der Fall. Zweitens wäre die Institutionalisierung einer weiteren Ebene zwischen Landesverwaltung und Kommunen de facto mit einem Aufgabenverlust der Kreise verbunden, was eindeutig zu Lasten der kommunalen

Selbstverwaltung ginge und daher inakzeptabel ist. Drittens hätte diese neue Ebene ein ernsthaftes Legitimationsproblem, weil ihr auf gleicher Höhe keine Vertretungskörperschaft zugeordnet wäre – statt mehr also weniger Demokratie in Brandenburg!

6. Die bisherigen Schritte zur Verwaltungsoptimierung sind ein Anfang für die notwendige Anpassung der Ministerialbürokratie an die bestehenden Herausforderungen. Die Landesverwaltung bedarf einer tiefgreifenden und strukturellen Modernisierung, die vor allem durch den Verzicht ministerialer Besitzstände gekennzeichnet ist. Bis zur Landtagswahl im Jahr 2004 ist eine Verringerung der Zahl der Ministerien mehr als unwahrscheinlich. Sie ist dennoch dringend geboten. Vor dem Hinter-grund sinkender Schülerzahlen und der Schließung vieler Schulen stellt sich die Frage, warum es im Land Brandenburg kein klassisches Kultusministerium gibt. Eine weitere Veränderung bietet sich im Bereich von Wirtschaft und Bauen/Wohnen/Verkehr an. Hier ließe sich ein Ministerium für Wirtschaft und Infrastruktur schaffen. Die Zusammenlegung der Ministerien sollte jedoch mit einer realen Verringerung der Zahl der Staatssekretäre und Abteilungen verbunden sein. So hat das Ministerium für Landwirtschaft, Umweltschutz und Raumord-

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nung noch immer (ohne die Abteilung Gemeinsame Landesplanung) acht Abteilungen. Auf den ersten Blick scheint unklar, warum ein solches Ministerium eine Zentral- und eine Grundsatzabteilung braucht. Auch dass es nach wie vor zwei Staatssekretäre gibt deutet darauf hin, dass die Integration der Ministerien noch nicht ausreichend abgeschlossen ist. Neben vielen anderen Gründen sind hier v.a. zwei Argumente anzuführen, die für die Zusammenlegung von Ministerien sprechen. Die Reduzierung der Ministerien bringt die Möglichkeit, sich auf ministeriale Kernaufgaben zu konzentrieren. Dies gilt zum einen hinsichtlich des starken Engagements in Aufgabenbereichen, die eigentlich den


Verwaltung und Politik in der schrumpfenden Mark

Kommunen vorbehalten sein sollten und zum anderen hinsichtlich der besseren Ausbalancierung von Steuerung und Vollzug. Daneben geht es bei der Reduzierung der Zahl der Ministerien auch um eine Vorbildwirkung u.a. für eine sichtbare Reduzierung im nachgeordneten Bereich. Neben den strukturellen Veränderungen bedarf es einer Modernisierung der

Landesverwaltung, die über die bisherigen Ansätze deutlich hinaus geht. Auch in bezug auf die Verwaltungskultur ist mehr als eine Optimierung nötig. Wird auch an der Umsetzung einiger betriebswirtschaftlicher Instrumente und einer Aufgabenkritik gearbeitet, geschieht dies doch in engen bürokratischen Grenzen. Ein notwendiger Umschwung kann so nicht erreicht werden.

7. Neben der Funktionalreform muss auch über Gebietsreformen nachgedacht werden. Insbesondere bei kreisfreien Städte sollte die Einkreisung in angrenzende Landkreise in Betracht gezogen werden. Ähnlich wie die Ministerialbürokratie steht die kommunale Ebene vor weiteren strukturellen Veränderungen. Das betrifft zuerst die bisherigen kreisfreien Städte Frankfurt und Brandenburg. Wenn entsprechend der Prognose des LDS die Einwohnerzahl Frankfurts perspektivisch bei nicht einmal mehr 60.000 liegt und die der Stadt Brandenburg nur knapp darüber, so fehlt die Leistungskraft, die für eine Kreisfreiheit notwendig ist. Hier scheint eine Einkreisung dringlich geboten. Für Frankfurt gab es bereits einen Vorschlag von Gunther Fritsch für eine gemeinsame Lösung mit den Landkreisen MärkischOderland und Oder-Spree. Bei Brandenburg spricht vieles für die Einkreisung nach Potsdam-Mittelmark, wobei die

nördlich gelegenen Gebiete des Landkreises Potsdam-Mittelmark zukünftig zum Landkreis Havelland gehören sollten. Setzt sich der aktuelle Trend fort, verliert auch die Stadt Cottbus so viele Einwohner, dass eine Einkreisung nach Spree-Neiße sinnvoll erscheint. Dies würde auch eine Stabilisierung der Gesamtsituation von Spree-Neiße und Cottbus ermöglichen. Hinsichtlich der Landkreise sind ElbeElster und Oberspreewald-Lausitz ebenso wie Prignitz und Ostprignitz-Ruppin Kandidaten für ein mögliches Zusammengehen. Eine dadurch er-reichte Stärkung der Landkreise sollte auch ein Gegengewicht gegen die von Teilen der Landesregierung und Ministerialbürokratie als Regionalisierung bezeichnete

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Christian Maaß und John Siegel

Aushöhlung der Landkreise sein, die wohl ganz wesentlich einen Verzicht auf den Abbau eigener Kapazitäten und Zuständigkeiten zu Lasten der Landkreise darstellen würde. Gerade in Gebieten mit geringer Bevölkerungsdichte und schwachen Städten und Gemeinden hat der Landkreis wichtige Ausgleichs- und Bündelungsfunktionen. Das Land Brandenburg hätte nach diesen Veränderungen noch eine kreisfreie Stadt und elf Landkreise. Weitere Veränderungen wird es bei den Städten und Ämtern geben müssen. Die aktuelle Gemeindegebiets-

reform hat im wesentlichen darauf verzichtet, die Zahl der hauptamtlichen Verwaltungen zu reduzieren. Sowohl im engeren Verflechtungsraum als auch im äußeren Entwicklungsraum sind Zusammenschlüsse von Verwaltungseinheiten erforderlich. Sofern dies in den schrumpfenden Regionen aus Gründen der zu großen Entfernung nicht mehr möglich ist, sind neue Kooperationsformen zu suchen (Vorbild Modell der Amtsgemeinde), die technikgestützt realisiert werden können (Trennung von Dienstleistungsproduktion und -vertrieb).

8. Es sollte eine Enquetekommission des Landtages eingerichtet werden, die systematisch die Ursachen und Folgen des Strukturwandels aufzeigt und Handlungsoptionen für den Gesetzgeber erarbeitet. Darüber hinaus wäre eine Projektgruppe „Wandel der Bevölkerungsstruktur und Verwaltungsentwicklung“ in der Staatskanzlei zu installieren, ggf. mit einem wissenschaftlichem Beirat. Mit der Einrichtung einer parlamentarischen Untersuchungskommission und einer Projektgruppe der Landesregierung verbindet sich die Chance, das Thema auf die parlamentarische und administrative Agenda zu setzen und übergreifende Strategien zu entwickeln und umzusetzen. Fundierte Analysen könnten unmittelbar mit Entscheidungsvorlagen verbunden werden. Die politische Willensbildung und

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Entscheidungsfindung in bezug auf die Herausforderung des demographisch-strukturellen Wandels ist als parteiübergreifende Herausforderung zu begreifen und würde daher in einer Enquetekommission die angemessene Organisationsform der legislativen Problembearbeitung finden. Durch Berichte und die Aktivitäten der Mitglieder würde das Thema nicht in Vergessenheit geraten und weiter in der


Verwaltung und Politik in der schrumpfenden Mark

öffentlichen Diskussion verankert. Mit Anhörungen und Gutachten bestünde darüber hinaus die Möglichkeit, ein breites Spektrum an Meinungen, Erfahrungen und Wissen zur Grundlage von Entscheidungen zu machen. So könnten etwa die Kommunen und kommunalen Spitzenverbände sowie die Gewerkschaften einbezogen werden.

Aufgabe einer Projektgruppe in der Staatskanzlei wäre vor allem die ressortübergreifende Koordination der Aktivitäten in den einzelnen Politikfeldern. Die Ansiedlung beim Ministerpräsidenten bzw. dem Chef der Staatskanzlei würde darüber hinaus verdeutlichen, dass die Aufgabe als „Chefsache“ behandelt wird und über die notwendige Unterstützung an zentraler Stelle verfügt.

9. Eine allein auf Brandenburg beschränkte Modernisierung greift deutlich zu kurz. Die Fusion mit Berlin ist dringendes Gebot. Sofern die Möglichkeiten für weitergehende Veränderungen bestehen, ist eine Fusion mit Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt anzustreben. Zentrale Aufgabe für die Region Berlin-Brandenburg ist die Nutzung der Chancen im Zuge der Osterweiterung der EU. Dass hierzu auf jeden Fall die Fusion mit Berlin gehört, steht an dieser Stelle außer Frage. Das reale Zusammenwachsen ist u.a. an der großen Zahl der Pendler und Zuzüge aus Berlin erkennbar. Allerdings zeigen Ergebnisse einer Umfrage von Niedermayer/Stöss aus dem Jahre 2002, dass insbesondere im äußeren Entwicklungsraum und somit in diesen Gebieten eine starke Ablehnung der Fusion vorhanden ist (47 % der Befragten äußerten, dass die beiden Bundesländer getrennt bleiben sollen). Hier ist es eine der zentralen Aufgaben der Landespolitik, eine ausreichende Zustimmung zur Fusion zu

mobilisieren. Dabei ist es wenig hilfreich, wenn immer wieder aus kurzfristigen parteipolitischen Interessen heraus die Vereinigung in Frage gestellt wird. Derartige Aussagen unterlaufen das Vorhaben sehr deutlich. Aus der Fülle der möglichen Argumente für die Fusion sollen hier drei aufgegriffen werden. Das erste Argument ist im eher kulturell-psychologischen Bereich zu verorten. Die Länderfusion wäre eine für die Region eine anspruchsvolle Reformleistung des politisch-administrativen Systems; der Status quo würde überwunden. An einer ganz zentralen Stelle könnte sich Veränderungs-

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Christian Maaß und John Siegel

bereitschaft zeigen. Zudem wäre das neue Bundesland im Kreis der Bundesländer gestärkt. Hier geht es darum, für eine Region ein neues Selbstbild und ein neues Selbstbewusstsein zu etablieren. Im Wettbewerb der Regionen würde sich bspw. gegenüber Sachsen eine stärkere Stellung ergeben. Die Fusion wäre ein weiteres Zeichen für den realen Vollzug der inneren Einheit. Angesichts der Entfernungen und Einwohnerzahl – so das zweite Argument – gibt es in Berlin-Brandenburg eine kaum zu akzeptierende Dichte an Institutionen der Landesverwaltung. Diese Institutionendichte ist dauerhaft von zwei schwachen Bundesländern nicht zu tragen. Zudem besteht bereits seit längerem in vielen Bereichen die Notwendigkeit einer Zusammenarbeit und Abstimmung. Soll nicht völlig kontraproduktiv gehandelt werden, ist eine Konsensfindung in Sachfragen bereits jetzt dringend erforderlich. Drittens ist darauf zu verweisen, dass die Fusion von Berlin und Brandenburg eine Signalwirkung für die Bundesrepublik haben könnte. Berlin-Brandenburg würde einen Beitrag zur Stärkung des föderalen Systems der Bundesrepublik leisten. So wäre auch eine Diskussion um die Stadtstaaten Bremen und Hamburg wieder möglich. Aufgrund ähnlicher historischer Wurzeln und aber auch

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Problemen in Gegenwart und Zukunft Berlin-Brandenburgs wäre eine langfristig Fusion mit Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt vorstellbar. Auch wenn eine solche Vision als unrealistisch betrachtet werden mag, so stellt sie bei näherem Hinsehen eine ernstzunehmende Option dar. Die Konsolidierungstendenz im deutschen Föderalismus könnte sonst dazu führen, dass die ohnehin schon bevölkerungsarmen Länder durch ihre Zersplitterung noch weiter geschwächt werden – und ihren Anliegen auf Bundesebene, vor allem jedoch in einem „Europa der Regionen“ kaum noch Gehör verschaffen könnten. Bisher erweckt die Landespolitik in Brandenburg (gleiches gilt für Berlin) nur in Ansätzen den Eindruck, sich intensiv mit der EU-Osterweiterung auseinander zu setzen und in ihr eine Chance zu sehen.Wer sich in Verbindung mit Teilen der örtlichen politischen Akteure darin beschränkt, vor allem vor den osteuropäischen Arbeitskräften zu warnen, trägt sein Scherflein dazu bei, dass die Chancen der Osterweiterung anderswo – jedoch nicht in Brandenburg genutzt werden können. Da es sich hierbei um eine Entwicklung handelt, die insgesamt nicht von Brandenburg aus aufzuhalten ist, erscheint eine solche Haltung um so weniger zielführend.


Verwaltung und Politik in der schrumpfenden Mark

10. Die SPD muss sich als die Brandenburg-Partei der Bewältigung der für das Land so wichtigen Herausforderung offensiv und progressiv stellen. Sie darf nicht zum strukturkonservativen Besitzstandswahrer werden, sondern muss sich die notwendige Anpassung an die veränderten Bedingungen auf die Fahnen schreiben. Es stellt sich so mit großer Dringlichkeit die Frage, wer in den kommenden Jahren zum Flaggenträger der notwendigen Strukturreformen wird und somit glaubwürdig den Anspruch auf die politische Führung im Land stellen kann. Die SPD steht für den demokratischen Neuanfang im Land und der Vielzahl der Kommunen und die Integration Brandenburgs in die Bundesrepublik. In der Großen Koalition gab es erste Reformen sowohl in von der CDU (Gemeindegebiets- und Polizeireform) als auch den von der SPD (Forstverwaltung und Schulen) geführten Bereichen. Will die SPD ihren Führungsanspruch behaupten, muss sie auch zukünftig deutlich machen, dass sie die treibende Kraft im Lande ist. Im Mittelpunkt steht dabei der SPD-Landesvorsitzende und Ministerpräsident in seiner doppelten Führungsverantwortung. Doch der Anspruch an die Entscheidungs- und Gestaltungsfähigkeit richtet sich zugleich an alle Verantwortlichen sowohl auf Landes- als auch auf kommunaler Ebene. Es wäre fatal anzunehmen, die Menschen in Brandenburg würden Refor-

men ablehnen oder sich ihnen sogar widersetzen. Auch wenn sich einige Betroffene lautstark artikulieren – wie bei emotional schwer zu akzeptierenden aber ohne Zweifel notwendigen Schulschließungen – so sind die Bürgerinnen und Bürger von der Erforderlichkeit umfassender Reformen überzeugt oder zumindest überzeugbar. Es scheint so zu sein, dass die Angst vor Veränderungen mitunter eher in der Administration zuhause ist, als in der Bevölkerung. Zweifellos bedeutet Reform Konflikt – aber die Fähigkeit zum Konsens und zur Überzeugung ist gerade in unserer Zeit eine unabdingbare Tugend politischer Entscheidungsträger. Dazu ist jedoch die Verständigung und Diskussion zu suchen und nicht zu vermeiden. Für die SPD geht es darum, den Reformdiskurs zu bestimmen und sich nicht in die Defensive drängen zu lassen. So sichert sie ihren Anspruch auf die politische Führungsrolle an der Spitze des Landes und dessen Institutionen. Dieser ist nicht so selbstverständlich, wie einige vielleicht glauben mögen. Die SPD wäre gut beraten, wenn sie sich darin erinnert, was inzwischen eine

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Christian Maaß und John Siegel

Binsenweisheit der Wahlforschung ist: in Ostdeutschland wird nach Personen und Leistungen gewählt. Die Bewältigung des strukturellen Wandels durch wahrnehmbaren Einsatz der Sozialdemokraten wäre eine solche Leistung, die vom Wähler honoriert würde. Das erfor-

dert ein Selbstbewusstsein, das nur durch politische Führung entstehen kann. Bei allen Erfolgen in der Vergangenheit: Die Wählerinnen und Wähler bewerten die aktuelle Leistung, nicht die innerparteilichen Selbstwahrnehmung.

Christian Maaß, Dipl.-Politikwissenschaftler, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl Public Management an der Universität Potsdam Er ist Stadtverordneter (Premnitz) und Kreistagsmitglied (Landkreis Havelland). cmaass@rz.uni-potsdam.de

John Siegel, Dipl.-Verwaltungswissenschaftler, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Öffentliche Dienstleistungen und Tourismus an der Universität St. Gallen (Schweiz) Er war von 2000 bis 2002 stellvertretender Landesvorsitzender der Jusos in der SPD. john-philipp.siegel@unisg.ch

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Verwaltung und Politik in der schrumpfenden Mark

Relevante Literatur Berg, Frank (BISS e.V.): Verwaltungsreform und Personal im Land Brandenburg. Information („Kernthesen“) und politische Handlungsempfehlungen zur wissenschaftlichen Studie. Berlin 2002. Manuskript. Damkowski, Wulf und Rösener, Anke: Auf dem Weg zum Aktivierenden Staat. Vom Leitbild zum umsetzungsreifen Konzept. Berlin: Edition Sigma 2003. Gemeinsame Landesplanungsabteilung Berlin-Brandenburg: Landesentwicklungsplan Brandenburg. Zentralörtliche Gliederung LEP I. 2. Auflage, Potsdam 2002. IfS Institut für Stadtforschung und Strukturpolitik GmbH: Anpassungsstrategien für ländliche/periphere Regionen mit starkem Bevölkerungsrückgang in den neuen Ländern – Modellvorhaben der Raumordnung. 1. Zwischenbericht. Berlin 2002. IfS Institut für Stadtforschung und Strukturpolitik GmbH: Bericht über das Regionalforum in der Region Lausitz-Spreewald. Berlin 2003. Manuskript. Kommission „Entwicklung der Schulen der Sekundarstufe I im ländlichen Raum des Landes Brandenburg“: Bericht an die Landesregierung Brandenburg. Potsdam 2000. Landtag Brandenburg, Drucksache 3/4888: Antwort der Landesregierung auf die Große Anfrage 45 der Fraktion der PDS (Landtagsdrucksache 3/4301), Politik der Landesregierung für den ländlichen Raum. Potsdam 2002. Landtag Brandenburg, Drucksache 3/5161: Bericht der Landesregierung. Zwischenbericht zum Stand des Stadtumbaus in Brandenburg. Potsdam 2002. Landtag Brandenburg, Drucksache 3/5716: Bericht über die Arbeit des Petitionsausschusses gemäß § 12 des Gesetzes über die Behandlung von Petitionen an den Landtag Brandenburg. Potsdam 2003. Landtag Brandenburg, Drucksache 3/5034: Stellungnahme der Landesregierung zum Bericht der Kommission „Entwicklung der Sekundarstufe I im ländlichen Raum des Landes Brandenburg“. Potsdam 2002.

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Christian Maaß und John Siegel

Landtag Brandenburg, Drucksache 3/5967: Beschlussempfehlung und Bericht des Hauptausschusses zu dem Gesetzentwurf der Landesregierung Haushaltssicherungsgesetz 2003 – HS ichG 2003. Potsdam 2003. Maaß, Christian: Brandenburger Kommunen auf dem Weg. Berichte zum Stand der Verwaltungsreform in den Modellkommunen, in: Handbuch zur Arbeit mit den neuen Steuerungsinstrumenten. Herausgegeben vom Ministerium des Innern des Landes Brandenburg und vom Kommunalwissenschaftlichen Institut der Universität Potsdam. 1998. Metzner, Thorsten: Berlinferne Regionen vor „öffentlicher Verelendung“?, Potsdamer Neueste Nachrichten 13.05.2003. Niedermayer, Oskar/Stöss, Richard: Berlin-Brandenburg BUS 2002. Die Haltung der Bevölkerung zur Fusion von Berlin und Brandenburg 2000 und 2002. Berlin 2002. Manuskript. Pröhl, Marga (Hrsg.): Good Governance für Lebensqualität vor Ort. Internationale Praxisbeispiele für Kommunen. Gütersloh: Verlag Bertelsmann Stiftung 2002. Reichard, Christoph/Berg, Frank/Maaß, Christian: Gutachten über die Effekte verschiedener Gestaltung der Organisation von amtsangehörigen Gemeinden im Land Brandenburg. 1999. Schedler, Kuno/Kettiger Daniel (Hrsg.): Modernisieren mit der Politik. Ansätze und Erfahrungen aus Staatsreformen, Bern et al.: Haupt 2003. Seitz, Helmut: Kommunalfinanzen bei schnell schrumpfender Bevölkerung in Ostdeutschland: Eine politikorientierte deskriptive Analyse. Manuskript.

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Verwaltung und Politik in der schrumpfenden Mark

Quellen im Internet Lehrstuhls für Volkswirtschaftslehre, insbes. Wirtschaftstheorie (Makroökonomie), Prof. Dr. Helmut Seitz an der Universität Frankfurt (Oder) www.makro.euv-frankfurt-o.de Kommunalwissenschaftliches Institut der Universität Potsdam. www.uni-potsdam.de/u/kwi/index.htm Modellvorhaben der Raumordnung: Anpassungsstrategien für ländliche/ periphere Regionen mit starkem Bevölkerungsrückgang in den neuen Bundesländern. www.regionale-anpassung.de Institut für öffentliche Dienstleistungen und Tourismus an der Universität St. Gallen. www.idt.unisg.ch

Projekt zum Thema Schrumpfende Stadt www.schrumpfende-stadt.de/index_de.htm

Leseempfehlungen zum Thema „schrumpfende Städte“ (Lehrstuhl für Stadt- und Regionalsoziologie HU Berlin) www2.rz.hu-berlin.de/stadtsoz/Leseempfehlungen/SchrumpfendeStädte.htm Institut für Regionalentwicklung und Strukturplanung (Erkner) www.irs-net.de Lehrstuhl für Betriebswirtschaftlehre mit dem Schwerpunkt Public Management, Prof. Dr. C. Reichard an der Universität Potsdam: www.pots-puma.de Landtag Brandenburg www.landtag.brandenburg.de

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Erfahrungen der Menschen als wichtigstes Potenzial Stolpe zu Auswirkungen der Bevölkerungsveränderungen auf Kommunen und Aufbau Ost Interview mit Manfred Stolpe

p21: Die demographischen Veränderungen wirken sich stark auf die Entwicklung der ostdeutschen Städte aus. Bis zum Jahr 2050 ist eine Bevölkerungsabnahme um 20-25 % für Ostdeutschland prognostiziert. Für eine Stadt wie Rathenow wird ein Bevölkerungsrückgang um 70 % bis 2040 prognostiziert. Kann man auf diese Veränderungen überhaupt reagieren? Stolpe: Die Prognosen sind in der Tat für bestimmte Regionen beunruhigend. Man muss sie ernst nehmen. Aber sie bieten uns Gelegenheit, bereits heute im gesellschaftlichen Konsens Strategien zu entwickeln, um regional gezielt auf die heute vorhersehbaren Entwicklungen zu reagieren. Und ich bin davon überzeugt, dass es der Politik gelingt, gemeinsam auf allen Ebenen Antworten und Lösungen zu finden. p21: Und was tut der Bund? Stolpe: Wir lassen derzeit in drei betroffenen ostdeutschen Regionen un-

tersuchen, mit welchen Strategien und Konzepten man den Auswirkungen von Bevölkerungsrückgang und Veränderungen in der Altersstruktur begegnen kann. Dabei werden konkrete Vorschläge etwa zur Sicherung der ambulanten und stationären medizinischen Versorgung, der Anpassung der Schul- und Ausbildungsstrukturen, der Versorgung mit Kindergärten und Alteneinrichtungen sowie zu Nahverkehrsangeboten geprüft und modellhaft umgesetzt. Darüber hinaus hat die Bundesregierung dafür gesorgt, dass für die neuen Länder finanzielle Rahmenbedingungen geschaffen wurden, die es ermöglichen, mittel- und langfristig zu planen. Mit dem Solidarpakt II steht ein Volumen von 156 Mrd. € bis zum Ende des nächsten Jahrzehnts zur Verfügung. Damit können die teilungsbedingten Defizite bei der Infrastruktur beseitigt und mit der angeschobenen Gemeindefinanzreform die Finanzkraft der Kommunen gestärkt werden.

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Interview mit Manfred Stolpe

p21: In letzter Zeit zeigt sich, dass vor allem die gut ausgebildeten und jungen Menschen aus den peripheren Gebieten fortziehen. Ergebnis ist eine strukturelle Langzeitarbeitslosigkeit bei gleichzeitigem Fachkräftemangel. Wurde dieses Problem in den letzten Jahren zu leichtfertig ignoriert? Stolpe: In der Tat: Fast jeder Zweite Ostdeutsche, der in den Westen zieht, ist überdurchschnittlich qualifiziert und hatte einen Arbeitsplatz. Für fast ein Fünftel ist der höhere Verdienst im Westen ausschlaggebend für den Wegzug. Ich habe mich schon immer für eine schrittweise Angleichung der Löhne und Gehälter in Ostdeutschland ausgesprochen. Dies kann – abhängig von Branchen und den wirtschaftlichen Bedingungen – sehr unterschiedlich verlaufen. Für mich ist wichtig, dass für die Menschen im Osten eine verlässliche Perspektive erkennbar wird. Im Übrigen trägt die weitere Einkommensangleichung dazu bei, im Wettbewerb um mobile, qualifizierte Arbeitskräfte besser zu bestehen. Insbesondere in den Hochschulen und Forschungseinrichtungen sowie in anderen Bereichen des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens sind auch materielle Anreize für die Zukunftsfähigkeit ausschlaggebend. Ich bin überzeugt, dass wir mit der Perspektive für eine

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Angleichung nicht nur die Abwanderung mindern, sondern auch mehr Menschen zur Rückkehr in ihre Heimat bewegen können. Auch die Unternehmen in den neuen Ländern sollten sich im Klaren darüber sein, dass sie heute schon über Bedarf junge Leute ausbilden müssen, damit ihnen nach dem Geburtenrückgang nicht in wenigen Jahren die Fachkräfte fehlen. p21: Prognosen sagen vielen Orten voraus, dass in einigen Jahren 50 % ihrer Einwohner im Rentenalter oder kurz davor sein werden. Wird die „Vergreisung“ diesen Regionen langfristig ihre Wachstumspotenziale nehmen? Stolpe: Das glaube ich nicht. Nicht zuletzt deshalb, weil uns genügend Zeit bleibt gegenzusteuern. Dabei möchte ich einen Aspekt besonders hervorheben. Die Bundesregierung beabsichtigt, dass gleichzeitig ab 2004 mit dem Auslaufen der Eigenheimzulage 25 % des auf den Bund entfallenden Einsparvolumens für ein Zuschussprogramm zur Strukturverbesserung in den Städten bereit gestellt werden. Dies unter der Voraussetzung, dass Länder und Kommunen die gleichen Anteile des Einsparvolumens für diesen Verwendungszweck einsetzen. Schwerpunkte dieses Programms sollen insbesondere die bei Eigentums-


Erfahrungen der Menschen als wichtigstes Potenzial

bildung im städtischen Wohnungsbestand anfallenden hohen Instandsetzungs- und Modernisierungskosten, die Verbesserung der Wohn- und Wohnumfeldbedingungen von Haushalten mit Kindern, die Wiedernutzung von Brachflächen und integrative Maßnahmen in benachteiligten Stadtquartieren sein. Damit wollen wir die künftige Förderung auf die Innenentwicklung der Städte und Gemeinden sowie die Verbesserung der Lebensqualität konzentrieren. p21: Welche Potenziale hat Ostdeutschland, um trotz des demographischen Wandels eine lebenswerte und wirtschaftlich prosperierende Region zu bleiben? Stolpe: Die nächsten Jahre werden geprägt sein durch Veränderungen und Wandel, um unser Land fit zu machen für die Anforderungen der

Zukunft. Das betrifft ganz Deutschland. Ich glaube, dass gerade dabei die Menschen hier in den neuen Ländern einen entscheidenden Vorteil haben, sich auf diese Herausforderungen einzustellen. Bereits die Jahre nach der Wende waren für sie mit gewaltigen Umstellungen – sowohl gesellschaftlich als auch privat – verbunden. Diese Erfahrungen, die vielen Menschen in den alten Ländern jetzt bevorstehen, sind ein großes Potenzial, das seitens der Politik mit Umsicht nutzbar gemacht werden muss. Mit der Agenda 2010 weist die Bundesregierung den Weg, um sich den Herausforderungen zu stellen. Und dabei können sich die neuen Länder auch weiterhin auf die Solidarität der alten Länder verlassen. Und ich glaube die Jahre seit der Wiedervereinigung haben in vielen Bereichen deutliche positive Signale gesetzt.

Manfred Stolpe, Bundesminister für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen sowie Beauftragter der Bundesregierung für den Aufbau Ost, 1990-2002 Ministerpräsident des Landes Brandenburg

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Das neue Deutschland

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