perspektive21 - Heft 08

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INHALT

WAS IST SOZIALE GERECHTIGKEIT?

INTERVIEW mit Alwin Ziel, Minister für Arbeit, Soziales, Gesundheit und Frauen des Landes Brandenburg ........... Seite 4

BEITRÄGE Der Weg nach vorne für Europas Sozialdemokraten Ein Vorschlag von Gerhard Schröder und Tony Blair ........................... Seite 12 Zur Zukunft der SPD - Thesen zur Debatte über den „Dritten Weg“ von Ottmar Schreiner ............... Seite 27 Sozialstaat und soziale Gerechtigkeit von Dr. Volker Offermann ......... Seite 33

Kann Politik die ostdeutschen Erwartungshaltungen erfüllen? von Dr. Klaus-Jürgen Scherer ... Seite 51 Soziale Gerechtigkeit als Kernpunkt der Parteienkonkurrenz zwischen SPD und PDS in Ostdeutschland von Klaus Ness .......................... Seite 59 Hat das Politikziel Vollbeschäftigung in Ostdeutschland noch eine Chance? von Rolf Schmachtenberg ........ Seite 65

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INTRO

Liebe Leserinnen und Leser, seit Beginn der 90er Jahre wird in den sozialdemokratischen Parteien (West-) Europas eine Debatte über den sogenannten „3. Weg“ geführt. Sozialdemokratische Grundwerte sollen zeitgemäßen Politikzielen „angepasst“ und mit einer modernen politischen Strategie verknüpft werden. Im Spannungsfeld von klassischer Sozialdemokratie und sozialem Liberalismus und vor dem Hintergrund einer offenkundigen Erschöpfung neo-liberaler Politikkonzepte wird eine Neuorientierung versucht. Jahrzehntelange Deregulierung und Flexibilisierung der Arbeitswelt, die informationstechnische Revolution und die zunehmende Globalisierung der wirtschaftlichen Beziehungen haben tiefe Spuren und Wunden in der Gesellschaft hinterlassen. Der anhaltende Transformationsprozess der ehemals sozialistischen Staaten Osteuropas und Asiens hat weltumspannende Auswirkungen und den Verfechtern der reinen Lehre der Marktwirtschaft ihre Grenzen aufgezeigt. Die Erwartungen an eine neue Ära sozial-demokratischer Politik sind hoch, zumal der weltweite Austausch von Waren und Dienstleistungen und der damit einhergehende ungehinderte Fluss der Finanzströme neue Konkurrenzverhältnisse geschaffen hat, die mit einer nationalstaatlichen Politik kaum reguliert werden können. Im Rahmen einer internationalisierten Wirtschaftspolitik ist also eine Rückbesinnung zur Idee der

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sozialen Markwirtschaft mit der besonderen Betonung auf „sozial“ dringend geboten. Ziel muss die Teilhabe von möglichst vielen an Wachstum und Wissen sein und nicht der Verzicht von vielen, damit wenige profitieren. Die überwältigenden Wahlerfolge von Blair, Jospin und Schröder sind ein Ausdruck des Wunsches der Menschen, die verkrusteten Politikkonzepte der konservativen Vorgängerregierungen zu überwinden. Der Erwartungsdruck ist hoch, doch Widerstände sind auch in den eigenen Reihen zu überwinden. Bei der Bundestagswahl vom 27. September 1998 hat die deutsche Sozialdemokratie den Wählerauftrag erhalten, Deutschland in das 21. Jahrhundert zu führen. Die Sicherung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit im internationalen Wettbewerb, die nachhaltige Entwicklung von Wirtschaft und Gesellschaft und der Wunsch nach sozialer Gerechtigkeit waren die Grundlage des Erfolgs. Innovation ist dabei ein Schlüsselwort. Innovationspolitik ist für Sozialdemokraten vorausschauende Gesellschaftspolitik. Sie zielt auf Erneuerung in Wirtschaft und Gesellschaft durch Qualifizierung, Bildung und Ausbildung, Forschung und Entwicklung bis hin zur konsequenten Umsetzung in Produkte und Dienstleistungen und schafft so neue


INTRO

Chancen für Beschäftigung. Schließlich bedeutet der Übergang von der Industriegesellschaft des 20. Jahrhunderts zur Informations- und Wissensgesellschaft des 21. Jahrhunderts einen weitreichenden gesellschaftlichen Wandel.

Tatsächlich geht es allen Verfechtern des „3. Weges“ um nachhaltiges Wachstum, um soziale Gerechtigkeit und um politische Freiheit damit die Chancen einer globalisierten Welt international koordiniert und genutzt werden können.

Gerechtigkeit ist der zweite Pfeiler, auf dem der Wahlerfolg der SPD beruht. Doch das Politikziel „soziale Gerechtigkeit“ ist nicht identisch mit der puren Umverteilungspolitik der frühen Jahre. Als zentral kristallisiert sich immer mehr der Begriff der „Teilhabegesellschaft“ heraus, d.h. eine Politik, die auf Teilhabe möglichst vieler setzt. Eine Teilhabegesellschaft muss am Prinzip der Gerechtigkeit orientiert sein. Das Recht auf Teilhabe an Erwerbsarbeit, Bildung und Kultur ist dabei der Kernpunkt. Allerdings: Nur dem, der über materielle und soziale Sicherung verfügt, ist diese Möglichkeit in vollem Umfang gegeben. Die Prinzipien sozialer Gerechtigkeit, Sicherung von Chancengleichheit und Zusammenhalt und eine lebendige demokratische Kultur sind Grundelemente einer modernen Teilhabegesellschaft.

Doch der Anspruch, mit der die Schröder-Regierung angetreten ist, ist hoch. Sie will eine Neuordnung der Finanzen und des Sozialstaats in einem sozial gerechten und transparenten Verfahren erreichen. Maßstab soll ein spürbarer Erfolg auf dem Arbeitsmarkt sein.

Wichtig ist ein gesellschaftlicher Konsens über die Verwirklichung einer Teilhabegesellschaft. Dabei geht es um den Aufbau einer modernen Zivilgesellschaft, die sich an Integration, Menschenwürde und Engagement des Einzelnen orientiert. Auch das Verhältnis der Altersgruppen und Geschlechter ist immer wieder aufs Neue und für alle zufriedenstellend auszubalancieren.

Inzwischen ist vor allem in Ostdeutschland eine Diskussion um das Thema „soziale Gerechtigkeit“ entbrannt. Bei rund 20 Prozent Arbeitslosigkeit ist der Erwartungsdruck auf die Schröder-Regierung und an staatliche Beschäftigungsmaßnahmen extrem hoch. Gleichzeitig verkommt der Begriff „soziale Gerechtigkeit“ zum stammtischpolitischen Totschlagargument populistischer Versprechungspolitiker. Dringend muss der Begriff mit Inhalten gefüllt werden, die für die gesamte Gesellschaft akzeptabel und erstrebenswert sind. Die vorliegende 8. Ausgabe von Perspektive 21 versucht, ausgehend von dem Schröder/ Blair-Papier, eine Bilanz und einen Ausblick über die (brandenburgische) Arbeitsmarktpolitik zu geben. Gleichzeitig werden durchaus provokante Fragen zu den Möglichkeiten, Grenzen und Auswirkungen sozialstaatlicher Umverteilungspolitik gestellt.

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INTERVIEW

DIE STARKEN HELFEN SICH SCHON SELBER Ein Interview mit Alwin Ziel, Minister für Arbeit, Soziales, Gesundheit und Frauen des Landes Brandenburg Inzwischen haben alle Parteien in Deutschland „Soziale Gerechtigkeit“ auf ihre Fahnen geschrieben. In Ostdeutschland operiert vor allem die PDS mit diesem Begriff indem sie auf der subjektiven Ebene ganz unverhohlen an Neidgefühle appelliert (auf Besserverdienende, auf Wessis etc.) objektiv aber auch konkrete soziale Missstände benennt (Arbeitslosigkeit, Steuergerechtigkeit). Wie definiert die SPD „Soziale Gerechtigkeit“ im Unterschied zu anderen Parteien? Was heißt inzwischen? Die ganze Bundesrepublik definiert sich als Soziale Marktwirtschaft, ein Begriff, der aus der Ära von Ludwig Erhard stammt. Alle relevanten Parteien beziehen sich auf diesen Grundkonsens, selbst die PDS. Wer offen damit brechen würde, der käme sehr schnell ins politische Abseits. Ich glaube, der F.D.P. geschieht dies gerade. Die Leute haben gemerkt, dass diese kleine Partei in der letzten Regierung Kohl hauptverantwortlich dafür zeichnete, dass die soziale Marktwirtschaft zunehmend zu einer Worthülse wurde. Die Frage ist, wer diese Soziale Marktwirtschaft in allen Lagen konsequent und

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glaubwürdig verteidigt. Da habe ich keine Bange, dass das die SPD ist und bleiben wird. Was nun die Frage nach der SPD im Unterschied zu allen anderen Parteien anlangt, so muss sie natürlich immer wieder neu beantwortet werden. Wir haben ja jetzt eine Programmdiskussion, ausgelöst von dem Schröder-Blair-Papier. Wir sind also mittendrin in einem neuen Klärungsprozess. So, wie Gerhard Schröder jetzt auftritt, bin ich sicher, dass die Unklarheiten schnell beseitigt sind. Eine zentrale Frage in der Debatte wird sein: Was steckt eigentlich hinter dieser Formel von der neuen Mitte? Ich habe sie immer als eine Einladung an jene kreativen Kräfte in der Gesellschaft verstanden, die sich wirtschaftlich oder wissenschaftlich oder kulturell betätigen, sich an einem erneuerten sozialen Grundkonsens zu beteiligen, der in den letzten Jahren etwas ins Rutschen gekommen war. Unsere Botschaft an diese Schicht von Menschen ist: Eure speziellen Ansprüche an das Leben sind bei


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uns Sozialdemokraten gut aufgehoben, aber sie lassen sich nur in einer solidarischen Gesellschaft verwirklichen. Wir schätzen Eure Leistungen, aber sie sind wertlos in einer Ellenbogengesellschaft, in der jeder sich selber der nächste ist. Setzt Euch mit uns dafür ein, dass nicht große Teile der Gesellschaft abgehängt werden. Das war ein ernstgemeintes Angebot und nicht nur ein Lockruf für die Bundestagswahl 1998. Dieses Angebot zur Beteiligung - und ich betone dieses Wort von der Beteiligung - besteht fort und ist ein Kernbestandteil der sozialdemokratisch geführten Bundesregierung und ihrer Mehrheitsfähigkeit. Es ist nun aber nach der Wahl der Eindruck entstanden, als hätten die Sozialdemokraten nur noch diese spezielle Gesellschaftsschicht im Auge, als erkennen sie sich ausschließlich in ihr wieder und hätten als typische Aufsteiger vergessen, woher sie stammen. Dieser Eindruck, hat dazu geführt, dass viele unserer traditionellen Wähler bei den letzten Landtagswahlen ferngeblieben sind, weil sie sich von uns verlassen gefühlt haben. Sie haben nicht gegen uns gestimmt, aber vollen Herzens für uns konnten sie auch nicht sein. Dies muss nun wieder gerade gerückt werden. Gerade dazu ist die Programmdiskussion in der Partei unerlässlich. Jetzt noch schnell zu den anderen Parteien CDU und PDS. Die CDU ist eine Par-

tei, die ja mitgewirkt hat am gesellschaftlichen Grundkonsens der sozialen Marktwirtschaft. Leute wie Heiner Geißler und Norbert Blüm oder auch Rita Süssmuth und Hanna Renate Laurien, die man immer als Wertkonservative bezeichnet hat, waren für mich diejenigen, die wirklich mitten im Leben standen und mit denen beinahe immer eine Verständigung möglich gewesen wäre. Aber leider ist die CDU anfällig geworden für die soziale Kälte des Neoliberalismus, eine Tendenz zu kühler Modernisierung ist unverkennbar. Wohin die CDU schließlich gehen wird, das muss sie selber wissen und entscheiden, da habe ich keine Ratschläge zu geben. Ihr gegenüber Profil zu wahren, sollte eigentlich keine Schwierigkeit sein, auch nicht in einer großen Koalition. Unser Verhältnis zur PDS ist schwerer zu definieren als zur CDU. Wir beziehen uns, wenigstens subjektiv, auf dieselbe Tradition und nehmen vergleichbare Positionen ein. Wir können nicht einfach nur sagen, dort sammeln sich die Ewiggestrigen, die geistig immer noch in der DDR leben. Das ist zwar teilweise richtig, aber nicht die ganze Wahrheit, da wir ja sehen, dass immer öfter junge Menschen sich dieser Partei zuwenden, die die DDR bewusst nicht mehr erlebt haben. Für große Teile der Bevölkerung bei uns ist die PDS eine ganz normale Partei, nicht mehr vorwiegend ein altes Erbstück des „realen Sozialismus“. Das wird im Westen immer noch ganz anders gesehen. Außerdem beobachten

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wir, mit durchaus gemischter Freude, wie die PDS langsam die Haut der grundsätzlichen sozialistischen Utopie abstreift und sich als soziale Reformpartei gibt. Im Programmatischen nähert sich die PDS uns an, wobei sie jetzt mit Vorliebe unsere alten Texte abschreibt. Ihre Parolen sind immer wortradikaler als unsere, denn wir sind durch Jahrzehnte politischer Verantwortung vorsichtiger und zurückhaltender, weil wir wissen, wie sehr die Dinge zusammenhängen und was geht und was nicht. Würden wir versuchen, die PDS in der Höhe der Forderungen zu übertreffen, wären wir schon von vornherein unglaubwürdig. Das Feld der Auseinandersetzung muss demnach das Politische sein und nicht das Programmatische. Wer schafft tatsächlich eine Wende zum Besseren? Wer kann Mehrheiten um sich scharen? Wer kann Ideen und Visionen mit Realismus verbinden? Wer hat in seinen Reihen Frauen und Männer, denen die Mehrheit vertrauen kann, dass sie sowohl prinzipientreu sind als auch durchsetzungsstark, auch wenn die Wege länger sind als auf den vereinfachten Landkarten der PDS. Hier haben wir gute Voraussetzungen, um mit der PDS zu konkurrieren. Es kommt auf das Handeln an, nicht auf das Reden.

Steigende Unternehmensgewinne, expandierende Finanzmärkte und eine Einkommensund Vermögensverteilung, bei der niedrige Einkommen längst von der Wohlstandsentwick-

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lung abgehängt wurden kennzeichnen das Bild Deutschlands. Wo findet man noch den Sozialstaatsgedanken oder gar das Bild einer sozialen Marktwirtschaft in der aktuellen Wirtschaftspolitik? Also ich habe nichts dagegen, dass einer seine Million verdient und dafür im eigenen Swimmingpool planscht, wenn er das erarbeitet hat und es nicht auf Kosten anderer geht. Das ist nur nicht meine Welt. Ich halte es aber für verkehrt, die bundesrepublikanische Wirklichkeit nur so darzustellen, dass die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer werden. Man muss die Situation nicht überzeichnen, es ist auch so schlimm genug, dass es in einer derart reichen Gesellschaft überhaupt Armut gibt. Meine Sorge ist, dass wir im Zuge der Globalisierung zulassen, dass soziale Schutzmechanismen demontiert werden, die gerade die Sozialdemokratie in langen Kämpfen aufgebaut hat. Dazu zählt die solidarische Kranken-, Arbeitslosen- und Rentenversicherung, dazu zählt die Tarifgebundenheit, dazu zählt der Arbeitsschutz und seine Institutionen, dazu gehört die Versorgung von Erwerbsunfähigen und die Sozialhilfe. Auch nur eine geringe Perforation dieser Schutzwälle kann ausreichen, unser System der sozialen Marktwirtschaft hinwegzuspülen. Noch steht es, aber es gibt mächtige Kräfte, die die Messer wetzen. Viele von uns nehmen diese Gefahr nicht so richtig wahr, weil das System


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schon so lange besteht und sich keiner richtig vorstellen kann, dass es bedroht sein könnte. Aber es ist bedroht. Deshalb wäre es auch kein bloßer Betriebsunfall, wenn diese Bundesregierung scheitert. Die Folgen wären unabsehbar. Dann würde die Verantwortung für dieses System wieder auf den Schultern der CDU liegen, und ich bin nicht sicher, ob sie damit besser umginge, als beim letzten Mal die soziale Demontage von 16 Jahren Kohl-Regierung.

In Westdeutschland verstand die SPD jahrzehntelang unter „Sozialer Gerechtigkeit“ die Umverteilung der Einkommen und Vermögen von oben nach unten und gleiche Bildungschancen für alle. Chancengleichheit beim Zugang zu Bildungsmöglichkeiten ist in Westund Ostdeutschland gesellschaftlicher Konsens und weitgehend erreicht. Ganz anders sieht es bei der Vermögens- und Einkommensentwicklung aus. Unter globalisierten Marktbedingungen war schon in Westdeutschland in den letzten 20 Jahren eine Einkommensbzw. Vermögensumverteilung nicht möglich und unter der Kohl-Regierung auch nicht gewünscht. Ist nicht vor diesem Hintergrund die weitergehende Umverteilung von West nach Ost pures Wunschdenken? Also ich hab das ja nun aus der Warte eines DDR-Bürgers beobachtet und hatte nicht unbedingt den Eindruck, dass in der Bundesrepublik Vermögens- und Einkommensunterschiede allzu sehr eingeebnet worden sind, auch nicht in Zeiten von Willy Brandt und Helmut

Schmidt. Eigentum ist in der Bundesrepublik auch heute noch kein Verbrechen. Es gibt natürlich die Steuerprogression und die Abschöpfung von Vermögensgewinnen und die Erbschaftssteuer. Daraus ist aber keine soziale Egalité geworden. Wenn jetzt Schröder und Eichel den Versuch wagen, die Steuersätze zu senken - Spitzensteuersatz wie Eingangssteuersatz - dann wird an der allgemeinen Umverteilungsphilosophie nichts geändert und das Prinzip der Gerechtigkeit bleibt gewahrt, dass der, der mehr hat, auch mehr herangezogen wird. Was nun die Umverteilung von West nach Ost anlangt, so haben Kohl und Waigel einen schlimmen Fehler begangen, der wie ein Bleigewicht auf Gegenwart und Zukunft liegt: Wenn man von der minimalen Solidaritätsabgabe absieht, wurden die Folgen der deutschen Einheit auf Pump bezahlt. Statt dem Wähler zu sagen, das wird teuer und verlangt Opfer, haben sie gesagt, das bezahlen wir aus der Portokasse. 1990 hätten die Menschen das verstanden, ihren Beitrag geleistet und das Opfer erbracht. Das große Jubelfest der deutschen Einheit ist nun vorbei. Zehn Jahre später ist die Bereitschaft zu Opfern gesunken. Sie ist nicht auf Null, aber wir müssen jetzt sehr genau begründen, wenn wir weiterhin Anspruch auf Transferleistungen anmelden.

Die Grundlage von Gerechtigkeit ist eine Theorie der Moral und der gerechten Praxis. Ge-

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rechtigkeit wird aber subjektiv empfunden, soll aber objektiv - für alle Menschen gleich nachvollziehbar - verwirklicht werden. Wie kann eine Theorie der Moral und der gerechten Praxis aussehen, die unabhängig von weltanschaulichen und religiösen Prämissen praktisch funktioniert und gleichzeitig die Unterschiedlichkeit der Menschen respektiert? Diese Art zu fragen rührt mehr auf, als man im Rahmen eines Interviews beantworten kann. Ich bin nicht ganz sicher, ob man für Gerechtigkeit erst eine Theorie der Gerechtigkeit braucht. Mir scheint, dass Gerechtigkeit ein universelles Prinzip ist und den Menschen überall vertraut, egal welcher Religion oder Weltanschauung sie anhängen. Nur Hitler war es gelungen, eine verbrecherische Moral des Sozialdarwinismus gesellschaftlich zu etablieren - mit fürchterlichen Folgen. Ich hoffe, das war abschreckend genug. Wer daher kommt und einer prinzipiellen Ungerechtigkeit das Wort redet, der ist für mich ein Gegner. Ich hoffe, dass sich alle wesentlichen Parteien der Bundesrepublik darüber einig sind. Zum zweiten Teil der Frage: Im praktischen Leben geht es ja nicht um eine Theorie von Gerechtigkeit, von der sich dann privates oder politisches Handeln ableiten lässt, sondern um verkörperte Gerechtigkeit, über die wir nicht erst nachdenken müssen, um sie walten zu lassen. Die beste Möglichkeit, Gerechtigkeit zu verbreiten, besteht darin, gerecht zu handeln.

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Nehmen wir ein Beispiel: Es gibt Menschen, die keine Kinder haben und auch keine wollen. Trotzdem müssen sie durch ihre Steuern dazu beitragen, dass der Staat mit dem Mittel des Kindergeldes und der Kinderfreibeträge das Leben mit Kindern unterstützt. Kinder sind wesentlich für die Gesellschaft und alle müssen daher zu ihrem Unterhalt beitragen. Die Hauptlast verbleibt ohnehin bei den Eltern.

Sozialpsychologische Studien belegen, dass das subjektive Gerechtigkeitsempfinden einem Lernprozess unterliegt (analog der Sprachentwicklung von Kindern), der gefördert, gehemmt und entwickelt werden kann. Was kann Politik leisten, um ein differenziertes Gerechtigkeitsdenken der Menschen zu unterstützen und zu bewirken? Es ist wirklich selten, dass man nach der sozialpädagogischen Rolle von Politik gefragt wird, gratuliere. Im Moment ist diese Frage etwas außerirdisch, denn die Republik diskutiert über schwarze Schafe in der Politik, deren Wirkung verheerend ist. An dieser Diskussion ist alles ambivalent. In einer Demokratie ist es so, dass Politiker keine eigene Kaste bilden, sondern sie sind Mitglieder der gleichen Gesellschaft, die sie vertreten. Sie haben die gleichen Stärken und Schwächen, die gleichen Tugenden und Fehler. Fast keiner ist nur gut oder nur schlecht, fast alle können beides sein. Obwohl das so ist, werden an Politiker


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hohe moralische Maßstäbe angelegt. Vergehen wie Steuerhinterziehung oder Vorteilsnahme gelten hingegen in Teilen der Bevölkerung als Kavaliersdelikt (Schwarzarbeit ist Steuerhinterziehung!) Ich sage das nicht, um schwarze Schafe zu entschuldigen, sondern um auf eine Art von doppelter Moral hinzuweisen, die ein vorzügliches moralisches Verhalten von Politikern längst nicht zum Maßstab für eigenes Verhalten macht. Wenn also gutes Beispiel nicht wirkt, dann fällt mir nichts ein, was wirken könnte.

Die soziale Komponente der Gerechtigkeit lässt sich schwer beschreiben. Als Gutverdienender kann ich sagen: Ich zahle zwar viel Steuern und Abgaben, doch ich sehe, dass viele Menschen Arbeitslos, Rentner und Sozialhilfeempfänger sind und ein menschenwürdiges Einkommen benötigen. Ich kann aber auch sagen: Jeder ist seines Glückes’ Schmied, ich habe für meine Rente und den Fall der Fälle vorgesorgt, die gesellschaftlichen Looser interessieren mich nicht. Kann Politik diese konträren Positionen vereinen? So, wie die Frage lautet, wahrscheinlich nicht, weil nur die extremen Pole dargestellt wurden: Hie Egoismus, hie Solidarität, und nun Politik, vereinige mal. So ist doch das Leben nicht. Man muss auch für sich selber sorgen können, wenn man für andere sorgen will. Wirksame Nächstenliebe setzt auch Eigenliebe voraus. Die Dinge sind näher beieinander, als die Sprache auszudrücken erlaubt. Und die Abstufungen sehr vielfäl-

tig. Nur dem extremen Egoismus muss die Politik entgegentreten, weil er unsere Lebensgrundlage bedrohen würde, wenn man ihn ließe. Er kommt zum Glück auch nur sehr selten vor. Was die Renten anlangt, kann ich keinen Grund sehen zu diesem EntwederOder. Eine kapitalgedeckte Rente war nach dem Krieg nicht möglich, weil kein Kapital mehr da war. Deswegen im Westen der Generationenvertrag, dass die Jungen die Alten finanzieren. Inzwischen haben wir diese ungünstige demographische Entwicklung, so dass immer mehr Alte von immer weniger Jungen getragen werden müssen. Das kann nicht gut gehen. Es sollte nicht als Egoismus abgestempelt werden, wenn die jüngeren Menschen nicht immer mehr Rentenbeiträge zahlen wollen. Sie wollen heiraten, vielleicht Kinder großziehen oder sogar ein Haus bauen, dafür arbeiten sie und das muss doch dann auch möglich sein. Also bremsen wir etwas den Rentenanstieg und setzen eine private Zusatzvorsorge drauf, oder, wie die Union das will, führen in die Rentenformel einen demographischen Faktor ein. Es bleibt aber beim Generationenvertrag. Beide Seiten machen etwas Abstriche, aber es bleibt bei der Solidarität. Die Rentner werden nicht enteignet. Den Jungen wird nicht total das Fell über die Ohren gezogen. Beide können sich nach wie vor in die Augen sehen.

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Die bisher Sozialpolitik wird von Kritikern als zu etatistisch beschrieben. Der Vorwurf lautet: Die Empfänger sozialstaatlicher Leistungen werden vom Staat bevormundet und schließlich zu Abhängigen des Staates. Wie beurteilen Sie diesen Vorwurf wie kann sozialdemokratische Politik stärken die Eigenverantwortung von Leistungsempfängern stärken?

System trotz Reformen immer noch viel etatistischer als unseres. Trotzdem ist dort die Arbeitslosigkeit wieder auf fünf Prozent gesunken und der Staatshaushalt erwirtschaftet Überschüsse. Davon, dass der Staat mit seiner Umverteilung und Fürsorge die Gesellschaft erdrosselt, kann dort offenbar keine Rede sein. Warum also bei uns diese Panikmache?

Ob zu etatistisch oder nicht: Es gab und gibt für diese Politik breite Mehrheiten. Sie ist der schon benannte Grundkonsens der Bundesrepublik. Für uns aus dem Osten war es extrem attraktiv zu sehen, wie sich jenseits der Mauer persönliche Freiheit und Eigenverantwortung mit sozialer Gerechtigkeit verbunden hatten. Wenn ich an Etatismus denke, dann immer an die DDR, deren Sorge und „Liebe“ allumfassend war.

Wenn es darum geht, die Leistungskraft der Gesellschaft zu stärken, dann müssen wir eher über Bildungspolitik reden, aber das ist ja hier nicht unser Thema. Die aktive Arbeitsmarktpolitik hat genau dies zum Ziel: Arbeitslose fortbilden und in nützlicher Tätigkeit halten. Das stärkt die individuelle wie die gesellschaftliche Leistungskraft.

Nun zu den sogenannten Leistungsempfängern. In diesem Wort schwingt ja unterschwellig mit, dass der Leistungsempfänger irgendwie nassauert und am Mark der Gesellschaft zehrt, ohne etwas einzubringen. Es ist aber hier in erster Linie von Arbeitslosen die Rede, und Arbeitslose haben in unserer Gesellschaft Rechte, die sie durch frühere Beteiligung an der Arbeitslosenversicherung erworben haben. Ich hoffe doch, dass wir Sozialdemokraten weiter für diese Rechte streiten in einer Zeit, in der das Recht auf Arbeit und Teilhabe löchrig geworden ist. Im Übrigen ist das schwedische soziale

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In der aktuellen sozialpolitischen Debatte wird von den Modernisierern auf stärkeres bürgerschaftliches Engagement gesetzt. Dies unterstellt eine funktionierende Zivilgesellschaft, die bisherige staatliche Aufgaben durch ein hohes Maß an Eigenverantwortung und Selbstorganisation ersetzt. Was kann Politik insbesondere in Ostdeutschland leisten, um bürgerschaftliches Engagement zu stärken und damit eine Zivilgesellschaft zu entwickeln? Eine Zivilgesellschaft beruht auf gegenseitigem Vertrauen und gegenseitiger Verantwortung, ohne dass der Staat sich immer einschalten muss. Hier bei uns im Osten gibt es aber eher Misstrauen, und zwar aus Erfahrung. Hier sind nach


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der Wende jede Menge Unternehmer aus dem Westen aufgetreten, die offenbar unbedingt das Bild des Kapitalismus bestätigen wollten, wie man es uns in Staatsbürgerkunde beigebracht hatte: kalt, egoistisch, rücksichtslos. Da war der Staat mit seiner Schutzfunktion ein Segen, ja er wurde sogar noch als zu schwach und hilflos empfunden. Wenn wir hier alle die Erfahrung hätten, dass der Unternehmer auch Bürger ist, der sich für öffentliche Angelegenheiten engagiert und seine Tatkraft und vielleicht auch sein Vermögen zur Verfügung stellt, die öffentlichen Angelegenheiten zu bessern, dann wären wir der Zivilgesellschaft ein großes Stück näher ge-

kommen. Solange aber dieses Misstrauen herrscht, bleibt der Staat in seiner Funktion, die Schwachen zu schützen. Die Starken helfen sich schon selber. Die neue Bundesregierung ist angetreten, wieder mehr Vertrauen in die Gesellschaft zu bringen. Das ist der Sinn des Bündnisses für Arbeit. Seine Aufgabe ist, um mit Johannes Rau zu sprechen, zu versöhnen, statt zu spalten. Vertrauen schüfe ein neues Klima des Aufbruches in Deutschland, das wir dringend brauchen. In anderen Ländern ging es auch. Bei uns ist das offenbar schwerer, aber wir müssen am Ball bleiben.

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THEMA

DER WEG NACH VORNE FÜR EUROPAS SOZIALDEMOKRATEN Ein Vorschlag von Gerhard Schröder und Tony Blair In fast allen Ländern der Europäischen Union regieren Sozialdemokraten. Die Sozialdemokratie hat neue Zustimmung gefunden - aber nur , weil sie glaubwürdig begonnen hat, auf der Basis ihrer alten Werte ihre Zukunftsentwürfe zu erneuern und ihre Konzepte zu modernisieren. Sie hat neue Zustimmung auch gewonnen, weil sie nicht nur für soziale Gerechtigkeit, sondern auch für wirtschaftliche Dynamisierung und für die Freisetzung von Kreativität und Innovation steht. Markenzeichen dafür ist die „Neue Mitte“ in Deutschland, der „Dritte Weg“ im Vereinigten Königreich. Andere Sozialdemokraten wählen andere Begriffe, die zu ihrer eigenen politischen Kultur passen. Mögen Sprache und Institutionen sich unterscheiden: Die Motivation ist die gleiche. Die meisten Menschen teilen ihre Weltsicht längst nicht mehr nach dem Dogma von Links und Rechts ein. Die Sozialdemokraten müssen die Sprache dieser Menschen sprechen. Fairness, soziale Gerechtigkeit, Freiheit und Chancengleichheit, Solidarität und Verantwortung für andere: diese Werte

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sind zeitlos. Die Sozialdemokratie wird sie nie preisgeben. Um diese Werte für die heutigen Herausforderungen relevant zu machen, bedarf es realistischer und vorausschauender Politik, die in der Lage ist, die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts zu erkennen. Modernisierung der Politik bedeutet nicht, auf Meinungsumfragen zu reagieren, sondern es bedeutet, sich an objektiv veränderte Bedingungen anzupassen. Wir müssen unsere Politik in einem neuen, auf den heutigen Stand gebrachten wirtschaftlichen Rahmen betreiben, innerhalb dessen der Staat die Wirtschaft nach Kräften fördert, sich aber nie als Ersatz für die Wirtschaft betrachtet. Die Steuerungsfunktion von Märkten muss durch die Politik ergänzt und verbessert, nicht aber behindert werden. Wir unterstützen eine Marktwirtschaft, nicht aber eine Marktgesellschaft! Wir teilen ein gemeinsames Schicksal in der Europäischen Union. Wir stehen den gleichen Herausforderungen gegenüber: Arbeitsplätze und Wohlstand fördern, jedem einzelnen Individuum die Möglichkeit bieten, seine eigenen Po-


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tentiale zu entwickeln, soziale Ausgrenzung und Armut bekämpfen; materiellen Fortschritt, ökologische Nachhaltigkeit und unsere Verantwortung für zukünftige Generationen miteinander vereinbaren; Probleme wie Drogen und Kriminalität, die den Zusammenhalt unserer Gesellschaften bedrohen, wirksam bekämpfen und Europa zu einem attraktiven Modell in der Welt machen. Wir müssen unsere Politik stärken, indem wir unsere Erfahrungen zwischen Großbritannien und Deutschland austauschen, aber auch mit den Gleichgesinnten in Europa und der übrigen Welt. Wir müssen voneinander lernen und uns an der besten Praxis und Erfahrung in anderen Ländern messen. Mit diesem Appell wollen wir die anderen sozialdemokratisch geführten Regierungen Europas, die unsere Modernisierungsziele teilen, einladen, sich an unserer Diskussion zu beteiligen.

I. Aus Erfahrung lernen Obgleich Sozialdemokraten und Labour Party eindrucksvoll historische Errungenschaften vorweisen können, müssen wir heute realitätstaugliche Antworten auf neue Herausforderungen in Gesellschaft und Ökonomie entwickeln. Dies erfordert Treue zu unseren Werten, aber Bereitschaft zum Wandel der alten Mittel und traditionellen Instrumente. In der Vergangenheit wurde die För-

derung der sozialen Gerechtigkeit manchmal mit der Forderung nach Gleichheit im Ergebnis verwechselt. Letztlich wurde damit die Bedeutung von eigener Anstrengung und Verantwortung ignoriert und nicht belohnt und die soziale Demokratie mit Konformität und Mittelmäßigkeit verbunden statt mit Kreativität, Diversität und herausragender Leistung. Einseitig wurde die Arbeit immer höher mit Kosten belastet. Der Weg zur sozialen Gerechtigkeit war mit immer höheren öffentlichen Ausgaben gepflastert, ohne Rücksicht auf Ergebnisse oder die Wirkung der hohen Steuerlast auf Wettbewerbsfähigkeit, Beschäftigung oder private Ausgaben. Qualitätvolle soziale Dienstleistungen sind ein zentrales Anliegen der Sozialdemokraten, aber soziale Gerechtigkeit lässt sich nicht an der Höhe der öffentlichen Ausgaben messen. Der wirkliche Test für die Gesellschaft ist, wie effizient diese Ausgaben genutzt werden und inwieweit sie die Menschen in die Lage versetzen, sich selbst zu helfen. Die Ansicht, dass der Staat schädliches Marktversagen korrigieren müsse, führte allzuoft zur überproportionalen Ausweitung von Verwaltung und Bürokratie, im Rahmen sozialdemokratischer Politik. Wir haben Werte, die den Bürgern wichtig sind - wie persönliche Leistung und Erfolg, Unternehmergeist, Eigenverantwortung und Gemeinsinn - zu häufig zurückgestellt hinter universel-

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les Sicherungsstreben. Allzu oft wurden Rechte höher bewertet als Pflichten. Aber die Verantwortung des einzelnen in Familie, Nachbarschaft und Gesellschaft kann nicht an den Staat delegiert werden. Geht der Gedanke der gegenseitigen Verantwortung verloren, so führt dies zum Verfall des Gemeinsinns, zu mangelnder Verantwortung gegenüber Nachbarn, zu steigender Kriminalität und Vandalismus und einer Überlastung des Rechtssystems. Die Fähigkeit der nationalen Politik zur Feinsteuerung der Wirtschaft hinsichtlich der Schaffung von Wachstum und Arbeitsplätzen wurde über-, die Bedeutung des einzelnen und der Wirtschaft bei der Schaffung von Wohlstand unterschätzt. Die Schwächen der Märkte wurden über-, ihre Stärken unterschätzt.

II. Neue Konzepte für veränderte Realitäten Das Verständnis dessen, was „links“ ist, darf nicht ideologisch einengen. Die Politik der Neuen Mitte und des Dritten Weges richtet sich an den Problemen der Menschen aus, die mit dem raschen Wandel der Gesellschaften leben und zurechtkommen müssen. In dieser neu entstehenden Welt wollen die Menschen Politiker, die Fragen ohne

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ideologische Vorbedingungen angehen und unter Anwendung ihrer Werte und Prinzipien nach praktischen Lösungen für ihre Probleme suchen, mit Hilfe aufrichtiger, wohl konstruierter und pragmatischer Politik. Wähler, die in ihrem täglichen Leben Initiative und Anpassungsfähigkeit im Hinblick auf die wirtschaftlichen und sozialen Veränderungen beweisen müssen, erwarten das gleiche von ihren Regierungen und ihren Politikern. In einer Welt immer rascherer Globalisierung und wissenschaftlicher Veränderungen müssen wir Bedingungen schaffen, in denen bestehende Unternehmen prosperieren und sich entwikkeln und neue Unternehmen entstehen und wachsen können. Neue Technologien ziehen radikale Veränderungen der Arbeit sowie eine Internationalisierung der Produktion nach sich. Einerseits führen sie dazu, dass Fertigkeiten verlorengehen und einige Wirtschaftszweige schrumpfen, andererseits fördern sie die Entstehung neuer Unternehmen und Tätigkeiten. Daher besteht die wichtigste Aufgabe der Modernisierung darin, in Humankapital zu investieren, um sowohl den einzelnen als auch die Unternehmen auf die wissensgestützte Wirtschaft der Zukunft vorzubereiten. Ein einziger Arbeitsplatz fürs ganze Leben ist Vergangenheit. Sozialdemokraten müssen den wachsenden Anfor-


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derungen an die Flexibilität gerecht werden und gleichzeitig soziale Mindestnormen aufrechterhalten, Familien bei der Bewältigung des Wandels helfen und Chancen für die eröffnen, die nicht Schritt halten können. Wir stehen zunehmend vor der Herausforderung, umweltpolitische Verantwortung gegenüber künftigen Generationen mit materiellem Fortschritt für die Breite der Gesellschaft zu vereinbaren. Wir müssen Verantwortung für die Umwelt mit einem modernen, marktwirtschaftlichen Ansatz verbinden. Was den Umweltschutz anbelangt, so verbrauchen die neuesten Technologien weniger Ressourcen, eröffnen neue Märkte und schaffen Arbeitsplätze. Die Höhe der Staatsausgaben hat trotz einiger Unterschiede mehr oder weniger die Grenzen der Akzeptanz erreicht. Die notwendige Kürzung der staatlichen Ausgaben erfordert eine radikale Modernisierung des öffentlichen Sektors und eine Leistungssteigerung und Strukturreform der öffentlichen Verwaltung. Der öffentliche Dienst muss den Bürgern tatsächlich dienen: Wir werden daher nicht zögern, Effizienz-, Wettbewerbsund Leistungsdenken einzuführen. Die sozialen Sicherungssysteme müssen sich den Veränderungen in der Lebenserwartung, der Familienstruktur und der Rolle der Frauen anpassen. Sozialdemokraten müssen Wege finden,

die immer drängenderen Probleme von Kriminalität, sozialem Zerfall und Drogenmissbrauch zu bekämpfen. Wir müssen uns an die Spitze stellen, wenn es darum geht, eine Gesellschaft mit gleichen Rechten und Chancen für Frauen und Männer zu schaffen. Armut, insbesondere unter Familien mit Kindern, bleibt ein zentrales Problem. Wir brauchen gezielte Maßnahmen für die, die am meisten von Marginalisierung und sozialer Ausgrenzung bedroht sind. Die Kriminalität ist ein zentrales politisches Thema für die moderne Sozialdemokraten: So verstehen wir Sicherheit auf den Straßen als ein Bürgerrecht. Und: Eine Politik für lebenswerte Städte fördert Gemeinsinn, schafft Arbeit und macht die Wohnviertel sicherer. All dies erfordert auch einen modernen Ansatz des Regierens. Der Staat soll nicht rudern, sondern steuern, weniger kontrollieren als herausfordern. Problemlösungen müssen vernetzt werden. Innerhalb des öffentlichen Sektors muss es darum gehen, Bürokratie auf allen Ebenen abzubauen, Leistungsziele zu formulieren, die Qualität öffentlicher Dienste rigoros zu überwachen und

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schlechte Leistungen auszumerzen. Moderne Sozialdemokraten lösen Probleme, wo sie sich am besten lösen lassen. Einige Probleme lassen sich jetzt nur noch auf europäischer Ebene lösen. Andere, wie die jüngsten Finanzkrisen, erfordern eine stärkere internationale Zusammenarbeit. Im Grundsatz sollte jedoch gelten, dass Machtbefugnisse an die niedrigstmögliche Ebene delegiert werden. Wenn die neue Politik gelingen soll, muss sie eine Aufbruchstimmung und einen neuen Unternehmergeist auf allen Ebenen der Gesellschaft fördern. Dies erfordert: kompetente und gut ausgebildete Arbeitnehmer, die willens und bereit sind, neue Verantwortung zu übernehmen. Ein Sozialsystem, das Initiative und Kreativität fördert und neue Spielräume öffnet; Ein positives Klima für unternehmerische Selbständigkeit und Initiative. Kleine Unternehmen müssen leichter zu gründen sein und überlebensfähiger werden; Wir wollen eine Gesellschaft, die erfolgreiche Unternehmer ebenso positiv bestätigt wie erfolgreiche Künstler und Fußballspieler und die Kreativität in allen Lebensbereichen zu schätzen weiß.

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Unsere Staaten haben unterschiedliche Traditionen im Umgang zwischen Staat, Industrie, Gewerkschaften und gesellschaftlichen Gruppen, aber wir alle teilen die Überzeugung, dass die traditionellen Konflikte am Arbeitsplatz überwunden werden müssen. Dazu gehört vor allem, die Bereitschaft und die Fähigkeit der Gesellschaft zum Dialog und zum Konsens wieder neu zu gewinnen und zu stärken. Wir wollen allen Gruppen ein Angebot unterbreiten, sich in die gemeinsame Verantwortung für das Gemeinwohl einzubringen. In Deutschland hat die neue sozialdemokratische Regierung deshalb sofort nach Amtsantritt Spitzenvertreter von Politik, Wirtschaft und Gewerkschaften zu einem Bündnis für Arbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit um einen Tisch versammelt. Wir möchten wirkliche Partnerschaft bei der Arbeit, indem die Beschäftigten die Chance erhalten, die Früchte des Erfolgs mit den Unternehmern zu teilen. Wir wollen, dass die Gewerkschaften in der Modernen Welt verankert bleiben. Wir wollen, dass sie den einzelnen gegen Willkür schützen und in Kooperation mit den Arbeitgebern den Wandel gestalten und dauerhaften Wohlstand schaffen helfen. In Europa streben wir - unter dem Dach eines Europäischen Beschäfti-


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gungspaktes - einen fortlaufenden Dialog mit den Sozialpartnern an. Das befördert den notwendigen ökonomischen Wandel.

rung begegnen zu können, müssen die europäischen Sozialdemokraten gemeinsam eine neue angebotsorientierte Agenda für die Linke formulieren und umsetzen.

III. Eine neue angebotsorientierte Agenda für die Linke

Wir wollen den Sozialstaat modernisieren, nicht abschaffen. Wir wollen neue Wege der Solidarität und der Verantwortung für andere beschreiten, ohne die Motive für wirtschaftliche Aktivitäten auf puren Eigennutz zu gründen.

Europa sieht sich der Aufgabe gegenüber, den Herausforderungen der Weltwirtschaft zu begegnen und gleichzeitig den sozialen Zusammenhalt angesichts tatsächlicher oder subjektiv empfundener Ungewissheit zu wahren. Eine Zunahme der Beschäftigung und der Beschäftigungschancen ist die beste Garantie für eine in sich gefestigte Gesellschaft. Die beiden vergangenen Jahrzehnte des neoliberalen Laisser-faire sind vorüber. An ihre Stelle darf jedoch keine Renaissance des „deficit spending“ und massiver staatlicher Intervention im Stile der siebziger Jahre treten. Eine solche Politik führt heute in die falsche Richtung. Unsere Volkswirtschaften und die globalen Wirtschaftsbeziehungen haben einen radikalen Wandel erfahren. Neue Bedingungen und neue Realitäten erfordern eine Neubewertung alter Vorstellungen und die Entwicklung neuer Konzepte. In einem großen Teil Europas ist die Arbeitslosigkeit viel zu hoch, und ein großer Teil dieser Arbeitslosigkeit ist strukturell bedingt. Um dieser Herausforde-

Die wichtigsten Elemente dieses Ansatzes sind die folgenden: Ein robuster und wettbewerbsfähiger marktwirtschaftlicher Rahmen Wettbewerb auf den Produktmärkten und offener Handel sind von wesentlicher Bedeutung für die Stimulierung von Produktivität und Wachstum. Aus diesem Grund sind Rahmenbedingungen, unter denen ein einwandfreies Spiel der Marktkräfte möglich ist, entscheidend für wirtschaftlichen Erfolg und eine Vorbedingung für eine erfolgreichere Beschäftigungspolitik. Die EU sollte auch weiterhin als entschiedene Kraft für die Liberalisierung des Welthandels eintreten. Die EU sollte auf den Errungenschaften des Binnenmarktes aufbauen, um wirtschaftliche Rahmenbedingungen zu stärken, die das Produktivitätswachstum fördern.

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Eine auf die Förderung nachhaltigen Wachstums ausgerichtete Steuerpolitik In der Vergangenheit wurden Sozialdemokraten mit hohen Steuern, insbesondere Unternehmenssteuern, identifiziert. Moderne Sozialdemokraten erkennen an, dass Steuerreformen und Steuersenkungen unter den richtigen Umständen wesentlich dazu beitragen können, ihre übergeordneten gesellschaftlichen Ziele zu verwirklichen. So stärken Körperschaftssteuersenkungen die Rentabilität und schaffen Investitionsanreize. Höhere Investitionen wiederum erweitern die Wirtschaftstätigkeit und verstärken das Produktivpotential. Dies trägt zu einem positiven Dominoeffekt bei, durch den Wachstum die Ressourcen vermehrt, die für öffentliche Ausgaben für soziale Zwecke zur Verfügung stehen. Die Unternehmensbesteuerung sollte vereinfacht, und die Körperschaftssteuersätze sollten gesenkt werden, wie dies New Labour im Vereinigten Königreich getan hat und wie es die Bundesregierung plant. Um sicherzustellen, dass Arbeit sich lohnt, und um die Fairness des Steuersystems zu stärken, sollten Familien und Arbeitnehmer entlastet werden, wie dies in Deutschland (mit dem Steuerentlastungsgesetz) begonnen wurde - und mit der Einführung niedrigerer Eingangssteuersätze und dem Steuerkredit für

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arbeitende Familien in Großbritannien. Investitionsneigung und Investitionskraft der Unternehmen - insbesondere des Mittelstandes - sollten gestärkt werden, wie dies die sozialdemokratisch geführte Bundesregierung in Deutschland mit der Unternehmenssteuerreform beabsichtigt, und wie es die Reform der Kapitaleinkünfte und der Unternehmenssteuern in Großbritannien zeigt. Die Steuerbelastung von harter Arbeit und Unternehmertum sollte reduziert werden. Die Steuerbelastung insgesamt sollte neu ausbalanciert werden, zum Beispiel zu Lasten des Umweltverbrauchs. Deutschland, Großbritannien und andere sozialdemokratisch regierte Länder Europas gehen auf diesem Weg voran. Auf EU-Ebene sollte die Steuerpolitik energische Maßnahmen zur Bekämpfung des unlauteren Wettbewerbs und der Steuerflucht unterstützen. Dies erfordert bessere Zusammenarbeit, nicht Uniformität. Wir werden keine Maßnahmen unterstützen, die zu einer höheren Steuerlast führen und die Wettbewerbsfähigkeit und Arbeitsplätze in der EU gefährden. Angebots- und Nachfragepolitik gehören zusammen und sind keine Alternativen In der Vergangenheit haben Sozialdemokraten oft den Eindruck erweckt, Wachs-


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tum und eine hohe Beschäftigungsquote ließen sich durch eine erfolgreiche Steuerung der Nachfrage allein erreichen. Moderne Sozialdemokraten erkennen an, dass eine angebotsorientierte Politik eine zentrale und komplementäre Rolle zu spielen hat. In der heutigen Welt haben die meisten wirtschaftspolitischen Entscheidungen Auswirkungen sowohl auf Angebot als auch auf Nachfrage. Erfolgreiche Programme, die von der Sozialhilfe in die Beschäftigung führen, steigern das Einkommen der zuvor Beschäftigungslosen und verbessern das den Arbeitgebern zur Verfügung stehende Arbeitskräfteangebot. Moderne Wirtschaftspolitik strebt an, die Nettoeinkommen der Beschäftigten zu erhöhen und zugleich die Kosten der Arbeit für die Arbeitgeber zu senken. Deshalb hat die Senkung der gesetzlichen Lohnnebenkosten durch strukturelle Reformen der sozialen Sicherungssysteme und eine zukunftsorientierte, beschäftigungsfreundliche Steuer- und Abgabenstruktur besondere Bedeutung. Ziel sozialdemokratischer Politik ist es, den Scheinwiderspruch von Angebotsund Nachfragepolitik zugunsten eines fruchtbaren Miteinanders von mikroökonomischer Flexibilität und makroökonomischer Stabilität zu überwinden. Um in der heutigen Welt ein größeres Wachstum und mehr Arbeitsplätze zu er-

reichen, müssen Volkswirtschaften anpassungsfähig sein: Flexible Märkte sind ein modernes sozialdemokratisches Ziel. Makroökonomische Politik verfolgt noch immer einen wesentlichen Zweck: Sie will den Rahmen für stabiles Wachstum schaffen und extreme Konjunkturschwankungen vermeiden. Sozialdemokraten müssen aber erkennen, dass die Schaffung der richtigen makroökonomischen Bedingungen nicht ausreicht, um Wachstum zu stimulieren und mehr Arbeitsplätze zu schaffen. Veränderungen der Zinssätze oder der Steuerpolitik führen nicht zu verstärkter Investitionstätigkeit und zu mehr Beschäftigung, wenn nicht gleichzeitig die Angebotsseite der Wirtschaft anpassungsfähig genug ist, um zu reagieren. Um die europäische Wirtschaft dynamischer zu gestalten, müssen wir sie auch flexibler machen. Unternehmen müssen genügend Spielraum haben, um sich die verbesserten Wirtschaftsbedingungen zunutze zu machen und neue Chancen zu ergreifen: Sie dürfen nicht durch Regulierungen und Paragraphen erstickt werden. Die Produkt-, Kapital- und Arbeitsmärkte müssen allesamt flexibel sein: Wir dürfen nicht Rigidität in einem Teil des Wirtschaftssystems mit Offenheit und Dynamik in einem anderen verbinden.

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Anpassungsfähigkeit und Flexibilität stehen in der wissensgestützten Dienstleistungsgesellschaft in Zukunft immer höher im Kurs Unsere Volkswirtschaften befinden sich im Übergang von der industriellen Produktion zur wissensorientierten Dienstleistungsgesellschaft der Zukunft. Sozialdemokraten müssen die Chance ergreifen, die dieser wirtschaftlicher Umbruch mit sich bringt. Sie bietet Europa die Gelegenheit, zu den Vereinigten Staaten aufzuschließen. Sie eröffnet Millionen Menschen die Chance, neue Arbeitsplätze zu finden, neue Fähigkeiten zu erlernen, neue Berufe zu ergreifen, neue Unternehmen zu gründen und zu erweitern - kurzum, ihre Hoffnung auf eine bessere Zukunft zu verwirklichen. Sozialdemokraten müssen aber auch anerkennen, dass sich die Grundvoraussetzungen für wirtschaftlichen Erfolg verändert haben. Dienstleistungen kann man nicht auf Lager halten: Der Kunde nutzt sie, wie und wann er sie braucht - zu unterschiedlichen T ageszeiten, auch außerhalb der heute als üblich geltenden Arbeitszeit. Das rasche Vordringen des Informationszeitalters, insbesondere das enorme Potential des elektronischen Handels, verspricht, die Art, wie wir einkaufen, lernen, miteinander kommunizieren und uns entspannen, radikal zu verändern. Rigidität und Überregulierung sind ein Bremsklotz für die wissensorientierte Dienstleistungs-

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gesellschaft der Zukunft. Sie ersticken das Innovationspotential, das zur Schaffung neuen Wachstums und neuer Arbeitsplätze erforderlich ist. Wir brauchen nicht weniger, sondern mehr Flexibilität. Ein aktiver Staat in einer neuverstandenen Rolle hat einen zentralen Beitrag zur wirtschaftlichen Entwicklung zu leisten Moderne Sozialdemokraten sind keine Laisser-faire-Neoliberalen. Flexible Märkte müssen mit einer neu definierten Rolle für einen aktiven Staat kombiniert werden. Erste Priorität muss die Investition in menschliches und soziales Kapital sein. Wenn auf Dauer ein hoher Beschäftigungsstand erreicht werden soll, müssen Arbeitnehmer auf sich verändernde Anforderungen reagieren. Unsere Volkswirtschaften leiden an einer erheblichen Diskrepanz zwischen offenen Stellen, die nicht besetzt werden können (z.B. im Bereich Informations- und Kommunikationstechnologie), und (dem Mangel an) angemessen qualifizierten Bewerbern. Dies bedeutet, dass Bildung keine „einmalige“ Chance sein darf: Zugang und Nutzung zu Bildungsmöglichkeiten und lebenslanges Lernen stellen die wichtigste Form der Sicherheit in der modernen Welt dar. Die Regierungen sind deshalb dafür verantwortlich, einen Rahmen zu schaffen, der es den einzelnen ermög-


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licht, ihre Qualifikationen zu steigern und ihre Fähigkeiten auszuschöpfen. Dies muss heute für Sozialdemokraten höchste Priorität haben. Die Ausbildungsqualität auf allen Ebenen der schulischen Bildung und für jede Art von Begabung muss gesteigert werden: Wo Probleme bei Lesen, Schreiben und Rechnen bestehen, müssen diese behoben werden, da wir ansonsten Menschen zu einem Leben mit niedrigem Einkommen, Unsicherheit und Arbeitslosigkeit verurteilen. Wir wollen, dass jeder Jugendliche die Chance erhält, sich über eine qualifizierte Berufsausbildung den Weg in die Arbeitswelt zu bahnen. Im Dialog mit den Arbeitgebern, den Gewerkschaften und anderen müssen wir sicherstellen, dass Bildungschancen und eine ausreichende Zahl von Ausbildungsplätzen zur Verfügung gestellt und die Bedürfnisse der lokalen Arbeitsmärkte gedeckt werden. In Deutschland unterstützt die Politik dieses Vorhaben mit einem Sofortprogramm für Arbeit und Ausbildung, das 100.000 Jugendlichen einen neuen Job, eine Lehrstelle oder eine Qualifizierung vermittelt. In Großbritannien hat das „wefare to work“ - Programm es bereits 95.000 Jugendlichen ermöglicht, Arbeits- und Ausbildungsplätze zu finden. Wir müssen die nachschulische Aus-

bildung reformieren und ihre Qualität heben und gleichzeitig Bildungs- und Ausbildungsprogramme modernisieren, um Anpassungs- und Beschäftigungsfähigkeit im späteren Leben zu fördern. Dem Staat kommt die besondere Aufgabe zu, Anreize zur Bildung von Sparkapital zu setzen, um die Kosten des lebenslangen Lernens bestreiten zu können. Auch soll ein breiterer Bildungszugang durch die Förderung des Fernunterrichts geschaffen werden. Wir sollten sicherstellen, dass die Ausbildung eine wesentliche Rolle in unseren aktiven Arbeitsmarktpolitiken für Arbeitslose und die von Arbeitslosigkeit betroffenen Haushalte spielt. Eine moderne und effiziente öffentliche Infrastruktur einschließlich einer starken Wissenschaftsbasis ist ein wesentliches Merkmal einer dynamischen arbeitsplätzeschaffenden Wirtschaft. Es ist wichtig sicherzustellen, dass sich die öffentlichen Ausgaben in ihrer Zusammensetzung auf diejenigen Tätigkeiten konzentrieren, die dem Wachstum und der Förderung des notwendigen Strukturwandels am besten dienen. Moderne Sozialdemokraten müssen die Anwälte des Mittelstands sein Der Aufbau eines prosperierenden Mittelstands muss eine wichtige Priorität für moderne Sozialdemokraten sein. Hier liegt das größte Potential für neues

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Wachstum und neue Arbeitsplätze in der wissensgestützten Gesellschaft der Zukunft. Menschen unterschiedlichster Herkunft wollen sich selbständig machen: Seit langem etablierte und neue Unternehmer, Anwälte, Computerexperten, Ärzte, Handwerker, Unternehmensberater, Kulturschaffende und Sportler. Ihnen muss man den Spielraum lassen, wirtschaftliche Initiative zu entwickeln und neue Geschäftsideen zu kreieren. Sie müssen zur Risikobereitschaft ermutigt werden. Gleichzeitig muss man ihre Belastungen verringern. Ihre Märkte und ihr Ehrgeiz dürfen nicht durch Grenzen behindert werden. Europas Kapitalmärkte sollten geöffnet werden, damit Unternehmen und Unternehmer leichten Zugang zu Finanzierungsquellen erhalten. Wir wollen gemeinsam daran arbeiten, sicherzustellen dass High-Tech-Firmen im Wachstum denselben Zugang zu den Kapitalmärkten erhalten wie ihre Konkurrenten. Wir sollten es dem einzelnen leicht machen, Unternehmen zu gründen, und neuen Firmengründungen sollten wir Wege bahnen, indem wir Kleinunternehmen von administrativen Belastungen befreien und ihren Zugang zu Finanzierungsmöglichkeiten erweitern. Wir sollten es Kleinunternehmen im besonderen erleichtern, neues Personal einzustellen: Dies bedeutet, die Regulierungslast zu verringern und die Lohn-

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nebenkosten zu senken. Die Verbindungen zwischen Wirtschaft und Wissenschaft sollten gestärkt werden, um mehr unternehmerische Nebeneffekte („spin offs“) aus der Forschung und die Förderung der Konzentration („clusters“) neuer High-Tech-Industrien zu gewährleisten. Gesunde öffentliche Finanzen sollten zum Gegenstand des Stolzes für Sozialdemokraten werden In der Vergangenheit wurde sozialdemokratische Politik allzu oft assoziiert mit der Einstellung, dass der beste Weg zur Förderung von Beschäftigung und Wachstum die Ausdehnung der öffentlichen Verschuldung zum Zweck höherer öffentlicher Ausgaben sei. Für uns ist öffentliche Verschuldung nicht generell abzulehnen - während eines zyklischen Abschwungs kann es Sinn machen, die automatischen Stabilisatoren arbeiten zu lassen. Und Verschuldung mit dem Ziel höherer öffentlicher Investitionen, in strikter Beachtung der „goldenen Regel“, kann eine wichtige Rolle in der Stärkung der Angebotsseite der Ökonomie spielen. Aber „Defizit Spending“ kann nicht genutzt werden, um strukturelle Schwächen in der Ökonomie zu beseitigen, die schnelleres Wachstum und höhere Beschäftigung verhindern. Sozialdemokraten dürfen deshalb exzessive Staatsverschuldung nicht tolerieren. Wachsende


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Verschuldung stellt eine unfaire Belastung kommender Generationen dar. Sie kann unwillkommene Verteilungseffekte haben. Und schließlich ist Geld, das zum Schuldendienst eingesetzt werden muss, nicht mehr für andere Prioritäten verfügbar, einschließlich höherer Investitionen in Bildung, Ausbildung und Infrastruktur.

IV. Eine aktive Arbeitsmarktpolitik für die Linke Der Staat muss die Beschäftigung aktiv fördern und nicht nur passiver Versorger der Opfer wirtschaftlichen Versagens sein. Menschen, die nie gearbeitet haben oder schon lange arbeitslos sind, verlieren die Fertigkeiten, die sie brauchen, um auf dem Arbeitsmarkt konkurrieren zu können. Langzeitarbeitslosigkeit beeinträchtigt die persönlichen Lebenschancen auch in anderer Weise und macht die uneingeschränkte gesellschaftliche Teilhabe schwieriger. Ein Sozialversicherungssystem, das die Fähigkeit, Arbeit zu finden, behindert, muss reformiert werden. Moderne Sozialdemokraten wollen das Sicherheitsnetz aus Ansprüchen in ein Sprungbrett in die Eigenverantwortung umwandeln. Für unsere Gesellschaften besteht der Imperativ der sozialen Gerechtigkeit aus mehr als der Verteilung von Geld.

Unser Ziel ist eine Ausweitung der Chancengleichheit, unabhängig von Geschlecht, Rasse, Alter oder Behinderung - um sozialen Ausschluss zu bekämpfen und die Gleichheit zwischen Mann und Frau sicherzustellen. Die Menschen verlangen zu Recht nach hochwertigen Dienstleistungen und Solidarität für alle, die Hilfe brauchen aber auch nach Fairness gegenüber denen, die das bezahlen. Alle sozialpolitischen Instrumente müssen Lebenschancen verbessern, Selbsthilfe anregen, Eigenverantwortung fördern. Mit diesem Ziel wird in Deutschland das Gesundheitssystem ebenso wie das System der Alterssicherung umfassend modernisiert, indem beide auf die Veränderungen in der Lebenserwartung und die sich verändernden Erwerbsbiografien eingestellt werden, ohne den Grundsatz der Solidarität dabei preiszugeben. Derselbe Gedanke stand im Hintergrund bei der Einführung der „Stakeholder Pensions“ und der Reform der Erwerbsunfähigkeitszahlungen in Großbritannien. Zeiten der Arbeitslosigkeit müssen in einer Wirtschaft, in der es den lebenslangen Arbeitsplatz nicht mehr gibt, eine Chance für Qualifizierung und persönliche Weiterbildung sein. Teilzeitarbeit und geringfügige Arbeit sind besser als gar keine Arbeit, denn sie erleichtern den Übergang von Arbeitslosigkeit in Beschäftigung.

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Eine neue Politik mit dem Ziel, arbeitslosen Menschen Arbeitsplätze und Ausbildung anzubieten, ist eine sozialdemokratische Priorität - wir erwarten aber auch, dass jeder die ihm gebotenen Chancen annimmt. Es reicht aber nicht, die Menschen mit den Fähigkeiten und Kenntnissen auszurüsten, die sie brauchen, um erwerbstätig zu werden. Das System der Steuern und Sozialleistungen muss sicherstellen, dass es im Interesse der Menschen liegt, zu arbeiten. Ein gestrafftes und modernisiertes Steuer- und Sozialleistungssystem ist eine wesentliche Komponente der aktiven, angebotsorientierten Arbeitsmarktpolitik der Linken. Wir müssen: dafür sorgen, dass sich Arbeit für den einzelnen und die Familie lohnt. Der größte Teil des Einkommens muss in den Taschen derer verbleiben, die dafür gearbeitet haben; Arbeitgeber durch den gezielten Einsatz von Subventionen für geringfügige Beschäftigung und die Verringerung der Steuer- und Sozialabgabenlast auf geringfügige Beschäftigungsverhältnisse ermutigen, „Einstiegsjobs“ in den Arbeitsmarkt anzubieten. Wir müssen ausloten, wieviel Spielraum es gibt, die Belastung durch Lohnnebenkosten mit Hilfe von Umweltsteuern zu senken; gezielte Programme für Langzeitarbeitslose und andere Benachteiligte

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auflegen, um ihnen die Möglichkeit zu geben, sich unter Beachtung des Grundsatzes, dass Rechte gleichzeitig auch Pflichten bedingen, wieder in den Arbeitsmarkt zu integrieren; alle Leistungsempfänger, darunter auch Menschen im arbeitsfähigen Alter, die Erwerbsunfähigkeitsleistungen beziehen, auf ihre Fähigkeit überprüfen, ihren Lebensunterhalt zu verdienen, und die staatlichen Stellen so reformieren, dass sie Arbeitsfähige dabei unterstützen, eine geeignete Beschäftigung zu finden. Unternehmergeist und Geschäftsgründungen als gangbaren Weg aus der Arbeitslosigkeit unterstützen. Solche Entscheidungen bringen erhebliche Risiken für diejenigen mit sich, die einen solchen Schritt wagen. Wir müssen diese Menschen unterstützen, indem wir diese Risiken kalkulierbar machen. Die neue angebotsorientierte Agenda der Linken wird den Strukturwandel beschleunigen. Sie wird es aber auch leichter machen, mit ihm zu leben und ihn zu gestalten. Anpassung an den Wandel ist nie einfach, und der Wandel scheint sich schneller zu vollziehen als je zuvor, nicht zuletzt aufgrund der Auswirkungen neuer Technologien. Der Wandel vernichtet unweigerlich Arbeitsplätze, aber er schafft auch neue.


DER WEG NACH VORNE FÜR EUROPAS SOZIALDEMOKRATEN Ein Vorschlag von Gerhard Schröder und Tony Blair

Zwischen dem Verlust von Arbeitsplätzen in einem Sektor und der Schaffung von neuen Arbeitsplätzen anderswo können jedoch zeitliche Lücken entstehen. Was immer der langfristige Nutzen für Volkswirtschaften und Lebensstandard sein mag, in einigen Wirtschaftszweigen und bei einigen Gruppen werden sich die Kosten vor dem Nutzen einstellen. Daher müssen wir unsere Bemühungen darauf konzentrieren, Probleme des Übergangs abzufedern. Die unerwünschten Auswirkungen des Wandels werden um so stärker ausfallen, je länger man sich diesem Wandel widersetzt, aber es wäre Wunschdenken, sie leugnen zu wollen. Je reibungsloser der Arbeitsmarkt und die Produktmärkte funktionieren, desto leichter wird die Anpassung gelingen. Beschäftigungshindernisse in Sektoren mit relativ niedriger Produktivität müssen verringert werden, wenn Arbeitnehmer, die von den mit jedem Strukturwandel einhergehenden Produktivitätszuwächsen verdrängt wurden, anderswo Arbeit finden sollen. Der Arbeitsmarkt braucht einen Sektor mit niedrigen Löhnen, um gering Qualifizierten Arbeitsplätze verfügbar zu machen. Die öffentliche Hand kann durch die gezielte Entlastung niedriger Einkommen von Sozialabgaben neue Erwerbschancen schaffen und so gleichzeitig Unterstützungsleistungen für Arbeitslose sparen. Reformierte Arbeitsmarktpolitiken müssen verdrängte Arbeitnehmer durch

Umschulung, die gezielte Rückführung aus der sozialen Abhängigkeit in Erwerbstätigkeit sowie Maßnahmen, durch die sich Arbeit wieder lohnen soll, an diese neuen Beschäftigungsmöglichkeiten heranführen.

V. „Politisches Benchmarking“ in Europa Die Herausforderung besteht in der Formulierung und Umsetzung einer neuen sozialdemokratischen Politik in Europa. Wir reden nicht einem einheitlichen europäischen Modell das Wort, geschweige denn der Umwandlung der Europäischen Union in einen „Superstaat“. Wir sind für Europa und für Reformen in Europa. Die Menschen unterstützen weitere Integrationsschritte, wenn damit ein wirklicher „Mehrwert“ einhergeht und sie klar begründet werden können, wie der Kampf gegen Kriminalität und Umweltzerstörung sowie die Förderung gemeinsamer Ziele in der Sozial- und Arbeitsmarktpolitik. Aber gleichzeitig bedarf Europa dringend der Reformen - effizientere und transparentere Institutionen, eine Reform veralteter Politiken und die energische Bekämpfung von Verschwendung und Betrug. Wir stellen unsere Ideen als einen Entwurf vor, nicht als abgeschlossenes Programm. Die Politik der Neuen Mitte und des Dritten Weges ist bereits Realität,

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in vielen Kommunen, in reformierten nationalen Politiken, in der europäischen Kooperation und in neuen internationalen Initiativen. Deshalb haben die deutsche und die britische Regierung beschlossen, den bestehenden Meinungsaustausch über die Entwicklung von Politik in einen umfassenderen Ansatz einzubetten. Wir schlagen vor, dies auf dreierlei Weise zu tun: es soll eine Reihe von Ministerbegegnungen geben, begleitet von häufigen Kontakten ihrer engsten Mitarbeiter. Zweitens werden wir die Diskussion mit den politischen Führungspersönlichkeiten anderer europäischer Staaten suchen, die mit uns - in ihrem jeweiligen innerstaatlichen Kontext - die Sozialdemokratie modernisieren wollen. Damit beginnen wir jetzt.

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Drittens werden wir ein Netzwerk von Fachleuten, Vor- Denkern, politischen Foren und Diskussionsrunden einrichten. So vertiefen wir das Konzept der Neuen Mitte und des Dritten Weges und entwickeln es ständig weiter. Das hat für uns Priorität. Ziel dieser Erklärung ist es, einen Anstoß zur Modernisierung zu geben. Wir laden alle Sozialdemokraten in Europa dazu ein, diese historische Chance zur Erneuerung nicht verstreichen zu lassen. Die Vielfalt unserer Ideen ist unser größtes Kapital für die Zukunft. Unsere Gesellschaften erwarten, dass wir unsere vielfältigen Erfahrungen zu einem neuen Konzept bündeln. Lasst uns zusammen am Erfolg der Sozialdemokratie für das neue Jahrhundert bauen. Lasst die Politik des Dritten Weges und der Neuen Mitte Europas neue Hoffnung sein.


THESEN ZUR DEBATTE ÜBER DEN „DRITTEN WEG“ Ottmar Schreiner

ZUR ZUKUNFT DER SPD - THESEN ZUR DEBATTE ÜBER DEN „DRITTEN WEG“ Ottmar Schreiner I. Die Übernahme der Regierungsverantwortung im Bund hat die SPD vor eine neue Aufgabe gestellt. Wir müssen nun nicht nur auf glaubhafte, sondern auch auf überprüfbare Weise unser tägliches Handeln in der Regierungsverantwortung mit überzeugenden politischen Perspektiven verbinden. Diese müssen den größeren Teil der Öffentlichkeit davon überzeugen können, dass die Sozialdemokratie ein Regierungsmandat über die Legislaturperiode hinaus verdient. Realismus, aber auch die Kraft zu wirklichkeitsnahem Zukunftsentwurf sind dafür die Voraussetzung. Die SPD, mit einer großen Zahl engagierter Mitglieder, die Erfahrungen und Kompetenzen aus wichtigen gesellschaftlichen Erfahrungs- und Handlungsfeldern mitbringen, ist für eine solche Diskussion die geeignete Plattform. Geprägt von Massenmedien, einer voranschreitenden sozialen Differenzierung und der Modernisierung der Denk- und Handlungsweisen, der Berufsbilder und Wertewelten ihrer Anhänger und Wähler, kann die SPD eine solche Aufgabe nur erfüllen, wenn sie sich als eine gro-

ße demokratische Organisation definiert, die handlungsorientiert Tages- und Zukunftsfragen verknüpft und die in der Lage ist, Impulse aus der Gesellschaft aufzunehmen und in die Gesellschaft wirkungsvoll zu vermitteln. II. Die von Tony Blair und Anthony Giddens in Europa angestoßene Diskussion um einen „Dritten Weg der Sozialdemokratie“ zwischen „neoliberalem“ Politikverzicht und „altlinkem“ Konservatismus orientiert sich im Kern an den richtigen Fragen. Ich füge hinzu: es ist auch die richtige Richtung, die Giddens als „links von der Mitte“ einordnet. Der „dritte Weg“, der unser Weg werden sollte, sieht die Chancen für nachhaltiges Wachstum, ein gutes Leben und politische Freiheit in einer Welt neuer globaler Dimensionen und fordert dazu auf, sie international koordiniert zu nutzen. Selbstverständlich gibt es in den einzelnen europäischen Sozialdemokratien aufgrund ihrer verschiedenartigen Traditionen, ihrer unterschiedlichen politischen Kulturen, der Ungleichzeitigkeit ihrer Programmerneuerung und einer

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THESEN ZUR DEBATTE ÜBER DEN „DRITTEN WEG“ Ottmar Schreiner

verschiedenartigen Gewichtung der einzelnen Probleme neben den Gemeinsamkeiten auch erhebliche Unterschiede. Darum kann die Erneuerung nicht im Import fertiger Modelle bestehen, es wird nicht einen, sondern diverse „dritte Wege“ geben. Die deutsche Sozialdemokratie hatte schon 1959 mit ihrem Godesberger Programm den Durchbruch zu einer grundwerteorientierten pragmatischen Volkspartei vollzogen. Dieser tiefgreifende Wandel war lange Zeit von anderen sozialdemokratischen Parteien mit Distanz betrachtet worden, ist aber mittlerweile die gemeinsame Überzeugung fast aller sozialdemokratischer Parteien in Europa. Wir hatten dann mit unserem Berliner Programm von 1989 Antworten auf einige der neuen Fragen der „Zweiten Moderne“ entwickelt, die in vielen Einzelbereichen der Politik neue Angebote in die politische Debatte eingebracht haben. In der Ökologie- und Technologiepolitik, der Europapolitik, der Gleichstellung der Geschlechter wurden neue Lösungen erarbeitet, die zukunftstauglich sind. Wir werden uns vorurteilsfrei mit befreundeten Parteien austauschen und dann verantwortungsvoll unseren eigenen Weg bestimmen. Wir können bei einer Erneuerungsdiskussion auf der Werteorientierung von Godesberg aufbauen und wichtige Aspekte des Berliner Programms fortentwickeln und konkretisieren. Dafür hat die SPD drei Projektgruppen zu den zen-

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tralen Politikfeldern Zukunft der Arbeit, der Familie sowie selbständiger Tätigkeit eingerichtet. Mit den Antworten wollen wir den Zusammenhalt der Gesellschaft fördern. Im Kern geht es um die Balance zwischen kleinen Schritten und pragmatischen Lösungen einerseits, der Erkennbarkeit von Werten und Zielen andererseits. III. Die Fragen liegen angesichts der Ursachen der Probleme, mit denen wir es heute zu tun haben, auf der Hand. Es sind die Fragen, die in der Debatte um den „Dritten Weg“ und die „Rückkehr der Politik“ die Diskussionen der europäischen Sozialdemokratie beherrschen. Was sind die Grundwerte und was sind die Ziele, die einen Rahmen setzen auch für das, was wir ändern wollen, was lange Zeit als selbstverständlich in den eigenen Reihen galt? 1 . Neue Ökonomie in der globalisierten Wirtschaft: Wie verbinden wir die Förderung der hochmodernen Arbeitsplätze in den wettbewerbsfähigen, zumeist informationstechnologischen Sektoren unserer Wirtschaft mit verbesserten Voraussetzungen für Existenzgründungen in allen Wirtschaftsbereichen und mit der Schaffung neuer Arbeitsplätze. Es geht auch um verbesserte Anreize im Bereich der gering qualifizierten Arbeit und der ein-


THESEN ZUR DEBATTE ÜBER DEN „DRITTEN WEG“ Ottmar Schreiner

fachen personenbezogenen Dienstleistungen. Welche Rolle spielen die Rahmenbedingungen, welche Rolle spielen die Innovationen, welche Rolle spielen neue Arbeitszeitmodelle, welche Rolle spielt eine veränderte Einstellung der Einzelnen zur Eigenverantwortung? - das sind einige der Fragen, die wir klären wollen.

arbeit absichert, ist auch keine aktive Bürgerbeteiligung möglich. Wir müssen klären, was die Rolle einer verlässlichen sozialen Grundsicherung für alle sein kann, worin sie besteht, welche Leistungen weiterhin nach dem Versicherungsprinzip garantiert werden müssen und wie weit Spielräume und Anreize für Eigeninitiative verbessert werden können.

Wenn wir von gesellschaftlicher Verantwortung sprechen, ist die Wirtschaft damit einbezogen. Das Erfolgsmodell der sozialen Marktwirtschaft privatisierte eben nicht nur die Gewinne. Sondern die Unternehmen müssen sich weiterhin aktiv an der Lösung gesellschaftlicher Probleme - finanzieller, sozialer und ökologischer - beteiligen. Das Bündnis für Arbeit ist das derzeit wichtigste Beispiel für eine Politik, die nichts befehlen, die aber etwas ermöglichen und vermitteln will.

Eine aktive Sozialpolitik muss in erster Linie die Menschen zu selbständiger Lebensführung ermutigen, anstatt nachträglich umzuverteilen. Keine Gesellschaft kann es sich leisten, eine beträchtliche Zahl von Menschen auf Dauer auszuschließen. Deshalb setzen Sozialdemokraten gegen Ausgrenzung und Spaltungen der Gesellschaft die Idee der Einbeziehung, der sozialen Teilhabe und der sozialen Chancen, was in erster Linie Zugang zu Arbeit und zum Arbeitsmarkt, zu Qualifikationen bedeutet.

2 . Sozialstaat: Die Grundidee des Sozialstaats, als Form institutionalisierter Solidarität, steht für Sozialdemokraten nicht zur Disposition. Die dauerhaft hohe Arbeitslosigkeit, die Entwicklungen im Gesundheitswesen, der demographische Wandel, Zuwanderung und Integration, um nur die wichtigsten Handlungsfelder zu nennen, verlangen, dass wir die Wege der sozialen Sicherung weiterentwikkeln.

Politik der sozialen Chancen bedeutet für mich dreierlei: Den flankierenden Schutz bei großen Lebensrisiken wie zum Beispiel Arbeitslosigkeit oder Krankheit; aktivierende Förderprogramme zur raschen Überwindung von Risikosituationen; schließlich Förderung von bürgerschaftlichem Engagement in Arbeitsund Lebenswelten.

Ohne reformierten Sozialstaat, der beispielsweise diskontinuierliche Erwerbs-

3 . Neue Politikformen: Der Staat garantiert als die Gemeinschaftsorganisation der Gesellschaft die Rechte der Schwächeren, er schafft und sichert Voraussetzungen für die Ent-

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wicklung der ganzen Gesellschaft. Das sind Grundüberzeugungen der SPD, die mit großem Erfolg seit dem Beginn der sozialdemokratischen Bewegung gegen Liberalismus und Konservatismus verfochten wurden. Der verstärkte Wunsch nach Beteiligung bei vielen Bürgerinnen und Bürgern verlangt, dass wir unsere Politikformen in der komplexer werdenden Gesellschaft ergänzen. Wie weit kann der Staat als Anreger, als Moderator, als Partner seine Ziele besser erreichen, als in der alten hierarchischen Rolle? Wie weit können Bürgerzusammenschlüsse in der Gesellschaft selbst politische und soziale Aufgaben wirkungsvoller, problemnäher, engagierter und nachhaltiger lösen, als staatliches Handeln? Welche Formen des Zusammenwirkens von bürgerschaftlichem und staatlichem Engagement versprechen den größeren Erfolg? Das sind Themen für die Erneuerung. Der Staat soll künftig neben statt über den Bürgern stehen; nicht nur in der Sozial-, sondern ebenso in der Innen- und Rechtspolitik, in der Praxis jeder Verwaltung. Es geht nicht um Privatisierung politischer Verpflichtungen, sondern um neue, gesellschaftsnähere politische Formen ihrer Erfüllung. 4 . Kultur der Verantwortlichkeit: Die liberalistische Ideologie, wonach letztlich immer der Einzelne Schuld ist, wenn es ihm nicht gelingt, in der Gesellschaft, in der wir leben, die wirtschaftlichen und sozialen Voraussetzungen zur

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Sicherung einer menschenwürdigen Existenz zu gewinnen, ist auch heute falsch. Richtig aber ist, dass wir über die Verteilung von Rechten und Pflichten neu nachdenken müssen und darüber, wie wir die vielen, die es betrifft, nachhaltiger und wirkungsvoller daran erinnern können, worin ihre soziale Verantwortung besteht und was die gesellschaftlichen Voraussetzungen dafür sind, dass ihnen Rechte garantiert werden können. Das betrifft nicht nur Missbräuche im Sozialstaat, es betrifft auch Solidarität mit anderen im Nahbereich, ebenso zivile Umgangsformen untereinander und die Stärkung und Verbreitung eines Bürgersinns, der nicht nur nach Rechten sondern auch nach Pflichten fragt. 5 . Neue Mitte: „Neue Mitte“ war nicht nur ein Schlagwort für den Wahlkampf. Die sozialen Milieus der „Neuen Mitte“, vor allem in Kultur-, Sozial- und neuen Technikberufen bestehen zum großen Teil aus jüngeren Menschen, die gelernt haben, mit neuen Technologien zu leben, Nutzen aus ihnen zu ziehen und sie zu handhaben, die gut informiert und politisch interessiert, aber nicht an eine bestimmte Partei, auch nicht an unsere gebunden sind; die sich viel mehr von Fall zu Fall auf direktem Wege mit guten Informationen und Argumenten versorgen, um ihre eigene Entscheidung treffen zu können. Sie sind keine Stammwähler und werden es überwiegend auch nicht werden. Aber sie sind offen für glaubwürdi-


THESEN ZUR DEBATTE ÜBER DEN „DRITTEN WEG“ Ottmar Schreiner

ge und umsetzbare Projekte, die SPD kann viele von ihnen immer wieder gewinnen. Sie haben einen hoch entwickelten Sinn für soziale Verantwortung, für Gerechtigkeit und für den Wert einer solidarischen Gesellschaft. Es macht darum einen guten Sinn, sie als wichtige Zielgruppen sozialdemokratischer Politik und sozialdemokratischer Kommunikation ernst zu nehmen. Aber auch die sogenannten Stammwähler sind beweglicher und offener als viele unterstellen und müssen ebenfalls mit zeitgemäßen Antworten immer neu überzeugt werden. Die Medien spielen bei der Vermittlung unserer Politik eine große Rolle. Viele Wählerinnen und Wähler, gerade auch Angehörige der neuen Milieus, suchen aber in der direkten Auseinandersetzung nach Information und Argumenten. Dies zu vermitteln ist die Aufgabe der großen Mitgliederpartei SPD: IV. „Innovation und Gerechtigkeit“ hieß der Wahlspruch, mit dem die Sozialdemokratie die Bundestagswahl 1998 für sich entschieden hat. Innovation wird in der veränderten Situation, in der wir uns heute befinden, viele ungewohnte Neuerungen und Veränderungen von allen verlangen. Neue Formen der Flexibilisierung und Entbürokratisierung, der Arbeitsteilung von Staat und Gesellschaft,

der Eigenverantwortung erweisen sich als notwendig. Die Sozialdemokratie wird auch in Zukunft eine Mehrheitsunterstützung nur gewinnen, wenn sie über die notwendigen Veränderungen in den Bereichen von Innovation und Flexibilisierung hinaus eine überzeugendes Konzept sozialer Gerechtigkeit und ökologischer Nachhaltigkeit vertritt. Die Themen der Partizipation, Teilhabe und der ökologischen Erneuerung, zu dem das Berliner Programm 1998 viele gute Vorschläge gemacht hat, dürfen in der neuen Diskussion nicht vernachlässigt werden. Es bleibt richtig, dass eine ökonomische Innovationspolitik ohne ökologischen Umbau sich selbst widerspricht. Es bleibt ebenfalls richtig, dass die Teilhabe der Betroffenen und der Beteiligten in allen Bereichen der Gesellschaft nicht nur ein Anspruch ist, den sie als mündige Menschen haben und den wir als Sozialdemokraten unterstützen, sondern auch eine Produktivkraft für die Entwicklung selbst. Die Diskussion um sozialdemokratische Erneuerung hat in Deutschland eine fruchtbare Tradition. Worum es jetzt geht, ist eine Überprüfung der Projekte, ihre Weiterentwicklung und ihre innere Verbindung. Die SPD muss in der Öffentlichkeit glaubhaft darstellen, dass sie die Volkspartei ist, die die notwendigen Veränderungen auf vielen Gebieten mit der Garantie sozialer Sicherheit verbinden kann, ohne die unsere Gesellschaft immer stärker zerklüftet. Dafür lohnt sich

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die große Anstrengung einer gründlichen Diskussion um die Erneuerung des sozialdemokratischen Denkens. Die Renaissance der Sozialdemokratie wird vor allem auch davon abhängen, inwieweit es gelingt, den europäischen Raum für eine gemeinsame Wirtschaftsund Beschäftigungspolitik zu nutzen. Ulrich Beck hat in diesem Zusammenhang von den Handlungsspielräumen für eine Globalisierung mit menschlichem

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Antlitz gesprochen. Die gegenwärtigen Mehrheitsverhältnisse in der Europäischen Union haben dafür Optionen geschaffen, es wird in starkem Maße auch von der SPD abhängen, ob und wie die Chancen genutzt werden.

Ottmar Schreiner ist Mitglied es Bundestages und war Bundesgeschäftsführer der SPD.


SOZIALSTAAT UND SOZIALE GERECHTIGKEIT Dr. Volker Offermann

SOZIALSTAAT UND SOZIALE GERECHTIGKEIT Dr. Volker Offermann 1. Einleitung Eine Debatte über soziale Gerechtigkeit in modernen Gesellschaften ist untrennbar mit Fragen des Wohlfahrts- oder Sozialstaats und seiner Entwicklung verbunden. Die aktuelle Auseinandersetzung der europäischen Linken über Perspektiven des freiheitlichen Sozialismus und der Sozialdemokratie wird einem roten Faden gleich von diesem Diskurs durchzogen. Verwundern kann das nicht, war die Sozialdemokratie der Etablierung und Verallgemeinerung sozialer Rechte doch stets besonders verpflichtet. Mittels der wohlfahrtsstaatlich zu gewährenden Rechte sollte und soll eine, wie Kaufmann (1997: 34) schreibt, „Generalisierung des Anspruchs auf Teilhabe an den Lebensmöglichkeiten einer Gesellschaft“ erfolgen. Es geht damit unmittelbar um einen Umstand, der gemeinhin als konstitutiv für soziale Gerechtigkeit gilt. Dem modernen Wohlfahrtsstaat werden im Allgemeinen zwei Zielstellungen zugeschrieben, deren Verwirklichung er gewährleisten soll. Zum einen soll er

insbesondere angesichts der Risiken der kapitalistischen Ökonomie individuelle Sicherheit während der verschiedenen Lebensabschnitte garantieren. Zum anderen soll er eine Gesellschaft größerer Gleichheit schaffen. Die Notwendigkeit des Erreichens der genannten Ziele besteht allein im Interesse der sozialen Integration unvermindert fort. Angesichts der Veränderungen in ökonomischer, technologischer und sozialer Hinsicht (Globalisierung, Informatisierung, Individualisierung) kann das bisherige wohlfahrtsstaatliche Arrangement allerdings nicht unverändert in die Zukunft fortgeschrieben werden. Vordringlich sind drei, die weitere Entwicklung des Sozialstaats betreffende Fragen zu beantworten: 1. Wie kann der Wohlfahrtsstaat an die durch den gesellschaftlichen Wandel bedingten Umbrüche in den Lebensläufen und Lebensweisen der Menschen angepasst werden? 2. Wie kann die bedrohliche Finanzkrise des Wohlfahrtsstaats überwunden werden? 3. Welche Perspektiven können für die

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SOZIALSTAAT UND SOZIALE GERECHTIGKEIT Dr. Volker Offermann

Reduzierung der gestiegenen sozialen Ungleichheit gewonnen werden? In dem Maße, wie es der Sozialdemokratie gelingt, überzeugende Antworten auf diese Fragen zu geben, wird sie auch wieder ihre Kompetenz in Fragen der sozialen Gerechtigkeit stärken. Im Folgenden sollen die angesprochenen Problemkreise zunächst knapp beschrieben werden. Anschließend erfolgt eine Rekonstruktion der Antworten des für die deutsche Debatte bedeutsamen Schröder/Blair-Papiers auf die aufgeworfenen Fragen und die den Wohlfahrtsstaat betreffenden Aussagen des deutsch-britischen Diskussionsbeitrages werden kritisch gewürdigt und um weiterführende Perspektiven ergänzt.

2. Herausforderungen des Wohlfahrtsstaats Nachstehend werden zunächst wesentliche Aspekte des stattfindenden sozialen und gesellschaftlichen Wandels und die aus ihnen resultierenden Herausforderungen des Sozialstaats beschrieben. Anschließend wird auf Ursachen der wohlfahrtsstaatlichen Finanzkrise sowie die Entwicklung sozialer Ungleichheit in der Bundesrepublik eingegangen. 2.1 Gesellschaftlicher Wandel und soziale Sicherheit Der gesellschaftliche Wandel führt zu zahlreichen Veränderungen in den Le-

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bensläufen und Lebensweisen der Menschen. Einige wesentliche Umbrüche werden nachstehend skizziert (ausführlich: Offermann 1996). Nach allgemeiner Auffassung befinden sich moderne Industriegesellschaften auf dem Weg zur Wissensgesellschaft, in der der Umgang mit Informationen und die Produktion, Verbreitung und Anwendung neuen Wissens die zentralen Tätigkeitsfelder sein werden. Eine weitere Verallgemeinerung von Bildung, gerade auch im Rahmen eines Systems lebensbegleitenden Lernens, wird damit zur Voraussetzung der Gesellschaftsentwicklung. Das bedeutet zugleich aber auch, dass die Partizipation an Bildung stärker noch als bisher Bedingung der Möglichkeit gesellschaftlicher Teilhabe wird. Umgekehrt tragen aber jene, die nicht oder nur unzureichend an der erweiterten Bildung partizipieren können, ein hohes Ausgrenzungsrisiko in Form von Arbeitslosigkeit und perforierten Erwerbsbiografien. Chancengleichheit im Zugang zu Bildung herzustellen, ist insoweit eine wichtige sozialstaatliche Aufgabe. Da unterschiedliche Bildungsniveaus auch Ausdruck sozialer Ungleichheiten sind, ist eine wohlfahrtsstaatliche Egalitätspolitik insoweit ebenfalls unabdingbar. Die oben beschriebenen gesellschaftlichen Veränderungen bedingen zugleich einen Wandel der Arbeitswelt. Bei steigender Kapitalintensität der Produktion wird es zu einer zunehmenden Flexibi-


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lisierung der Arbeit kommen. Bezieht sich diese heute noch überwiegend auf die Lage, teils auch auf die Dauer der Arbeitszeit, kann künftig auch eine steigende lokale Dekonzentration (z.B. durch Teleheimarbeit) nicht ausgeschlossen werden. Soweit die neuen Arbeitsverhältnisse arbeitsrechtlich reguliert sind und wenigstens ein Mindestmaß des Sozialschutzes aufweisen, können sich Chancen hinsichtlich der Gestaltung von Arbeit gemäß persönlichen Bedürfnissen und Lebenssituationen ergeben. Unter den Bedingungen eines dynamischen Arbeitsmarkts bei anhaltend hoher Massenarbeitslosigkeit besteht aber auch das Risiko, dass atypische und nicht existenzsichernde Beschäftigungsverhältnisse ausgedehnt werden. Die damit einher gehende Kommodifizierung (Marktabhängigkeit) der Arbeitnehmer betrifft dann vor allem Ältere, gesundheitlich Beeinträchtigte und gering Qualifizierte. Der Wohlfahrtsstaat sollte dem hierin begründeten Risiko einer steigenden Arbeitsmarktsegmentation begegnen. Auch der Lebensbereich der Familie unterliegt Veränderungen. Familien sind heute eher als „Wahlverwandtschaften“ (Beck-Gernsheim 1994) denn als Wirtschafts- und Arbeitsgemeinschaften zu verstehen. Damit ergeben sich zahlreiche Optionen einer alternativen Lebensführung, von der nicht-ehelichen Lebensgemeinschaft bis zum gewollten Single-Haushalt. Auch wenn der Wohlfahrtsstaat Voraussetzung dieser Ent-

wicklung war, so sind auch heute die verschiedenen Lebensformen noch nicht gleichgestellt. Beispielsweise stellt Alleinerziehung, insbesondere bei Frauen, ein zentrales Armutsrisiko dar. Sozialer Marginalisierung entgegen zu wirken, ist und bleibt somit eine wichtige Aufgabe des Sozialstaats. Darüber hinaus gilt es, vielfältige, arbeits- und sozialrechtlich regulierte, familienbezogene Übergänge aus dem und in das Erwerbsleben zu entwerfen. Die Reduzierung des Berufsaustrittsalters und die durch den medizinischen Fortschritt erweiterte Lebenserwartung haben Alter zu einer eigenständigen Lebensphase werden lassen, die von den Senioren zumeist aktiv gestaltet wird. Wichtigste Voraussetzung hierfür ist die vor allem durch die Rentenversicherung erreichte materielle Absicherung. Mit der Verlängerung des Lebens geht aber auch ein Anstieg der Hoch- und Höchstbetagten einher. Diese leiden oftmals unter Multimorbidität, chronischen Erkrankungen, Pflegebedürftigkeit und sozialer Isolation. Hieraus ergeben sich Herausforderungen für die gesundheitliche, pflegerische und soziale Versorgung.

2.2 Finanzierungsprobleme des Wohlfahrtsstaats Wenn in der Bundesrepublik Finanzierungsprobleme des Sozialstaats thematisiert werden, sind vor allem Finanz-

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probleme der Sozialversicherungen angesprochen. Die Sozialversicherungen werden zu Recht als Kern des bundesdeutschen Wohlfahrtsstaats angesehen; rund die Hälfte aller Leistungen des Sozialbudgets entfällt alleine auf Renten-, Kranken- und Arbeitslosenversicherung. Einen wesentlichen Hinweis auf Finanzierungsprobleme des Sozialstaats gibt die Entwicklung der Beitragssätze der Sozialversicherungen. Zwischen 1970 und 1997 stiegen sie von 26,5% auf 42,2%. Ein populäres Vorurteil erkennt als Ursache dieser Entwicklung eine „Kostenexplosion“ des Wohlfahrtsstaats, die von der „Vollkaskomentalität“ der Versicherten gespeist werde. Allein ein Blick auf die Sozialleistungsquote, die im Trend seit Mitte der 70er Jahre rückläufig ist1, lässt erkennen, dass die obige Ursachenbeschreibung unzutreffend ist. Bezogen auf die Ausgabenentwicklung der Sozialversicherungen ist aber die Fehlfinanzierung der deutschen Einheit über Beiträge statt Steuern von Bedeutung. Etwa vier Prozentpunkte der Beitragssatzerhöhungen in der Rentenund Arbeitslosenversicherung ist hierauf zurückzuführen (ausführlich: Offermann 1998: 230ff). Weitere Belastungen für die Sozialversicherungsausgaben und damit auch die Lohnnebenkosten ergeben sich aus unausgeschöpften Rationalisierungspotentialen in der Gesetzlichen Krankenversicherung, arbeitsmarktbedingten Rentenzugängen und den deutlich gestiegenen Ausgaben für

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Lohnersatzleistungen der Bundesanstalt für Arbeit im Gefolge der Massenarbeitslosigkeit. Von zentraler Bedeutung für die Finanzkrise des Wohlfahrtsstaats sind jedoch nicht Ausgaben-, sondern vor allem arbeitslosigkeitsbedingte Einnahmeprobleme. Nach Angaben des IAB (1998a) beliefen sich die gesamtfiskalischen Kosten der Arbeitslosigkeit 1997 auf 166 Mrd. DM. Darin enthalten sind neben den Leistungsausgaben der Bundesanstalt für Arbeit auch Kosten für ausgefallene Sozialversicherungseinnahmen in Höhe von rund 40 Mrd. DM und Steuerausfälle in Umfang von etwa 35 Mrd. DM. Weitere Einnahmeausfälle im Umfang von etwa 25 Mrd. DM ergeben sich aus der Ausdehnung sozialversicherungsfreier Beschäftigungen (geringfügige Beschäftigungsverhältnisse, illegale Beschäftigung, Scheinselbstständigkeit). Des Weiteren ist nach den Finanzierungsbeiträgen des Produktivitätswachstums zu fragen. Die überwiegend lohnarbeitszentrierte Beitragsfinanzierung der Sozialversicherungen führt dazu, dass der Produktivitätsfortschritt nur insoweit Eingang in die Finanzierung der Sozialversicherungen findet, wie es gelingt, ihn im Rahmen von Tarifverhandlungen einkommenswirksam abzuschöpfen. Die Bedingungen gerade dafür sind im Kontext der Massenarbeitslosigkeit jedoch alles andere als günstig. Schließlich ist zu bedenken, dass Massenarbeitslosigkeit kein Zustand ist, dessen Wirkungen sich isolieren ließen. Vielmehr führt sie zu einer Verschärfung der am Arbeitsmarkt ohnehin be-


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stehenden Herrschaftsungleichgewichte, wodurch es zu einem Verfall der Lohnquote kommt (Offermann 1997: 207ff). Läge diese aktuell noch auf dem Niveau der frühen 80er Jahre, stünden den Sozialversicherungen Mehreinnahmen von etwa 40 Mrd. DM zur Verfügung. Eine wirkungsvolle Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit ist daher der Schlüssel zur Lösung der Finanzierungsprobleme des Sozialstaats. 2.3 Gleichheit im Wohlfahrtsstaat Basale Voraussetzung einer kohäsiven Gesellschaft und dauerhaften sozialen Friedens ist ein Mindestmaß der Gleichartigkeit bezüglich der Modalitäten der Lebensführung und damit der Verfügbarkeit materieller Ressourcen. Betrachtet man die Ungleichheitsentwicklung der Bundesrepublik in den vergangenen zwanzig Jahren, so ist festzustellen, dass diese Voraussetzung fragil zu werden droht. Die distributive Ungleichheit hat zum Ende des auslaufenden Jahrhunderts ein erhebliches Ausmaß erreicht. Eine eingehende empirische Analyse der Einkommens- und Vermögensverteilung (Offermann 2000) zeigt, dass: 1. sich der in der funktionellen Einkommensverteilung widerspiegelnde Inter-Klassen-Konflikt zwischen Arbeit und Kapital zu Lasten der abhängig Beschäftigten veränderte, 2. sich die Realeinkommensposition der Arbeitnehmer im Kontext von massenarbeitslosigkeitsbedingter

Lohndisziplinierung einerseits und steigender Abgaben- und Steuerlast andererseits trotz moderater Preisentwicklung verschlechterte, 3. die Ungleichheit innerhalb der Gruppe der Arbeitnehmer zunahm, 4. die Einkommensangleichung in den neuen Ländern faktisch zum Erliegen kam, 5. die steuerliche Privilegierung der Unternehmer massiv zu Lasten der Arbeitnehmer ausgebaut wurde, 6. die Armut in Ost- und Westdeutschland beständig und zwar mit hohen Wachstumsraten zunahm, 7. eine deutliche Spreizung der Haushaltseinkommen stattfand und davon vor allem die Bezieher niedriger Einkommen betroffen waren, 8. die Vermögen und Vermögenseinkommen weiterhin und - vom Hausund Grundvermögen abgesehen - zunehmend höher konzentriert sind, 9. sich bezüglich der ostdeutschen Vermögen bereits wenige Jahre nach der deutsch-deutschen Einigung Ungleichheitsstrukturen herausgebildet haben, die den altbundesrepublikanischen entsprechen, wobei 10. die Vermögenswerte-Ost nur gut ein Drittel bis knapp die Hälfte der westdeutschen betragen. Der erreichte Zustand sozialer Ungleichheit kann von der Sozialdemokratie, für die das Egalitätsstreben stets Kern ihrer Identität war und im Interesse ihres von Neoliberalismus und Neokonservatismus deutlich unterschiedenen Stand-

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punkts auch bleiben muss (Bobbio 1994; Giddens 1997; 1999), nicht hingenommen werden. Für die Linke ist - wie Jospin (1999: 1394) formuliert - eine meschliche Gesellschaft „eine Gesellschaft, die sich die Reduzierung der Ungleichheiten jeder Art zum Ziel gesetzt hat.“

3. „Der Weg nach vorne für Europas Sozialdemokraten“ Die im vorangegangen Abschnitt dargestellten Befunde zur Wohlfahrtsstaatsentwicklung indizieren einen nachhaltigen Reformbedarf. Ziel des erforderlichen Reformprozesses muss dabei sein, dass der Wohlfahrtsstaat besser als zur Zeit seinen genuinen Zielen von Gleichheit und Sicherheit gerecht wird. Das bedeutet gerade für die Sozialdemokratie, die stets in besonderer Weise für den Ausbau sozialstaatlicher Institutionen und Leistungen eingetreten ist, eine Herausforderung. Vor diesem Hintergrund ist auch das sogenannte SchröderBlair-Papier „Der Weg nach vorne für Europas Sozialdemokraten. Ein Vorschlag von Gerhard Schröder und Tony Blair“ von herausgehobenem Interesse. Im Folgenden sollen die sozialpolitisch relevanten Passagen des viel beachteten Beitrages der beiden Regierungschefs skizziert und anschließend kritisch bewertet werden. Zuvor ist jedoch noch eine Vorbemerkung notwendig. Das Schröder/Blair-Papier spiegelt ein kulturelles Dilemma wider, das in den un-

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terschiedlichen wohlfahrtsstaatlichen Regimen der Bundesrepublik einerseits und des Vereinigten Königreichs andererseits begründet ist. Der britische Wohlfahrtsstaat basiert auf dem Beveridge-Modell, nach dem für jedermann, in hohem Maße steuerfinanziert, das Existenzminimum garantiert sein soll. Aus kontinentaleuropäischer Sicht handelt es sich eher um einen residualen Wohlfahrtsstaat. Dem gegenüber stellt der deutsche Sozialstaat eine Ausprägung des Bismarck-Modells dar, bei dem relativ hohe, an die Stellung im Erwerbsleben geknüpfte Leistungen dominieren. Die Leistungserbringung erfolgt überwiegend durch beitragsfinanzierte Sozialversicherungen. Vor diesem Hintergrund sind einheitliche Handlungsempfehlungen nicht unproblematisch, zumal zu berücksichtigen ist, dass die differenten Systeme auch unterschiedliche Anreizwirkungen für die Sozialstaatsklienten zeitigen. Vorbehaltlich dieser Schwierigkeiten verdienen die zahlreichen deutsch-britischen Vorschläge zur Wohlfahrtsstaatsreform aber grundsätzlich Beachtung. 3.1 Zur Umgestaltung der Systeme sozialer Sicherung Im Hinblick auf die sich für die soziale Sicherung aus dem sozialen Wandel ergebenden Herausforderungen stellen Blair und Schröder fest: „Die sozialen Sicherungssysteme müssen sich den Veränderungen in der Lebenserwartung, der Familienstruktur und der Rolle der


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Frauen anpassen.“ Gefordert wird „ein Sozialsystem, das Initiative und Kreativität fördert und neue Spielräume öffnet“, ein Sozialsystem, das „das Sicherheitsnetz aus Ansprüchen in ein Sprungbrett in die Eigenverantwortung“ umwandelt, das die Fähigkeit, Arbeit zu finden begünstigt und alle arbeitsfähigen Leistungsempfänger dabei unterstützt, eine angemessene Beschäftigung zu finden. 3.2 Zur Finanzierung sozialer Sicherheit Im Hinblick auf die Finanzprobleme der sozialen Sicherung fordern Schröder und Blair mehrfach eine Senkung der Lohnnebenkosten. Dabei geht es sowohl um eine Erhöhung der Nettoeinkommen der abhängig Beschäftigten als auch um eine Kostenentlastung für die Unternehmen. Da die Finanzierung des deutschen Sozialsystems und damit eine mögliche Senkung der Sozialabgaben, abgesehen von einer so aber nicht postulierten drastischen Kürzung der Sozialleistungen, vor allem von der Beschäftigungslage abhängt, sind die Ausführungen zur Arbeitsmarktpolitik hier von besonderer Bedeutung. Im Einklang mit der Beschreibung eines neuen Staatsverständnisses mit Priorität von Investitionen in Humankapital genießt die Förderung lebenslangen Lernens einen hohen Stellenwert. Es geht dabei sowohl um eine Qualifizierung der allgemeinen Bildung als auch der beruflichen Erstausbildung und die Weiterentwicklung der Weiterbildung einschließlich von Bildungs-

maßnahmen für Arbeitslose. Daneben werden eine zielgruppenorientierte Arbeitsmarktpolitik (Langzeitarbeitslose, aber auch andere Benachteiligte), Hilfen zur Abfederung des Strukturwandels und bei Existenzgründungen aus Arbeitslosigkeit gefordert. Der Kern zukünftiger Arbeitsmarktpolitik wird aber in der Etablierung eines Niedriglohnsektors gesehen. Dabei geht es zum einen um subventionierte „Einstiegsjobs“ auf Basis geringfügiger Beschäftigungsverhältnisse, zum anderen um einen allgemeinen Niedriglohnsektor: „Der Arbeitsmarkt braucht einen Sektor mit niedrigen Löhnen, um gering Qualifizierten Arbeitsplätze verfügbar zu machen.“ 3.3 Zur Gleichheitsfrage Der Gleichheitstopos wird im Schröder/ Blair-Vorschlag zur Modernisierung sozialdemokratischer Programmatik fast nur indirekt berührt. Im Kern wird hierzu festgestellt, dass soziale Gerechtigkeit vor allem als Chancengleichheit zu verstehen sei. Von Bedeutung sind daneben aber auch die Ausführungen über „eine auf die Förderung nachhaltigen Wachstums ausgerichtete Steuerpolitik“. Hierunter werden vor allem eine Vereinfachung und Senkung der Unternehmensbesteuerung angeführt. Daneben geht es um Veränderungen bezüglich der Steuergrundlagen („zu Lasten des Umweltverbrauchs“) und die EU-weite Bekämpfung von unlauterem Wettbewerb und Steuerflucht. Fast kursorisch heißt es schließlich: „Armut, insbeson-

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dere unter Familien mit Kindern, bleibt ein zentrales Problem. Wir brauchen gezielte Maßnahmen für die, die am meisten von Marginalisierung und sozialer Ausgrenzung bedroht sind.“

4. Kritik des Schröder/Blair-Papiers: Kein Weg nach vorne für Europas Sozialdemokraten In diesem Abschnitt sollen die zuvor dargestellten Ansätze einer Reform des Wohlfahrtsstaates bewertet werden. Dabei ist zu fragen, ob und inwieweit die von Schröder und Blair geforderten Maßnahmen geeignet sind, Beiträge zur Lösung der eingangs bezeichneten objektiven Probleme des Sozialstaats zu leisten. 4.1 Anpassung der sozialen Sicherungssysteme an den gesellschaftlichen Wandel Die geforderte Anpassung der Systeme sozialer Sicherung an die neuen Erfordernisse, die sich im Zuge der gesellschaftlichen Modernisierung heraus gebildet haben, ist grundsätzlich zu begrüßen. Allerdings mangelt es an präzisen Ausführungen über die Richtung, in der der bestehende Reformbedarf aufgelöst werden soll. So gibt es keine Hinweise darauf, wie zum Beispiel Kranken- und Pflegeversicherung auf die Folgen einer steigenden Lebenserwartung vorbereitet werden sollen. Auch zur Berücksichtigung von Familien- oder anderen Nichterwerbsphasen in der sozialen Siche-

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rung werden keine Aussagen getroffen. Alle weiteren Ausführungen im Papier beschränken sich darauf, eine wie auch immer geartete Eigenverantwortung einzufordern, Selbsthilfe zu propagieren und auf die Notwendigkeit hinzuweisen, die Arbeitsanreize in den sozialen Sicherungseinrichtungen zu erhöhen. Das hört sich zwar irgendwie „modern“ an, lässt aber befürchten, dass auch Schröder und Blair hier den gängigen vulgären Klischees über das Wirken sozialer Sicherung aufgesessen sind. Eine Umgestaltung des Wohlfahrtsstaates, die daran interessiert ist, bestehende Sicherungslücken zu schließen, lässt sich so freilich nicht bewerkstelligen. 4.2 Finanzierungsprobleme des Wohlfahrtsstaats Vor dem Hintergrund der gestiegenen Beitragssätze zu den Sozialversicherung ist die angestrebte Senkung der Lohnnebenkosten positiv zu bewerten. Allerdings darf es gerade auch vor dem Hintergrund des im Zuge der gesellschaftlichen Modernisierung tendenziell steigenden Sicherungsbedarfs nicht zu einem undifferenzierten Leistungsabbau kommen. Lohnnebenkosten lassen sich daher vor allem durch Umfinanzierung senken. Diesen Weg hat die deutsche Bundesregierung bezüglich der Tragung der Kosten nicht beitragsgedeckter Leistungen in der Gesetzlichen Rentenversicherung bereits beschritten. Eine Senkung der Lohnnebenkosten kann auch im Hinblick auf die Bewältigung der


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Massenarbeitslosigkeit sinnvoll sein. Zwar gibt es keinen stringenten Zusammenhang zwischen der Senkung von Sozialabgaben und der Zunahme von Beschäftigungsmöglichkeiten, wohl aber ist evident, dass hohe Lohnnebenkosten die Schaffung neuer Arbeitsplätze tendenziell belasten. Zudem können von den durch Sozialabgabenreduzierung erhöhten Einkommen Nachfrageimpulse ausgehen, die zu einer Stabilisierung der wirtschaftlichen Verhältnisse insgesamt führen. Unter den genannten einschränkenden Bedingungen (Umfinanzierung statt Leistungsabbau) ist die Forderung nach einer Senkung der Lohnnebenkosten daher insgesamt zu unterstützen. Problematischer sind die arbeitsmarktpolitischen Empfehlungen des Diskussionsbeitrages „Der Weg nach vorne für Europas Sozialdemokraten“.2 Dies wird schon an einer zentralen Maxime des arbeitsmarktpolitischen Kapitels deutlich, die lautet: „Teilzeitarbeit und geringfügige Beschäftigung sind besser als gar keine Arbeit“. Das bisherige (deutsche) Postulat, dass Arbeitsverhältnisse wenigstens existenzsichernd sein müssen, wird damit aufgegeben. Zugleich verbindet sich damit die Befürchtung, dass Zumutbarkeitskriterien für Arbeit oder Ersatzarbeit sowie Fragen des Berufs- und Statusschutzes der betroffenen Arbeitnehmer zukünftig bedeutungslos werden sollen. Völlig offen bleibt zudem, welche Vorkehrungen getroffen werden sollen, damit die Auswir-

kungen auf die sozialen Sicherungsbiografien der Betroffenen begrenzt werden können. Wird gerade hierauf verzichtet, dann ist zu befürchten, dass es zu einem weiteren Anstieg der Armut kommt, deren Bekämpfung an anderer Stelle als eine Hauptaufgabe zukünftiger Politik erklärt wird. Auch die weiteren Ausführungen zur aktiven Arbeitsmarktpolitik können nicht befriedigen. Der Gehalt aktiver Maßnahmen wird auf Qualifizierungsfragen und zielgruppenorientierte Projekte reduziert. Beide genannten Komponenten der Arbeitsmarktpolitik sind wichtig, aber sie sind es selbst in Zeiten der Vollbeschäftigung. Ein originärer Beitrag zur Senkung von Arbeitslosigkeit und zur Erhöhung von Beschäftigung geht von ihnen nur bedingt aus. Insgesamt bleiben die Positionen der beiden Regierungschefs zur aktiven Arbeitsmarktpolitik damit deutlich unter dem aktuellen Diskussionstand. Das gilt vor allem hinsichtlich der Überlegungen zu einer wirtschaftsnahen Arbeitsmarktpolitik. In diesem Kontext gehen die Verfasser lediglich auf die Förderung von Existenzgründungen aus Arbeitslosigkeit ein. Darüber hinaus gehende Erfahrungen mit Vergabe-ABM und Strukturanpassungsmaßnahmen bleiben vollständig unberücksichtigt, es sei denn, dass sie unter die geforderte arbeitsmarktpolitische Begleitung des Strukturwandels implizit subsumiert wurden. Letzteres erschließt sich aus dem Text selbst jedenfalls nicht.

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Als zentrale Forderung der arbeitsmarktpolitischen Empfehlungen der beiden sozialdemokratischen „Modernisierer“ bleibt schließlich die Etablierung eines Niedriglohnsektors. Von ihm vor allem wird die Lösung der Arbeitsmarktprobleme erwartet, wobei zudem angenommen wird, dass gerade gering qualifizierte Arbeitnehmer auf diesem Wege wieder Beschäftigung finden können. Mit dem Niedriglohnsektor verbinden sich somit zwei Hoffnungen, die sich tatsächlich aber kaum erfüllen werden. In der Benchmarking-Gruppe des Bündnisses für Arbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit wurden jüngst verschiedene Modelle zur Schaffung neuer Erwerbschancen für Arbeitslose durch gezielte Entlastung niedriger Einkommen von Sozialabgaben diskutiert. Der in diesem Zusammenhang unterbreitete weitreichende Vorschlag der Friedrich-EbertStiftung wurde mittlerweile sowohl vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) als auch vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) analysiert. Beide Institute kommen zu dem Ergebnis, dass eine Lösung der Arbeitsmarktprobleme hiervon nicht erwartet werden kann. So stellt das IAB (1999a: 6) fest: „Die gesamtwirtschaftlichen Beschäftigungseffekte müssen daher - selbst in ihrer Wirkungsrichtung - als extrem unsicher angesehen werden.“ Das DIW (1999: 504) weist darüber hinaus darauf hin, dass bei unterstellten 150.000 zusätzlichen Arbeitsplätzen ein Nettosubventionsbedarf von rund 12 Mrd. DM erwachse, so dass je Arbeits-

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platz Kosten von etwa 80.000 DM entstünden, die deutlich höher lägen als das Bruttoeinkommen je Beschäftigten auf einem dieser subventionierten Arbeitsplätze. Des Weiteren hat das IAB (1999b) darauf hingewiesen, dass das verfestigte Segment älterer Arbeitsloser (mit und ohne Qualifikation) mittels eines Niedriglohnsektors kaum zu erreichen ist, während selbst gering qualifizierte jüngere Arbeitslose meist nach relativ kurzer Verweildauer in Arbeitslosigkeit wieder in eine Beschäftigung einmünden und eines Niedriglohnsektors insoweit nicht bedürfen. Insgesamt sollte der Schröder/Blair-Vorschlag zu einem Niedriglohnsektor daher als untaugliches Mittel zur Bewältigung der Arbeitsmarktprobleme angesehen werden. Zu Maßnahmen der Arbeitsumverteilung findet sich bei Schröder und Blair, obwohl die Beschäftigungswirksamkeit von Arbeitszeitreduktionen unstrittig ist, kein einziges Wort. Die arbeitsmarktpolitischen Handlungsempfehlungen des deutsch-britischen Papiers stellen somit entweder arbeitsmarktpolitisches Allgemeingut (Qualifizierung, Zielgruppenförderung) dar oder sind schlicht und ergreifend untauglich zur Lösung der Beschäftigungskrise (Niedriglohnsektor). Insgesamt werden daher auch keine Wege aus der Finanzierungskrise des Wohlfahrtsstaats gewiesen. 4.3 Gleichheit im Wohlfahrtsstaat Entscheidend im Hinblick auf die Bewertung der Ausführungen zum zweiten Ziel


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des Wohlfahrtsstaats ist die im Schröder/ Blair-Papier erfolgte Gleichsetzung von sozialer Gerechtigkeit mit Chancengleichheit, bei der offensichtlich Rawls’ „Theorie der Gerechtigkeit“ Pate gestanden hat. Danach ist wirtschaftliche und soziale Ungleichheit so lange unproblematisch, wie sie auch dem Schwächsten noch Vorteile zu versprechen scheint (Rawls 1993: 81ff). Im Hinblick auf die Verteilungsgerechtigkeit führt Rawls (1993: 311) konkret aus: „Doch wenn einmal ein angemessenes Existenzminimum durch Umverteilung gesichert ist, kann es völlig fair sein, dass der übrige Teil des Gesamteinkommens durch das Preissystem bestimmt wird, falls es einigermaßen optimal und frei von monopolistischen Einschränkungen sowie von unangemessenen externen Wirkungen ist.“ Diese Gerechtigkeitsinterpretation greift jedoch theoretisch und praktisch zu kurz.3 Soziale Gerechtigkeit ist mehr als Chancengleichheit und Verhinderung sozialer Ausgrenzung, wenn auch beide als Voraussetzung sozialer Gerechtigkeit angesehen werden können. Gerechtigkeit setzt auch Inklusion und damit in einem bestimmten Maße Gleichheit im Ergebnis voraus. Von letzterer, auf die sich die Sozialdemokratie nach Auffassung von Schröder und Blair in der Vergangenheit zu sehr gestützt habe, heißt es, sie habe „die Bedeutung von eigener Anstrengung und Verantwortung ignoriert und nicht belohnt und die soziale Demokratie mit Konformität und Mittelmäßigkeit verbunden statt mit Kreativität, Diversität und herausra-

gender Leistung.“ Diese fast schon polemische Kritik des Egalitätsstrebens, die im Grunde genommen einer Absage an staatliche Umverteilungsaktivitäten gleichkommt, übersieht den zentralen Beitrag von Gleichheit zur sozialen Integration. Sie negiert darüber hinaus auch die aus der Verteilungsentwicklung der Vergangenheit begründeten und legitimen Ansprüche an Umverteilungsaktivitäten des Staates von den Leistungsstärkeren zu den Schwächeren. Der empfohlenen Senkung der Unternehmenssteuern ist daher mit Vorsicht zu begegnen. Das gilt aber insbesondere auch deshalb, weil sich der von den Regierungschef unterstellte (neoliberale) Zusammenhang von Steuersenkung, Investitionserhöhung und Beschäftigungszuwachs in den vergangenen Jahren nicht bewahrheitet hat. Es wird hier der vorherrschende neue Typ der Akkumulation übersehen, der einerseits auf Finanz- statt Sachinvestitionen setzt und andererseits bei Sachinvestitionen vor allem Rationalisierungsinvestitionen im Auge hat, damit aber gerade erst zu Beschäftigungsabbau führt, und sich im Übrigen durch ein Höchstmaß an autonomen, also von den Rahmenbedingungen nur wenig abhängigen Investitionen auszeichnet (Hickel 1987). Mit dem Verweis auf die beschriebenen empirischen Erkenntnisse zum Investitionsverhalten soll nicht die Sinnhaftigkeit der von Blair und Schröder avisierten Förderung neuer Technologien und der Ausnutzung des technologischen Fortschritts in Frage gestellt werden; aus

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wettbewerblichen Gründen und aus Gründen der Humanisierung des Arbeitslebens sind entsprechende Investitionen häufig unterstützenswert. Von Sozialdemokraten wäre aber schon zu verlangen, dass sie sich der Frage stellen, wie denn die Rationalisierungsgewinne verteilt werden sollen. Beschäftigungswirksam kann das nur erfolgen, wenn aus ihnen Arbeitszeitverkürzungen finanziert werden. Fragen der Arbeitszeitpolitik sind aber, wie oben bereits gezeigt wurde, kein Gegenstand der Schröder-Blairschen Vorschläge. So lange aber nicht über die Verteilung des Rationalisierungsgewinns gesprochen wird, so lange werden Änderungen in den Verteilungsverhältnissen mit der Maßgabe, mehr Gleichheit zu erzielen, nicht stattfinden, sondern es wird in der Tendenz zu einer weiteren Verschärfung der distributiven Ungleichheit kommen. Dann jedoch erhöht sich wiederum das Armutsrisiko, dessen Bekämpfung gleichwohl als wichtige politische Aufgabe verstanden werden soll.

5. Sozialdemokratische Perspektiven für den Wohlfahrtsstaat Insgesamt muss festgestellt werden, dass das Diskussionspapier von Schröder und Blair keine relevanten Handlungsempfehlungen zur Bewältigung objektiv im Wohlfahrtsstaat bestehender Problemlagen liefern kann. Positiv ist zunächst aber hervorzuheben, dass das Papier, gerade auch im Hinblick auf

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die anstehende Reform des Sozialstaats, wesentliche Probleme wenigstens benennt. Allerdings geben gerade die Ausführungen zur Neugestaltung der sozialen Sicherung und zur Gerechtigkeit Anlass zur Vermutung, dass das bisher exekutierte und zu Recht kritisierte neoliberale Politikmuster von Blair und Schröder letztlich als alternativlos angesehen wird. Dann fragt sich allerdings, worin denn der postulierte „Weg nach vorne“ besteht. Statt nach vorne zu schreiten, wird wohl eher der Pfad der regressiven Modernisierung des Wohlfahrtsstaates durch fortgesetzten Leistungsabbau bei Akzeptanz steigender sozialer Ungleichheit weiter beschritten. Allerdings bestehen Alternativen zur fatalen Fortsetzung eines Weges, der sich in der Vergangenheit hinlänglich als nicht zielführend erwiesen hat. Strategische Eckpunkte eines echten Wegs nach vorne werden nachstehend beschrieben. 5.1 Anpassung der sozialen Sicherungssystem an die gesellschaftlichen Veränderungen Bei der Umgestaltung der sozialen Sicherungssysteme ist dem im Zuge der Modernisierung moderner Gesellschaften neu entstehendem bzw. wachsendem Sicherungsbedarf Rechnung zu tragen. In erster Linie geht es dabei um die Frage, wie angesichts von Arbeitslosigkeit und perforierten Erwerbsbiographien Armut vermieden werden kann. Am ehesten gelingt das, wenn insbeson-


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dere in den stärker am Äquivalenzprinzip orientierten Sozialversicherungen Mindestsicherungselemente eingeführt werden. Die geplante Einführung einer sozialen Grundsicherung in der Rentenversicherung weist insoweit in die richtige Richtung. Eine bedarfsorientierte Mindestsicherung wäre darüber hinaus aber auch in der Arbeitslosenversicherung notwendig, damit Arbeitslose ohne oder mit nur geringen Leistungsansprüchen nicht auf (aufstockende) Sozialhilfe angewiesen werden. Hinsichtlich der Leistungen der Pflegeversicherung ist ebenfalls zu prüfen, wie es gelingen kann, dass alle Pflegebedürftigen ein Leben ohne Sozialhilfe führen können. Dazu sind in einem ersten Schritt auch Pflegebedürftige der „Pflegestufe 0“ in den Leistungsempfängerkreis einzubeziehen. Des Weiteren sind die Leistungen der Pflegeversicherung vor allem bei der stationären Pflege so auszugestalten, dass ergänzender Sozialhilfebezug überflüssig wird. In den vergangenen Jahrzehnten hat die Lebenserwartung spürbar zugenommen; der Anteil älterer Menschen an der Bevölkerung hat sich erhöht und wird auch in den kommenden Jahren weiter zunehmen. Da dieser Personenkreis ein vergleichsweise hohes Morbiditäts- und Pflegebedürftigkeitsrisiko aufweist, sind Gesetzliche Kranken- und Pflegeversicherung auf die damit verbundenen Belastungen einzustellen. Dies kann gelingen, wenn über die Rationalisierung des Leistungsgeschehens hinaus die

Versicherungspflichtgrenzen aufgehoben und die reduzierten Beitragsbemessungsgrenzen auf das Niveau der allgemeinen angehoben werden. Angesichts der gestiegenen Scheidungsraten, der Zunahme Alleinerziehender sowie nicht ehelicher Lebensgemeinschaften kommt schließlich einer eigenständigen Sicherung vor allem von Frauen eine wesentliche Bedeutung zu. Das im Rahmen der Rentenreformkonzeption vorgesehene Modell des Rentensplittings nimmt den beschriebenen Reformbedarf auf. Die Einführung von Mindestsicherungselementen in den Sozialversicherungen würde diese nicht allein armutsfest gestalten, sondern insbesondere für Frauen die soziale Sicherheit erhöhen. 5.2 Wege aus der Einnahmekrise des Wohlfahrtsstaats Im Hinblick auf die Finanzierung des Wohlfahrtsstaates kommt der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit die entscheidende Bedeutung zu, zumal der Arbeitsmarkt nach wie vor die zentrale Drehscheibe der Verteilung von Lebenschancen und Sicherungsansprüchen sowie Ungleichheit ist. Seine Stabilisierung hat daher im Mittelpunkt politischen Handelns zu stehen. Das ist vor allem von der Durchsetzung einer Politik der Arbeitsumverteilung zu erwarten. In erster Linie geht es dabei um eine weitere Arbeitszeitverkürzung, die in der Vergangenheit entscheidende Voraussetzung zur Stabilisierung der Beschäftigung bei produktivitätsbedingtem Sin-

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ken des Arbeitsvolumens war. Darüber hinaus ist aber auch der Abbau von Überstunden sowie die Umwandlung von Nacht- und Wochenendarbeitszuschlägen in Freizeitausgleich in Betracht zu ziehen. Es wird allgemein erwartet, dass auf diesem Wege mehrere hunderttausend Arbeitsplätze neu geschaffen werden können (z.B. Senatsverwaltung für Arbeit, Berufliche Bildung und Frauen 1997; IAB 1998b). Eine ausgedehnte Arbeitsförderung bleibt absehbar notwendig. Gemäß der Devise „Arbeit statt Arbeitslosigkeit finanzieren“ sollten passive Lohnersatzleistungen verstärkt für vielfältige Maßnahmen der Arbeitsförderung aktiviert werden. Aktive Arbeitsmarktpolitik sollte im Weiteren vor allem wirtschaftsnah umgesetzt werden. In Ergänzung hierzu bleibt aber auch die Zielgruppenförderung insbesondere von Jugendlichen, Langzeitarbeitslosen und Behinderten von hoher Relevanz. Die Bekämpfung unlauterer Beschäftigung sowie eine weitgehende sozialrechtliche Regulierung atypischer Beschäftigungsverhältnisse ist ebenfalls von Bedeutung. Des Weiteren ist nach den Finanzierungsbeiträgen des Produktivitätswachstums zu fragen. In diesem Zusammenhang ist zu überlegen, die Arbeitgeberbeiträge zukünftig nicht mehr am Lohn, sondern an der Wertschöpfung zu orientieren. Damit würden zugleich arbeitsintensive Produktionen kostenmäßig entlastet, während kapitalintensive

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Produktionen nicht noch für die Vernichtung von Arbeitsplätzen durch die Senkung von Sozialabgaben belohnt würden. Daneben ist die begonnene Neuordnung der sachgerechten Zurechnung von Sozialversicherungsausgaben fortzusetzen. Die erfolgte Umfinanzierung zahlreicher nicht beitragsgedeckter Leistungen der Gesetzlichen Rentenversicherung auf Haushaltsmittel war hier ein wichtiger Schritt. Es ist auch zu prüfen, ob nicht Maßnahmen der aktiven Arbeitsmarktpolitik zukünftig zu Lasten des Bundeshaushalts durchgeführt werden sollen. Der Gefahr, dass dann Arbeitsförderung nach Kassenlage gemacht wird, kann durch die Festschreibung des gesetzlichen Vorrangs aktiver Maßnahmen vor Transferzahlungen begegnet werden. Schließlich muss die im Rahmen der geplanten Gesundheitsstrukturreform vorgesehene Erschließung von Rationalisierungspotentialen bei der medizinischen Versorgung zum Erfolg geführt werden. 5.3 Wege zu mehr Gleichheit im Wohlfahrtsstaat Eine Korrektur der Verteilungsverhältnisse ist vor allem von einem Abbau der Arbeitslosigkeit und einer Verbesserung der Beschäftigungssituation zu erwarten. Entsprechende Maßnahmen wurden oben beschrieben. Darüber hinaus bedarf es jedoch auch einer Neuorientierung in der Steuerpolitik. Diese zeichnete sich in den vergangenen zwanzig Jahren dadurch aus, dass die Einkom-


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men der abhängig Beschäftigten immer stärker belastet wurden, während Kapitaleinkünfte stetig entlastet wurden. So haben sich bspw. die gesamtwirtschaftlichen Bruttoeinkommen aus Unternehmertätigkeit und Vermögen seit 1982 mehr als verdreifacht, während zugleich die hierauf entfallenden Steuereinnahmen nur um gut 22 vH stiegen; die durchschnittliche Steuerbelastung sank von rund 20 vH auf nur noch 7,8 vH. Umgekehrt hätten bei gleichbleibender Steuerbelastung die Steuereinnahmen auf Einkommen aus Unternehmertätigkeit und Vermögen 1997 um gut 125 Mrd. DM höher gelegen, als sie es tatsächlich taten (Schäfer 1998: 677; eigene Berechnungen). Diese knappen Ausführungen zur Notwendigkeit einer egalitätsorientierten Neuordnung der Steuerpolitik mögen hier genügen. Schließlich wäre das Schröder/Blair-Papier um Aussagen zu ergänzen, wie insbesondere die zunehmende Kinderarmut, über die bereits genannten Maßnahmen der allgemeinen Armutsbekämpfung hinaus, gezielt bewältigt werden soll. Im Kern geht es dabei um eine Neugestaltung des Familienlastenausgleichs, so dass der Lebensunterhalt von Kindern tatsächlich gedeckt wird. Im Interesse einer verteilungsgerechten Ausgestaltung käme einer spürbaren Erhöhung des Kindergeldes anstelle steuerlicher Kinderfreibeträge eine zentrale Rolle zu, da gerade Haushalte mit Kindern häufig niedrige Einkommen aufweisen. Darüber hinaus wäre zu überlegen,

der Pluralisierung der Lebensformen auch dadurch gerecht zu werden, dass die bisher für das Ehegattensplitting aufgewendeten Mittel kindbezogen umverteilt werden. Die Verbesserung der Arbeitnehmerund Familieneinkommen ist wesentliche Bedingung der Vermögensbildung. Angesichts der erheblichen Konzentration in diesem Bereich sind aber weitere Maßnahmen erforderlich, selbst wenn auf Grund der Erfahrungen der Vergangenheit die Chancen zu einer durchgreifenden Vermögenskorrektur als gering anzusehen sind. Als klassisches Instrument der Vermögenspolitik sind die verschiedenen Formen der Sparförderung (Prämien, Steuervergünstigungen) anzusehen. Ihre Bedingungen wurden zu Beginn des Jahres 1999 deutlich verbessert. Angesichts des geringen Umfangs dieser vermögenspolitischen Leistungen, die zudem zwischen 1985 und 1995 auf ein Sechstel ihres Ausgangswerts reduziert wurden, ist ein nachhaltiger Einfluss hinsichtlich der Egalisierung der Vermögensverhältnisse jedoch nicht zu erwarten. Auch Investivlöhne und Gewinnbeteiligungen als zweite Form der Vermögensbildung in Arbeitnehmerhand konnten ihren eigenen Ansprüchen, vor allem wenn es sich um einen bloßen Tausch von Bar- und Sparlöhnen handelte, nicht gerecht werden (Priewe/ Havighorst 1999). Das darf jedoch nicht dazu führen, dass angesichts der Schwierigkeiten durchgreifende vermögenspolitische Korrekturen zu verwirklichen,

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hierauf vollständig verzichtet wird. Insbesondere gilt es, leistungslose Vermögenseinkommen, die regelmäßig Wiederanlagezwecken dienen, angemessen zu besteuern und so über die Regulierung des Vermögenszuwachses Einfluss auf die Entwicklung des Vermögensbestands zu nehmen. Vor allem aber sollten diejenigen, die nicht oder nur gering an den in der Bundesrepublik akkumulierten Vermögen partizipieren (können), wenigstens vor den Auswirkungen einer ins völlige Belieben der Eigentümer gestellten Vermögensverwertung geschützt werden. Das gilt insbesondere für den Bereich der hochgradig konzentrierten Produktivvermögen. Hier kommt einer, die Verfügungsmacht wenigstens kontrollierenden Ausgestaltung der Mitbestimmung eine wesentliche Bedeutung zu. Die in Abschnitt 5 beschriebenen Maß-

nahmen und Instrumente erscheinen geeignet, Beiträge zur Lösung der tatsächlich bestehenden Probleme des Sozialstaats zu leisten. Sie dürften dem verbreiteten Verständnis der sozialdemokratischen Grundwerte von Freiheit, Gleichheit und Solidarität zudem eher entsprechen als die Schröder-Blairschen Interpretationen. Die gegebenen Handlungsempfehlungen sind wesentlich stärker als jene des deutsch-britischen Papiers auf die tatsächliche Teilhabe an den Lebensmöglichkeiten einer Gesellschaft ausgerichtet und stellen damit in diesem Sinne einen Beitrag zur Wiedererlangung sozialer Gerechtigkeit in der Bundesrepublik dar.

Dr. Volker Offermann ist Referent für Arbeit, Soziales, Gesundheit und Frauen bei der SPD-Landtagsfraktion Brandenburg.

Anmerkungen: 1 Zu einem kurzzeitigem Anstieg der Sozialleistungsquote kam es lediglich im Gefolge der Bewältigung der Transformationsprobleme in den neuen Bundesländern zu Beginn der 90er Jahre.

2 Die arbeitsmarktpolitischen Empfehlungen verdeutlichen in exemplarischer Weise das kulturelle Dilemma, das zu Beginn von Abschnitt 3 aufgezeigt wurde. Beliebige Beschäftigungen, insbesondere nicht existenzsichernde, mögen gerade noch dann der Arbeitslosigkeit vorzuziehen sein, wenn Konse-

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quenzen für die weitere soziale Sicherungsbiografie nicht zu erwarten sind. Das ist der Fall, wenn ohnehin nur das Existenzminimum garantiert wird. Im Übrigen verweist die gezogene Schlussfolgerung auf die Anreizproblematik nicht am vorherigen Status des Arbeitnehmers anknüpfender sozialer Sicherungen. 3

Eine eingehende Kritik von Rawls’ Gerechtigkeitstheorie findet sich bei Habermas (1991: 125ff, 204ff; 1992: 79ff).


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Literatur Beck-Gernsheim, E. 1994: Auf dem Weg in die postfamiliale Familie - Von der Notgemeinschaft zur Wahlverwandtschaft, in: Beck, U./Beck-Gernsheim, E. (Hrsg.): Riskante Freiheiten, Frankfurt/ Main, S. 115-138. Bobbio, N. 1994: Rechts und Links. Gründe und Bedeutungen einer politischen Unterscheidung, Berlin. DIW 1999: DIW-Wochenbericht 27/99.

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Giddens, A. 1997: Jenseits von Links und Rechts. Die Zukunft radikaler Demokratie, Frankfurt/Main.

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Kaufmann, F.-X. 1997: Herausforderungen des Sozialstaats, Frankfurt/Main.

Habermas, J. 1991: Erläuterungen zur Diskursethik, Frankfurt/Main.

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Verteilungspolitik, in: Schewe, G./ Schulz-Nieswandt, F. (Hrsg.): Sozialpolitische Trends in Deutschland in den letzten drei Dekaden. Eve-Elisabeth Schewe zum 70. Geburtstag, Berlin, S. 171 - 200 (i.E.). Priewe, J./Havighorst, F. 1999: Auf dem Weg zur Teilhabergesellschaft? Investivlöhne, Gewinn- und Kapitalbeteiligungen der Arbeitnehmer in Westeuropa und den USA - eine vergleichende Bestandsaufnahme. Gutachten im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn.

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Rawls, J. 1993: Eine Theorie der Gerechtigkeit, 7. Auflage, Frankfurt/Main. Schäfer, C. 1998: Das Ende der Bescheidenheit wäre der Anfang der Vernunft. Zur Verteilungsentwicklung in 1997/98 und den Vorjahren, in: WSI-Mitteilungen, 51. Jg., S. 675-690. Senatsverwaltung für Arbeit, Berufliche Bildung und Frauen 1997: Innovation, Beschäftigung, Wachstum und Wettbewerb. Strategien zur Halbierung der Arbeitslosigkeit, Berlin.


KANN POLITIK DIE OSTDEUTSCHE ERWARTUNGSHALTUNGEN ERFÜLLEN? Dr. Klaus-Jürgen Scherer

KANN POLITIK DIE OSTDEUTSCHEN ERWARTUNGSHALTUNGEN ERFÜLLEN? Dr. Klaus-Jürgen Scherer Problemaufriss: „Von Russland lernen, heißt verlieren lernen?“ Am 18. November 1999 veranstaltete das Moskauer Büro der Friedrich-EbertStiftung ein Diskussionsforum zum Thema: „10 Jahre Transformation: ein Vergleich der deutschen und russischen Entwicklung“. Aus Deutschland lieferte u.a. der Brandenburger Bundestagsabgeordnete, Sprecher der Arbeitsgruppe „Angelegenheiten der neuen Länder der SPD-Bundestagsfraktion“, Mathias Schubert, einen Bericht zum Stand der deutschen Einheit. Die russische Seite war aus Politik und Politischer Wissenschaft hochrangig besetzt; sie analysierte drastisch Zerfall, Verarmung, Korruption, Machtmissbrauch, mafiakapitalistische Ausplünderung und verfallende Moral des Landes. Produktive Investitionen finden kaum statt, das Kapital fließt in den Westen ab. Ich nahm aus Moskau die Erfahrung einer brisanten Mischung aus verletztem Stolz, aus der nostalgischen Erinnerung an Gleichheit und staatlich garantierter Sicherheit, aus rechtsstaatlichen und demokratischen Defiziten, sowie einer

Sehnsucht nach einem „starken Mann“ an der Spitze mit nach Berlin. Typische Aussagen auf und am Rande der Konferenz waren: „es ist schwer damit fertig zu werden, dass so vieles, was wir aufgebaut haben, umsonst war“; „eigentlich passt uns das sozialdemokratische Modell der sozialen Absicherung, und dass der Staat Arbeit schafft, mehr als jedes andere“; „das Misstrauen der Bürger gegen den Staat, der mit kriminellen Gruppen verwoben ist, ist enorm“; Wladimir Putin, immerhin verantwortlich für den derzeitigen Feldzug gegen Tschetschenien, avanciert zum Held und Hoffnungsträger des Tages: „endlich einmal jemand, der tut, was er sagt“. Haben diese russischen Impressionen einen Bezug zu Ostdeutschland? Natürlich ist hier bei uns unendlich vieles anders: die DDR ist beigetreten; die Übertragung des Wirtschafts-, Rechtsund Sozialsystems der alten Bundesrepublik; die Rolle der Europäischen Union; die 700 - 800 Mrd. DM innerdeutscher Transfer; die 1 Mio. DM staatlicher Subventionen pro Arbeitsplatzerhaltung; Privatisierung und Rechtssicherheit des Eigentums schufen Investorenvertrauen,

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sodass es keine Kapitalflucht gab; ein berechenbares Steuerrecht und besondere Abschreibungsmöglichkeiten förderten Investitionen; etc. Aber gibt es nicht doch ostdeutsche Erwartungshaltungen an die Politik, die postkommunistischen russischen Befindlichkeiten gar nicht unähnlich sind und die eine Politik der Angleichung der Lebensverhältnisse und der notwendigen Modernisierung erschweren? Die russischen Kommunisten haben heute jedenfalls exakt den gleichen rund 20prozentigen Stimmenanteil wie die PDS in Ostdeutschland - beide Parteien haben Erfolg mit einer Rhetorik von nationalistischem bzw. ostdeutschem WirGefühl und sozialem Populismus. Gilt das Verdikt „wer reformiert, wird abgewählt“ nicht besonders für Ostdeutschland, wo es in den Wahlen des Herbstes 1999 bekanntlich (in Brandenburg minus 14,8%; in Thüringen, in Sachsen und im Ostteil Berlins nur noch Platz drei hinter der PDS) zum Absturz der SPD gekommen ist?

Bestandsaufnahme: Sozialwissenschaftlich ermittelter Sonderweg Ost Aus der empirischen Sozialforschung der neunziger Jahre ist bekannt, dass sich die Ostdeutschen in wesentlichen politischen Erwartungshaltungen von den Westdeutschen unterscheiden: Zwar haben sich in zehn Jahren Einheit

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individuelle Einstellungen und Werte in Ost und West angenähert. Für politischgesellschaftliche Orientierungen gilt dies jedoch nicht. Die Ostdeutschen lehnen nach wie vor stärker soziale Ungleichheit, pure Marktlogik, ausschließliches Effizienzdenken ab und sprechen sich mehr für Gleichheit, Gerechtigkeit, Konsens und staatliche Verantwortung bzw. Regulierungen aus. Die Ostdeutschen haben höhere Ansprüche an Ausmaß und Umfang der Sozialpolitik und sind unzufriedener mit den aktuellen Ergebnissen des Sozialstaates. Rund 90% sprechen sich seit Mitte der neunziger Jahre gegen Kürzungen im Sozialbereich aus, und meinen, der Staat müsse auch in Zukunft seiner Verantwortung bei Altersvorsorge und Krankheit nachkommen. 72% der Ostdeutschen gegenüber 50% der Westdeutschen meinen, soziale Sicherheit gehöre unbedingt zur Demokratie. Noch 1997 fanden 79% der Ostdeutschen die Idee des Sozialismus gut, die nur von schlechten Politikern ruiniert worden sei. Die Haltung zum bundesdeutschen Wirtschafts- und Sozialsystem ist in Ostdeutschland im Vergleich zum Westen distanzierter, kritischer und auf Veränderungen orientiert. Es wird gefordert, die Rolle des Staates gegenüber dem Markt zu stärken. Besonders dem Wert der Gleichheit wird im Osten eine deutlich höhere Priorität zugemessen, in Zahlen von 1996: 47% Ost zu 28% West. Beim Wert der Freiheit verhält sich die Prioritätensetzung umgekehrt: 35% Ost zu 56% West. Das


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Allensbach-Institut für Meinungsforschung kommentierte dieses Ergebnis seiner Repräsentativstudie folgendermaßen: „Eine einzige Freiheit wird in den neuen Ländern höher eingeschätzt als in den alten: die Freiheit von finanziellen Risiken, sei es bei Krankheit, Not oder Arbeitslosigkeit. Keine andere Freiheit ist dort wichtiger. Das Freiheitsstreben der ostdeutschen Bevölkerung richtet sich weniger auf die Verteidigung der Bürgerfreiheit gegen staatliche und andere Begrenzungen als auf die Absicherung gegen Risiken und Sorgen um die eigene Existenz ... Alle politischen Maßnahmen, die auf sogenannte Egalisierung abzielen, werden in Ostdeutschland überdurchschnittlich unterstützt: eine hohe Steuerprogression, Vermögens- und höhere Erbschaftssteuern, die Abschaffung des dreigliedrigen Schulsystems ... Der Aufruf, ‚mehr Gleichheit, weniger soziale Unterschiede‘ (findet) eine überwältigende politische Resonanz: 77% der Ostdeutschen finden diese Forderung sympathisch“ (FAZ 13.03. 1996, S.5). Zu diesem Befund passt die andauernde Selbstverortung der Ostdeutschen am unteren Ende der sozialen Schichtung. Sie definieren sich zu fast zwei Dritteln als der sozialen Unterschicht zugehörig, während dieser Selbsteinstufung in Westdeutschland nicht einmal 30% folgen. Spiegelverkehrt sehen die Ergebnisse bei der Frage nach der Mittelschichtszugehörigkeit aus. Im Osten rechnet sich etwa ein Drittel dazu, wäh-

rend es in Westdeutschland fast 60% sind. Entsprechend zählen sich zur Oberschicht in Ostdeutschland nur 3%, im Westen sind dies immerhin 12% (nach Wohlstandssurvey 1998). Natürlich ist die ostdeutsche politische Kultur nach 10 Jahren Transformation und Integration nicht homogen. Thomas Koch hat jüngst im „Deutschland-Archiv“ (Mai/Juni 1999) die Gleichzeitigkeit dreier Milieus beschrieben, die um die politisch-kulturelle Hegemonie in Ostdeutschland konkurrieren. Er nennt sie: (1) „Träger ostdeutschen Wir- und Selbstbewusstseins“; (2) „ ‚ost‘-deutsche Bundesbürger“; (3) „Völkische im Osten“. Die Parteiidentifikationen überlappen sich hierbei, wobei die PDS im ostdeutschen Milieu und die CDU im Bundes-Milieu einen eindeutigen Schwerpunkt besitzen, während es der SPD droht, relativ unspezifisch in beiden Milieus, in der sozial- und gleichheitsorientierten ostdeutschen Formation, wie auch in der auf Modernisierung und wirtschaftliche Leistung setzenden bundesdeutschen Formation, den Kürzeren zu ziehen. Zwar verfüge die Anpassungsoption an die westlich-bundesdeutsche „Normalität“ perspektivisch über die besten Ressourcen. Doch derzeit sind die Kräfteverhältnisse eindeutig, grob etwa 60:30:10. Damit überwiegt derzeit noch zu fast zwei Dritteln das ostdeutsche Wir- und Selbstbewusstsein, das Koch durch folgende Stichworte kennzeichnet: „Zugehörigkeit/Selbstwahrnehmung: Ostdeutsche(r); Gewissheit, nicht westdeutsch zu

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sein. Haltung zur Bundesrepublik als Staat, Gesellschaft und System: Annäherung und kritische Distanz. Wertvorstellungen: pro-sozialistisch. Veränderungsoption: demokratischer Sozialismus. Haltung zur DDR im Rückblick: keine Totalablehnung. Konzentrierter politischer Ausdruck: PDS, demokratische Sozialisten in der SPD.“

Thesen: Auch Ostdeutsche können falsches Bewusstsein haben Die SPD hat ihre in der Bundestagswahl 1998 errungene führende Stellung im ostdeutschen Dreiparteiensystem 1999 erst einmal wieder eingebüßt. Dies hat verschiedene öffentlich diskutierte Gründe. Meine These allerdings ist, dass diese Niederlagen auch tieferliegende Ursachen Ost haben. Es gibt Orientierungen des Sonderweges Ost, wie sie die Sozialwissenschaften beschreiben, die Gift sind für eine Politik, die den Reformstau auflösen, den Staatshaushalt konsolidieren und die Sozial- und Steuersysteme modernisieren muss. Natürlich kann die Bundesregierung manches besser machen. Doch das Problem falscher ostdeutscher Erwartungshaltungen, die nicht nur die SPD, sondern die Politik überhaupt nicht erfüllen kann, bleibt bestehen. Dies will ich - im Bewusstsein mit diesem Denkanstoß anzuecken - in ein paar Thesen aufzeigen: Die ostdeutsche Ungeduld, von der Regierung sofortige Problemlösung zu

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verlangen, kann in einer komplexen Gesellschaft nicht bedient werden. So wurde die Stimmenthaltung und -abwanderung der eigenen Wählerklientel begründet mit einem Vertrauensverlust in die Politik der Bundesregierung, die Versprechen gebrochen habe, mit der man generell unzufrieden sei, die keine klaren Konzepte habe. Wer im Staat einen schier allmächtigen Akteur sieht, der alles schnell und ohne Kompromisse eingehen zu müssen, zum Besseren wenden kann, wenn er nur wirklich will, dessen Erwartungen müssen notwendigerweise enttäuscht werden. Das zeigt sich besonders beim Thema Arbeit: Arbeitsplatzbeschaffung kann nur sehr begrenzt Staatsaufgabe sein, vielmehr gibt es auf dem Arbeitsmarkt den Zusammenhang mit wirtschaftlichen Bedingungen wie Konjunktur, Lohnhöhe, Sozialleistungen, Steuersystem etc. Erfolge, etwa des Bündnisses für Arbeit, brauchen Zeit. Die bewusstseinsmäßige Abspaltung der privaten Sphäre von Wirtschaft und Gesellschaft ist ein alter DDR-Reflex, sie führt zurück zur Nischen- statt zur Zivilgesellschaft und zu unlogischem Wahlverhalten. Während die persönliche wirtschaftliche Lage von den meisten als gut oder doch wenigstens als zufriedenstellend eingeschätzt wird, beurteilen gleichzeitig viele von diesen die allgemeine wirtschaftliche Lage als schlecht. Je deutlicher Demokratie und Marktwirtschaft kritisiert werden, desto weiter öffnet sich die Schere bei der Einschätzung


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der persönlichen und der allgemeinen wirtschaftlichen Lage. Am deutlichsten ist diese Schizophrenie bei den zukunftsskeptischen PDS-Anhängern, die im Durchschnitt nicht zu den Verlierern der Einheit zählen, eher sogar Besserverdienende-Ost sind. Sie bleiben der Protestwahl, einer Kultur des Meckerns und des Abstrafens verhaftet, denn auch die gestärkte PDS hat ein katastrophales Kompetenz-Profil: Ihre Wähler erwarten erst gar nicht, dass sie mit den Problemen besser fertig werden würde als andere. Dem ostdeutschen Wir-Gefühl, Verlierer der Einheit, „Deutsche zweiter Klasse“, sozial unten zu sein, liegen manchmal problematische Vergleichsmaßstäbe zugrunde. Drei Viertel aller Ostdeutschen glauben derzeit, die Bundesregierung tue zu wenig für die Angleichung der Lebensverhältnisse in Ost und West. Sicher gibt es viele Bereiche, in denen Ostdeutsche kollektiv den Kürzeren gezogen zu haben, erinnert sei nur an „Rückgabe vor Entschädigung“. Doch über manchen Vergleich lohnt sich nachzudenken: Dass die Rente bei 85% West liegt, gilt als Benachteiligung Ost. Doch liegt sie real aufgrund der längeren Beitragszeiten bei Frauen bei 130% West und bei Männern bei 103% West. Dass die Löhne bei 75% West liegen, gilt als Nachholproblem - aber gleichzeitig ist die Produktivität lediglich bei 60% des Westens angelangt. Welchen Effekt hätte 100% Lohn auf Investitionen und die auch so schon doppelt so hohe Arbeits-

losenquote wie im Westen? Zugespitzt: Wieweit ist es realistisch, dass sich Frankfurt/Oder in jeder Hinsicht mit Frankfurt am Main vergleicht - oder lässt sich nicht auch aus einem Vergleich, wenn nicht mit Russland, so doch wenigstens mit dem osteuropäischen Transformationsprozess in Polen, Tschechien oder Ungarn lernen? Und auch auf der Ebene der individuellen Lebenswelt ist mancher Frust relativ: Fragt man nach der persönlichen Entwicklung, so antworten beispielsweise derzeit weit mehr Ostberliner (jeder zweite) als Westberliner (nur jeder fünfte), dass es ihnen heute besser gehe als vor der Wende. Das in Ostdeutschland mehr als im Westen verbreitete wohlfahrtsstaatliche Staatsverständnis umfassender nationaler Regulierung, Vorsorge und Umverteilung ist in der Gefahr, in einem sozialdemokratischen Traditionalismus von Anfang der 70er Jahre zu verharren und sich von der (west-)europäischen sozialdemokratischen Debatte abzukoppeln. Angesichts von Globalisierung, Europäisierung, neuen Technologien, dem Wandel von Arbeit, Sozialstruktur und Lebenswelten ist das sozialdemokratische Politikkonzept der kollektiven Verantwortung für den Schutz individueller Würde zwar nicht obsolet, es muss aber ergänzt werden durch Konzepte eines Innovations- und Investitionsstaates, der Förderung der Kultur des Unternehmertums, von Bildung und Forschung, der Freisetzung schöpferischer Fähigkeiten, die in Menschen, in modernen Unternehmen

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und Institutionen angelegt sind. Eine Haltung des passiven Abwartens und des Anspruches auf unveränderte Leistungen kann Reformen blockieren, auch wenn sie von links kommt. Es mag schwer fallen, zehn Jahre nach dem Systemwechsel nicht endlich am Status Quo festhalten zu können. Aber wir befinden uns mitten in einer Zeitenwende. Diese finanzwirtschaftliche, digitale, arbeits- und lebensweltliche usw. Zäsur lässt das Modell des europäischen Sozialstaates nicht unangetastet. Kernfragen, gegen die sich auch ostdeutsche Befindlichkeiten nicht immunisieren sollten, sind z.B.: Wodurch ist der Sozialstaat zukunftssicher zu machen, damit er aus der Finanzierungskrise herauskommt, nicht passivierend wirkt und solidarisches Handeln und individuelle Aktivierung fördert? Wie kann die politische Arbeitsteilung von Staat und Zivilgesellschaft zugunsten letzterer verschoben werden ohne in Privatisierung abzurutschen? Wie können wir den Herausforderungen des „digitalen Kapitalismus“ (Peter Glotz) gerecht werden, in dem Wissen, Information, Kommunikation und Bildung zu zentralen Produktionsfaktoren werden? Hinter mancher Verabsolutierung von Gleichheit in Ostdeutschland steht nicht eine Debatte ums bessere Gemeinwohl, sondern es geht darum, dass diejenigen, die sich als Übervorteilte und als Verlierer der Geschichte sehen, auf ihr Recht pochen. Soziale Gerechtigkeit droht zu einer Metapher dafür zu werden, hier und

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jetzt ein möglichst gutes Leben vom Staat einzuklagen. Für die Mehrheit der Wähler in Ostdeutschland war das Thema soziale Gerechtigkeit im Herbst 1999 ausschlaggebendes Wahlmotiv. Gerechtigkeit war gewissermaßen die Achillesverse des SPD, ein Teil ihrer potentiellen Wählerschaft war der Meinung, dass die SPD nicht mehr im Einklang mit sozialer Gerechtigkeit stehe. Eine solche Wahrnehmung ist offensichtlich selektiv, hingewiesen sei nur auf die Schließung der zahlreichen Steuerschlupflöcher, darauf, dass die Durchschnittsfamilie 1999 seit Jahren erstmals wieder über mehr Geld verfügt usw. Auch um Gerechtigkeit muss unter dem Wandel gesellschaftlicher Bedingungen jedes Mal neu gerungen werden. Natürlich ist sie Bestandteil von Interessenkonflikten, Durchsetzungsstrategien und notwendigen Kompromissen, nicht losgelöst von der Staatsverschuldung zu sehen. Zudem steht vor allem im Mittelpunkt, runter zu kommen von der hohen Arbeitslosigkeit, die zu gesellschaftlicher Ausgrenzung führt. Zwischen Gleichheit und Bedingungen, unter denen verstärkt arbeitsplatzschaffend investiert wird, können Zielkonflikte bestehen. Nicht Vermögen an sich ist das Problem, vielmehr, wie möglichst viel Kapital zu unternehmerischer Aktivität vor Ort angeregt werden kann. Und: Sind nicht niedrige Einkommen, z.B. für einfache Dienstleistungen - wenn sie mit sozialer Absicherung verbunden sind und zu einem einigermaßen guten Leben reichen - der Alternative Arbeitslo-


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sigkeit vorzuziehen? - Doch in Moskau erhält man heute sinnlich bestätigt, wo die Grenzen liegen: wie wichtig es ist, dass niemand wegen Arbeitslosigkeit, Krankheit, Alter, wegen Lebensphasen, in denen der Einzelne nicht marktmäßig funktionieren kann, ins Bodenlose stürzt. Die erbärmlich bettelnden Großmütter in der Innenstadt sollten uns eine herzzerreißende Mahnung sein: Es geht darum, soziale Marktwirtschaft zu erneuern, nicht darum, alle Regulierungen einzureißen.

„ Was Tun?“ - erste Konsequenzen Erstens darf nicht der Eindruck entstehen, die SPD würde nicht jederzeit in Innovation und sozialer Gerechtigkeit eine Einheit sehen. Gerade im Osten kann sich Modernisierungsbereitschaft nur auf der Basis sozialer Sicherheit und Gerechtigkeit entwickeln. Vielleicht könnte die alte Unterscheidung von Erhard Eppler zwischen Strukturkonservatismus und Wertkonservatismus weiterhelfen: Gerade um unsere Werte von Gerechtigkeit und Solidarität im derzeitigen „Zivilisationsbruch“ (so der Soziologe Heinz Bude) zu bewahren, müssen wir auch gegen viele Partialinteressen Strukturen reformieren. Zweitens scheint die Rede von der „Neuen Mitte“ und überhaupt allzu forsche Modernisierungsrhetorik in Ostdeutschland wenig anzukommen. Das ist kein Plädoyer, die notwendigen Zukunfts-

reformen sein zu lassen, doch bei ihrer Vermittlung stärkere Vorsicht walten zu lassen. Kommunikation kann polarisierend wirken wollen, es kommt aber darauf an, mehr Menschen mitzunehmen, indem das ungewohnte Neue in integrierende und akzeptierte Formeln gegossen wird. Drittens muss gerade in Ostdeutschland das Vertrauen in den Kernbereich der sozialdemokratischen Grundwerte soziale Gerechtigkeit und Solidarität wiederhergestellt werden. Dazu kann eine offensive Debatte beitragen, was an der Schwelle zum 21. Jahrhundert Gerechtigkeit und Solidarität eigentlich bedeuten, etwa ist die Rückführung der Staatsverschuldung ein Akt der Solidarität mit den kommenden Generationen. Viertens müssen sich - das ist die Bringschuld des politischen Handelns, dieser Beitrag thematisierte ja nur Erwartungshaltungen an die Politik - faktische Erfolge in der Wirtschaftspolitik und am Arbeitsmarkt einstellen, da wird das nächste Jahr mit seinem Wirtschaftsaufschwung entscheidend werden. Fünftens ist nicht Ab- und Ausgrenzung, sondern der offensive Umgang mit dem noch mehrheitlichen ostdeutschen Milieu mit seiner Unterschichtsorientierung und PDS-Nähe empfehlenswert. Dies aber nicht im Sinne eines bloßen Bedienens vorhandener ostdeutscher Erwartungshaltungen, sondern es kommt darauf an, auch Befindlichkeiten

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aufzugreifen und so umzulenken, dass eine größere Bereitschaft zur Modernisierung entsteht. Sechstens kommt es darauf an, objektive Zusammenhänge, die den realen Hintergrund für derartige Erwartungshaltungen bilden, zu verändern, etwa die übermäßige Abhängigkeit der Ostdeutschen von staatlichen Entscheidungen, Transfers und Fördertöpfen zu überwinden zugunsten eines „Auf-eigenen-Füßen-stehen“. Selbständige Entwicklungen und

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eigener Erfolg, Selbstbewusstsein und Realismus kann vor allem durch ostdeutsche Netzwerke gefördert werden. Oberflächliche Inszenierungskunst reicht nicht aus, es braucht demokratische Kommunikation, damit sich moderne, mehrdimensionale und selbstreflexive Positionen der sozialen Demokratie und Gemeinwohlorientierung verbreitern.

Dr. Klaus-Jürgen Scherer ist Geschäftsführer des Kulturforums der SPD.


SOZIALE GERECHTIGKEIT ALS KERNPUNKT DER PARTEIENKONKURRENZ Klaus Ness

SOZIALE GERECHTIGKEIT ALS KERNPUNKT DER PARTEIENKONKURRENZ ZWISCHEN SPD UND PDS IN OSTDEUTSCHLAND Klaus Ness Am 5. September 1999 fanden in Brandenburg Landtagswahlen statt. Die märkische SPD wurde zwar wieder mit gut 39 Prozent stärkste Partei, musste aber Verluste von über 14 Prozent im Vergleich zur Landtagswahl 1994 hinnehmen. Auch bei den folgenden Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen waren die Sozialdemokraten die eindeutigen Verlierer. Allen drei Wahlen war eins gemeinsam: das wichtigste politische Thema bei der Wahlentscheidung war das Thema soziale Gerechtigkeit. In Brandenburg benannten laut einer Wahltagsbefragung von Infratest-dimap 50 Prozent der Bürger dies als das entscheidende Wahlmotiv. Insbesondere trifft dies auf Wählerinnen und Wähler zu, die von der SPD zur CDU(53 Prozent) bzw. zur PDS (68 Prozent) gewechselt sind. Die Ergebnisse dokumentieren zumindest zweierlei: 1. Die größere Bedeutung, die die Ostdeutschen dem Politikziel soziale Gerechtigkeit bei ihrer Wahlentscheidung zumessen. 2. Die Erwartungshaltung der Ostdeutschen an den Regierungswechsel auf

Bundesebene und die mittlerweile eingetretene Enttäuschung über die bisherigen Ergebnisse: bei der Herstellung gleicher Lebensverhältnisse in Ost und West, der Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit und der Herstellung sozialer Gerechtigkeit. Für die SPD ist diese Entwicklung alarmierend. In ihrer Kernkompetenz – das Eintreten für gleiche Lebenschancen und die Teilhabe am materiellen Reichtum einer Gesellschaft - sprechen die Ostdeutschen der Sozialdemokratie zunehmend das Misstrauen aus. Das ist für die immer noch organisatorisch schwache SPD in Ostdeutschland um so bedrohlicher als ihr mit der PDS – im Gegensatz zu Westdeutschland - ein in der Gesellschaft verankerter Konkurrent gegenübersteht, der ihr diese Kernkompetenz streitig macht. Aus Meinungsumfragen ist bekannt, dass sich die Ostdeutschen - im Vergleich zu den Westdeutschen - eher den Unterschichten zuordnen, dem Staat eine größere Verantwortung für die Schaffung von Arbeitsplätzen zuschreiben und

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Gleichheit höher bewerten als individuelle Freiheit. Aus diesen Werthaltungen resultiert eine Erwartung an Politik, mit der sich alle politischen Kräfte auseinandersetzen müssen, die in Ostdeutschland mehrheitsfähig sein wollen. Auseinandersetzen kann aber für die SPD nicht bedeuten, dass sie in ihrer Politik – wie die PDS – opportunistisch unerfüllbaren Erwartungshaltungen nachrennt und sie dadurch sogar – möglicherweise wider besseren Wissens – verstärkt. Vielmehr muss sich die ostdeutsche SPD die Frage stellen, ob ein solcher Opportunismus-Wettlauf mit der PDS überhaupt gewonnen werden kann. Angesichts der Tatsache, dass die Sozialdemokratie jetzt auf Bundesebene Regierungsverantwortung trägt und an ihrer konkreten Politik gemessen wird, liegt die Antwort auf der Hand.... Für die SPD in Ostdeutschland wird es zu einer Überlebensfrage, ob sie in der Lage ist, in ihrer Kernkompetenz Vertrauen zurückzugewinnen und – gleichzeitig oder sogar als Vorbedingung – die ideologische Auseinandersetzung mit ihrer parteipolitische Konkurrenz zu führen. Sozialdemokratische Politik in Ostdeutschland kann nur erfolgreich sein, wenn sie die Deutungsmacht zurückerlangt, wie soziale Gerechtigkeit in einer modernen Gesellschaft definiert wird und durch konkrete Politik zu erreichen ist.

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Eine neue Offensive sozialdemokratischer Reformpolitik Dazu bedarf es einer neuen Offensive sozialdemokratischer Reformpolitik und ihrer Begründung. Der SPD in Ostdeutschland ist deshalb zu empfehlen, eine offensive und öffentliche Debatte darüber zu eröffnen, - welche Rolle der Staat in einer sich globalisierenden Wirtschaft spielen kann und soll; - in welchem Verhältnis staatliche, gesellschaftliche und individuelle Verantwortung bei der Herstellung gleicher Lebenschancen stehen; - welche Konsequenzen die Herausbildung individualisierter Arbeitsverhältnisse bzw. -bedingungen und – damit einhergehend – individualisierter Lebensstile für die Zukunft kollektiver Sicherungssysteme hat.

Widerstände in den eigenen Reihen überwinden Für diese Auseinandersetzung ist es jedoch verheerend, wenn die SPD - wie in den vergangenen Monaten geschehen nicht nur in ihrer Rhetorik den Eindruck erweckt, als laufe sie einem neoliberalem Zeitgeist hinterher. Anthony Giddens, dem bekanntesten Vordenker eines Dritten Weges der europäischen Sozialdemokratie, ist zuzustimmen, dass eine Sozialdemokratie, die den Wert der Gleichheit aufgibt, sich selbst ihre Existenzberechtigung entzieht. Jegliche so-


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zialdemokratische Debatte, die notwendige Strukturveränderungen für eine zukunftsträchtige Rolle des Staates und eine Modernisierung des Sozialstaates will, muss deshalb im Epplerschen Sinne wertkonservativ sein: die Öffentlichkeit muss wissen, dass Sozialdemokratie verändern will, um ihren Grundwerten – Freiheit, Gleichheit und Solidarität – unter veränderten Bedingungen Geltung zu verschaffen.

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dass der Sozialstaat nicht nur ein Einnahme-, sondern angesichts steigender Staatsverschuldung auch ein Ausgabeproblem hat, dass manche gut gemeinte Sozialleistung Eigeninitiative eher behindert denn befördert und der Missbrauch von Sozialleistungen keine Erfindung des Klassenfeindes ist.

Was ist sozial gerecht in Ostdeutschland? Manche Modernisierungsapostel und Berliner Republik-Rhetoriker aus der Sozialdemokratie scheinen diese Grundwerte in den vergangenen Monaten jedoch vergessen zu haben. Sie haben damit zur allgemeinen Verwirrung über die Ziele sozialdemokratischer Politik beigetragen. Andersherum gilt aber auch, dass die von Peter Glotz beschriebenen „Grölbacken“, „die aus einer Zeit“ kommen, „als das Wünschen noch geholfen hat“ (Glotz, Peter, Die beschleunigte Gesellschaft, 1999), nicht nur in der PDS, sondern auch in den Reihen der SPD zu finden sind. Mehrheiten für Reformen sind aber nur zu erreichen, wenn der eigenen Klientel auch unbequeme Wahrheiten zugemutet werden. Dazu gehört u.a., - dass demographische Veränderungen strukturelle Reformnotwendigkeiten hervorbringen, - dass manches, was vom Staat geleistet werden kann, von Privaten besser und kostengünstiger erbracht werden kann,

In der Honecker-Ära galt das SED-Postulat von der „Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik“. Gegenüber ihren Bürgern delegitimiert hat sich die DDR auch, weil sie die damit verbundenen Erwartungen nicht erfüllen konnte. Das weitgehend vom Weltmarkt abgeschottete System der zentralen Planwirtschaft war quantitativ und qualitativ nicht in der Lage, Güter und Dienstleistungen zu produzieren, die die Refinanzierung des allumfassenden Sozialstaatsversprechens erlaubten. Mit der Vereinigung wurde Ostdeutschland in einen Weltmarkt integriert, der sich – bedingt durch politische (Öffnung der ost- und mitteleuropäischen Märkte, Einführung des Euro) und technologische („digitaler Kapitalismus“, Peter Glotz) Veränderungen – rasant weiter entwickelt und allen Beteiligten einen großen Anpassungsdruck aussetzt. Die Folgen, die dieser immer noch nicht beendete Anpassungs- und Integrationsprozess in Ostdeutschland ausgelöst hat, sind hinreichend bekannt: Weitgehende Zerstörung der unproduk-

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SOZIALE GERECHTIGKEIT ALS KERNPUNKT DER PARTEIENKONKURRENZ Klaus Ness

tiven industriellen Basis, der Abbau von fast 90 Prozent der vorhandenen Arbeitsplätze im primären Sektor und in diesem Gefolge eine sich verstetigende Massenarbeitslosigkeit. Auf der anderen Seite aber auch die Herausbildung hochproduktiver „Industrieleuchttürme“ und die Schaffung hundertausender neuer Arbeitsplätze vor allem im privaten Dienstleistungssektor. Begleitet und unterstützt wurde und wird dieser Prozess durch massive Transferleistungen aus Westdeutschland und von der EU. Ein Großteil der Transferleistungen wird nicht investiv eingesetzt, sondern fließt in die Konsumtion. Angesichts knapper werdender Mittel und einer in Westdeutschland geringer werdenden Bereitschaft, Ostdeutschland weiter zu alimentieren, ist es umso dringender, eine Debatte zu führen, welche Unterstützung mit welcher Zielsetzung gebraucht wird, um eine eigenständige, selbsttragende wirtschaftliche Entwicklung in Ostdeutschland zu erreichen. Die Diskussion über die Frage, welche Politik vor diesem Hintergrund sozial gerecht ist, wird die Auseinandersetzung der nächsten Jahre bestimmen. Wenn es zutrifft, das sozial gerecht ist, was aktive Teilhabe (Inklusion) an der Gesellschaft erlaubt und Ausgrenzung (Exklusion) aufhebt, muss jede einzelne Aktivität und Maßnahme in Ostdeutschland nach diesem Kriterium und ihrer Effizienz überprüft werden. Diese Debatte

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muss ohne Tabus geführt werden. Folgende Fragen müssen dabei u.a. (neu) beantwortet werden: 1. Unter welchen Gesichtspunkten ist es sinnvoll, Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und andere Maßnahmen des öffentlichen Beschäftigungssektors zu finanzieren, die nicht auf den ersten Arbeitsmarkt ausgerichtet sind und keine dauerhafte Verbesserung der sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Infrastruktur bedeuten? 2. Befördert diese Politik, die oftmals in „Maßnahmekarrieren“ mündet, nicht eine „Kultur der Abhängigkeit„, die im Widerspruch zum Ziel der sozialen Inklusion steht? Oder ist sie um den Erhalt des sozialen Friedens unverzichtbar? 3. Hat nicht eine Politik, die auf die quantitative Bereitstellung wohnortnaher Ausbildungsplätze setzt – unter Inkaufnahme der Praxisferne, der mangelnden Qualität und der nicht vorhandenen regionalen Nachfrage – die Immobilität junger Erwachsener zur Folge? 4. Ist es ehrlich und vertretbar, einer Politik der Angleichung der Löhne und Gehälter an das Westniveau das Wort zu reden, solange die Produktivität nicht das Westniveau erreicht und die öffentlichen Hände auf Transferleistungen angewiesen sind? 5. Ist es sozial gerecht, aus Rücksicht auf existierende Besitzstände, eine Politik der kulturellen Bestandspfle-


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ge zu betreiben, während gleichzeitig notwendige Investitionen, die Arbeitsplätze am 1. Arbeitsmarkt sichern und schaffen helfen, unterbleiben? 6. Wann ist es verantwortbar, die öffentliche Verschuldung zu Lasten künftiger Generationen weiter zu erhöhen? Die Antworten auf diese Fragen sind nicht einfach und erst recht nicht bequem. Eine zukunftsträchtige sozialdemokratische Politik wird diese Antworten aber geben müssen. Wenn diese Antworten auch zu realer (und mehrheitsfähiger!) Politik werden sollen, muss die Sozialdemokratie die Auseinandersetzung darüber öffentlich führen. Auch die politische Konkurrenz – in Ostdeutschland insbesondere die PDS – muss gezwungen werden, sich diesen Fragen nicht zu entziehen.

Den „Antikapitalismus“ der PDS entzaubern Die PDS definiert sich selbst als sozialistische und antikapitalistische Partei. Gleichzeitig betont sie aber ihre Abkehr vom System staatsozialistischer Realität und betont ihre Akzeptanz des Rechts auf Privateigentum an Produktionsmitteln. In der Auseinandersetzung mit der PDS, was soziale Gerechtigkeit in einer modernen Gesellschaft bedeuten kann und muss, wird es im entscheidenden Maße darauf ankommen, ihre antikapitalistische Rhetorik zu entzaubern. Die

PDS bedient damit Gefühls- und Gemütslagen in Ostdeutschland jenseits jeglicher politischer und ökonomischer Realität. Konkrete Reform- oder Politikkonzepte, die ihren „antikapitalistischen“ Anspruch begründen, bleibt sie bewusst schuldig. Sie begnügt sich damit, vorhandene Unmutsgefühle angesichts sich rasant verändernder gesellschaftlichen Realität zu bedienen und zu verstärken. Mit Vorliebe diskriminiert sie Reformbemühungen von Sozialdemokraten als „Verrat“ an deren Idealen. Angesichts der Tatsache, dass die PDS heute eine stabile politische Kraft in der ostdeutschen Dreiparteienlandschaft ist, muss die Sozialdemokratie eine ideologische Auseinandersetzung mit der PDS anhand konkreter politischer Reformprojekte geradezu suchen. Welche Antworten – jenseits der schon für 10 andere sozialpolitische Projekte von der PDS wieder eingeführten Vermögenssteuer- haben die PDS-Antikapitalisten, um eine zukunftssichere Rente zu gewährleisten? Wie will die PDS angesichts einer gigantischen Staatsverschuldung eine Ausweitung öffentlich geförderter Beschäftigung finanzieren? Wie rechtfertigt die PDS die von ihr eingeforderte höhere Neuverschuldung vor den künftigen Generationen? Wie ist es unter Gesichtspunkten sozialer Gerechtigkeit zu rechtfertigen, dass Kommunen die Eintrittskarten für ein Theater oder ein Orchester mit bis zu 400 Mark subventionieren, gleichzeitig aber keine ausreichenden Mittel zur Verfügung ha-

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ben, um vernünftige Schulsportanlagen oder moderne Kindertagesstätten zu bauen und zu unterhalten? Die Sozialdemokratie muss diese Fragen selbstbewusst stellen. Die Antworten der „Antikapitalisten“ werden spannend sein. Zukunft für Ostdeutschland gewinnen Ostdeutschland wird keine Schutzzone im digitalen Kapitalismus der Zukunft sein – weder wirtschaftlich und sozial noch mental. Doch die Ostdeutschen stehen vor der Wahl: sie können eine dauerhafte Zukunft als – mehr schlecht als recht – alimentierte Region in Europa haben. Oder sie können an der Gestaltung der deutschen Gesellschaft aktiv teilhaben und ihren Platz als moderne, weltoffene und wegweisende Region finden. Das real vorhandene „Sonderbewusstsein Ost“ muss dafür produktiv eingebracht werden – und darf nicht zur Rückzugszone werden, die in die gesellschaftliche Desintegration mündet. Die Ostdeutschen haben den Westdeutschen eine Transformationserfahrung voraus. Diese Erfahrung müssen sie einbringen in die aktuelle gesellschaftliche Debatte über die Zukunft unseres Gesellschaftsmodells. Der „rheinische Kapitalismus“, das auf einem Sozial-

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staatskompromiss beruhende Erfolgsmodell der alten Bundesrepublik, steht heute auf dem Prüfstand und unter massiven Druck. Die Alternative ist ein hemmungsloser und ungebändigter KasinoKapitalismus der „kalifornischen Strategie“ (Peter Glotz) und nicht ein – wie auch immer geartetes – antikapitalistisches Sozialismusmodell der PDS. Die Auseinandersetzung um die Gesellschaft der Moderne wird konfliktträchtiger sein als bisher. Der naive Wunsch nach einem Konsens aller Akteure wird dabei alleine nicht ausreichen. Die Ostdeutschen werden ihre lebensweltlichen Erfahrungen aktiv einbringen müssen, um den gewünschten Konsens zu erkämpfen. Dabei werden sie feststellen, dass die Interessenkonflikte der Zukunft plötzlich quer durch die ostdeutsche Gesellschaft gehen. Der Konflikt um die Frage, was sozial gerecht ist, wird es wie in einem Fokus zeigen. Ostdeutschland wird in diesem Konflikt Zukunft gewinnen – und die Parteienlandschaft wird sich dabei verändern.

Klaus Ness ist Landesgeschäftsführer der SPD in Brandenburg.


HAT VOLLBESCHÄFTIGUNG IN OSTDEUTSCHLAND NOCH EINE CHANCE? Rolf Schmachtenberg

HAT DAS POLITIKZIEL VOLLBESCHÄFTIGUNG IN OSTDEUTSCHLAND NOCH EINE CHANCE? – BESTANDSAUFNAHMEN UND PERSPEKTIVEN DER OSTDEUTSCHEN ARBEITSMARKTPOLITIK – Rolf Schmachtenberg Ein Arbeiter wurde vor Gericht gefragt, ob er die weltliche oder die kirchliche Form des Eides benutzen wollte. Er antwortete: „Ich bin arbeitslos.“ (B. Brecht)

„Pro“s und „Contra“s, wobei sich manche Aspekte nur als eher uneindeutig im Sinne von „einerseits Pro - andererseits Contra“ einordnen lassen. Die Gegenargumente

Hat das Politikziel Vollbeschäftigung in Ostdeutschland noch eine Chance? Von der Antwort auf diese Frage hängt ab, welches Ziel bzw. welche Zwischenziele eine politische Strategie zur Verbesserung der Lage auf dem Arbeitsmarkt ins Auge fasst. Die Antwort sollte daher sorgfältig abgewogen sein. Sie resultiert aus einem Abgleich zwischen

Ohne weiteres sprechen eine ganze Reihe statistischer Angaben gegen eine Chance auf Vollbeschäftigung: 1. Die Arbeitsmarktentwicklung von 1991 – 1998: Der Statistik der Bundesanstalt für Arbeit können die folgenden Angaben zum Arbeitsmarkt für Ostdeutschland entnommen werden1:

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Der Einbruch 1991/92 ist genauso aus der Tabelle ablesbar wie die leichte Erholung 1993/94, der seit 1995 ein Abwärtstrend folgte; die Schere zwischen Ost und West wurde wieder größer. Zur Beschäftigungsstruktur kann dieser Tabelle auch entnommen werden, dass 1998 die Beamten und Soldaten einen Anteil von 4,2 % und die Selbständigen einen Anteil von 9,2 % ausmachten. Die entsprechenden Werte für die alten Bundesländer liegen bei 7,7 % und 12,2 %; es gibt also in Ostdeutschland relativ weniger Beamte und Selbständige. Nicht nur das Niveau, sondern auch die Struktur der Arbeitslosigkeit unterscheidet sich zwischen Ost- und Westdeutschland erheblich. So waren 1998 in Ost-

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deutschland mit einem Anteil von 54,0% mehr als die Hälfte der Arbeitslosen Frauen, in Westdeutschland mit 43,5% weniger als die Hälfte. Der Anteil der arbeitslosen Ausländer lag bei 2,1%, während er in Westdeutschland mit 17,4% mehr als acht mal so hoch war. Der Anteil der Jüngeren (unter 25 Jahre) lag mit 10,5% leicht unter dem Anteil in Westdeutschland mit 11,3%. Auf den relativ größeren Umfang der Fördermaßnahmen kann es zurückgeführt werden, dass der Anteil der Langzeitarbeitslosen in Ostdeutschland mit 33,0% ebenfalls etwas unter dem westdeutschen Wert von 36,8% lag. Bedenkt man, dass die Jahrgänge über 60 in Ostdeutschland durch die Altersübergangsgeldregelung fast völlig aus dem Arbeitsmarkt aus-


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geschieden sind, so liegt der Anteil der älteren Arbeitslosen (über 55 Jahre) mit 20,5% auch im Vergleich zu dem westdeutschen Wert von 23,0% erstaunlich hoch und weist darauf hin, dass die Arbeitslosigkeit Älterer ein besonderes Problem ist, das auch bei einer Kehrtwende hin zum Guten in der Wirtschaft und auf dem Arbeitsmarkt ohne Zweifel in den nächsten Jahren nicht ohne Interventionen von Tarifpartnern und Staat gelöst werden kann. Während es bei den älteren Arbeitslosen möglicherweise eine zunehmende Annäherung in den Problemen zwischen Ost und West gibt, so zeigen die wenigen hier genannten Daten zur Struktur der Arbeitslosigkeit deutliche Ost-WestUnterschiede. Verschärft wird dies noch bei einer nach Regionen differenzierten Betrachtung. Mit 18,6% lag die Arbeitslosenquote (bezogen auf abhängige zivile Erwerbstätige) im September 1999 in den neuen Bundesländern fast doppelt so hoch wie in Westdeutschland (9,4%). Im einzelnen lag sie in Brandenburg bei 18,5%, in Mecklenburg-Vorpommern bei 18,4%, in Sachsen-Anhalt bei 21,2%, in Sachsen bei 18,3%, in Thüringen bei 16,2% und in Ostberlin bei 19,2%. Differenziert nach Arbeitsämtern sind die Unterschiede noch größer: Suhl wies im Juli 1999 mit 14,1% (Potsdam 15,4%) die niedrigste, Sangerhausen mit 24,2% die höchste Arbeitslosenquote (Cottbus 21,5%) in den neuen Bundesländern (in Brandenburg) aus. Die Extremplätze in Westdeutschland nahmen Freising (3,5%) und Dortmund (15,9%) ein.

2. Wachstum ohne Arbeitsplätze: Die Produktivitätsfortschritte fressen die Gewinne für mehr Arbeitsplätze, die aus dem Wirtschaftswachstum resultieren, auf. Neudeutsch wird dieser Sachverhalt auch gern einprägender als „jobless growth“ bezeichnet. Diese Entkoppelung von Wachstum und Beschäftigung gilt in Ostdeutschland und in besonderer Weise für Brandenburg. Obwohl die Brandenburger unter allen neuen Ländern das höchste Bruttosozialprodukt je Einwohner erwirtschaften und Jahr für Jahr beim Wirtschaftswachstum den ersten oder – in 1998 – nach Sachsen-Anhalt den zweiten Platz belegen, nimmt das Land in der Arbeitslosigkeit nur einen mittleren und seit wenigen Monaten sogar den zweit schlechtesten Platz ein. 3. Die Arbeitsmarktprognose bis 2010: Neben dem schlechten Ist-Zustand des ostdeutschen Arbeitsmarktes sprechen auch die Prognosen gegen eine Chance auf Vollbeschäftigung in der näheren Zukunft. 1998 hat das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesanstalt für Arbeit (IAB) eine Prognose für die Entwicklung von Arbeitskräfteangebot und –nachfrage in Ostdeutschland für den Zeitraum bis 2010 vorgelegt2. Die Aussage: Das Erwerbspersonenpotenzial wird sich bis 2010 kaum verändern; erst danach wird es voraussichtlich stärker fallen. Der Arbeitskräftebedarf wird aber leicht fallen, selbst wenn die Wirtschaft jährlich real um 2,0 bis 2,5%

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wächst und sich die Lohnentwicklung eng an die Produktivitätsentwicklung anlehnt, wobei eine Zunahme der Produktivität jährlich um 3,0% unterstellt und angenommen wird, dass keine Veränderung der Jahresarbeitszeit eintreten wird. Ausdrücklich wird von den Autoren davor gewarnt, ihre Prognose zu wörtlich zu nehmen: „Projektionen sind in diesen turbulenten Zeiten des Umbruchs ein waghalsiges Unterfangen“. Weder die Auswirkungen der Wirtschafts- und Währungsunion noch die einer möglichen Osterweiterung der EU sind in der Prognose abgebildet. Auch sind ihre Ergebnisse stark davon abhängig, welche Wanderungsbewegungen angenommen werden. Doch bei allen Unwägbarkeiten im Detail „enthalten die Projektionsergebnisse eine unbestrittenermaßen unbequeme Botschaft, da man nicht einmal den derzeit ohnehin unbefriedigenden Status quo auf dem Arbeitsmarkt halten würde. Auch wenn man aufgrund der eingangs beschriebenen Projektionsunsicherheiten über das Niveau der quantitativen Ergebnisse sicherlich streiten kann, bleibt unseres Erachtens trotzdem festzuhalten: Ein rasches gezieltes politisches Handeln ist das Gebot der Stunde, will man die derzeitige Arbeitsmarktsituation nachhaltig verbessern. Selbst bei Zugrundelegung eines nicht einmal pessimistischen Verlaufs ökonomischer Stellgrößen ist eine eigendynamische Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt nicht in Sicht.“3 Hierauf aufbau-

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end fordern die Autoren zum Abschluss ihres Beitrages ein Bündnis für Arbeit, das ein Strategiebündel verwirklicht, wie es vom IAB bereits 1996 vorgeschlagen wurde (vgl. das 3. Pro-Argument weiter unten).

Die Argumente für eine Chance 1. Positive Beispiele: Innerhalb der Europäischen Union (EU) und auch Deutschlands gibt es zahlreiche Regionen mit niedriger Arbeitslosigkeit. Sie beweisen, dass es grundsätzlich unter den Rahmenbedingungen der EU und auch Deutschlands möglich ist, dass sich eine Nachfrage nach Arbeitskräften entwickelt, die dem Angebot nahe kommt. Prominente Beispiele innerhalb der EU, in denen auch durchaus mit Deutschland vergleichbare soziale Standards gelten, sind Dänemark und die Niederlande. Und auch im Süden Deutschlands gibt es einige Städte und Landkreise mit einer Arbeitslosenquote unterhalb von 5%. Bemerkenswert auch, dass die erfolgreichen Regionen nicht zulasten Dritter ihre Arbeitslosigkeit abbauen konnten. Die Niederlande und Dänemark verdanken ihren Erfolg vor allem einer verstärkten Umverteilung der Lebensarbeitszeit: In den Niederlanden durch eine starke Erweiterung der Teilzeitbeschäftigung und der Verrentung wegen Erwerbsunfähigkeit, in Dänemark durch Vorruhestand, die Förderung von „Frei-


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jahren“ („Sabbaticals“) und die dänische Job-Rotation, einem Wechsel von Arbeit und Weiterbildung, in dem während der Weiterbildung eines Beschäftigten ein Vertreter (befristet) seinen Arbeitsplatz einnimmt. 2. Hohe Dynamik: Einzelne der genannten Beispiele belegen auch, dass Arbeitslosigkeit relativ rasch abgebaut werden kann. So gelang es Dänemark, die Zahl der Arbeitslosen von 1994 bis 1997 um über 120.000 zu senken und die Arbeitslosenquote von 12% auf 7% fast zu halbieren. Ähnliches gilt für Irland. 3. Ausgearbeitete Gesamtstrategien: Ausgelöst durch die Gespräche zu einem Bündnis für Arbeit zu Beginn des Jahres 1996 erarbeitete das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesanstalt für Arbeit das Konzept einer beschäftigungspolitischen Gesamtstrategie, das im Herbst desselben Jahres vorgelegt wurde. Vorgeschlagen wird ein Mix aus angebots- und nachfrageorientierten Maßnahmen: I. Arbeitszeitreduzierung durch Abbau von Überstunden und Übergang zu mehr Teilzeit II. Lohnzurückhaltung in dem Maß, dass die Lohnsteigerung dem Produktivitätszuwachs entspricht III. Übergang von direkten, die Lohnkosten belastenden Steuern und Abgaben zu indirekten Steuern IV. Verstärkte öffentliche Investitionstätigkeit bei zeitlich versetzter Kon-

solidierung des Staatshaushalts Das Konzept war an einem makroökonomischem Modell getestet worden. Es kombiniert Maßnahmen mit unterschiedlichen Wirkungsweisen. Bestimmte, durchaus realistische Annahmen zur Entwicklung von Weltwirtschaft und Produktivität unterstellt, konnte in dem Modell nachgerechnet werden, dass die Arbeitslosigkeit innerhalb von vier Jahren halbierbar sei. Kurze Zeit später legten auch das WSI Düsseldorf und der Beirat der Berliner Senatsverwaltung für Arbeit, Berufliche Bildung und Frauen jeweils vergleichbare Konzepte vor, die ebenfalls auf der Grundlage volkswirtschaftlicher Berechnungen die positiven Aussagen des IAB bestätigten. Trotz einer allgemein positiven Aufnahme in den Fachkreisen, darunter auch den Gremien der Selbstverwaltung der Bundesanstalt für Arbeit wurde keine systematische Umsetzung des Konzeptes eingeleitet. Das mag allein schon darauf zurückzuführen sein, dass die vierte vorgeschlagene Maßnahme zu diesem Zeitpunkt politisch nicht mit den Maastricht-Kriterien vereinbar war, die 1997 zu erfüllen waren. Da sich die Tarifabschlüsse in den letzten Jahren in der Regel an den Produktivitätssteigerungen orientierten, zum Teil auch niedriger ausfielen, wird Maßnahme II bereits realisiert. Ein Baustein des

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Programms der neuen Bundesregierung ist seit Herbst 1998 die sogenannte „Öko-Steuerreform“, genauer, wenn auch sprachlich schwer verdaubar wäre die Bezeichnung „Energieverbrauchsbeund Arbeitsentlastungs-Steuerreform“. Denn ihr Anliegen ist ein Doppeltes: Belastung des Energieverbrauchs und Senkung der Lohnnebenkosten. Somit werden derzeit die Maßnahmen II und III, letztere allerdings zu zaghaft, um sich auf dem Arbeitsmarkt auszuwirken, bereits realisiert. Bemerkenswert für mich, dass Deutschland im Gegensatz zu Großbritannien und Frankreich bei der Umsetzung von Maßnahmen aus dem vorgestellten Vierer-Bündel nachhinkt. In Sachen Ökosteuerreform ist Großbritannien weiter, in Sachen Arbeitszeitreduzierung hat Frankreich sehr systematische Maßnahmen eingeleitet. 4. Die Beschäftigungspolitische Strategie der Europäischen Union: Mit dem Vertrag von Amsterdam, beschlossen 1997 und abschließend ratifiziert 1999, wurde in den EU-Vertrag ein beschäftigungspolitisches Kapitel aufgenommen. Die Mitgliedstaaten der Europäischen Union haben sich dazu verpflichtet, zukünftig für einen hohen Beschäftigungsstand in der Gemeinschaft Sorge zu tragen, die Politikfelder der Gemeinschaft auf

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dieses Ziel auszurichten und dazu die beschäftigungspolitischen Aktivitäten auf europäischer Ebene aufeinander abzustimmen. Die Mitgliedstaaten bleiben für ihre Beschäftigungspolitik verantwortlich. Doch die EU übernimmt eine koordinierende Funktion. Bereits auf einem EUSondergipfeltreffen im November 1997 in Luxemburg wurden hierzu beschäftigungspolitische Leitlinien (22 an der Zahl) beschlossen und ein Verfahren zur Abstimmung der nationalen Beschäftigungspolitiken verabredet. Mit diesem sogenannten „Luxemburger Prozess“ organisiert jetzt die EU einen gemeinschaftsweiten Lernprozess: Ende eines jeden Jahres werden die Beschäftigungspolitischen Leitlinien fortgeschrieben. Die Mitgliedstaaten erarbeiten hierzu Nationale Aktionspläne, die im nachfolgenden Frühjahr vorgelegt werden. Auf ihrer Grundlage legt dann die EUKommission einen gemeinsamen Bericht zur Beschäftigung, hieraus zu ziehende Schlussfolgerungen und Empfehlungen für die einzelnen Mitgliedstaaten vor. Nach Abstimmung mit den und Zustimmung durch die Mitgliedsstaaten formuliert dann die EU-Kommission einen Vorschlag für die Fortschreibung der Leitlinien, der dann auf dem EUGipfel zum Jahresende beraten und beschlossen wird.


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Auf diese Weise ist ein langfristiger Prozess organisiert worden, der es insbesondere ermöglicht, EU-weit erfolgreiche Ansätze zu diskutieren und dann auch zu übernehmen. Die 22 Leitlinien sind vier thematischen Schwerpunkten zugeordnet: - Verbesserung der Beschäftigungsfähigkeit, - Entwicklung des Unternehmergeistes, - Förderung der Anpassungsfähigkeit der Unternehmen und ihrer Beschäftigten und - Verbesserung der Chancengleichheit von Frauen und Männern. Sie beschränken sich nicht allein auf Beschäftigungs- und Arbeitsmarktpolitik im engeren Sinne, sondern schließen folgerichtig Wirtschafts- und Finanzpolitik ebenso wie Bildungspolitik, Sozialversicherungs- und Arbeitsrecht ein. Auch sind sie keineswegs – wie Skeptiker vielleicht sofort vermuten werden – in erhabener Allgemeinheit gefasst, sondern geben teilweise sehr konkrete und überprüfbare Zielstellungen an. Allen voran die ersten beiden Leitlinien: Leitlinie 1: Die Mitgliedstaaten stellen innerhalb der nächsten vier Jahre (gerechnet von Ende 1998) sicher, dass allen Jugendlichen ein Neuanfang in Form einer Ausbildung, einer Umschulung, einer Berufserfahrung oder einer die Beschäftigungsfähigkeit fördernden Maßnahme ermöglicht wird, ehe sie sechs Monate

arbeitslos sind. Ausgenommen sind hiervon nur Mitgliedstaaten mit hoher Arbeitslosigkeit. Leitlinie 2: Die gleiche Forderung wird für alle arbeitslosen Erwachsenen erfüllt, ehe sie zwölf Monate arbeitslos sind. In der Kombination des Beschäftigungskapitels im EU-Vertrag mit dem hier skizzierten Koordinierungsverfahren hat nun die EU einen Rahmen geschaffen, der die Mitgliedstaaten „beschäftigungspolitisch in die Pflicht“ nimmt. Und er beginnt auch die Regionen zu erfassen. So hat zum Beispiel die neue Brandenburger Landesregierung die Ziele der ersten beiden Leitlinien explizit in ihre Koalitionsvereinbarung aufgenommen. Gegenwärtig wird die zweite Fortschreibung der beschäftigungspolitischen Leitlinien beraten, die Ende 1999 auf dem Gipfel in Helsinki beschlossen werden soll. Allein schon aus Gründen der Verstetigung des Prozesses wird dabei von größeren Änderungen abgesehen. Parallel dazu findet in der Öffentlichkeit, zumindest in der Fachöffentlichkeit, eine Diskussion zu den kritischen Empfehlungen statt, die die EU-Kommission zu dem deutschen Nationalen Aktionsplan vorgelegt hat. Die Opposition im Deutschen Bundestag hat sie in einem Entschließungsantrag aufgenommen und so auch zum Gegenstand einer Debatte im Parlament gemacht.

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Kurzum: Von der beschäftigungspolitischen Strategie der EU sind künftig noch starke Impulse für die nationalen Politiken zu erwarten. Einerseits-Andererseits-Argumente 1. Die Globalisierung: Langfristig überwiegen positive Aspekte, kurzfristig – in der Verschärfung der internationalen Arbeitsteilung – überwiegen die Anpassungsprobleme. Häufig wird die Globalisierung, eine ohnehin schwer zu fassende Entwicklung, für die hohe Arbeitslosigkeit verantwortlich gemacht. Zeigen schon die Beispiele anderer großer, wirtschaftlich entwickelter Staaten, allen voran die USA, dass Globalisierung nicht zwangsläufig hohe Arbeitslosigkeit verursacht, so ist dies auch ökonomisch begründbar. Je größer ein Wirtschaftsraum ist, desto mehr Möglichkeiten bieten sich, die gegebenen Ressourcen effizienter zu nutzen. Mit einer weiteren Öffnung der Märkte nimmt daher grundsätzlich das weltwirtschaftliche Gesamtprodukt zu. Allerdings verschärft Globalisierung die internationale Arbeitsteilung. Die hierdurch ausgelösten Verteilungswirkungen schließen nicht aus, dass es – zumindest kurzfristig – neben Gewinnern auch Verlierer gibt. Es kommt zu strukturellen Anpassungs- und Entwicklungsprozessen, bei denen ganze Gruppen von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern ihre Arbeitsplätze verlieren. Dafür nimmt der Absatz in den Branchen, in denen ein Land Wettbewerbsvorteile

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hat, zu und treibt in diesen Branchen auch die Entwicklung neuer Produkte und Dienstleistungen voran. Gerade die deutsche Wirtschaft mit ihrer hohen Exportquote stellt ihre Wettbewerbsfähigkeit Jahr für Jahr neu unter Beweis. Ohne Zweifel wirkt jedoch Globalisierung auf eine zunehmende Ungleichheit innerhalb der Staaten hin; allerdings „nicht dadurch, dass die Einkommen der Geringverdiener abgenommen, sondern dadurch, dass die Einkommen der Gutverdienenden zugenommen haben“ 4, wie es C. von Weizsäcker in seinem sehr lesenswerten Buch formuliert, in dem er unter anderem auch überzeugend ableitet, warum selbst in einem globalisierten Markt die Nationalstaaten in ihrer Sozialpolitik autonom handeln können. Festzuhalten bleibt, dass in jedem Fall von der Globalisierung ein erheblicher Anpassungsdruck ausgeht. Ein Festhalten etwa an Branchen, in denen ein Land wenig konkurrenzfähig ist, ist langfristig nicht durchzuhalten. Vielmehr muss es im Sinne der internationalen Arbeitsteilung seine Stärken weiterentwickeln. Zwangsläufig ist, dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bestimmter Qualifikation, wenn sie nicht (mehr) in der Lage sind, sich neue Qualifikationen zu erwerben, „den Anschluss verpassen“ können und dauerhaft zu Verlierern der Globalisierung oder – meines Erachtens zutreffender – der Wissensgesellschaft werden.


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2. Die demografische Entwicklung: Von dem demografischen Knick der Wende, der sich ab etwa 2010 auf dem ostdeutschen Arbeitsmarkt mit einem rapide sinkenden Arbeitskräfteangebot auswirken wird, wird allgemein eine Entlastung erwartet. Allerdings fällt auf, dass Länder mit einer guten Arbeitsmarktentwicklung durchaus auch eine wachsende Bevölkerung aufweisen können, wie dies z.B. für die USA zutrifft. Hier scheint sich der Nachfrageaspekt deutlich abzubilden: Wachsende Bevölkerung bedeutet auch wachsende Verbrauchernachfrage; dies treibt die Wirtschaft an. Umgekehrt kann von einer schrumpfenden Bevölkerung eine Schwächung der Nachfrage ausgehen. Insofern ist die demografische Entwicklung meines Erachtens ebenfalls nicht eindeutig zu bewerten. Fazit: Etwas mehr Pro als Contra: Ja, Vollbeschäftigung hat eine Chance. Allerdings nicht kurzfristig und auch nicht in dem traditionellen Sinne, dass eine Normalerwerbsbiographie mit 40-Stundenwoche, ununterbrochener Einzahlung in die Sozialversicherungen und wenigen Arbeitgeberwechseln wieder zur Regel werden wird. Aber ohne Zweifel bedarf es gezielter und – gerade auch – koordinierter Anstrengungen von Wirtschaft, Gewerkschaften und Öffentlicher Hand, wenn man ihr näher kommen will. Ein ganz entscheidendes mentales Hindernis wird sich aber dann querlegen, wenn das

Ziel der Vollbeschäftigung als völlig unerreichbar oder gar als nicht erstrebenswert angesehen wird.

Warum ist an dem Ziel der Vollbeschäftigung festzuhalten? Diese Frage überhaupt aufzuwerfen, mag vielen Lesern abwegig erscheinen. Doch berührt sie die Grundfrage nach dem Selbstverständnis und Grundkonsens unserer Gesellschaft. Verstärkt in die öffentliche Diskussion gebracht wurde sie durch die Kommission für Zukunftsfragen der Freistaaten Bayern und Sachsen, die im November 1997 im Teil III ihres Berichtes „Maßnahmen zur Verbesserung der Beschäftigungslage“ ein Plädoyer für Bürgerarbeit in Ergänzung zu Erwerbsarbeit vorlegte. Doch führt dieser Vorschlag diejenigen in die Irre, die meinen, hiermit die Arbeitslosigkeit abbauen zu können. Denn ehrenamtliche Arbeit ist zwar für arbeitslose Akademiker interessant; anderen Arbeitslosen hilft sie wenig. Dies die Ergebnisse einer DIW-Studie, die auf Daten des sozio-ökonomischen Panels von 1996 beruht5: Die Gruppe der Arbeitslosen unterscheidet sich wesentlich von den Personengruppen, die vorwiegend ehrenamtliche Tätigkeit ausüben. Das wesentliche Problem der meisten Arbeitslosen, und das scheint der Diskurs zur Bürgerarbeit zu verkennen, ist ganz einfach, dass sie über ein zu niedriges Einkommen verfügen; das Pro-

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blem des Ausschlusses von der Teilhabe an gesellschaftlichen Bezügen, für die Arbeit auch notwendig ist, wird dadurch nicht beiseite gewischt, ist aber dem Einkommensproblem in der Regel nachgeordnet. „Warum sollten gerade Arbeitslose durch niedrig bezahlte Jobs die anderen subventionieren?“, so eine Frage der DIW-Forscher. Im übrigen ist „Bürgerarbeit“ nichts neues. Hilfreicher, auch weil weniger ideologisiert, erscheint mir aber der Begriff der Eigenarbeit in Abgrenzung zur Erwerbsarbeit, wobei ich unter Eigenarbeit neben Arbeiten zur eigenen Versorgung auch unentgeltliche Arbeit für Dritte verstehe. Nach einer Untersuchung des Statistischen Bundesamtes6, die es 1991/ 92 im Auftrag des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend durchgeführt hat, arbeiteten alle Personen über 12 Jahren durchschnittlich 50 Stunden je Woche; davon 28 Stunden unbezahlt und mit 22 Stunden weniger als die Hälfte bezahlt. 60 Milliarden Stunden Erwerbsarbeit standen 1997 rund 95,5 Milliarden Stunden unbezahlte Arbeit in Deutschland gegenüber. Wenig überraschend die geschlechtsspezifischen Unterschiede: Mit 35 Stunden wöchentlich leisten Frauen mehr unbezahlte Arbeit als Männer mit 20 Stunden. Das Verhältnis von Eigen- zu Erwerbsarbeit dürfte die Resultierende aus einem Kraftfeld sein, das sich zwischen den Polen gesellschaftlicher Normen einer-

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seits und wirtschaftlicher Möglichkeiten andererseits ständig neu bildet. Auffallend der große Unterschied in den Erwerbstätigenquoten der verschiedenen Mitgliedsstaaten der EU aber auch im Vergleich zu den USA. Die Werte zu der folgenden Tabelle sind dem sechsten periodischen Bericht der Europäischen Kommission über die sozio-ökonomische Lage und Entwicklung der Regionen der Europäischen Union aus dem Jahr 1999 entnommen: E

I

F

D

DK NL GB/UK A

IRL USA

1985

44 53 62 63

77

58

68

67

51

69

1997

49 51 60 62

78

67

71

70

58

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In allen Ländern, die 1985 eine Quote unterhalb von 60% aufwiesen, konnten mit Ausnahme von Italien Zuwächse verzeichnet werden, die in den Niederlanden und Irland besonders groß ausfielen. Auffallend für mich ist, dass gerade die Länder mit besonders hoher Erwerbstätigenquote in der Regel eine niedrige Arbeitslosenquote aufweisen. Von vorschnellen Wertungen rate ich ab. Sehr hohe Erwerbstätigenquoten weisen auf eine starke Ökonomisierung der Beziehungen unter den Bewohnern eines Landes hin. Zugespitztes Beispiel: Eigenarbeiten wie das Kochen von Mahlzeiten werden weitgehend zugunsten des Einkaufs von Fertiggerichten reduziert. Sehr niedrige Erwerbstätigenquoten entsprechen in der Regel eher traditionelle Gesellschaftsformen, in denen Frauen


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nur in geringeren Umfang einer Erwerbsarbeit nachgehen. Das Ziel der Vollbeschäftigung aufzugeben, hieße es hinzunehmen, dass für einen Teil der Bevölkerung ihr Wunsch nach Erwerbsarbeit – gleich welche Motive der oder die Einzelne hierfür hat – nicht mehr erfüllt werden könnte. Für die Dauerarbeitslosen würde die Gesellschaft versagen. Die Erosion ginge aber weiter. Denn das Fundament der Demokratie in Abgrenzung zur Ständegesellschaft besteht meines Erachtens gerade darin, dass jeder einzelne seine Versorgung nicht aufgrund seiner Zugehörigkeit zu einer Gruppe (Status) erhält, sondern aufgrund des freien Austauschs

seiner Arbeitskraft gegen die zu seinem Leben notwendigen Mittel. Insoweit – ein wenig verkürzt formuliert – bildet die Gesamtheit aller individuellen Arbeitsverträge so etwas wie den modernen Gesellschaftsvertrag. Die Voraussetzung für Demokratie schwindet, wie der Anteil der Menschen wächst, die sich nicht durch Tauschverhältnis, sondern durch ihren Status ernähren7. Gerade unter diesem Aspekt stehe ich dem Diskurs zur „Bürgerarbeit“ skeptisch gegenüber, da er propagiert, den Erwerbslosen einen besonderen Status als „Bürgerarbeit leistende“ einzuräumen, der mit einem „Bürgergeld“ „zivilgesellschaftlich beschäftigt“8 ist.

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Was leistet Arbeitsmarktpolitik? Aufgabe der Arbeitsmarktpolitik ist das Einwirken auf die Funktionsfähigkeit des Arbeitsmarktes, so dass durch eine gut funktionierende Vermittlung Angebot und Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt schnell und reibungslos und durch eine vorausschauende Berufsberatung nach Möglichkeit auch langfristig zusammengeführt werden. Ökonomische Theorie betrachtet in der Regel Märkte mit sogenannten teilbaren und homogenen Gütern, wie dies näherungsweise auf den Markt für Weizenmehl, Kies oder Öl zutreffen mag: Die Güter können dort in jeder beliebig geteilten Menge an fadt jeden beliebigen Ort in nahezu gleicher Qualität geliefert werden. Für den Arbeitsmarkt trifft dies nicht zu. Die Arbeitskraft ist nicht beliebig teilbar, nicht überall verfügbar und sie ist auch nicht beliebig austauschbar, sondern sie ist mit individuellen Qualifikationen gekoppelt, die auf Bildung und Ausbildung ebenso wie auf Lebens- und Berufserfahrung aufbauen. Das sind alles Selbstverständlichkeiten. Doch ich hebe sie hervor, weil nur all zu oft auch von Wissenschaftlern über den Arbeitsmarkt in einer Weise reflektiert wird, als ob es sich um einem Markt wie den für Weizen handelte. Aufgrund dieser Eigenart des Arbeitsmarktes ist neben der Vermittlung und Beratung die Förderung der Qualifizierung das wichtigste Instrument der Ar-

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beitsmarktpolitik. Denn wenn – wie oben festgehalten – die Wirtschaft der ständigen Veränderung unterworfen ist, in der relativ unproduktive Bereiche schrumpfen oder gar wegfallen und im Weltmaßstab produktivere weiter ausgebaut werden, so bedeutet dies, dass die Arbeitskraft sich entsprechend fortwährend weiterentwickeln, d.h. qualifizieren muss. Soweit dies nicht innerbetrieblich geleistet wird, übernimmt hier die Arbeitsmarktpolitik in der Qualifizierung der Arbeitslosen eine wichtige, die Wirtschaftskraft fördernde Aufgabe. In Ostdeutschland hat die Arbeitsmarktpolitik von Beginn an eine zusätzliche Aufgabe wahrgenommen. Neben der skizzierten klassischen Aufgabe, vollzogen im wesentlichen durch Vermittlung, Beratung und Qualifizierung, kam hier die Aufgabe der arbeitsmarktlichen Flankierung des Systemwechsels von einer Zentralplan- hin zu einer Marktwirtschaft, kurz Transformation genannt, hinzu. Dies erforderte sowohl erhebliche finanzielle Mittel als auch die Entwicklung neuer Förderinstrumente. 1998 betrug der Anteil Ostdeutschlands an den Ausgaben für aktive Arbeitsmarktpolitik des Bundes (Bundesanstalt für Arbeit und Bundesprogramme) 54,1% bei einem Anteil von 32,1% aller Arbeitslosen und 18,8% aller Einwohner Deutschlands. Insgesamt wurden 15,667 Mrd. DM bereitgestellt, davon 12,585 Mrd. im Eingliederungstitel9 der Bundesanstalt sowie außerhalb des Eingliede-


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rungstitels 2,721 Mrd. DM für Strukturanpassungsmaßnahmen und 360 Mio. für Überbrückungsgeld. Sofort in 1990 wurden von der Arbeitsmarktpolitik einige Instrumente der Förderung für die besondere Aufgabenstellung der Transformation entwickelt oder für sie zumindest angepasst: Erstausbildungsförderung: Nach § 40 c Absatz 4 des Arbeitsförderungsgesetzes (AFG) konnten bis Ende 1992 für Auszubildende, die in den Betrieben keine Ausbildungsplätze fanden („Markt-Benachteiligte“), zusätzliche außerbetriebliche Plätze eingerichtet werden. Kurzarbeit-Null: Um den radikalen Wegfall von Arbeitsplätzen zumindest kurzfristig abfedern zu können, wurde mit der Regelung zur „Kurzarbeit-Null“ nach § 63 Absatz 4 AFG die Möglichkeit geschaffen, die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer selbst dann noch zumindest für einen begrenzten Zeitraum im Betrieb zu halten, wenn keine Wiederaufnahme der Beschäftigung im gleichen Betrieb absehbar war. Vorruhestand- bzw. Altersübergangsgeldregelung: Bereits von der Modrow-Regierung im März 1990 eingeführt, wurde sie als Altersübergangsgeldregelung (§249 e AFG) bis Ende 1992 fortgeführt und ermöglichte für ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer

einen sozial abgesicherten Übergang in die Rente. Besondere Förderkonditionen bei ABM: Da Ostdeutschland weder über freie Träger mit Eigenkapital noch über finanzstarke Kommunen verfügt, wurden die Förderbedingungen bei ABM so ausgestaltet, dass die vollen Lohnkosten bezuschusst und aus der verstärkten Förderung Sachkosten bezahlt werden können. Diese Förderbedingungen wurden dann im Frühjahr 1991 durch das Gemeinschaftswerk Aufschwung Ost weiter verbessert, mit dem ein umfangreiches Programm zur Gewährung von Sachkosten bei ABM eingerichtet wurde. Die Zahl der ABM-Plätze schnellte von einigen Zehntausenden auf über 400.000 Ende 1991 hoch. Zur Abfederung der Massenentlassungen vornehmlich aus Treuhandbetrieben entstanden in vielen Städten und Landkreisen in den neuen Bundesländern Arbeitsförderungsgesellschaften. Die Treuhandanstalt entwikkelte systematisch Regelungen zu ihrer Beteiligung an der Finanzierung von Auffangmaßnahmen. Im Juli 1991 wurde der Status der Arbeitsfördergesellschaften, die von der Treuhand mitunterstützt wurden, als „ABS-Gesellschaften“ (ABS steht für Arbeitsförderung, Beschäftigung und Strukturentwicklung) exakt definiert10. Als 1992 deutlich wurde, dass die mit dem Instrument ABM errichtete „Brükke“ der Arbeitsförderung in absehbarer

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Zeit kein anderes Ufer erreichen würde, wurde mit dem Lohnkostenzuschuss Ost (seit 1997 Strukturanpassungsmaßnahme (SAM)genannt) ein in gewisser Weise zu ABM komplementäres zweites Instrument der Beschäftigungsförderung entwickelt und als § 249 h AFG zum 1. Januar 1993 in Kraft gesetzt. Die Höhe des Zuschusses bemisst sich an den durchschnittlich für Arbeitslosengeld und -hilfe aufgewendeten Leistungen. Wesentliche Fördervoraussetzungen bei ABM sind: die Arbeiten sind zusätzlich und im öffentlichen Interesse; gefördert werden fast ausschließlich schwer vermittelbare Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer für ein, maximal zwei und bei Übernahme in ein unbefristetes Arbeitsverhältnis auch für drei Jahre. Die Zuschüsse werden in der Form einer Fehlbedarfsförderung gewährt. Beim Lohnkostenzuschuss Ost bzw. den SAM fällt der Zuschuss niedriger aus, ist aber ein Festbetrag. Die geförderten Arbeiten müssen einem Themenkatalog11 zugeordnet werden können, brauchen aber nicht zwangsläufig im öffentlichen Interesse oder zusätzlich zu sein. Auch sind die individuellen Kriterien für eine Förderung nicht so eng zugeschnitten wie bei ABM; insbesondere kann eine Förderung im Anschluss an ABM gewährt werden und maximal bis zu drei und – ab 1.8.1999 – für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer über 55 Jahre auch bis zu fünf Jahre dauern. Ab 1. April 1997 wurde der Lohnkostenzuschuss Ost neben der Projektförderung

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auch für die Bezuschussung bei Einstellung in einem Wirtschaftsunternehmen angewendet, genannt Strukturanpassungsmaßnahme Ost für Wirtschaftsunternehmen (SAM OfW). Die Förderung fand bei der Wirtschaft aufgrund ihrer einfachen Handhabung rasch eine große Akzeptanz; die Zahl der geförderten Vermittlungen betrug 1998 schon jahresdurchschnittlich 117.000. Die Leistungen der Bundesanstalt für Arbeit – hier für das Jahr 199812 - sind eindrucksvoll: Vermittlungen: 1.075.245; davon 975.422 in Beschäftigung von mehr als 7 Tagen, mit einem Frauenanteil von 44,9%; wobei in 34,0% der Fälle in Beschäftigungsmaßnahmen (ABM oder SAM-Projektförderung) vermittelt und in weiteren 26,2% ein Zuschuss (z.B. SAM OfW) gewährt wurde. Hierbei wird der Einschaltungsgrad der Arbeitsämter, d.h. der Anteil der durch die Arbeitsämter vermittelten Einstellungen an allen neu begonnenen sozialversicherungspflichtigen Arbeits- und Ausbildungsverhältnissen auf 61,2% geschätzt wird. Die Steigerung gegenüber dem Vorjahr, als diese Quote bei 52,3% lag, wird auf die starke Zunahme der Lohnkostenzuschüsse (SAM OfW) im Jahr 1998 zurückgeführt. Berufsberatung: 1998 meldeten sich knapp 230.000 Bewerberinnen und Bewerber für Ausbildungsplätze bei den Berufsberatern der


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Arbeitsämter, von denen am Ende des Berichtsjahrs (jeweils der 30. September) noch 12.316 unvermittelt waren. Unter Nutzung von Programmen des Bundes und der Länder konnten von ihnen die meisten bis zum Jahresende noch vermittelt werden. Gewährung von Lohnersatzleistungen: Es wurden von den Arbeitsämtern in Ostdeutschland 18,2 Mrd. DM an Arbeitslosengeld und 10,0 Mrd. DM an Arbeitslosenhilfe ausgezahlt. Von 2,32 Mio. Personen, die sich 1998 neu arbeitslos meldeten, erhielten 27,9% keine Leistungen, von den übrigen 60,1% bzw. 1,398 Mio. Arbeitslosengeld und 11,1% bzw. 261.436 Arbeitslosenhilfe. Das durchschnittliche monatliche Arbeitslosengeld lag im Dezember 1998 bei 1.202,DM (für Frauen: 1.085,- DM) und die durchschnittliche Arbeitslosenhilfe bei 866,- DM (für Frauen: 792,-). Aktive Arbeitsförderung: Im Jahresmittel nahmen 151.000 Personen an Maßnahmen der beruflichen Weiterbildung, 14.000 an Trainingsmaßnahmen, 37.500 an Reha-Maßnahmen, 152.000 an AB-Maßnahmen und 47.500 an SAM-Projektförderungen teil. In 205.700 Fällen wurde der SAM OfW gewährt, in weiteren 31.400 Fällen ein Eingliederungszuschuss. 31.700 Existenzgründerinnen und -gründer wurden mit dem Überbrückungsgeld gefördert. In Kurzarbeit waren jahresdurchschnittlich knapp 34.000 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. 1.835 Personen erhielten

noch ein Altersübergangsgeld. Kritisch anzumerken ist der zyklische Verlauf in den beschäftigungsfördernden Maßnahmen: In den geraden Jahren nehmen sie zu, in den ungeraden ab. Der Grund: Jahren mit geringen Vorbindungen folgen Jahre mit hohen Vorbindungen bei ABM. Bereits 1994 und 1996 ausgeprägt, schlug dieser Zyklus in 1998 besonders stark aus. So fiel die Zahl der in ABM geförderten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Brandenburg in 1997 von mehr als 30.000 auf 9.000 Anfang 1998, um sich dann innerhalb von 10 Monaten auf 34.000 fast zu vervierfachen. Mittlerweile hat sie sich wieder mehr als halbiert und lag im Oktober 1999 bei 15.000. Für Träger, Arbeitsämter und Kofinanzierung gewährende Stellen ist dieser Zyklus mit – gelinde formuliert - erheblichen zusätzlichen „Reibungen“ verbunden. Ohne Zweifel wirkt er sich nachteilig auf die Qualität von ABM aus. Eine Abhilfe wäre es, wenn die Förderung von dem kameralistischen Prinzip der Haushaltsjahre losgelöst werden könnte und in der Logik von Programmen ausgestaltet wäre. 1998 war das erste Jahr, in dem die Arbeitsämter dezentral über die Verteilung der ihnen im „Eingliederungstitel“ für die aktive Arbeitsmarktförderung zur Verfügung gestellten Mittel entscheiden konnten. Die Selbstverwaltungsgremien, in denen Vertreter der Gewerkschaften, der Arbeitgeberverbände und der Kommunen mitwirken, entschieden

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und innovative Träger einerseits und engagierte Mitarbeiter in den Arbeitsämtern andererseits, die diesen relativ hohen Anteil an Freier Förderung möglich machten. auf der Grundlage von Vorlagen, die durch die Arbeitsamtsdirektoren gefertigt wurden, darüber, welcher Anteil für ABM, für berufliche Weiterbildung (FbW), für Berufsausbildung Benachteiligter, für Freie Förderung, für Eingliederungszuschüsse usw. eingesetzt werden solle. Die im Juli 1999 erstmals vorgelegten „Daten zu den Eingliederungsbilanzen 1998“13 geben über die hieraus resultierenden „Arbeitsmarktpolitiken der Regionen“ Auskunft. Ein Vergleich der neuen Bundesländer - einschließlich den entsprechenden Werte für Westdeutschland (aBL) - kann der oben stehenden Tabelle (Angaben in %) entnommen werden. Brandenburg nimmt hier einen besonderen Platz ein, weil es das neue Bundesland mit dem geringsten Anteil an ABMFörderung ist, während nirgendwo sonst mehr Mittel für Qualifizierung (FbW und Ausbildung Benachteiligter) eingesetzt wurden. In der Freien Förderung liegt es in etwa auf dem gleichen Niveau wie Thüringen und Sachsen und damit in der Spitzengruppe für ganz Deutschland. Ohne Zweifel ein Indikator für kreative

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Die Eingliederungsbilanzen geben auch Auskunft über die Verbleibsquote14 (vgl. die folgende Tabelle, Angaben in %).

Demnach ist unter dem Aspekt des Verbleibs die berufliche Weiterbildung unter den drei der Förderfallzahl nach bedeutendsten Instrumenten das erfolgreichste. Nach diesem Indikator erweist sich also die Entscheidung der Brandenburger Arbeitsämter für dieses Instrument als richtig. Allerdings greift eine solche Bewertung zu kurz, da sie zumindest zwei schwer fassbare Gesichtspunkte vernachlässigt: 1. Den „Drehtür“Effekt“: Viele Unternehmen tauschen im Laufe der Zeit unzureichend qualifizierte Arbeitskräfte, insbesondere gerade auch mit Absolventen aus den Qualifizierungsmaßnahmen der Arbeitsämter, aus15. 2. Den Zielgruppeneffekt: Während bei ABM 92,8 % der Teilnehmer den Zielgruppen der Arbeitsförderung (als besonders förderungsbedürftig einge-


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stuft )angehören, trifft dies bei SAM nur für 38,6% und bei FbW sogar nur für 33,2% der Teilnehmer zu. Fazit: Der Arbeitsmarkt in Ostdeutschland ist trotz des hohen Niveaus der Arbeitslosigkeit sehr dynamisch. Ein hoher Anteil derjenigen, die sich arbeitslos melden, wird auch heute schon innerhalb von zwölf Monaten wieder vermittelt. Hierbei spielen die Instrumente der aktiven Arbeitsförderung eine wichtige Rolle. Vor allem ihnen ist es zu verdanken, dass der Anteil der Langzeitarbeitslosen auch heute – fast 10 Jahre nach Beginn des Transformationsprozesses – unter dem westdeutschen Wert liegt. Darüber hinaus gewährleistet die Bundesanstalt für Arbeit durch die Auszahlung von Arbeitslosengeld und -hilfe eine Absicherung des Lebensunterhaltes – wenn auch nur auf einem relativ niedrigen Niveau. Mit der umfangreichen Förderung der beruflichen Qualifizierung und der Gewährung von Zuschüssen bei Einstellungen und Existenzgründungen wirkt sie unmittelbar wirtschaftsfördernd, indem sie die ihrem gesetzlichen Auftrag entsprechende individuelle Förderung des einzelnen Arbeitslosen mit den Anliegen der Wirtschaft verknüpft. Diese Art der Förderung erreicht mittlerweile sogar eine etwas größere Breitenwirkung als die Investitionszuschüsse der Wirtschaftsförderung: So haben 1998 in Brandenburg 25% aller Betriebe die Förderung durch Lohnkostenzuschüsse genutzt, während Investitionszuschüsse 24 % der Betriebe erhielten16.

Welchen Beitrag leisten die Bundesländer in der Arbeitsmarktpolitik? Arbeitsmarktpolitik ist Aufgabe des Bundes, Strukturpolitik Aufgabe der Länder. Diesem Grundsatz entspricht, dass auch in Ostdeutschland die Arbeitsmarktförderung im wesentlichen vom Bund bzw. der Bundesanstalt für Arbeit gestaltet, finanziert und durchgeführt wird. Während die Bundesanstalt für Arbeit 1998 für die aktive Arbeitsmarktpolitik 15,667 Mrd. DM in Ostdeutschland einsetzte, belief sich der Beitrag der fünf neuen Länder und Berlins auf rund 2,25 Mrd. DM, von denen etwa die Hälfte aus dem Europäischen Sozialfonds (ESF) finanziert wurde 17 . Landesarbeitsmarktpolitik platziert sich daher an der Schnittstelle zwischen der nach den Grundsätzen einer Sozialversicherung ausgeformten Bundesarbeitsmarktpolitik und der Landesstrukturund -wirtschaftspolitik: - Sie fördert Personen, die von der Bundesanstalt aus rechtlichen Gründen nicht gefördert werden können; dies betrifft insbesondere die Ausbildungsplatzsuchenden, die noch gar nicht die Möglichkeit hatten, in eine Sozialversicherung einzuzahlen, und die arbeitslosen Sozialhilfeempfänger. - Sie fördert betriebsbezogene Qualifizierung. - Sie fördert Modellvorhaben und Strukturen (z.B. regionale Initiativen), die aus rechtlichen oder finanziellen Gründen nicht von der Bundesanstalt für Arbeit unterstützt werden können.

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- Sie gewährt ergänzende Förderung zu ABM und SAM. - In einigen Ländern werden auch Lohnkostenzuschüsse der Bundesanstalt für Arbeit aufgestockt. Die arbeitsmarktlichen Förderungen der Länder sind in Programmen zusammengefasst, die laufend bedarfsorientiert fortgeschrieben werden: Mecklenburg-Vorpommern: „Arbeit und Qualifizierung für Mecklenburg –Vorpommern“ (AQMV) Sachsen-Anhalt: „Arbeitsmarktpolitisches Programm für Sachsen-Anhalt“. Berlin: „Arbeitsmarktpolitisches Rahmenprogramm“ (ARP). Brandenburg: Landesprogramm „Qualifizierung und Arbeit für Brandenburg“ (LaPro). Sachsen: „Arbeit und Qualifizierung für Sachsen“ (AQ) Thüringen: „Arbeitsmarktprogramme des Freistaates Thüringen“.

unterschiedliche Formen der Organisation gewählt. In allen Ländern gibt es Büros der „Technischen Hilfe“, die aus Mitteln des ESF finanziert, Träger und Verwaltung bei der Umsetzung der Mittel aus dem ESF unterstützen. Darüber hinaus gibt es Beratungsgesellschaften, die in der Regel als eigenständige privatrechtlich verfasste Gesellschaften (GmbHen) für die Länder tätig sind. In Brandenburg ist dies die Landesagentur für Struktur und Arbeit GmbH (LASA). In allen neuen Ländern entstanden im Zusammenhang mit den Massenentlassungen aus Treuhandunternehmen vornehmlich in den Jahren 1991/92 Arbeitsförderungsgesellschaften, häufig mit dem Kürzel „ABS“ bezeichnet. Einige Zahlen zu den Leistungen der ABSen in den neuen Bundesländern (Stand 4. Quartal 1998)18 sind der Tabelle zu entnehmen.

Zur Umsetzung der Programme und zur Beratung der Träger haben alle Länder

Auffallend die unterschiedliche Größe der ABSen: In Mecklenburg-Vorpommern hatten sie zum Erhebungszeitpunkt im

Anmerkung 1 In Brandenburg bildeten die ABSen 315 Auszubildende aus (zum Vergleich: in Sachsen: 234, in Thüringen 74, in Sachsen-Anhalt und Mecklenburg Vorpommern nicht erfasst).

Anmerkung 2: Die Zahl der Stammkräfte enthält in Brandenburg und Sachsen auch die jeweils rund 1.000 Festangestellten der Sanierungsgesellschaften, die in der Braunkohlensanierung tätig sind.

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Durchschnitt 252, in Brandenburg 352, in Sachsen 393, in Thüringen 480 und in Sachsen-Anhalt sogar 670 Beschäftigte. Teilweise ist dies durch die geringere Bevölkerungsdichte in MecklenburgVorpommern und Brandenburg bedingt. Allein schon deswegen müssen die Träger mehr in der Fläche verteilt sein. In Sachsen-Anhalt und Thüringen ist die Größe der Träger aber auch eine Folge einer Steuerung durch die Länder. In Sachsen-Anhalt wurde zu Beginn der 90er Jahre das Modell der großen Sanierungsgesellschaft favorisiert. In Thüringen ist in den letzten Jahren eine institutionelle Förderung der ABSen durch das Land für eine Steuerung hin zu einer Konzentration genutzt worden. In Brandenburg wird konsequent ein dezentraler Ansatz verfolgt. Die Förderung der Träger erfolgt leistungsbezogen, d.h. unmittelbar gekoppelt an die Durchführung von Projekten. Überwiegend die Kommunen, in geringerem Umfang auch Vereine und Privatpersonen sind die Gesellschafter und entscheiden über die Struktur der Gesellschaften. Für die Brandenburger Arbeitsfördergesellschaften fällt auf, dass sie den (absolut) größten Umfang an SAM-Stellen und die höchste Zahl der mit Qualifizierung verbundenen Beschäftigungsmaßnahmen ausweisen. Hierzu passt, dass sie auch die höchste Ausbildungsleistung unter allen ABSen Ostdeutschlands erbringen. Die Arbeitsmarktpolitiken der neuen

Bundesländer sind durch den ESF geprägt: dementsprechend finden sich viele Ähnlichkeiten. Gleichwohl haben sich Unterschiede herausgebildet, wie es schon der Vergleich der ABS-Aktivitäten verdeutlicht. Brandenburg hat in den letzten Jahren klare Schwerpunkte gesetzt, die sich auch in den Ergebnissen der Förderung widerspiegeln: 1. Etwa ein Viertel bis ein Drittel seiner Arbeitsfördermittel werden für die Förderung der beruflichen Ausbildung eingesetzt. Brandenburger Besonderheit ist, dass keine schulischen Warteschleifen eingerichtet werden, sondern zum „Lückenschluss“ auf dem Ausbildungsstellenmarkt große Programme aufgelegt werden, die zusätzliche Ausbildungsplätze finanzieren, die – durch die Kammern federführend organisiert – zu Abschlüssen führen, die nach dem Berufsbildungsgesetz bzw. der Handwerksordnung anerkannt sind. 2. Ein weiterer Schwerpunkt des Einsatzes der ESF-Mittel in Brandenburg ist die Kofinanzierung von SAM. So weist Brandenburg nach Thüringen, das hierfür erhebliche Landesmittel aufbringt, die zweithöchste Zahl an SAMProjektstellen aus. Die Werte (gerundet) für September 1999 waren: Thüringen 13.500, Brandenburg 12.400, Sachsen-Anhalt 7.900, Sachsen 6.800, Mecklenburg-Vorpommern ebenfalls 6.800 und Berlin (Ost) 4.300. 3. Systematisch wurde seit 1992 in Brandenburg das Programm „Arbeit statt Sozialhilfe“ entwickelt und ausge-

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baut, das ebenfalls ESF-finanziert ist. Nach einer Erhebung des Deutschen Städte- und Gemeindetages war Brandenburg 1998 das Land mit den relativ meisten Arbeit-statt-SozialhilfeStellen. 4. Im Garten- und Landschaftsbau wurde frühzeitig 1991 in Trägerschaft von den zuständigen Fachverbänden und der Gewerkschaft eine Initiative für Vergabe-ABM gestartet, so dass Brandenburg lange Zeit19 die relativ meisten Vergabe-ABM-Stellen auswies. Zur Zeit werden in Brandenburg rund 11% aller ABM in wirtschaftlicher Vergabe durchgeführt; zum Vergleich in Berlin 3%. Weitere Beispiele spezifischer Brandenburger Arbeitsmarktförderung sind Förderprojekte an der Schnittstelle von Qualifizierung und Technologie, das Konzept wirtschaftsnaher Qualifizierung, das Kurssystem contra Langzeitarbeitslosigkeit, das leistungsorientierte Konzept der Arbeitslosen-Service-Einrichtungen, die Regionalstellen Frauen und Arbeit, regionale Existenzgründerinitiativen, ein berufsbezogener internationaler Jugendaustausch gefördert durch das EU-Programm Leonardo. Ein besonderes Gewicht wurde auch auf die fachliche Anleitung von ABM gelegt, was sich auch in der Struktur der ABS-Aktivitäten mit dem hohen Anteil von Maßnahmen mit Qualifizierung widerspiegelte. Eine herausragende Leistung der Brandenburger Arbeitsmarktpolitik ist ohne Zweifel das große Engagement in der

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Erschließung zusätzlicher Mittel aus den EU-Gemeinschaftsinitiativen. Brandenburg hat mit 66 Mio. ECU hier fast so viel Mittel für den ESF eingeworben wie das bzgl. der Einwohnerzahl sieben mal größere Nordrhein-Westfalen. Ursächlich ist hierfür natürlich zunächst einmal, dass die besonderen Förderschwerpunkte der Gemeinschaftsinitiativen gut zu Brandenburg passten: Mittel aus den gut dotierten Initiativen INTERREG (Grenze zu Polen), KONVER (WGT-Liegenschaften), RECHAR (Braunkohleregion) sowie RESIDER (fünf Stahlstandorte) und sogar aus RETEX (Textilstandorte im Landkreis Spree-Neiße und Cottbus) konnten in Brandenburg beantragt werden. Besonders wertvoll waren diese Mittel, um mit Hilfe der Arbeitsförderung (SAMProjekte mit Kofinanzierung aus INTERREG) in den vergangenen zwei Jahren die Folgen des Oderhochwassers zu beseitigen oder zumindest zu mildern. Die Grundphilosophie der Brandenburger Arbeitsmarktpolitik, Arbeitsförderung als Querschnittsaufgabe mit den Förderungen anderer Landesressorts und den Aktivitäten der Regionen (Landkreise, Städte und Ämter) zu verbinden, wurde in die Arbeitsplatzstrategie integriert, die im Januar 1996 von der Landesregierung verabschiedet wurde. Konzeptionell kann man bei ihr durchaus eine gewisse Verwandtschaft zu der beschäftigungspolitischen Strategie der EU erkennen, die dann Ende 1997 mit dem Luxemburg-Prozess ebenfalls in ein Verfahren mit jährlicher Auswertung und Fortschreibung gegossen wurde. Al-


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Die ESF-Mittel setzen sich zusammen aus den Programmen: INTERREG II URBAN KMU KONVER LEADER II RETEX RECHAR II RESIDER II

lerdings das Ganze in einem sehr viel kleineren Maßstab, eben dem eines ostdeutschen Flächenlandes.

Wieso schafft Arbeitsmarktpolitik keine Vollbeschäftigung? Die Arbeitsmarktpolitik hat nur in begrenztem Maße Einfluss auf Angebot und Nachfrage von Arbeit. Die ihr zur Verfügung stehenden Instrumente (Information, Berufsberatung, Vermittlung,

Qualifizierung, Einstellungshilfen, befristete Beschäftigungsmaßnahmen, Kurzarbeit und – vorübergehend – Vorruhestands- bzw. Altersübergangsgeld) sind weitgehend auf ihre eigentliche Aufgabe zugeschnitten, einen möglichst schnellen Ausgleich auf dem Arbeitsmarkt herbeizuführen und Arbeitslosen Integrationschancen aufzuzeigen. Die dargestellten Leistungen der Bundesanstalt für Arbeit in Ostdeutschland, insbesondere die große Zahl an Vermittlungen und der geringere Anteil an Lang-

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zeitarbeitslosen als in Westdeutschland, belegen, dass sie diese Aufgabe trotz der schwierigen Lage der ostdeutschen Wirtschaft in einem großen Ausmaß erfüllt.

zeitig den Arbeitsmarkt verlassen.“20

In der ostdeutschen Sondersituation wurde der Bundesanstalt für Arbeit sogar für einen Übergangszeitraum die Möglichkeit eines begrenzten und befristeten Einflusses auf Angebot und Nachfrage eingeräumt: Verringerung des Arbeitskräfteangebots durch die Vorruhestands- bzw. Altersübergangsgeld. Erweiterung der Nachfrage nach Arbeit durch große ABM-, später ergänzend SAM-Programme.

Auch die befristeten ABM- und SAMStellen, so wertvoll und leider häufig auch alternativlos sie für die einzelnen Geförderten sind, haben nach bald zehnjähriger Anwendung dazu geführt, dass sich ganze Bereiche in Ostdeutschland darauf eingestellt haben, durch die Arbeitsförderung mit- bzw. ersatzfinanziert zu werden. Namentlich trifft dies auf Soziale Dienste, Jugend- und Kulturarbeit zu. Dies hat mit dazu beigetragen, dass bis heute für diese Bereiche keine angemessenen Regelfinanzierungen gefunden wurden. Insoweit hat es im Hinblick auf die Schaffung regulärer Arbeitsplätze auch geschadet.

Doch beide Ansätze haben ihre Schattenseite: Die Vorruhestands- bzw. Altersübergangsgeldregelung haben dazu geführt, die Qualifikationen, Berufserfahrungen und Leistungsmöglichkeiten mehrere Jahrgänge frühzeitig aus der Wirtschaft herauszunehmen. Sozialpolitisch in der Not wohl auch aus heutiger Sicht noch vertretbar, ist dies eigentlich wirtschaftspolitisch eine Art Bankrotterklärung. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass die EU-Kommission auch heute noch bei der Beurteilung der Nationalen Aktionspläne zu dem deutschen kritisch anmerkt: „Es [Deutschland] sollte vor allem seine bisherige Politik neu bewerten, die den Vorruhestand begünstigt, und nach geeigneten Möglichkeiten suchen, um zu verhindern, dass ältere Arbeitnehmer vor-

Wesentliche Voraussetzungen für die Entstehung von wettbewerbsfähigen Arbeitsplätzen sind: Rechtsicherheit Gute Infrastruktur (günstige Verkehrsanbindung, Energie- und Wasserversorgung zu günstigen Preisen) Qualifikation durch gute Schul-, Berufs- und Hochschulausbildung Entwickelte Wissenschafts- und Forschungslandschaft mit gut funktionierendem Transfer in die Wirtschaft Ein Steuer- und Abgabensystem, das Investitionen begünstigt und den Einsatz von Arbeit nicht überproportional im Vergleich zu anderen Produktionsfaktoren (z.B. Energie) belastet Eine Tarifpolitik, die die Lohnentwicklung an der Steigerung der Produktivität orientiert und auf eine

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solidarischere Verteilung von Erwerbsarbeit in einem langfristig angelegten Prozess hinwirkt, der die Zeit für notwendige qualifikatorische Anpassungen einräumt. Alle hier ohne Anspruch auf Vollständigkeit aufgelisteten Handlungsfelder sind nicht im Einflussbereich der Arbeitsmarktpolitik, sondern sind anderen Politikbereichen zugeordnet. Diese sind in die Pflicht zu nehmen, ihre beschäftigungspolitische Verantwortung wahrzunehmen. Dieser Gedanke ist ja auch gerade der strategische Ansatz der Europäischen Beschäftigungspolitik. Solange, wie sie aber noch nicht greift, bedarf es weiterhin eines hohen Niveaus der Arbeitsförderung in Ostdeutschland. Andernfalls bestünde die Gefahr, dass eine große Zahl von Arbeitslosen ausgegrenzt wird, da sie ihre qualifikatorischen Potenziale verlieren, bevor überhaupt die durch eine systematische Beschäftigungspolitik dann ausgelöste wachsende Nachfrage nach ihrer Arbeitskraft ihnen die Chance der Vermittlung in wettbewerbsfähige Arbeitsplätze eröffnen würde. Es geht also um ein synergetisches „Sowohl-Als-Auch“ und nicht – wie so häufig von traditionellen Wirtschaftspolitikern gefordertes „Ausschließlich“: Gebraucht wird eine aktive Beschäftigungspolitik in Verbindung mit aktiver Arbeitsförderung und nicht ein Zusammenstreichen der Arbeitsförderung in Verbindung mit der vagen Hoffnung auf eine endlich wirksame Beschäftigungspolitik. Allerdings sollte

sich schon bald die aktive Arbeitsmarktpolitik aus der unseeligen Funktion des „Ersatzfinanziers“ für öffentliche Aufgaben, die sie derzeit noch im Bereich der Beschäftigungsförderung wahrnimmt, behutsam zurückziehen, sobald hier angemessene Regelfinanzierungen greifen.

Welche Perspektiven hat die Arbeitsmarktpolitik in Ostdeutschland? Sollte es gelingen, in Abkehr von den ernüchternden Prognosen des IAB eine aktive Beschäftigungspolitik einzuleiten, die in den nächsten Jahren die Arbeitslosigkeit in Ostdeutschland substantiell abbaut, so ist doch aufgrund des hohen Niveaus der Arbeitslosigkeit zum heutigen Zeitpunkt klar, dass hier aktive Arbeitsmarktpolitik in der mittleren Frist, also etwa bis 2010, mehr Aufgaben wahrnehmen muss als in Westdeutschland: 1. Bis 2005 wird ein Defizit an Ausbildungsplätzen die Förderung zusätzlicher Ausbildungsplätze erforderlich machen. 2. Bei dem Übergang von der Ausbildung in die Erwerbstätigkeit – der sogenannten 2. Schwelle – wird ohne arbeitsmarktliche Förderung „ein Rückstau“ viele junge Leute ins Abseits drängen. 3. Für die älteren Arbeitslosen vor allem in den ländlichen Gebieten, häufig zugleich schon Langzeitarbeitslose, sind selbst dann, wenn die Zahl der

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Arbeitsplätze in den nächsten Jahren steigen wird, zusätzliche geförderte Arbeitsplätze notwendig, da sie von der Wirtschaft in der Regel nicht mehr eingestellt werden. Hier bietet die SAM-Förderung eine gute Grundlage, in Verzahnung mit Mitteln aus anderen Politikbereichen für einen Übergangszeitraum zusätzliche Arbeitsplätze zu schaffen. 4. Der Wandel der Wirtschaft wird sich auch in Ostdeutschland beschleunigen; Arbeitsförderung wird daher zunehmend zum Dienstleister für die berufliche Entwicklung (Informationsund Beratungshilfe; Unterstützung bei der Selbstsuche, Qualifizierung) werden. Immer wieder neue Wege sind in der Qualifikation auf zukünftige Bedarfe zu gehen; Stichwort hierzu: lebenslanges Lernen in der Wissensgesellschaft. 5. Ein Element einer erfolgreichen beschäftigungspolitischen Gesamtstrategie wird der Übergang zu kürzeren Lebensarbeitszeiten (durch Abbau von Überstunden, kürzere Jahresarbeitszeit, Zunahme von Qualifizierungsphasen und Freijahren („Sabbaticals“) usw.) sein. Dies wird vornehmlich durch die Tarifpartner ausgestaltet werden. Die Arbeitsförderung kann hierbei unterstützen; z.B. durch Beratungsangebote oder die Förderung von Qualifizierungen. 6. Eine Besonderheit Ostdeutschlands ist der enorme Bedarf an Ausbau der Infrastruktur im weitesten Sinne. Hier ist ein weites Feld für die investive

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Arbeitsförderung, die Integration von Arbeitsfördermitteln (Vergabe-ABM und -SAM) in investive Vorhaben beispielsweise der touristischen Infrastruktur, der Stadterneuerung, der Denkmalpflege, des Wegebaus, der Wohnumfeldverbesserung, der ökologischen Sanierung usw. 7. Weiterhin die Integration von Zielgruppen wie Schwerbehinderte, Alleinerziehende und arbeitslose Sozialhilfeempfänger.

Was verhindert eine erfolgreiche Beschäftigungspolitik in Deutschland ? Wenn Vollbeschäftigung eine Chance hat, wenn die EU eine systematische Beschäftigungspolitik koordiniert, wenn andere EU-Mitglieder erfolgreiche Beschäftigungspolitiken betreiben, wenn Gesamtstrategien ausgearbeitet vorliegen, warum wird dann in Deutschland bislang keine erfolgreiche Beschäftigungspolitik sichtbar? Eine Frage, auf die ich keine abschließende Antwort habe. Wohl aber Thesen. Möglicherweise befindet sich Deutschland in einer Art mentaler Selbstblockade: Lohnfixierung: Täglich können die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland in den Zeitungen lesen, dass sie zu wenig arbeiten und im Übrigen zu teuer seien. Ob dies anspornt? Und trifft es den Kern


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des Problems? Die hohe Exportleistung zeigt, dass deutsche Waren international zu konkurrenzfähigen Preisen abgesetzt werden können. Unternehmen, die innovative Produkte hoher Qualität produzieren und verkaufen wollen, brauchen Top-Arbeitskräfte; bei ihnen werden auch relativ hohe Löhne und Gehälter gezahlt. Vielleicht sollten die Zusammenhänge zwischen Lohnniveau und Beschäftigung in Deutschland auch wieder volkswirtschaftlich und nicht länger nur einzel-betriebswirtschaftlich erörtert werden. Optimierer statt Unternehmer: Der Vorstand von MobilCom prägte in einer Diskussionsrunde beim damaligen Bundespräsidenten Roman Herzog das Wort von den deutschen Unternehmern, die „Optimierer, aber nicht Unternehmer“ seien. Die Herstellung der Produkte wird ständig optimiert; die Produktivitätsfortschritte in Deutschland übertreffen regelmäßig die der USA, Frankreichs oder Großbritanniens. Zu schwach ausgeprägt ist das unternehmerische Wagen neuer Produkte. Telefax und Inlineskates sind prominente Beispiele für deutsches Erfindertum, das anderswo unternehmerisch in Produkten verwirklicht und vermarktet wurde. Mangelnde Vision: An der Schwelle des 21. Jahrhunderts liegt die Aufgabe vor uns, unsere Volkswirtschaften so umzugestalten, dass sie in der Ressourcennutzung den Prinzipien der Nachhaltigkeit genügen. Andern-

falls wird der heutige Lebensstandard nicht mehr lange möglich sein, ohne das ökologische Gleichgewicht unaufhaltsam aus dem Lot zu bringen. Hierzu bedarf es neuer intelligenterer Techniken beispielsweise in der Energieerzeugung oder im Transport. Hier könnten sich brachliegende Potenziale der deutschen Wirtschaft einbringen. Staatsparadox: Einerseits heftet die öffentliche Debatte alle Aufmerksamkeit auf die öffentliche Hand – Bund, Länder und Gemeinden – und erwartet, dass hier die Weichenstellungen für Rahmenbedingungen vorgenommen werden, so dass die Wirtschaft endlich wieder mehr Arbeitsplätze schafft, als durch Produktivitätsfortschritt jährlich wegfallen. Gleichzeitig wird aber ein heftiger Diskurs über den schlanken Staat geführt. Etwas zugespitzt formuliert: Jeder hat seine persönlichen Forderungen an den Staat, will aber zugleich immer weniger Steuern und Abgaben zahlen. Das passt nicht zusammen. Nötig ist vielmehr eine widerspruchsfreie Auffassung zur zukünftigen Rolle des Staates.

Beteiligungsgerechtigkeit ist machbar Mut und auch Risikobereitschaft sind nötig, um den Wandel, der sich mit Globalisierung und technisch-wissenschaftlichem Fortschritt beschleunigt, positiv zu nutzen. Gerade hierfür ist eine entwickelte Sozialstaatlichkeit eine not-

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wendige Voraussetzung. Indem Globalisierung und technisch-wissenschaftlicher Fortschritt dazu führen, dass immer wieder alte Branchen wegfallen und neue entstehen, bedarf es einer Flankierung dieses Wandels, die es erlaubt, möglichst reibungslos die mit ihm verbundenen Brüche und Neubeginne anzunehmen und aktiv zu gestalten. Leistet die Solidargemeinschaft weder soziale Absicherung noch Hilfe bei Übergängen von Arbeitsplatz zu Arbeitsplatz – etwa durch Qualifizierung – so entsteht verständlicherweise bei jedem Bruch, bei jedem Übergang zu einer neuen Technologie ein viel größerer Widerstand, der das ökonomisch sinnvolle

wenn nicht verhindert, so doch wenigstens verzögert.

Anmerkungen:

5

1 „Arbeitsmarkt 1998“, Amtliche Nachrichten der Bundesanstalt für Arbeit , 12. Juni 1999; Seite 145ff.

Indem – wie hier skizziert – eine aktive Beschäftigungspolitik, flankiert durch Arbeitsmarktpolitik verwirklicht wird, kann auch Beteiligungsgerechtigkeit wieder hergestellt werden: Beteiligung an Arbeit, Einkommen und Vermögen ebenso wie an demokratischer Mitgestaltung.

Rolf Schmachtenberg ist Abteilungsleiter im Ministerium für Arbeit, Soziales, Gesundheit und Frauen des Landes Brandenburg.

Wagner G./Schwarze, J./Rinne, K./Erlinghagen, M. (1998): „Bürgerarbeit“: Kein sinnvoller Weg zur Reduzierung der Arbeitslosigkeit, in: DIW-Wochenbericht 4/1998. 6

2

J. Fuchs, P. Schnur, U. Walwei, G. Zilka: „Arbeitsmarktprojektion Ostdeutschland: Entwicklung des Erwerbspersonenpotentials und des Arbeitskräftebedarfs bis 2010“, veröffentlicht in „Die Arbeitsmarkt- und beschäftigungspolitische Herausforderung in Ostdeutschland“, Beiträge zur Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, Bd. 223; Seite 293ff; hrsg. von E. Wiedemann u.a., Nürnberg, März 1999. 3

Ebenda, Seite 302.

4 zitiert aus „Logik der Globalisierung“, C. Christian von Weizsäcker; Vandenhoek & Ruprecht, Göttingen 1999; Seite 53.

90

Statistisches Bundesamt und Bundesministerium für Familie und Senioren: „Wo bleibt die Zeit? – Die Zeitverwendung der Bevölkerung in Deutschland“ auf der Basis einer Befragung von 7.200 Haushalten; Broschüre, Wiesbaden 1994. 7

Vgl. auch den Beitrag „Verlorener Zusammenhalt - Der Universalismus ist unvereinbar mit Massenarbeitslsoigkeit, da diese das demokratische Potential schwächt“ von Sibylle Tönnies in der Tageszeitung (taz) vom 13. März 1998. 8

Bericht Teil III der Kommission für Zukunftsfragen der Freistaaten Bayern und Sachsen, Bonn, November 1997, S. 163.


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Mit dem SGB III zum 1. Januar 1998 eingeführt werden im Eingliederungstitel die Haushaltsmittel der Bundesanstalt bzw. – dann auf regionaler Ebene – der Arbeitsämter für die meisten freiwilligen („Ermessens“ -) Leistungen der aktiven Arbeitsförderung zusamengefaßt, um eine höhere Flexibilität in der Mittelbewirtschaftung zu ermöglichen; darunter Qualifizierung, ABM, Ausbildung Benachteiligter, Rehamaßnahmen, Eingliederungszuschüsse. Nicht in den Eingliederungstitel eingeordnet sind die Mittel für Überbrückungsgeld (Förderung von Existenzgründungen) und Strukturanpassungsmaßnahmen.

10

Zur Entwicklung der ABS-Gesellschaften siehe Matthias Knuth: „Drehscheiben im Strukturwandel- Agenturen für Mobilitäts-, Arbeits- und Strukturförderung“, edition sigma, Berlin 1996.

11

Umwelt, Soziale Dienste, Breitensport, Jugendhilfe, Kulturarbeit, Denkmalpflege, Städtebau, Verbesserung des Wohnumfeldes, Verbesserung der wirtschaftlichen und touristischen Infrastruktur, wobei der Katalog im Laufe der Jahre erweitert wurde; aktuell mit dem 2. SGB III Änderungsgesetz zum 1.8.1999 um das zuletzt genannte Feld. 12

Entnommen den Amtlichen Nachrichten der Bundesanstalt für Arbeit (ANBA), 47. Jahrgang, Sondernummer, Nürnberg, 12. Juni 1999.

derem Grund nicht mehr arbeitslos sind, zu der Anzahl aller Austritte. Sie wird gemessen in Prozent. 15 Einen deutlichen Hinweis hierzu findet man im Brandenburger „IAB-Betriebspanel – Ergebnisse der zweiten Welle“, Seite 68, herausgegeben vom Ministerium für Arbeit, Soziales, Gesundheit und Frauen, Potsdam, Mai 1998.

16 Vgl. „Entwicklung von Betrieben und Beschäftigung in Brandenburg“ (IAB-Betriebspanel, dritte Welle), Seite 70ff; herausgegeben vom Ministerium für Arbeit, Soziales, Gesundheit und Frauen, Potsdam, Juni 1999.

17 Schätzung des Autors. Zahlenangaben zum Länderbeitrag sind nur schwer fassbar, da die Mittel in den Landeshaushalten sehr unterschiedlich veranschlagt werden (teilweise auch mit nicht vergleichbaren Zweckbestimmungen).

18 Daten gemäß der Meldungen der Trägerbzw. Landesberatungsgesellschaften; zusammengestellt durch das IAB. Die Rubrik Sonstiges umfasst insbesondere 4.294 ArbeitnehmerInnen einer Sonderförderung der Treuhandanstalt für Ältere Arbeitnehmer aus dem Jahr 1994 („54er-Regelung“), 1.905 Teilnehmer an Vollzeit-Qualifizierungen, 1.693 Kurzarbeiter und 823 Auszubildende. Zu ABM/SAM mit Qualifizierung lag für Sachsen keine Angabe vor.

13

Sondernummer der Amtlichen Nachrichten der Bundesanstalt für Arbeit, Nürnberg, Juli 1999.

14

Sie ist definiert als das Verhältnis der Anzahl von Personen, die sechs Monate nach Austritt aus einer Förderung eine Beschäftigung aufgenommen haben oder aus an-

19 Aktuelle bundesweite Vergleiche liegen mir nicht vor.

20 „Empfehlungen der Kommission für EMPFEHLUNGEN DES RATES zur Durchführung der Beschäftigungspolitik der Mitgliedstaaten“, Brüssel, September 1999.

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IMPRESSUM

Herausgeber: SPD-Landesverband Brandenburg Redaktion: Thomas Grimm Lars Krumrey Klaus Ness (V.i.S.d.P.) Dr. Volker Offermann Anschrift: Friedrich-Ebert-StraĂ&#x;e 61 14469 Potsdam Tel. 0331 / 29 20 30 Fax 0331 / 2 70 85 35 E-Mail: info@spd-brandenburg.de Internet: www.spd-brandenburg.de

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Satz & Layout: Thomas Grimm Druck: Gieselmann, RehbrĂźcke




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