perspektive21 - Heft 09

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INHALT

BILDUNGS- UND WISSENSOFFENSIVE

INTERVIEW mit Steffen Reiche, Minister für Bildung, Jugend und Sport des Landes Brandenburg ..................... Seite 4

BEITRÄGE Chancengleichheit, Qualität und Selbstverantwortung von Gerhard Schröder ......................... Seite 9

Weiterentwicklung der Qualität schulischer Arbeit von Bodo Richard ............................. Seite 42

Bildung entscheidet über unsere Zukunft - für eine neue Bildungsinitative von Wolfgang Clement, Edelgard Bulmahn, Manfred Stolpe, Gabriele Behler, Jürgen Zöllner, Willi Lemke Seite 16

Positionspapiere der SPD-Zukunftskomissionen - Soziale Gerechtigkeit im 21. Jahrundert ............................ Seite 49 - Zukunftsregion Brandenburg ......... Seite 55 - Bildungsoffensive Brandenburg ..... Seite 63

Potsdamer Erklärung Chancengleichheit - Leitbegriff für Politik und Gesellschaft im 21. Jahrhundert .................................. Seite 30

Definitionsfragen, Standortprobleme und die Gerechtigkeitslücke von Dr. Hans Misselwitz ................... Seite 71

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INTRO

Liebe Leserinnen und Leser, über Bildungspolitik wird nicht nur in Brandenburg intensiv diskutiert. Die veränderte Arbeitswelt des digitalen Kapitalismus erfordert andere Ausbildungsinhalte und -strukturen. Ob wir uns wirklich auf eine Wissensgesellschaft zu bewegen, ist umstritten. Klar ist aber, dass der Umgang mit den Neuen Medien und ein hohes Maß an Flexibilität in Zukunft unabdingbar ist, um unter veränderten Bedingungen und Anforderungen bestehen zu können. Politik hat die Aufgabe, die Zukunft zu gestalten und Menschen darauf vorzubereiten, dass sie einen angemessenen Platz in der Gesellschaft f inden. Staatlicher Bildungspolitik kommt dabei einer herausragende Aufgabe und Verantwortung zu. Gerade in Brandenburg muß zehn Jahre nach Umgestaltung des Bildungswesens eine Bilanz gezogen werden und - dort wo es sich als nötig erweist - zu Korrekturen kommen. Brandenburgs neuer Bildungsminister Steffen Reiche gibt in seinem Interview mit der Perspektive 21 erste Antworten. In der Öffentlichkeit entsteht häufig der Eindruck, die aktuelle Bildungsdebatte ist nur eine Diskussion über kürzere Schul- und Studienzeiten und effektivere Strukturen. Es ist aber auch eine Debatte um Werte. Wenn Bildung und Wissen in Zukunft noch stärker den Zugang zu Lebenschancen bestimmen, ist die Ausrichtung der Bildungspolitik eine sehr schnell ideologisierte Frage. Die Auseinandersetzung um die Begriffe Chancengleichheit und Chancengerechtigkeit sind dafür nur ein Bei-

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spiel. In dem in dieser Ausgabe dokumentierten Aufruf prominenter Sozialdemokraten für eine Bildungsinitiative und der „Potsdamer Erklärung“ engagierter Bildungspolitiker wird auch diese Debatte aufgegriffen. Konkrete Reformschritte für die Brandenburger Bildungspolitik schlägt die Zukunftskommission 3 des SPD Landesvorstandes in ihrem Positionspapier vor. Die Debatte darüber auf dem außerordentlichen Landesparteitag der Brandenburger Sozialdemokraten am 18. März 2000 in Mittenwalde wird sicherlich sehr spannend. Dies gilt natürlich auch für die Positionspapiere zu den Themen „Soziale Gerechtigkeit im 21. Jahrhundert“ und „Zukunftsregion Brandenburg“. Heftige und kontroverse Diskussionen haben die Beiträge von Klaus Ness und Klaus Jürgen Scheerer zum Schwerpunktthema „Soziale Gerechtigkeit“ in Heft 8 ausgelöst. Grund für uns, Dr. Hans-Jürgen Misselwitz zu bitten, die Diskussion in dieser Ausgabe fortzusetzen. Die nächste Ausgabe wird sich der Hauptstadtregion Berlin-Brandenburg widmen. Auch wenn die Redaktion nur aus Fusionsbefürwortern besteht, werden wir das Thema nicht auf diese Frage verengen. Beiträge sind wie immer herzlich willkommen. P.S. Sollten Sie noch kein kostenlos Abonnent haben, nutzen Sie die beigefügte Postkarte oder senden sie uns eine Mail.


INTERVIEW

„NEUE HERAUSFORDERUNGEN PRAGMATISCH ANGEHEN!“ Ein Interview mit Steffen Reiche, Minister für Bildung, Jugend und Sport des Landes Brandenburg Alle Parteien sprechen von der Notwendigkeit einer Bildungsoffensive. Gibt es eine spezielle Herangehensweise der Sozialdemokraten an diese Bildungsoffensive?

demokratisches Ziel ist es, dass möglichst niemand aus der modernen Gesellschaft herausgedrängt wird und deshalb ist Bildung für alle ein ganz aktuelles Postulat.

Ja! Arbeits- und Lebenswelt der Menschen werden sich in den nächsten Jahren und Jahrzehnten radikal verändern. Die Stichworte sind Globalisierung, Digitalisierung und Individualisierung. Wir wollen, dass möglichst viele die sich neu ergebenden Chancen nutzen und die Veränderungen mitgestalten können. Wichtigste Voraussetzungen dafür müssen durch die Bildungspolitik geschaffen werden. Wir brauchen ebenso Spitzenleistungen wie Qualif ikation in der Breite. Die moderne Dienstleistungsgesellschaft wird insgesamt höhere Qualifi-kationsanforderungen stellen. Wer mit der Internationalisierung Schritt halten will, muss Englisch als Zweitsprache beherrschen. Die moderne Arbeitswelt wird in viel höherem Maße Teamfähigkeit verlangen, es geht um Methodenkompetenzen wie beispielsweise Umgang mit den Informations- und Kommunikationstechnologien und es geht um die Fähigkeit und Motivation ein Leben lang lernen zu wollen. Das Bildungssystem steht also vor Riesenherausforderungen und sozial-

Bei vielem, was Sie jetzt in der Landesregierung machen, wie beispielsweise Schnellläuferklassen, Einführung Abschlussprüfungen oder Bewertung von Arbeits- und Sozialverhalten stellt sich doch die Frage, ist dies eigentlich eine linke sozialdemokratische Politik? Wie in fast allen Politikfeldern müssen die neuen Herausforderungen pragmatisch angegangen werden. Da geht es im die richtigen Lösungen und die richtigen Entscheidungen und da verschwimmt oft die Bewertung links oder rechts. Aber ich sage noch einmal, während die CDU immer stärker den Schwerpunkt auf die Interessen des Bildungsbürgertums legt und die Bildungselite fördern will, so ist es ein wichtiges Ziel der Sozialdemokraten, dass niemand im Bildungssystem abgehängt wird, weil das die Chancen für das ganze Leben verbaut. Chancengleichheit bleibt auf der Tagesordnung. Für mich ist wichtig das eine zu tun Spitzenleistungen ermöglichen - ohne das an-

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dere zu lassen, nämlich auch Lernschwache zu fördern. In dem Papier Bildungsoffensive der Zukunftskommission des SPD-Landesvorstandes ist die Rede von mehr Selbständigkeit für die Schulen. Auf der anderen Seite werden aber zentrale Abschlussprüfungen sowohl nach der 10. Klasse als auch das Zentralabitur verlangt. Wie passt das zusammen? Selbständigkeit von Schule ist eine meiner wichtigsten Ziele. Das Schulgesetz schafft schon heute die Voraussetzungen für das Budgetrecht der einzelnen Schule. Die Schulträger, also die Landkreise und Gemeinden, müssen die Schulen endlich in dieser Hinsicht in die Selbständigkeit entlassen. Aber es geht nicht nur um Budgetrecht, sondern wir werden auch konkret überlegen, wie die Bildungseinrichtungen mehr Freiheiten bekommen auch bei personellen und inhaltlichen Gestaltungen ihres Angebotes. Selbständigkeit der Schule ist die eine Seite der Medaille, die andere Seite ist die daraus folgende Rechenschaftslegung und Evaluation der Schulen und der Leistungen der Schüler. Durch zentrale Prüfungen wird ein Leistungsvergleich herbeigeführt, der durch laufende Evaluationsuntersuchungen untersetzt wird. Notwendig ist, dass es dann auch offene Diskussionen über die Ergebnisse dieser Leistungserhebung gibt und Schwächen und Stärken analysiert werden und Veränderungen vorgenommen werden. Selbständigkeit schafft Spielraum, im Wettbewerb muss sich dann aber jede Schule beweisen. Ich stelle mir vor allen Dingen vor, dass eine ganz wichtige Rolle die Schulleiter dabei spielen, wenn es darum geht, die Leistungsfähigkeit der Schulen zu stärken. Deshalb wieder auf der anderen Seite die Über-

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legung im SPD-Papier Bildungsoffensive, die Schulleiter nur für einen begrenzten Zeitraum zu bestellen. Qualitätsmanagement fängt unten an. Deshalb will ich es noch in dieser Legislaturperiode schaffen, dass deutlich Kompetenzen vom Ministerium auf die staatlichen Schulämter delegiert werden und von den staatlichen Schulämtern wiederum auf die Schulen. Sind die Schulleiter und Lehrer auf diese größere Selbständigkeit vorbereitet? Ich habe mich ja daran gewöhnt, dass Politiker einen schlechten Ruf in der Gesellschaft haben. Ich werde mich aber nicht daran gewöhnen, dass das auch für die Lehrer gilt. Diesem schlechten Image entspricht auch die Selbsteinschätzung der Lehrer, die - wie ich finde über ihre Situation viel zu sehr klagen. Ich will deshalb durch eine Kommunikationsoffensive auch deutlich machen, welchen zentralen Stellenwert Lehrer in unserer Gesellschaft haben und welche wichtige Rolle sie für die Zukunft unserer Jugend spielen. Deshalb brauchen sie unserer aller Unterstützung. Eltern, Schüler und Lehrer müssen zusammen ihre Schule gestalten, das heißt anpacken statt jammern. Und das Image unserer Lehrer ist völlig zu Unrecht so schlecht. Über 8.000 Lehrerinnen und Lehrer haben in Brandenburg in den letzten Jahren einen neuen Abschluss gemacht, sich also nicht nur fortgebildet in ihrem Fach, sondern für ein neues Fach qualifiziert. Ganz zu schweigen von der Fortbildung, die fast jeder Lehrer durchlaufen hat. Also die Lernbereitschaft, sich neu auf die Schule einzulassen ist riesengroß. Diese Motivation kann man gar nicht genug loben und herausstellen. Nur kann jetzt nicht mit der Fort- und Weiterbildung Schluss sein,


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sondern sie muss jetzt weitergehen, beispielsweise für den Bereich neue Medien oder auch für zweisprachigen Unterricht. Sie wollen zurück zu Kopfnoten. Ist dies nicht eine sehr konservative Schulpolitik? Genau das Gegenteil. Es wird keine Wiedereinführung der Kopfnoten geben, sondern eine differenzierte Einschätzung von Arbeits- und Sozialverhalten, wie Lerneinstellung, Teamfähigkeit, Selbständigkeit oder Kritikfähigkeit. In der modernen Arbeitswelt ist Arbeits- und Sozialverhalten fast wichtiger als Fachwissen. Deshalb dient die Bewertung, die wir als Anlage zum Zeugnis einführen wollen zur Orientierung der Schüler und Eltern und entspricht den zukünftigen Berufsanforderungen. Sie wollen Schnellläuferklassen einführen. Auf der anderen Seite betont das SPD-Papier insbesondere die Schulzeitverkürzung nach dem 6+6-Modell, also 6 Jahre Grundschule, 6 Jahre weiterführende Schule. Ist das nicht ein Widerspruch? Die Schule der Zukunft wird auch sehr vielfältig sein. Für besonders Begabte wollen wir die Möglichkeit eröffnen, schon ab dem 5. Schuljahr auf das Gymnasium zu wechseln. Das betrifft Gymnasien mit besonderer Prägung - also musisch-sprachlich oder naturwissenschaftlich oder sportbetonten. Es geht dabei sowohl um die spezielle Förderung von besonders leistungsstarken Schülern, als auch um die vertiefte Bildung in speziellen Bereichen. Und in Deutschland muss die Erstausbildungszeit kürzer werden. Zum Teil werden die Kinder zu spät eingeschult. Deshalb setzen wir uns für eine flexible Eingangsphase in

der Grundschule ein, das heißt, begabte Kinder müssen auch deutlich früher schon eingeschult werden können. Wir wollen dazu auch den Bildungsauftrag der Kindertagesstätten stärken. Dann wollen wir die Möglichkeit schaffen, auch schon nach 12 Jahren das Abitur abzulegen und darauf aufbauend muss auch das Studium verkürzt werden, wie es ja mit der Einführung des Abschlusses des Bachelor möglich wird. Die Hoch-schulabsolventen in Deutschland sind 26, 27 oder gar 28, haben sehr viel Wissen, aber wenig Erfahrung. Und die neuen Qualifikationsanforderungen in der Gesellschaft und im Arbeitsleben erfordern lebenslanges Lernen, auf der anderen Seite muss dann aber die Erstausbildung verkürzt absolviert werden können. Ist das 6+6-Modell eigentlich realistisch? Wie wollten Sie denn die KMK-Vorschriften für die Stundentafel einhalten? Es wird nicht ohne eine Erhöhung der Stundenzahl in den Klassenstufen 5 und 6, dann aber auch in der Sekundarstufe I, gehen können. Aber ich bin sicher, auch nachdem was die SPD auf ihrem Bildungskongress in Bonn gesagt hat, die Schulzeitverkürzung wird sich bundesweit durchsetzen und dann werden sich auch die KMK-Vereinbarungen anpassen. Sie haben am Anfang von der Sprachen- und Medienkompetenz geredet, die besonders wichtig wird. Wie wollen Sie das in Brandenburg erreichen bei dem hohen Fachlehrermangel bei modernen Sprachen und mit der miserablen Ausstattung der Schulen mit Computern? Erstens: Es ist richtig, dass insbesondere in der Grundschule in Englisch in hohem Maße fach-

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fremder Unterricht gegeben wird. Aber durch die Weiterbildung für die Lehrer, durch den Einstellungskorridor von 250 Vollzeitlehrern pro Jahr und den gleichzeitigen Rückgang der Schülerzahlen wird sich dieses Problem in drei bis vier Jahren in Brandenburg, so hoffe ich, nicht mehr stellen. Die Ausstattung mit Computern an Schulen in Brandenburg ist gar nicht so schlecht. Das hat eine gerade abgeschlossene Erhebung durch das Bildungsministerium ergeben. Trotzdem, wir müssen noch eine ganze Menge tun und dazu gehört, dass wir jetzt eine umfassende Medienoffensive starten, zu der die Ausstattung mit Computern, die Fortbildung der Lehrerinnen und Lehrer und auch die Einrichtung eines Bildungsservers zählen. Durch das im Landtag schon im Januar beschlossene Gemeindefinanzierungsgesetz stehen uns 6 Millionen DM in diesem Jahr zur Verfügung, ich hoffe auch, dass dies in den nächsten Jahren fortgeschrieben wird. Wenn die Schulträger noch einmal mit derselben Summe kofi-nanzieren, haben wir in den nächsten 5 Jahren 60 Millionen DM zur Verfügung. Mit diesem Geld kann eine hervorragende Grundausstattung für die Schulen finanziert werden. Sind aber die Lehrer überhaupt qualifiziert genug für diesen Unterricht? Erst einmal wird ja eine umfassende Fortbildung angeboten, zum anderen finde ich, müssen Lehrer damit ganz souverän umgehen, dass der eine oder andere Schüler sich an einem Computer besser auskennt als der Lehrer selbst. Das finde ich nicht tragisch und kann ein sehr belebendes Element für den Unterricht sein. Was mir ganz wichtig ist, dass nicht nur stur der Computer und seine Software gelernt wird,

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sondern im normalen Fachunterricht der Computer und spezielle Programme als Hilfsmittel benutzt werden und damit der Unterricht lebendiger, vielgestaltiger wird und die Schüler selber Informationen abrufen können. Die Schülerzahlen werden sich insbesondere in den von Berlin entfernten Räumen drastisch reduzieren. Bis jetzt liegt vom Bildungsministerium noch kein Konzept vor, wie Sie damit umgehen wollen! Wir werden die Ergebnisse der Strukturkommission, die unter Leitung von Dieter Wunder steht, dem ehemaligen GEW-Bundesvorsitzenden, abwarten und dann eine Diskussion darüber führen. Letztendlich muss jeweils vor Ort entschieden werden, welche Schulen möglicherweise geschlossen werden und welche Schulformen dabei ausgewählt werden. Möglicherweise werden wir in der Novelle des Schulgesetzes eine Schulform neu zulassen, die entweder durch Kooperation oder durch Integration mehrere Schulformen unter einem Dach zulässt. Es ist ganz wichtig, dass wir nicht wieder große Bildungsdifferenzen entstehen lassen zwischen den Ballungsräumen und dem ländlichen Raum, wie es früher schon einmal war. Deshalb halte ich nichts davon, außerhalb der Grundschule Kleinstschulen zuzulassen. Das führt zu keinem qualif izierten Fachunterricht. Wir stehen erst am Anfang dieser Diskussion und ich bin sicher, dass die Ergebnisse der Schulstrukturkommission für den ländlichen Raum tragfähige Grundlagen für diese Diskussion legen. Zum Teil sind die Schulgebäude noch in einer katastrophalen Situation. Dies gilt insbeson-


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dere für Sporthallen. Wie wollen Sie da Abhilfe schaffen? Wir können da leider keine ganz großen Sprünge machen, da das Geld in allen Haushalten knapp ist und wir weiter konsolidieren müssen, um die Neuverschuldung in 2002 auf Null herunterzubringen. Das Schuldendiensthilfeprogramm für die Schulträger werden wir aber weiterführen und ich hoffe auch, dass wir das OSZ-Bauprogramm mit Hilfe des Wirtschaftsministeriums fortsetzen können. Durch die Öffnung der IFG-Mittel (Investitionsfördergesetz des Bundes) sowohl für Schulsanierung als auch für Ersatzbauten erhöht sich der kommunale Finanzierungsspielraum noch einmal. Aber leider, da haben Sie Recht, werden die Verbesserungen nur sukzessive vorangehen. Trotzdem sollte man auch dort nicht nur schwarz in schwarz malen, viele Schulen im Land sind in den letzten Jahren grundsaniert worden und verfügen über attraktive Bauten. Im Papier Bildungsoffensive ist von der Stärkung der regionalen Bindung der Schulen die Rede. Wie wollen Sie die erreichen? Es muss vielmehr Praxis in die Schulen, das heißt insbesondere eine verstärkte Kooperation zwischen Unternehmen und Schule. Ich will dazu Rahmenvereinbarungen mit den Industrie- und Handelskammern und den Handwerkskammern abschließen und konkrete Kooperationsverträge können da auch weiterhelfen, siehe den kürzlich abgeschlossenen Vertrag zwischen Schulen in Ludwigsfelde und Umgebung mit Rolls Royce, Daimler Chrysler und MTU. Es geht um Betriebspraktika für Lehrer und Schüler, um ständigen Praxisbezug für bestimmte Lernprozesse, aber auch um den

Einsatz von Praktikern im Unterricht und auch die Teilnahme an Innovationsprozessen für die Region. Im Rahmen des Innoregiowettbewerbs des Bundesforschungsministeriums hat sich eine Innoregioinitiative in Märkisch-Oderland in der Grenzregion gebildet, die diesen Praxisbezug modellhaft erproben will. Es gibt sowieso in Brandenburg eine große Landschaft von Selbstinitiative, die man gar nicht genug herausstellen kann.

Der Punkt berufliche Bildung scheint mir eine der schwächsten in dem SPD-Papier „Bildungsoffensive“ zu sein. Welches ist die Ursache? Das sehe ich nicht so, weil alles, was zur Entwicklung der Schulen gesagt wurde, natürlich auch für die Oberstufenzentren gilt. Nichtsdestotrotz muss die duale Ausbildung in Brandenburg einen viel höheren Stellenwert bekommen als sie es hat. Das liegt natürlich auch an der Situation der Betriebe und an dem zu geringen Industriebesatz in Brandenburg. Aber auf der anderen Seite muss auch die Bereitschaft der Unternehmen und der vielen kleinen und mittleren und auch größeren Betriebe größer werden, Ausbildungsplätze zu schaffen. Das von uns praktizierte kooperative Ausbildungsmodell ist ein geeigneter Ansatz, die akuten Probleme am Ausbildungsstellenmarkt zu lösen, aber die umfassende betriebliche Praxis kann dies nicht ersetzen. Und wir müssen dafür sorgen, dass jeder Jugendliche einen betrieblichen Ausbildungsabschluss erhalten kann. Auch in Brandenburg sind fast 8 % der Schüler ohne Schulabschluss und über 10 % der Jugendlichen ohne Ausbildungsabschluss. Das kann und darf nicht so bleiben, da die

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Qualifikationsstruktur der Arbeitswelt der Zukunft Arbeitskräften ohne Berufsabschluss kaum noch eine Chance lässt. Studien zeigen, dass vor allen Dingen mittlere Schulabschlüsse und eine Berufsausbildung beste Chancen auf dem Arbeitsmarkt bieten. Das letzte Kapitel Ihres Papiers beschäftigt sich mit der Zusammenarbeit der Länder Berlin und Brandenburg. Wäre es nicht besser, wir bringen erst einmal unsere Bildungslandschaft in Brandenburg in Ordnung? Nein, die Herausforderungen in der Zukunft erfordern immer, über Grenzen hinwegzudenken. Und Berlin und Brandenburg bilden eine Region und das wird sich ganz besonders im Bildungsbereich zeigen. Ich habe den Ehrgeiz, zusammen mit meinem Kollegen Schulsenator in Berlin Klaus Böger eine vorbildliche Kooperation in den nächsten Jahren zu schaffen. Dies bezieht sich auf die weitere Kooperation im Bereich der Lehrerausbildung, die Zusammenarbeit der Einrichtungen, wie z. B. das Pädagogische Landesinstitut in Ludwigsfelde und das Berliner Lehrerinstitut, das bezieht sich auf

die Abstimmung der Entwicklung der Rahmenlehrpläne und auch auf eine gemeinsame Schulentwicklungsplanung. Es ist doch einfach absurd, dass es in den Verflechtungsbereichen keine freie Schulwahl zwischen Brandenburger und Berliner Schulen gibt, sondern statt dessen durch ein bürokratisches Gastschülerabkommen so etwas fast unmöglich gemacht wird. Wir brauchen solche Freizügigkeit auch, um des Wettbewerbs zwischen den Schulen Willen. Aber wahrscheinlich ist das Illusion, solange es nicht ein gemeinsames Land gibt. Denn solange das nicht der Fall ist, wird jedes Land darauf achten, ob es nicht vom anderen Land Geld verlangen kann für die Schüler, die auf seine Schulen gehen, da ja insbesondere die Lehrer vom jeweiligen Land bezahlt werden und die Hauptkostenlast darstellen. Wenn wir, wie es mein Wille ist, bis 2009 zu einem gemeinsamen Land kommen, müssen wir in den ersten Jahren zeigen, welche praktischen Vorteile die Zusammenarbeit hat und dass sie auch funktioniert. Das habe ich vor, für den Bildungsbereich zu beweisen. Herr Reiche, wir danken für das Gespräch.

Steffen Reiche ist Minister für Bildung, Jugend und Sport des Landes Brandenburg und SPD-Landesvorsitzender. Weiter Informationen zur Bildungspolitik in Land Brandenburg finden Sie unter: www.brandenburg.de/land/mbjs/index.htm

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THEMA

CHANCENGLEICHHEIT, QUALITÄT UND SELBSTVERANTWORTUNG Rede von Gerhard Schröder auf dem Bildungsforum der SPD

Jedes Jahrhundert hat seine zentralen Fragen. Das 19. Jahrhundert wird uns als das Jahrhundert der sozialen Frage in Erinnerung bleiben. Das 20. Jahrhundert war das Jahrhundert extremer Gegensätze: von Krieg, Terror und Diktatur auf der einen Seite, von Demokratie, Menschenrechten und technischen Revolutionen auf der anderen Seite. Was das 21. Jahrhundert betrifft, bedarf es wenig Prophetie: Zu den zentralen Zukunftsfragen wird die Bildung gehören – nicht nur in Deutschland, sondern in allen Industrienationen Europas und in der ganzen Welt. Bildung wird wesentlich über unsere Zukunft entscheiden – über unsere Zukunft als Individuen und als Gemeinschaft. Sie ist der Schlüssel zu einer sozial gerechten, wirtschaftlich erfolgreichen und kulturell vielfältigen Zukunftsgesellschaft. Immer schon hat sozialdemokratische Politik das Ziel verfolgt, die Teilhabe möglichst vieler Menschen an den sozialen und wirtschaftlichen Errungenschaften der Gesellschaft zu sichern. Unser Ziel war es und muss es bleiben, prinzipiell niemanden auszuschließen oder auszugrenzen. Nicht Exklusion, sondern Inklusion ist das leitende Prinzip von uns Sozialdemo-

kraten. Materielle und soziale Sicherung sind dabei untrennbar mit einer guten Bildung und Ausbildung verbunden. Eine bestmögliche Bildung und Ausbildung gibt jungen Menschen das nötige Rüstzeug mit, um die Chancen in einer sich radikal wandelnden Arbeits- und Wissensgesellschaft überhaupt nutzen zu können. Nicht mehr Hunger und Armut sind die Probleme unserer zivilisierten und entwickelten Gesellschaft, sondern die Gefahr mangelnder Bildungschancen und fehlender Perspektiven für den Einzelnen. Soziale Gerechtigkeit heißt heute auch, unser Bildungssystem so einzurichten, dass der Einzelne unabhängig von seiner sozialen Herkunft die Chance hat, seine Fähigkeiten zu entwikkeln, die Zukunft mitzugestalten und Verantwortung zu übernehmen. Von Bildung und Erziehung hängt es ab, ob die heranwachsenden Generationen den Herausforderungen gewachsen sein werden, mit denen sie die Welt von morgen konfrontieren wird. Eine Welt, die wie der Präsident der Max-Planck-Gesellschaft, Hubert Markl, sagt - „noch keiner kennt, weil es sie noch nicht gibt, und die es auch noch niemals gegeben hat, weshalb über sie auch wenig genug in den Büchern zu finden ist“.

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CHANCENGLEICHHEIT, QUALITÄT UND SELBSTVERANTWORTUNG Rede von Gerhard Schröder

Die Herausforderungen sind vielfältig: Der technologische und soziale Wandel, die Globalisierung und Internationalisierung der wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Beziehungen zwischen den Ländern und deren Gesellschaften führt zu dramatischen Veränderungen. Die Entwicklung neuer Technologien und der Wandel zur Dienstleistungsgesellschaft stellen immer höhere Anforderungen an jeden einzelnen. Wer in Zukunft auf dem Arbeitsmarkt mithalten will, muss sein Wissen immer wieder überprüfen und den sich verändernden Bedingungen anpassen. Wissen wird so zur Eintrittskarte in die Welt von morgen. Was muss nun unser schulisches Bildungssystem für die Zukunft praktisch leisten? 1. Die sichere Beherrschung der Muttersprache oder mit einem anderen Begriff: der Verkehrssprache der Nation in Wort und Schrift. Diese Grundfertigkeit – leider schon lange nicht mehr selbstverständlich - ist die notwendige Bedingung zum Anschluss an die Gedanken- und Wissenswelt anderer. Ohne diese Fähigkeit ist ein sicheres Weiterlernen des Einzelnen - letztlich sein Leben lang - nicht möglich. Hier muss unser Augenmerk liegen. 2. Die Schule muss Mehrsprachigkeit fördern: Muttersprache – Englisch - eine weitere europäische Kultursprache. Englisch ist längst nicht mehr eine Fremdsprache, sondern eine Zweitsprache. Die Anstrengung Nordrhein-Westfalens mit seinen vielen bi-lingualen Schulen sind beispielhaft. Neue Methoden des Fremd-

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sprachenlernens, wie sie durch das europäische Sprachensiegel vermittelt werden, sollten in Deutschland, ja in Europa, Schule machen. Und wir können in einem zusammenwachsenden Europa nicht mehr nur unsere eigenen Abschlüsse für den Nabel der Welt halten: ich begrüße daher ausdrücklich, wenn es Schulen gibt, die gleichzeitig einen deutschen und einen französischen oder internationalen englischen Abschluss vergeben. Ich sage auch, Europa muss durch Lehrer aus europäischen Ländern bei uns präsent sein. Der Austausch von Schülern, Auszubildenden und natürlich Lehrkräften muss so selbstverständlich werden, wie es der Warenaustausch heute schon ist. Dann können wir die Chancen, die Europa bietet, auch wahrnehmen. 3. Sichere mathematische und naturwissenschaftliche Kenntnisse. Beide Kenntnisbereiche sind auf jeder Schule bis zum Abschluss wichtig. Es muss auch und gerade für die jungen Menschen, die die Naturwissenschaften nicht zu ihrem Beruf machen – wie Journalisten, Politiker, Banker, Geschichtslehrer oder Verwaltungsrichter - ein breit gefächertes Grundwissen der Naturwissenschaften geben. Es geht hier auch um Aufklärung und gesichertes Urteilsvermögen über industrielle Innovationen, zum Beispiel in der Biotechnologie. Aus Unkenntnis wird schnell Bilderstürmerei. Hier muss die Schule Fakten liefern und kritischen Verstand und souveränen Umgang mit Zukunftschancen vermitteln. Ich begrüße daher, die Landesinitiative „Stärkung des mathematisch-naturwissenschaftlichen Unterrichts“, in der schulformübergreifend neue Lern- und Lehrmethoden und zeitgemäße Inhalte erprobt werden.


CHANCENGLEICHHEIT, QUALITÄT UND SELBSTVERANTWORTUNG Rede von Gerhard Schröder

4. Wir müssen die Lernfelder der Zukunft in die Ausbildung von heute holen: Recht, Medizin und Gesundheit, Technologie und Medien, Ökologie und Ökonomie. Wenn wir die jungen Menschen lebenstüchtig machen wollen, müssen wir auf diesen Feldern viel tun. Ich will das am bislang in der Schule unterbelichteten Bereich der Ökonomie verdeutlichen. Wirtschaftliche Sachverhalte werden auf lange Sicht ihre Bedeutung für die Biographien der jungen Menschen wie für die gesellschaftlichen Verhältnisse behalten. Das Wissen über die Wirtschaft der eigenen wie der Welt-Gesellschaft ist jedoch ausgesprochen kontrovers, heterogen und ungleich verteilt. Ergibt sich daraus keine „zwingende“ Aufgabe der Schule? Ich meine ja. Denn ökonomisches Grundwissen und das Wissen um moderne Unternehmensorganisationen sowie die häufig unterschätzte Komplexität ökonomischer Entscheidungen fördert die Zukunftsfähigkeit junger Menschen. Auch hier muss ich - und ich tue es gern - NRW wieder loben. Die Kooperationsabkommen zwischen Schulen und Wirtschaftsunternehmen weisen den richtigen Weg.

sem Zeitpunkt das gesamte über Netze verfügbare Wissen für den Unterricht und die Ausbildung nutzbar gemacht werden kann. Das wird völlig neue Möglichkeiten für effektives und kooperatives Lernen schaffen. Die Neuen Medien führen zu veränderten Anforderungen an die Schule, die Schüler wie die Lehrkräfte gleichermaßen. Die jungen Menschen brauchen neue Kompetenzen: sie müssen Suchstrategien entwickeln, Daten zielgenau abrufen, abspeichern und bearbeiten. Ich denke, wir können hier von einer vierten Kulturtechnik sprechen, die alle jungen Menschen erwerben müssen. Ich sage alle jungen Menschen, weil sich die neuen Medien nicht zu einer neuen sozialen Frage entwickeln dürfen, wo ein Teil Zugang hat und das gesamte Lernpotenzial entfaltet, der andere Teil draußen bleibt und abgehängt wird. Wolfgang Clement hat mit seiner Initiative auch hier den richtigen Akzent gesetzt. Wir werden die Chance nutzen und die Gefahren bannen können, wenn wir die heute aktive Lehrerschaft systematisch qualifizieren, um mit ihren Schülern überhaupt mithalten zu können. Und wir müssen diese neue vierte Kulturtechnik in die Lehrerausbildung bringen.

5. Innovationen von morgen fangen in den Köpfen der jungen Menschen von heute an. Eine der bedeutsamsten Veränderungen unserer globalen Welt liegt in der Entwicklung und dem rasanten Einsatz der neuen elektronischen Medien, der Informations- und Kommunikationstechnologien begründet. Der Zeitpunkt ist absehbar, in der jede Schule in Deutschland mit dem Internet und den lokalen wie regionalen Bildungsnetzen verbunden ist. Wir wissen - und wir wollen diese Chance nutzen -, dass zu die-

6. Und natürlich gehören zur Entwicklung von Lebenstüchtigkeit und Zukunftsfähigkeit hinreichende Grundlagen der politischen, historischen, technischen und ideologischen Entwicklungsgeschichte der eigenen wie fremder Kulturen. 7. Last but not least gehören zu einer guten Schulbildung der Zukunft auch Kunst, Musik, Sport - und selbstverständlich Religion/Philosophie,

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CHANCENGLEICHHEIT, QUALITÄT UND SELBSTVERANTWORTUNG Rede von Gerhard Schröder

damit die jungen Menschen die im sozialen Zusammenleben erworbenen und begründeten Wertempfindungen auch begrifflich fest verankern können. Es gibt kaum eine neue Bildungsschrift, in der nicht ein deutliches und positives Bekenntnis für eine grundlegende Wertorientierung der Jugend abgelegt würde. Hier ist es immer leicht, Beifall zu bekommen. Werteerziehung ist für die Schule allerdings Tagesgeschäft. Daneben aber bleibt auch die Vermittlung des besonderen kulturellen Erbes und der kulturellen Gegenwart unverzichtbar. Gerade in Zeiten der Globaliserung und Internationalisierung hat die regionale Kultur immer auch eine identitätsstiftende Bedeutung. Junge Menschen beziehen ihr Wissen, aber auch Lebensstilangebote, ihre politischen und moralischen Orientierungen aus den Medien von außerhalb der Schule. Wo aber kann das Nachdenken über diese Außenwelt, das Abwägen von Lebenshaltungen, die Deutung der Fernsehbilder besser möglich sein, als in der Schule, dem gemeinsamen Ort einer Generation? Dennoch wird in aller Regel nicht mitbedacht, weshalb - wie Klaus Klemm zutreffend formuliert hat - „eine bis auf die Knochen unerzogene Erwachsenenwelt“ für die Jugend eine ethische Orientierung verlangt, wo sie doch selbst den geforderten Maßstäben oft gar nicht oder nur unzureichend gerecht wird. Lassen Sie mich an dieser Stelle zusammenfassen: Sichere Beherrschung grundlegender Kulturtechniken, zu denen auch der Umgang mit neuen Informations- und Kulturtechniken gehört, breites gesichertes Grundwissen, Offenheit für unterschiedliche Arbeits- und Lebenssituationen, Sicherheit in der Urteilsfähig-

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keit und Werteorientierung, aber auch Anstrengungs- und Leistungsbereitschaft sind zentrale Qualifikationen für die jungen Menschen, gleichsam ihr Schlüssel für die Zukunft. Diese Qualifikationen werden am besten in einem Klima der Mündigkeit und Selbstverantwortung wachsen, das die Schule selbst vorleben muss. Die Selbständigkeit und Eigenverantwortung jeder einzelnen Schule für ihre Lernorganisation, ihre Personalauswahl und ihre Finanzen ist eine Aufgabe, die wir schnell lösen sollten. Ich verstehe das nordrhein-westfälische Modell der 50 autonomen Schulen als Versuch, die optimalen Bedingungen herauszufinden und den letzten Feinschliff für diesen neuen Typ der selbstverantwortlichen Schule anzulegen. Genauso wichtig ist es - und auch hier geht Nordrhein-Westfalen einen mutigen Weg -, die Schule zu einer professionellen Qualitätssicherung zu verpflichten. Es geht nicht ohne Rechenschaft. Für mich ist die Rechenschaftslegung jeder Schule über ihre Leistungen eine Bringschuld gegenüber der Gesellschaft, die sie finanziert und auf ihre Leistungen angewiesen ist. Ein System, das nicht in der Lage ist, Qualitätsunterschiede festzustellen und folgenreich zu beurteilen, entwertet sich professionell und verspielt Glaubwürdigkeit. Deshalb ist es der richtige Weg, die Schulen in stärkerem Maße für ihre Leistungen verantwortlich zu machen, von ihnen Rechenschaft abzuverlangen und seitens der Bildungsverwaltung auch genau hinzusehen. Dieser Qualitäts-TÜV ist also der Zwilling oder die Kehrseite der Mündigkeit und Eigenkontrolle der Schulen über die eigenen sachlichen und personellen Ressourcen.


CHANCENGLEICHHEIT, QUALITÄT UND SELBSTVERANTWORTUNG Rede von Gerhard Schröder

Wir müssen uns noch in einer weiteren wichtigen Frage verständigen, wenn wir das gemeinsame Ziel einer Modernisierung der Schule verfolgen. Ich halte es für ein falsches Verständnis von Egalität, wenn wir von allen jungen Menschen das Gleiche verlangen. Wir können dem Einzelnen nur durch seine differenzierte Entwicklung gerecht werden. Wir sollten akzeptieren, dass es viele junge Menschen gibt, die schneller lernen als andere und daher auch in kürzerer Zeit die Ziele der Schule erreichen. Ich halte es daher für überfällig, die Frage der Schulzeit pragmatisch anzugehen: Neben der bestehenden Form sollte es selbstverständlich möglich sein, das Abitur in höchstens zwölf Schuljahren zu erlangen. Die Sozialdemokratie hat in der Bildungspolitik der letzten 30 Jahre viel erreicht. Die schulische Qualität ist gestiegen, mehr Arbeiterkinder machen heute Abitur, neue Unterrichtsinhalte haben zur Demokratisierung der Gesellschaft beigetragen. Die höhere Bildung ist für Mädchen längst so selbstverständlich wie für Jungen. Das Leitbild sozialdemokratischer Bildung, der Gleichklang von Chancengleichheit und Leistungsforderung ist nach wie vor aktuell. Noch immer ist Chancengleichheit in der Ausbildung nicht überall gegeben. Vielen Jugendlichen fehlen einlösbare Chancen für eine qualifizierte berufliche Ausbildung und damit den Einstieg in das Beschäftigungssystem. Zu Beginn unserer Regierungsarbeit haben wir eine fatale Situation auf dem Lehrstellenmarkt vorgefunden. Zwischen Angebot und Nachfrage klaffte eine große Lücke. Die alte Bundesregierung hatte diesen Zustand zwar ständig be-

klagt, aber nicht gehandelt. Wir dagegen haben unmittelbar nach Übernahme der Regierungsverantwortung das Sofortprogramm zur Beseitigung der Jugendarbeitslosigkeit und Qualifizierung von 100.000 Jugendlichen gestartet. Rund 165.000 Jugendliche haben bisher von den Maßnahmen des Sofortprogramms prof itiert. Damit haben wir unser selbstgestecktes Ziel, 100.000 Jugendliche zu erreichen, bei weitem übertroffen. Ich weiß: Unsere Jugendlichen wollen arbeiten und sich qualifizieren. Wir müssen ihnen nur die Möglichkeit dazu geben. Im Bündnis für Arbeit, Ausbildungs- und Wettbewerbsfähigkeit haben wir uns auf einen bundesweiten Ausbildungskonsens verständigt. Wir sind hier der beispielhaften Initiative von Nordrhein-Westfalen gefolgt. Große Fortschritte haben wir bereits im ITBereich vorzuweisen. Dort werden wir die bis 2002 verabredeten 40.000 neuen Ausbildungsplätze schon in diesem Jahr und damit zwei Jahre früher erreichen. Das Gesamtangebot an betrieblichen Ausbildungsplätzen ist allerdings noch nicht befriedigend. Und ich sage deutlich: Die damit verbundene Verschiebung von Ausbildungslasten auf die öffentliche Hand ist nicht akzeptabel und schon gar nicht auf Dauer finanzierbar. Sie gefährdet auch das duale System beruflicher Ausbildung, an dem ich mit Nachdruck festhalte. Das deutsche Berufsbildungssystem genießt weltweit einen guten Ruf. Und das zu Recht, vor allem wegen seiner Praxisnähe. Aber wir wissen, dass in der Altersgruppe der 20- bis 29-Jährigen noch immer 11,6 Prozent oder 1,3 Millionen junge Erwachsene ohne abgeschlos-

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CHANCENGLEICHHEIT, QUALITÄT UND SELBSTVERANTWORTUNG Rede von Gerhard Schröder

sene Berufsausbildung bleiben. Dabei spielen die Defizite, die schon in den allgemeinbildenden Schulen entstehen, eine besonders wichtige Rolle. Dass jeder 10. Schüler keinen Hauptschulabschluss erreicht, ist für mich unerträglich. Junge Menschen dürfen nicht zu Zukunftsverlierern werden. Jugendliche ohne Schulabschluss schaffen kaum den Übergang in Ausbildung und Beruf. Wir wissen auch, dass unter den berufslosen jungen Menschen die Gruppe der Ausländer überrepräsentiert ist. Im Bündnis für Arbeit haben wir uns eingehend mit der Lage der benachteiligten Jugendlichen befasst. Wir haben einvernehmlich mit den Ländern Leitlinien zur Benachteiligtenförderung beschlossen, die neue Chancen eröffnen. Neue Chancen für künftige Studierende eröffnet auch die neue Haushalt- und Konsolidierungspolitik der Bundesregierung. Gewissermaßen als Reformdividende unserer Regierungsarbeit können wir eine BAföG-Reform vorlegen. Das entspricht unserer Grundüberzeugung, dass jeder junge Mensch, der zu einem Studium willens und fähig ist, unabhängig von seiner sozialen Situation ein Studium an einer Hochschule aufnehmen kann. Wir werden mehr junge Menschen als bisher während ihres Studiums finanziell fördern können, weil wir das Kindergeld beim BAföG nicht mehr anrechnen, die Freibeträge, die für anrechenbare Beiträge maßgebend sind, anheben und die Bedarfssätze erhöhen. Der neue BAföGSatz entspricht jetzt den wirklichen Lebenshaltungskosten. Wichtig ist für mich, dass Studierende aus Ost und West endlich in der Ausbildungsförderung gleichgestellt werden.

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Wenn wir eine Europaorientierung der Schulen fordern, dann ist es für uns Sozialdemokraten ganz selbstverständlich, dass die Ausbildungsförderung im Hochschulbereich internationalisiert wird. Statt wie bisher nur wenige Auslandssemester wird nunmehr ein Studium bis zum Abschluss innerhalb der EU gefördert. Wir ermöglichen damit, dass Studentinnen und Studenten intensive Auslandserfahrungen während ihres Studiums machen. Für die Reform der Ausbildungsförderung wird die Bundesregierung zusätzlich 500 Millionen Mark an Zuschüssen zum BAföG zur Verfügung stellen. Mit dieser Reform sorgen wir für mehr soziale Gerechtigkeit und ermöglichen mehr jungen Menschen ein Studium. Darüber hinaus wollen wir die Möglichkeiten und Konditionen zur Einführung eines zeitlich befristeten Bildungskredits für Studierende prüfen. Ich halte die Kreditfinanzierung, die es bislang nicht gab, für ein interessantes und intelligentes Modell. Die neue Ausbildungsförderung fördert die Interdisziplinarität. MasterStudiengänge, die auf Bachelorabschlüssen aufbauen, müssen künftig nicht mehr streng fachidentisch sein, sondern werden auch dann gefördert, wenn sie für den späteren Beruf geeignet sind. Die Attraktivität dieser neuen Studiengänge wird gerade auch im internationalen Wettbewerb auf diese Weise zusätzlich gesteigert. Die Zeiten, dass die Hochschulpolitik des Bundes wie in den letzten zehn Jahren vernachlässigt wird, sind endgültig vorbei. 1999 haben wir die Ausgaben für Wissenschaft und Forschung um eine Milliarde D-Mark gesteigert.


CHANCENGLEICHHEIT, QUALITÄT UND SELBSTVERANTWORTUNG Rede von Gerhard Schröder

Ausgaben für Bildung und Forschung haben unter der neuen Bundesregierung einen neuen Stellenwert erhalten und damit Chancen eröffnet. Damit befindet sich die Bundesregierung in Übereinstimmung mit Nordrhein-Westfalen, dass seit 30 Jahren ein beeindruckendes Beispiel gibt, wie der Strukturwandel zu meistern ist. Eine großartige Hochschul- und Forschungslandschaft ist entstanden, ein reichhaltiges Angebot an unterschiedlichen Schulen bietet jeder Begabung eine Chance. Und noch etwas: Auch die Lehrenden an den Hochschulen müssen sich den neuen Herausforderungen anpassen: Warum müssen Professoren Beamte auf Lebenszeit sein? Auch Hochschullehrer müssen sich künftig ständig bewähren, prüfen und bewerten lassen. Ich fasse zusammen: Die Ansprüche an unser Bildungssystem wachsen, und wir stehen vor großen Herausforderungen. Die Bildung der jungen Generation hat sich im öffentlichen Bewusstsein wieder zu einer zentralen gesellschaftlichen Aufgabe entwickelt. Wir sind ge-

zwungen, inhaltliche und strukturelle Modernisierungen in vielen Punkten des Systems vorzunehmen. Landes- und Bundespolitik sind in verschiedenen Zuständigkeiten, aber insgesamt gemeinsam aufgerufen, einen hohen qualitativen Standard der Bildung in unserer Industrienation zu sichern. Gleichzeitig müssen wir ein Bildungssystem wahren, in dem es für den Einzelnen keine Sackgassen gibt. Für dieses zukunftsfähige Bildungssystem sehe ich daher die drei Leitlinien: Chancengleichheit, Qualität und Selbstverantwortung. In aller Bescheidenheit kann ich sagen, dass es die sozialdemokratische Politik auf Landesund Bundesebene ist, die dieses zentrale Zukunftsthema wieder in den Mittelpunkt der Debatte zurückgebracht hat. Und ich füge hinzu, dass es in den nächsten Jahren gerade dieser Leidenschaft bedarf, wenn diese große Reform gelingen soll. Daher danke ich allen, die diesen Weg mit uns gemeinsam gehen und sich für die Zukunft der jungen Generation engagieren.

Gerhard Schröder ist Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland. Davor war es Ministerpräsident des Landes Niedersachsen.

Weitere Informationen zu dem Thema finden sie unter: http://www.spd.de

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THEMA

BILDUNG ENTSCHEIDET ÜBER UNSERE ZUKUNFT Für eine neue Bildungsinitiative von Wolfgang Clement, Edelgard Bulmahn, Manfred Stolpe, Gabriele Behler, Jürgen Zöllner und Willi Lemke PRÄAMBEL In der Gesellschaft von morgen entscheidet Wissen über die Chancen des Einzelnen, unserer Gesellschaft und der Wirtschaft. Der Bildungspolitik kommt daher eine Schlüsselrolle zu für die Gestaltung unserer Zukunft, in enger Verzahnung mit Arbeitsmarkt- und Wirtschaftspolitik. Technologischer und sozialer Wandel führen zu – teilweise dramatischen – Veränderungen in nahezu allen Bereichen unseres Lebens: ■ Wissen erneuert und vermehrt sich immer schneller und ist dank neuer Informationsund Kommunikationstechnologien global verfügbar. ■ Das alte Prinzip lebenslanger Ausübung eines einmal gelernten Berufs ist überholt. ■ Neue Technologien, neue Arbeitsorganisation und ein wachsender Dienstleistungssektor verlangen höhere und neue Qualifikationen, Flexibilität und Mobilität. ■ Zunehmende Migration und Mobilität, Europäische Einigung und Internationalisierung setzen das Verstehen anderer Kultu-

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ren und das Sprechen anderer Sprachen voraus. ■ Die fortgeschrittene Gefährdung unserer Lebensgrundlagen erfordert einen konsequenten Wechsel zu nachhaltiger Entwicklung, die wirtschaftliche, ökologische und soziale Verantwortung verbindet. ■ Ständiger Wandel in allen Bereichen führt zu einem hohen Bedarf an Orientierung und Gestaltung. Eine Gesellschaft, die vor den globalen Herausforderungen nicht kapitulieren will, die sich den Zwängen von außen nicht nur passiv anpassen will, sondern auch künftig in Wohlstand und sozialer Gerechtigkeit leben und die Zukunft mit gestalten will, braucht Innovationen. Die positive Antwort auf die vielfältigen Herausforderungen der Globalisierung heißt also ■ ■ ■ ■ ■ ■

Mut zur Zukunft, Mut zur Innovation, Mut zum Lernen und Studieren, Mut zur Kreativität, Mut zur Verantwortung, Mut zu Visionen und neuen Utopien.


BILDUNG ENTSCHEIDET ÜBER UNSERE ZUKUNFT Für eine neue Bildungsinitiative

Angesichts dieser Entwicklung entscheidet Bildung immer mehr über die Entwicklung individueller Persönlichkeit, Teilhabe an der Gesellschaft und Beschäftigung, aber auch über die Entwicklung und Wettbewerbsfähigkeit unserer Gesellschaft und Wirtschaft. Bildung ist mehr als Qualifikationsvermittlung. Dies erfordert nicht nur mehr Investitionen in Bildung, sondern stellt gleichzeitig neue inhaltliche Anforderungen an Bildung. Um das Wissen für morgen zu erwerben, müssen wir nicht nur mehr, sondern auch andere Kompetenzen erwerben: ■ instrumentelle und methodische Kompetenzen, um Wissen zu erschließen und anzuwenden, dazu gehören heute vor allem auch Medien-, Kommunikations- und Sprachkompetenzen als neue Kulturtechniken, ■ personelle Kompetenzen, die Selbstbewußtsein, Identität und Moral vermitteln und Kreativität und Innovationsfähigkeit entfalten, ■ soziale Kompetenzen wie Eigenverantwortung, Gemeinschaftsfähigkeit, Verantwortung für nachhaltige Entwicklung, ■ Basiswissen im herkömmlichen Sinne sowie Orientierungsfähigkeit auf der Grundlage von Philosophie, Geschichte, Politik und Kultur, ■ Fähigkeiten zu kritischem Überdenken und Entwickeln von Perspektiven, um Orientierung und Gestaltung in einer sich ständig wandelnden Umgebung zu ermöglichen, ■ Lernen des Lernens, möglichst früh und ein Leben lang.

Bildungspolitik steht angesichts dieser Anforderungen vor einer doppelten Aufgabe: ■ Das Wissen und die Kompetenzen zu vermitteln, die morgen über gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Fortschritt entscheiden, und gleichzeitig ■ soziale Ausgrenzung angesichts steigender und neuer Qualifikationsanforderungen zu verhindern. Die wachsende Bedeutung von Bildung muss auch bei der Verteilung der gesellschaftlichen Ressourcen ihren Ausdruck finden. Deshalb wird die neue Bundesregierung die Absenkung des Anteils von Bildung am Bruttoinlandsprodukt korrigieren. In der Zeit der Kohlregierung war der Anteil auf 4,5 Prozent im Jahre 1997 gefallen, während dieser 1980 noch bei 5,0 Prozent lag. Schon 1999 hat die neue Bundesregierung 1 Milliarde Mark zusätzlich investiert und die Finanzplanung bis 2003 sieht weitere Steigerungen vor. Bildung und Wissenschaft schaffen Lebens- und Berufschancen für 15 Millionen junge Menschen. Die lernende Gesellschaft setzt auf 1,2 Millionen engagierte und qualifizierte Lehrerinnen und Lehrer, Ausbilderinnen und Ausbilder, Professorinnen und Professoren. Stand das 20. Jahrhundert in Deutschland im Zeichen einer Öffnung und kontinuierlichen Ausweitung staatlich verantworteter Bildung und Wissenschaft, so wird das 21. Jahrhundert von einer Vielzahl unterschiedlicher Bildungsangebote geprägt sein. Dabei gehen zentralisierte und dezentrale, theorieorientierte und praxisnahe, staatlich finanzierte, aber auch privat finanzierte Organisationsformen neue Kooperationen ein.

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Alle Bildungseinrichtungen müssen bereit sein, entsprechend dem Leitbild des ‚lebenslangen Lernens‘ immer wieder neue Bildungschancen zu eröffnen, Bildungswege durchlässig zu machen und Übergänge zwischen Beruf und Bildung zu schaffen. Weiterbildung wird ein wichtiger Bestandteil des kontinuierlichen Innovations- und Wissenstransfers sein. Die vielfältigen Anforderungen an Bildung und an die Bildungsangebote sind mit einer an Erlassen ausgerichteten Bildungsverwaltung und bürokratischen Detailregulierungen nicht mehr zu steuern. Wir brauchen ein neues Leitbild in der Bildungspolitik, in dem staatlich festgelegte Ziele und Standards über Rahmensetzungen und Globalsteuerung von selbstverantwortlichen Bildungseinrichtungen auf vielfältige Weise erfüllt werden. Bildungseinrichtungen müssen selbst zu lernfähigen Organisationseinheiten werden. Weil Bildung immer wichtiger für die Zuteilung von Lebenschancen und damit zu einem zentralen Element sozialer Gerechtigkeit wird, bleibt für uns die gerechte Teilhabe an Bildungschancen und damit an Arbeit und Beschäftigung, an Fortschritt und Wohlstand eine zentrale Aufgabenstellung künftiger Bildungspolitik. Diese Herausforderungen an Bildungsinstitutionen und Bildungsinhalte sind in den nächsten Jahren zu bewältigen und stehen im Spannungsfeld von ■ Chancengleichheit für alle und differenzierter Leistungsförderung ■ Individueller Entfaltung und sozialem Zusammenhalt

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■ Sicherung von Standards und Aufbruch zu Innovationen ■ Lokaler Einbindung und globaler Vernetzung ■ Öffentlicher und privater Verantwortung für die Bildungsfinanzierung.

1. Chancengleichheit für alle und differenzierte Leistungsförderung Die erste große Bildungsreform in der Bundesrepublik in den 60er und 70er Jahren hatte unter anderem das Ziel, die sozialen Chancen zu verbessern und die Begabungsreserven in den bis dahin bildungsfernen Schichten der Bevölkerung zu aktivieren. Sie führte nicht zuletzt während der sozialliberalen Koalition zu einer Ausdehnung der weiterführenden Bildung und erhöhte den Anteil der Hochschulberechtigten auf annähernd ein Drittel eines Altersjahrgangs. Sie hat damit vielen Jugendlichen aus den bildungsfernen Schichten den Weg zu gesellschaftlichem Aufstieg ermöglicht und die Basis für wirtschaftlichen Wohlstand gelegt. Chancengleichheit und Leistung sind keine Gegensätze, sie gehören zusammen. Die Zukunftschancen des Einzelnen, der Gesellschaft und der Wirtschaft hängen gleichermaßen ab von der Verwirklichung von Chancengleichheit und der Ermöglichung der Leistung, die zukünftig gebraucht wird. Stärkung und bestmögliche Förderung des Einzelnen und seiner Fähigkeit zur Zusammenarbeit sind die beste Grundlage für die Verwirklichung der individuellen Lebenschancen und die verantwortliche Mitwirkung bei der Gestaltung unserer Gesellschaft.


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Wir müssen heute feststellen, dass Chancengleichheit längst nicht überall in unserem Bildungssystem gegeben ist, und zwar mit schwerwiegenden Folgen:

■ noch immer gibt es im Bildungswesen zu wenig internationale Zusammenarbeit und zu viele Hemmnisse für die grenzüberschreitende Mobilität.

■ Trotz aller Fortschritte gibt es immer noch zu viele Schulabgänger ohne Abschluss, zu viele Jugendliche ohne Ausbildung und zu viele Erwachsene ohne volle berufliche Qualifikation, ■ nach wie vor sind Kinder aus Familien mit geringem Einkommen im Gymnasium und an den Hochschulen unterrepräsentiert, ■ noch immer haben es Kinder und Jugendliche, die in Armut oder prekären Lebenslagen aufwachsen, sehr viel schwerer als ihre Altersgenossen, ■ besonders schwer haben es Ausländer und Migrantenkinder, insbesondere wenn sie über geringe Einkünfte verfügen, ■ trotz großer Fortschritte gibt es immer noch Defizite bei der Verwirklichung von Chancengleichheit von Frauen in der Bildung, vor allem in der beruflichen Bildung und an Hochschulen, aber auch im Umgehen mit Rollenverhalten in Kindertagesstätten und in der Schule, ■ noch immer haben wir erhebliche regionale Unterschiede bei der Verteilung von schulischen Chancen, ■ allen Bemühungen um Chancengleichheit zum Trotz ist das gegliederte Schulsystem hoch selektiv: bereits nach dem 6. Schuljahr sind die individuelle Schulkarriere, der spätere Berufsweg und das künftige Einkommen für viele weitgehend festgelegt, ■ ein unterschiedlicher Zugang zu neuen Medien darf nicht zu neuen sozialen Spaltungen und Ungerechtigkeiten führen.,

Der Begriff der Chancengleichheit bekommt heute einen sehr viel fundamentaleren Sinn als zur Zeit der ersten Bildungsreform. Unter den Bedingungen einer Informations- und Wissensgesellschaft garantieren erst Bildung und die mit ihr verbundenen Schlüsselkompetenzen wie Lern-, Konzentrations- oder Teamfähigkeit den Zugang und die Sicherung von Beschäftigung. Sie schaffen die Möglichkeit, ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Ohne Schulabschluss und Berufsausbildung wird es für Jugendliche in Zukunft immer schwerer, sich einen Platz im Erwerbsleben zu sichern und aktiv an der Entwicklung von Wirtschaft und Gesellschaft teilzunehmen. Die Frage, ob unsere Gesellschaft alle Mitglieder integrieren kann oder Teile ausgrenzt, stellt sich besonders in den Schulen. Führende Bildungsexperten haben zu Recht festgestellt: „Bildung ist die soziale Frage des 21. Jahrhunderts“ (Expertenbefragung zur Zukunft der Wissensgesellschaft im Auftrag des BMBF). Die konservative Bildungspolitik hat nicht verhindert, dass in der Gruppe der 20- bis 29-Jährigen noch immer fast 12% oder rd. 1,3 Millionen ohne Berufsabschluss bleiben, darunter überproportional viele junge Ausländer. „Ausbildung für alle“ bleibt das Leitziel unserer Berufsbildungspolitik. Der Gleichklang von Chancengleichheit und Leistungsförderung ist das zentrale Projekt sozialdemokratischer Bildungspolitik. An diesem

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Anspruch halten wir trotz und gerade wegen der veränderten Rahmenbedingungen fest, in denen Bildung heute stattfindet. Gerade wenn wir feststellen, dass Geld und mehr Stellen häufig nicht zum erwünschten Erfolg geführt haben, müssen wir wieder stärker aus Erfolgsgeschichten lernen. In den vergangenen Jahren hat das Wissen um notwendige Entscheidungen erheblich zugenommen. Überzeugende Konzepte für Teilbereiche unseres Bildungswesens liegen auf dem Tisch. Die konservative Bildungspolitik will stattdessen, die staatlichen Ressourcen umsteuern zur Förderung von Hochqualifizierten und Spitzenbegabungen (Bayerisch-Sächsische Zukunftskommission). Im Gegensatz zu einer einseitigen Fixierung auf Spitzenbegabungen sagen wir: Qualifizierungen werden in der gesamten Gesellschaft benötigt, um innovative Prozesse nachhaltig zu fördern und um die Beschäftigungsfähigkeit zu sichern. Den Gleichklang von Chancengleichheit und Spitzenleistung aufzukündigen, würde eine Kapitulation vor der eigentlichen bildungspolitischen Aufgabe im 21. Jahrhundert bedeuten und würde zu weiteren Spaltungen auf dem Arbeitsmarkt führen. Besondere Talente können auch ohne starre Regelungen gefördert werden. Wir setzten deshalb auf die Individualisierung von Bildungsgängen, auch was die Dauer angeht. Dazu gehört zum Beispiel auch das Angebot von 12und 13-jährigen Bildungsgängen bis zum Abitur. Es bleibt das Ziel sozialdemokratischer Bil-

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dungspolitik, auf allen Schul- und Ausbildungsstufen eine Lernkultur zu schaffen und weiterzuentwickeln, die Kindern und Jugendlichen die Basiskompetenzen und -motivationen des selbsttätigen Lernens und ständigen Lernen-Wollens vermittelt, die die Qualität von Bildung sichert, die das Leistungsniveau anhebt und lernschwache Kinder und Jugendliche fördert. So ist zum Beispiel der Umgang mit Computern unverzichtbare Voraussetzung für die Teilhabe in der Informationsgesellschaft. Dazu müssen die Voraussetzungen in den Schulen geschaffen werden. Ziel muss es sein, mittelfristig alle Klassenzimmer mit Rechnern zum täglichen Gebrauch auszustatten. Wir brauchen offene Räume für Kinder und Jugendliche in ihren Stadtteilen. Das können Internetcafés sein und Computer in Stadtbüchereien und Jugendeinrichtungen. Alle Kinder und Jugendlichen müssen unabhängig vom Einkommen der Eltern den Zugang zum Computer und zum Internet haben. Wir wollen die neuen Medien zu einem Instrument machen, mit dem soziale Unterschiede bei den Bildungschancen ausgeglichen werden können. Zur Verbesserung der Medienversorgung hat die neue Bundesregierung gemeinsam mit der Wirtschaft die Initiative „D21“ ins Leben gerufen, die die vielfältigen Anstrengungen der Länder in diesem Feld ergänzt. Wir setzen auf ein qualitativ hochwertiges und durchlässiges Bildungsangebot, das den unterschiedlichen Bildungsvoraussetzungen und Bildungsansprüchen gerecht wird. Dies bedeutet für die unterschiedlichen Institutionen des Bildungssystems:


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■ Die allgemeinbildenden Schulen sollen durch eine Verbesserung der organisatorischen Rahmenbedingungen und eine weitere Verstärkung der personellen und sächlichen Ressourcen gestärkt werden, so dass sie in der Lage sind, alle Kinder mit ihren unterschiedlichen Voraussetzungen und Möglichkeiten möglichst umfassend zu fördern. Die Sicherung von Qualität und Leistungsniveau in den allgemeinbildenden Schulen ist ein zentrales Ziel. Es umfasst sowohl die gezielte Förderung von lernschwachen, sozial schwachen Schülerinnen und Schülern und solchen mit fremder Muttersprache als auch die Förderung von Spitzenbegabungen durch Differenzierung und erweiterte Angebote. Vielfalt statt bildungspolitischer Monokulturen muss das Ziel sein. ■ Die Berufsausbildung soll im Interesse der Jugend konsequent und unter Berücksichtigung des zukünftigen Bedarfs modernisiert werden. Wir wollen eine institutionelle Förderung für benachteiligte Jugendliche, die schulische und sozialpädagogische Zusatzangebote und Hilfen für die (zumeist kleinen) Betriebe umfasst wie (Zwischen) Zertifikate unterhalb des Niveaus einer dreijährigen Ausbildung. Im Rahmen des Bündnisses für Arbeit und des Programmes JUMP werden konsequent die Möglichkeiten für benachteiligte Jugendliche verbessert. Auf der anderen Seite wollen wir eine Verbesserung der Durchlässigkeit zu Fachhochschulen und Hochschulen für alle Ausbildungsgänge. Verbesserung der Durchlässigkeit heißt, durch flexiblere und offenere Berufsbilder als bisher für die Auszubildenden Raum für zusätzliche

Qualifizierungsangebote zu schaffen und ihnen diese zugänglich zu machen. Aufstiegsfortbildung und Meisterfortbildung müssen ausgebaut werden. Wir setzten uns im Bund und in den Ländern dafür ein, dass der Bedarf von Informatik-Fachkräften durch umfassende und schnellgreifende Maßnahmen zur Fort- und Weiterbildung wie auch durch langfristige Strukturmaßnahmen gedeckt wird. ■ Der Zugang zu den Hochschulen muss offen bleiben. Wir brauchen anders ausgebildete, aber keinesfalls weniger Hochschulabsolventen. Qualität und Leistung der staatlichen Hochschulen sollen durch eine Modernisierung der internen Organisation von Forschung und Lehre, durch Profilbildung und Kooperation angehoben werden und damit gegenüber privaten nationalen wie internationalen Bildungsangeboten konkurrenzfähig bleiben. Für uns hat aber auch die Förderung besonders begabter Studierender und Nachwuchswissenschaftler einen hohen gesellschafts- und bildungspolitischen Stellenwert. Für eine zukunftsweisende Entwicklung ist Deutschland zwingend auf die Kreativität und Innovationskraft seiner besonders begabten Studierenden und jungen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler angewiesen. Eine wesentliche Steigerung des Anteils weiblicher Nachwuchs- und Führungskräfte ist dringend erforderlich. Das Potential der Wissenschaftlerinnen darf der Gesellschaft nicht länger verloren gehen. Wir begrüßen und unterstützen privates Engagement auch im tertiären Bildungsbereich. Es kann das öffentliche Ausbildungsangebot ergänzen und über den Wettbewerb

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positive Ausstrahlung auch auf das staatliche Hochschulsystem haben. Wir brauchen vielfältigere Studienangebote mit unterschiedlichen Abschlussgraden, damit Hochschulen die große Mehrheit der Studierenden auf wissensbasierte und wissenschaftsintensive Berufe vorbereiten und weniger auf eine wissenschaftliche Laufbahn. Dies verlangt eine Erhöhung der Attraktivität der Fachhochschulen und die Vermehrung von berufsbefähigenden abgestuften Abschlüssen an den Universitäten. Wir unterstützen Modellversuche für eine integrierte Berufs- und Fachhochschulausbildung. Mit solchen Modellen erhalten Jugendliche und Unternehmen die Möglichkeit, praktische und wissenschaftliche Ausbildung sinnvoll miteinander zu verbinden. ■ Wir brauchen darüber hinaus eine Internationalisierung des Studienstandorts und der Studienangebote. Wir wollen gleichzeitig deutsche Studierende für den internationalen Arbeitsmarkt fit machen und ausländische Studierende als Handels-’Botschafter’ von morgen an den Standort Deutschland binden. Durch international kompatible Studiengänge sollen möglichst alle Studierenden einen Teil ihres Studiums im Ausland absolvieren können. Das verlangt stärkere Kooperation und umfassende Austauschprogramme zumindest zwischen den europäischen Hochschulen. Voraussetzung für Chancengleichheit ist ein sozial gerechtes Konzept zur Bildungsfinanzierung. Die neue Bundesregierung hat zunächst den kontinuierlichen Rückgang der BAföGBerechtigten von 42% im Jahre 1982 auf 21%

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im Jahre 1998 gestoppt und den Trend umgekehrt. Wir brauchen jedoch eine umfassende Reform der Ausbildungsförderung, die sicherstellt, dass niemand aus finanziellen Gründen von einer seinen Neigungen und Fähigkeiten entsprechenden Ausbildung ausgeschlossen bleibt. Es gehört zu den Kernpunkten sozialdemokratischer Bildungspolitik, dass ein Studium nicht vom Einkommen der Eltern abhängen darf. Es muss auch zukünftig möglich sein, ein grundständiges Studium gebührenfrei zu absolvieren. Dies wollen wir – gegebenenfalls auch durch neue Modelle der staatlichen Bildungsfinanzierung – dauerhaft gewährleisten.

2. Individuelle Entfaltung und sozialer Zusammenhalt Die wesentlichen Entwicklungstendenzen in Wirtschaft und Gesellschaft verstärken den Trend zur Individualisierung: die Ausweitung von Lernphasen in der Biographie, die wachsende Konkurrenz und Mobilität auf dem Arbeitsmarkt, die zunehmende Flexibilisierung der Beschäftigungsverhältnisse, die sich ausdehnende Nutzung elektronischer Medien. Diese Entwicklung bietet für die junge Generation viele positive Aspekte in Form erweiterter Lebensgestaltungsoptionen, größerer Handlungsspielräume und eines gestärkten Selbstbewusstseins. Auf der anderen Seite können die Individualisierungsprozesse auch Verlust mit sich bringen. Die Schulen stehen vor der Aufgabe, einen Weg zu finden, beide für die Persönlichkeitsentwicklung wichtigen Seiten, individuelle Entfaltung und sozialen Zusammenhalt, zu verbin-


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den. Die Erfüllung dieser Aufgaben ist nicht immer einfach, weil ein Teil der Schülerinnen und Schüler Probleme aus dem familiären und sonstigen Umfeld mitbringt. Hier muss Schule helfen. Um die hiermit angesprochenen Probleme zu lösen, brauchen wir eine Veränderung des Bildungsbegriffs. Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene, die heute zur Schule gehen oder eine Ausbildung in Betrieb oder Hochschule erwerben, müssen morgen in einer veränderten Welt bestehen. Nicht allein nachprüfbares Wissen und technische Fähigkeiten, nicht ein geschlossener Leistungs- und Wertekanon werden den Bildungsbegriff der Zukunft bestimmen. Vielmehr muss Schule über Offenheit und Flexibilität ihre Fähigkeit weiterentwickeln, jungen Menschen eine verlässliche Orientierung zu geben und sie zu aktiver Gestaltung einer zunächst noch ungewissen Zukunft anzuleiten. Die Kompetenz zu lebenslangem Lernen wird deshalb zu einem zentralen Bildungsziel. Sichere Beherrschung grundlegender Kulturtechniken, zu denen auch der Umgang mit den neuen Informations- und Kommunikationstechnologien gehört, Offenheit für unterschiedliche Lebens- und Arbeitssituationen, Sicherheit im Durchschauen von Zusammenhängen, in der Urteilsbildung und in der Werteorientierung sind zentrale Schlüssel-qualifikationen für die jungen Menschen. Veränderungen in der traditionellen Halbtagsschule sind notwendig. Schule muss verlässlich sein. Neue Formen flexibler Betreuungsangebote nach Schulschluss sind in den nächsten Jahren zu entwickeln. Dies bedeutet eine erhebliche Ausweitung der Angebote in Koope-

ration mit dem sozialen Umfeld von Schulen (Vereine, Jugendmusikschulen, Betriebe, Medien, Kirchen u.a.). Es bedeutet auch, die Lernformen zu verändern in Richtung auf Lernen in kleinen Gruppen und an Projekten, um die Selbstständigkeit und den sozialen Zusammenhalt der Schüler zu fördern. Wichtigste Voraussetzung für eine Lehr- und Lernkultur ist eine entsprechende Aus- und Weiterbildung der Lehrenden und Ausbildenden. Der Beruf des Lehrers ist mit dem immer schnelleren Wandel und dem daraus folgenden Orientierungsbedarf, mit dem Rückgang der Erziehungskraft der Familie und mit der sich wandelnden Funktionalität von Wissen immer verantwortungsvoller, aber auch immer schwieriger geworden. Die Lehrerbildung ist ein Schlüssel zur Bildungsreform. Ein neues Schulkonzept ist ohne eine intensivere Kooperation mit den Eltern und, ohne eine Aufwertung des Lehrerberufs in der Öffentlichkeit und ohne eine veränderte Zusammensetzung der Kollegien nicht umsetzbar. Zur Aufwertung des Lehrberufs gehört auch ein verändertes Professionalisierungskonzept, in dem neben dem fachwissenschaftlichen Kern verstärkt psychologische und sozialwissenschaftliche Kompetenzen treten müssen. Wir brauchen Lehrer, die intensiv mit Eltern und dem sozialen Umfeld der Schulen kooperieren. Schule muss geöffnet werden zum außerschulischen Feld, zu Kooperationen in die regionalen Bildungs- und Wirtschaftsstrukturen hinein. Schule braucht Partner! Eine solche Reorganisation der Schule ist überfällig, um den Anforderungen einer Bildungs-

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landschaft des 21. Jahrhunderts gerecht zu werden. Die Vermittlung sozialer Kompetenzen, das Erlernen von Methoden-, Orientierungs- und Problemlösungskompetenzen, aber auch die Überwindung von Passivität, Desinteresse und Gewalt setzt eine neue Lehr- und Lernkultur an Bildungseinrichtungen voraus: ■ Neue Lernsituationen, in denen Teamarbeit statt „Einzelkämpfertum“ gefördert wird, ■ Einbeziehung von Lernorten der beruflichen Praxis und des sozialen Umfelds, um soziale Interessen und Kompetenzen zu erfahren, ■ neue Formen des Lernens, bei denen Kinder Umwege beschreiten und Fehler machen dürfen, bei denen sie in der Gruppe Probleme lösen und durch Erklären und Handeln lernen, ■ neue didaktische Konzepte, die fächerübergreifendes und vernetztes Denken fördern, ■ neue Medien unterstützen eine neue Qualität des gemeinsamen Gestaltens von Lernen, bei der der Lehrer die Rolle des Lernberaters übernimmt.

3. Sicherung von Standards und Aufbruch zu Innovationen Qualität und Innovationsfähigkeit der Bildungseinrichtungen stehen zu Recht im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses. Die Entwicklung in nahezu allen Bereichen von Produktion und Dienstleistung hat bereits in der Vergangenheit dazu geführt, dass sich im

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Beschäftigungssystem die Nachfrage nach höher und hoch qualifizierten Beschäftigten kontinuierlich vergrößert hat. Die weiter wachsende Einbindung Deutschlands in die europäische Staatengemeinschaft und in die weltweiten wirtschaftlichen Verflechtungen stärkt die Aufmerksamkeit, die in der Öffentlichkeit der wirtschaftlichen Bedeutung guter Bildung und Ausbildung für die Einzelnen und für die Gesellschaft insgesamt beigemessen wird. Die Rolle des Staates in der Bildung befindet sich im Prozess der Neudefinition. Bund und Länder müssen sich mehr und mehr auf die Regelungen der politischen und rechtlichen Rahmenbedingungen konzentrieren, insbesondere zur Sicherung von Qualität und Vergleichbarkeit, Regelung des gleichen Zugangs für alle sowie zur Förderung von besonderen Zielgruppen. Dabei müssen wir zwei Ziele gleichzeitig verfolgen: zum einen müssen wir die Strukturen unserer Bildungseinrichtungen, ihre personellen und finanziellen Ressourcen überprüfen; zum anderen wollen wir zu mehr Selbstbewusstsein, Selbständigkeit, Kreativität und Teamfähigkeit ermutigen und anregen. Wir wollen den Schulen, Hochschulen und Einrichtungen der Berufsbildung mehr Selbständigkeit geben und mehr Eigenverantwortung abverlangen. Ihre Kreativität muss – auch durch die Mitwirkung aller darin Tätigen - gestärkt werden, da die Gesellschaft von ihnen innovatives Denken und Handeln erwartet. Wir wol-


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len die Bildungseinrichtungen animieren, im Wettbewerb untereinander nach optimalen Wegen zur Steigerung der Qualität von Bildung zu suchen. Selbstständigkeit darf sich dabei nicht auf finanzielle Belange beschränken, sondern muss die Freiheit zur inhaltlichen - und personellen - Gestaltung und Weiterentwicklung der pädagogischen Angebote einschließen. Gefordert wird auch im Interesse der Qualitätssicherung mehr kreativer Wettbewerb um die besten Ideen. Auch hier gewinnen Forderungen nach einer stärkeren regionalen Kooperation und Vernetzung der Hauptakteure der unterschiedlichen Bildungssektoren an Bedeutung. Mehr Selbstständigkeit und Eigenverantwortung der Bildungseinrichtungen umfassen notwendigerweise auch die Bereitschaft zu Rechenschaft und Evaluation sowie zum Leistungsvergleich mit anderen. Dies ist auch die Voraussetzung für Transparenz. Wir brauchen eine intensive Debatte über solche Instrumente der Qualitätssicherung. Dabei werden wir auch erfolgreiche Beispiele aus dem Ausland einbeziehen. Selbstständigkeit und stärkere Eigenverantwortung der Bildungseinrichtungen erfordern auch neue Kompetenzen für die Leiter von Bildungseinrichtungen sowie für die Mitarbeiter der staatlichen Aufsicht. Entsprechende Weiterbildungsangebote sind ein wichtiger Beitrag zur Qualitätssteigerung und Innovation. Der in Deutschland fest verankerte Kulturföderalismus hat in den sechzehn Ländern z.B.

hinsichtlich der Schulstruktur, der Bildungszeiten und auch der Lehrpläne zu einer Fülle unterschiedlicher Ausgestaltungen des Schulwesens geführt. Der im Grundgesetz niedergelegte Auftrag, die Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse in Deutschland und die Freizügigkeit zwischen den Ländern auch faktisch abzusichern, macht es erforderlich, trotz aller landesspezifischen Ausprägungen für vergleichbare qualitative Standards Sorge zu tragen. Aber auch hier gilt: Wir müssen dies nicht zwischen den Ländern über Detailregelungen organisieren, sondern im Wettbewerb um die besten Konzepte. Die Hochschulen müssen jetzt eine Reform auch zur Internationalisierung ihrer Studiengänge (z.B. BA/MA-Abschlüsse) voranbringen. Wir Sozialdemokraten sind gewillt und bereit, unsere Hochschulen bei diesem teilweise bereits eingeleiteten Reformprozess zu unterstützen. Wir setzen hierbei auf größtmögliche Selbstständigkeit, auf Wettbewerb und eigenständige Profilbildung. Wir halten es im Gegenzug für unerlässlich, dass sich die Hochschulen dann einer ständigen Evaluierung ihres Lehrangebotes und einer Akkreditierung ihrer neuen Studiengänge unterwerfen. Erst eine Kombination von Qualitätsstandards, von vielfältigen Bildungsangeboten, von Chancengleichheit und Leistungsfähigkeit, von erhöhter Selbstständigkeit der Bildungseinrichtungen und neuen Kooperationsformen zwischen Bildungseinrichtungen schafft die Innovationsfähigkeit, die die Gesellschaft des 21. Jahrhunderts so dringend benötigt.

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4. Lokale Einbindung und globale Vernetzung Die lokale Kooperation der Bildungsinstitutionen ist gerade für Kinder und Jugendliche in den ersten Bildungsjahren von großer Bedeutung. Deshalb ist es unser Ziel, die Schulen untereinander zu vernetzen, um Zusammenarbeit, Arbeitsteilung und Erfahrungsaustausch von Schülern und Lehrern zu verbessern. Auch im beruflichen Bereich werden Zusammenarbeit, Erfahrungsaustausch und Arbeitsteilung über die einzelne Institution hinweg immer wichtiger. Zur lokalen Einbindung gehört ein regelmäßiger Erfahrungsaustausch zwischen beruflichen Schulen und Betrieben, auch mit den zuliefernden allgemeinbildenden Schulen, mit den Kammern und den lehrerbildenden Institutionen. Wir wollen die berufliche Erstausbildung und die Weiterbildung verzahnen. Die beruflichen Schulen können zu Qualifizierungszentren der Region werden. Dabei kann das gut ausgebaute Berufsschulwesen seine Fachkompetenz unter Marktbedingungen auch für Angebote der beruflichen Weiterbildung nutzen. Wir wollen, dass sich die Schulen den Eltern, Betrieben, Vereinen, Berufstätigen, Kirchen, der Jugend- und Sozialarbeit und den Umweltschutzeinrichtungen noch stärker öffnen und zu lebendigen Zentren für Lehren und Lernen in Gemeinschaft werden (community learning centers). Praxisorientierter Unterricht in Zusammenarbeit mit Betrieben und Berufstätigen unterstützt die Wissensvermittlung, fördert

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Motivation und Konzentration und hilft bei der Orientierung der Schülerinnen und Schüler. In dieser regionalen und lokalen Einbindung sind soziales Lernen und interkulturelle Lernprozesse wesentlich erleichtert. Im Hochschulbereich haben sich Hochschulen längst zu Zentren regionaler Entwicklung herausgebildet. Die regionale Einbindung der modernen Hochschule in ihre Standortregion wird nicht nur in dem hohen Anteil von Studierenden ihrer Region deutlich, sondern in wachsendem Maße durch Verbundprojekte zwischen Hochschule - und Unternehmen, praxisorientierte und duale Studiengänge (insbesondere an Fachhochschulen), Starterzentren der Hochschule, Strukturhilfe-Institute, Technologietransferstellen, Innovations-Kontaktbörsen, science parcs, Gründerzentren und Beratungsstellen für junge Unternehmensgründer. Wir wollen diese Entwicklung in Zukunft systematisch fördern. Technologietransfer ist ein Kernelement regionaler Wirtschaftsförderung. Der wissenschaftlich-technische Wandel und der Wettbewerb um Innovation erzwingt eine raschere Umsetzung von Wissen in innovative Produkte und Verfahren. Deshalb muss die schon begonnene Öffnung der Hochschulforschung für externe Partner - nicht nur der Wirtschaft - vorangetrieben werden. So wichtig die Grundlagenforschung zweifellos bleiben wird, es genügt nicht, und es ist aus gesellschaftspolitischer Sicht auch nicht wünschenswert, die Verwertung wissenschaftlicher Erkenntnisse allein den außeruniversitären ‚Wissensnachfragern‘ oder auch nur dem hauptamtlichen Transferpersonal zu überlassen. Die Zusammenarbeit mit außeruniversitären Instituten und


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der privatwirtschaftlichen Forschung muss von den Wissenschaftlern selbst gesucht und gepflegt werden - auch und gerade zum Nutzen der Forschung. Die Öffnung von Lehre und Forschung für exzellente ‚Praktiker‘ aus den Entwicklungsabteilungen der Betriebe ist dabei ein genau so nahe liegendes Instrument wie das Forschungsfreisemester für den Forscher in der Praxis. Problemsicht der Forscher und der Anwender gegenseitig zu verstehen und anzuerkennen ist eine der wichtigsten Voraussetzungen einer für beide ‚Systeme‘ fruchtbringenden Kooperation. Stark in die örtliche Region eingebunden und an dem Bedarf der örtlichen Zielgruppen orientiert sind auch die Einrichtungen der Fortund Weiterbildung. Sie müssen und werden in der Gesellschaft der Zukunft wachsende Bedeutung erlangen. Ihr Wirkungsgrad sollte dadurch gefördert und erhöht werden, dass regionale Netzwerke der Weiterbildung geschaffen werden, die Kompetenzen und Potentiale der Weiterbildung bündeln und Transparenz der Angebote und Beratung fördern. Aus der weltweiten Verflechtung von Wirtschaftssystemen und Unternehmen und der zunehmend intensiveren internationalen und europäischen Zusammenarbeit ergeben sich neue Aufgaben und Anforderungen an das Bildungssystem. Prozesse und Inhalte der Qualifizierung auf allen Ebenen müssen der neuen Situation Rechnung tragen. Wer künftig seine Berufs- und Lebenschancen optimal nutzen und an Arbeit und Wohlstand teilhaben will, muss neben seiner fachlichen Kompetenz Fremdsprachen und Grundlagen interkultureller Kommunikation beherrschen. Aus-

landserfahrung sowie international anerkannte Qualifikationsabschlüsse sind zudem immer wichtiger, auch für die berufliche Bildung. Fremdsprachenerwerb hat schon jetzt im deutschen Bildungswesen einen relativ hohen Stellenwert. Wir wollen dies auf allen Ebenen, zum Beispiel durch noch mehr bilingualen Schulunterricht und fremdsprachige Hochschulstudiengänge ausbauen. Wir halten es für dringend erforderlich, dass erheblich mehr junge Leute die Chance eines Auslandsaufenthalts erhalten. Dies soll ihnen ermöglichen, eine andere Alltagskultur zu verstehen, eine andere Sprache zu lernen und neue berufliche Anregungen zu erhalten. Nur so können wir Grundlagen für ein Europa der Bürger schaffen. Internationale Zusammenarbeit ohne Mobilität und Flexibilität ist nicht möglich. Dienstund aufenthaltsrechtliche Erleichterungen bei der Beschäftigung von Fachkräften mit fremder Muttersprache und der Entsendung deutscher Fachkräfte ins Ausland müssen ebenso angestrebt werden, wie Erleichterungen für ausländische Studierende an deutschen Hochschulen zu lernen. Insbesondere sollen sogenannte ‚centers of excellence‘ an Hochschulen verstärkt Kooperationen mit hervorragenden ausländischen Universitäten eingehen. Um den europäischen Einigungsprozess aktiv auf breiter Basis mitzugestalten und um global die europäische Wettbewerbsfähigkeit zu sichern, müssen wir die Voraussetzungen verbessern, einen europäischen Bildungs- und Kulturraum zu entwickeln.

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BILDUNG ENTSCHEIDET ÜBER UNSERE ZUKUNFT Für eine neue Bildungsinitiative

5. Öffentliche und private Verantwortung für die Bildungsfinanzierung Im Verlauf des 20. Jahrhunderts hat sich in Deutschland ein Bildungssystem entwickelt, das inhaltlich und strukturell hoch ausdifferenziert ist und allen Heranwachsenden offen steht. Diese Entwicklung vollzog sich unter öffentlicher Aufsicht und unter öffentlicher Mitwirkung. Der Rolle, die dem Staat dabei zukam und auch weiterhin zukommt, entspricht sein überragender Anteil bei der Finanzierung des Bildungswesens. Der Rückgang des Anteils von Bildung und Wissenschaft am Gesamtbruttoinlandsprodukt von 5,0% 1980 auf 4,5% 1997 muss korrigiert werden. Mit den 200 Milliarden Mark, die die öffentlichen Haushalte derzeit jährlich für Bildung ausgeben, unterhalten die Kommunen, die Länder und der Bund nahezu allein das Schul- und Hochschulsystem. Sie leisten zusätzlich beachtliche Beiträge zu den Ausgaben der Kindergärten, der außerschulischen beruflichen Erstausbildung und zur Weiterbildung sowie der individuellen Förderung. Bildung und Forschung haben in Deutschland wieder Priorität. Die sozialdemokratisch geführte Bundesregierung hat die Zukunftsinvestitionen in Bildung und Forschung im Haushalt 1999 um fast 1 Mrd. DM erhöht und bis 2003 einen kontinuierlichen Zuwachs der Ausgaben vorgesehen. Bereits heute werden in beachtlichem Umfang auch private Mittel für das Bildungssystem ausgegeben. Die Eltern leisten Beiträge zu den Kindertagesstättenkosten. Eltern tragen zunehmend Kosten für Lehrmaterialien und in jüng-

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ster Zeit auch für Personalcomputer und deren Ausstattung. Sie tragen den Unterhalt für ihre Kinder in Schule und Ausbildung. Die neue Bundesregierung unterstützt die Eltern durch die Erhöhung des Kindergeldes und die Anhebung der Kinderfreibeträge. Teilnehmer tragen zum Teil einen erheblichen Teil der Kosten von Weiterbildung. Die Wirtschaft leistet einen hohen Beitrag für die berufliche Erstausbildung und für die Weiterbildung. Diese Verantwortung muss sie auch wahrnehmen. Trotzdem haben die überall wachsenden Anforderungen an die Leistungen des Bildungssystem die bisherigen Finanzierungswege an ihre Grenzen geführt. Die Sicherung einer beruflichen Erstausbildung bedarf zusätzlicher Anstrengungen. Bildung ist immer weniger auf eine Lebensphase zu reduzieren. Die steigende Nachfrage im Bereich der allgemeinen und beruflichen Weiterbildung stellt den Grundgedanken der öffentlich verantworteten und finanzierten Bildung vor eine große Herausforderung. Neben einer Ausweitung der öffentlich bereitgestellten Ressourcen müssen die im Bildungswesen eingesetzten Mittel effektiver genutzt werden. Dabei ist eine verstärkte Selbstständigkeit der einzelnen Institutionen auch bei ihrer Mittelbewirtschaftung (Budgetierung) in Verbindung mit entsprechenden Anreizsystemen für einen effektiven Mitteleinsatz ebenso notwendig wie die Reduzierung der öffentlichen Aufsicht auf das Maß der Zielerreichung durch die einzelnen Einrichtungen des Bildungswesens (Rechenschaftslegung und Evaluation).


BILDUNG ENTSCHEIDET ÜBER UNSERE ZUKUNFT Für eine neue Bildungsinitiative

Die Steigerung der Ausgaben, eine effektivere Mittelbewirtschaftung und eine gerechtere Mittelverteilung werden aber nicht ausreichen, um das deutsche Bildungssystem überall in der Welt konkurrenzfähig und im Inneren offen zu halten. Deshalb sollen verstärkt private Mittel mobilisiert werden. Wir haben deshalb begonnen, das Stiftungsrecht zu reformieren. Wer in Zukunft in Deutschland privates Kapital in Bildung investiert, soll dabei steuerlich begünstigt werden. Die zunehmende Mobilisierung privater Mittel darf allerdings nicht dazu führen, dass ökonomische Barrieren den Zugang zur Bildung verstellen. Auch sollte eine weitere Belastung von Familien angesichts der bereits erbrachten Leistungen vermieden werden. Die Unternehmen müssen im wohlverstandenen Eigeninteresse für eine ständige Erneuerung der Qualifikation der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sorgen, denn dies bleibt eine

der zentralen Voraussetzungen für die bundesdeutsche Wettbewerbsfähigkeit.

Zukunft braucht Mut. Bildung entscheidet über unsere Zukunft. Mit diesem Memorandum wollen wir eine breite gesellschaftliche Diskussion über die Zukunft unserer Bildung anregen. Die Diskussion über die Zukunft der Bildung ist eine Diskussion über die Zukunftschancen unserer Jugend und unserer Gesellschaft insgesamt. Gerade der Bildungsbereich muss Vorreiter sein für neue Antworten, um Chancengleichheit und Leistungsfähigkeit unter veränderten ökonomischen und gesellschaftspolitischen Voraussetzungen realisieren zu können. Eine neue Bildungsinitiative ist notwendig, um die Zukunft zu bewältigen.

Wolfgang Clement ist Ministerpräsident des Landes Nordrhein-Westfalen Edelgard Buhlmahn ist Bundesministerin für Bildung und Forschung Manfred Stolpe ist Ministerpräsident des Landes Brandenburg Gabriele Behler ist Bildungsministerin des Landes Nordrhein-Westfalen Jürgen Zöllner ist Staatsminister für Bildung, Wissenschaft und Weiterbildung des Landes Rheinland-Pfalz Willi Lemke ist Senator für Bildung und Wissenschaft der freien Hansestadt Bremen

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THEMA

POTSDAMER ERKLÄRUNG Chancengleicheit - Leitbegriff für Politik und Gesellschaft im 21. Jahrhundert

Zur Entstehung der Potsdamer Erklärung Die GESELLSCHAFT CHANCENGLEICHHEIT e.V., eine gemeinnützige Vereinigung von Persönlichkeiten aus Politik, Wissenschaft und Publizistik, hat vom 11. bis 13. November 1999 in Potsdam einen bundesweiten Kongress zur Bildungs- und Geschlechterpolitik unter dem Motto „Chancengleichheit – Leitbegriff für Politik und Gesellschaft im 21.Jahrhundert“ veranstaltet. Daran haben rund 200 Expertinnen und Experten aus ganz Deutschland teilgenommen. Als Ergebnis dieses Kongresses ist die nachstehende Erklärung entstanden. Sie richtet sich vor allem an die politisch Verantwortlichen und Beschäftigten in Bildung und Wissenschaft, Kultur und Medien, ebenso an die Verantwortlichen für Frauen- und Gleichstellungspolitik, Familien- und Sozialpolitik.

Die Verfasserinnen und Verfasser Die Potsdamer Erklärung ist von der Vorbereitungsgruppe des Kongresses „Chancengleichheit Leitbegriff für Politik und Gesellschaft im 21. Jahrhundert“ unter Einbeziehung vieler Vorschläge und Anregungen von Expertinnen und Experten aus der Bildungs- und Frauenpolitik erarbeitet worden. Zum engeren Kreis gehörten Tilo Braune, Christa Cremer-Renz, Peter Döge, Christoph Ehmann, Klaus Faber, Hannelore Faulstich-Wieland, Peter Faulstich, Monika Ganseforth, Maria-Eleonora Karsten, Holger H. Lührig, Marion Lührig, Sigrid Metz-Göckel, Barbara Stiegler, Barbara Stolterfoth, Rolf Wernstedt, Dieter Wunder. Für Beiträge und wichtige Anregungen danken wir den Teilnehmerinnen und Teilnehmern des Kongresses, speziell Christine Färber, Elke Plöger, Anne Ratzki, Jürgen Theis und Gabriele Winker, für ihre schriftlichen Anmerkungen zum Entwurf des Manifestes. Der Dank gilt ferner den Referentinnen und Referenten des Kongresses, deren Reden im Rahmen der Kongress-Dokumentation im Frühjahr veröffentlicht werden. Die Schlussredaktion der Potsdamer Erklärung lag bei Holger H. Lührig, Marion Lührig und Dieter Wunder.

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POTSDAMER ERKLÄRUNG Chancengleichheit - Leitbegriff für Politik und Gesellschaft ...

Chancengleichheit - Leitbegriff für Politik und Gesellschaft im 21. Jahrhundert Zum Beginn eines neuen Jahrhunderts - 50 Jahre nach Inkrafttreten des Grundgesetzes, 10 Jahre nach Herstellung der deutschen Einheit - gilt es eine Zwischenbilanz zu ziehen: Wieweit ist das Ziel Chancengleichheit für die Menschen in Deutschland verwirklicht? Wie steht es um die Einlösung des Gleichheitsgebotes von Artikel 3 des Grundgesetzes und des Sozialstaatsprinzips nach Artikel 20 als Grundlage für die Forderung nach Chancengleichheit? Ein Vergleich zwischen Verfassungsanspruch und Verfassungswirklichkeit fällt sehr zwiespältig aus: Zwar hat die Politik seit den 60-er Jahren - oder gerade wieder seit 1999 - Chancengleichheit zum leitenden Prinzip deklariert. Und Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichtes haben die Gleichstellung der Geschlechter und z.B. den freien Zugang zu den Hochschulen gefördert. Doch trotz beachtlicher Anstrengungen ist der Anspruch auf Chancengleichheit in Deutschland bisher vielfach noch nicht eingelöst. Zugleich ergeben sich neue Chancen und Gefährdungen für Chancengleichheit aufgrund tiefgreifender Veränderungen aller Lebensbereiche, die insbesondere vom Zusammenwachsen Europas, von der sich beschleunigenden Globa-lisierung und von der technologischen Umwälzung durch die neuen Informations- und Kommunikationstechnologien bestimmt werden. Angesichts jetzt schon teilweise absehbarer, auch unerwünschter Folgen sind Antworten auf die Frage gefordert, wie in Zukunft der Anspruch auf chancengleiche Teilhabe an der Wirtschafts- und Arbeitswelt, am kulturellen

Leben und demokratischen Gemeinwesen für alle Menschen gewährleistet werden kann. Die Potsdamer Erklärung der GESELLSCHAFT CHANCENGLEICHHEIT soll die öffentliche Debatte über Ziele und Wege zu mehr Chancengleichheit forcieren. Chancengleichheit als Aufgabe der Politik Die Verknüpfung von Innovation und sozialer Gerechtigkeit, Leitvorstellungen für die anstehende Modernisierung von Staat und Gesellschaft, ist die vordringliche Aufgabe der deutschen und europäischen Politik. Chancengleichheit ist nach wie vor eine der wichtigsten Konkretisierungen sozialer Gerechtigkeit und ein Impuls für gesellschaftliche Innovationen. In modernen demokratischen Gesellschaften legitimieren Bildungsabschlüsse den Zugang zu Beruf und Einkommen, Einfluss und sozialer Anerkennung, nicht mehr Privilegien der Herkunft. Chancengleichheit beim Zugang zu Bildung - sowie während der Bildungszeit - ist demnach ein Maß sozialer Gerechtigkeit in einer demokratischen Gesellschaft. Eine Politik der Chancengleichheit bemüht sich systematisch um den Abbau aller Benachteiligungen, die Menschen aufgrund von Geschlecht, sozialer, kultureller und regionaler Herkunft oder körperlicher Behinderung erfahren. GenderMainstreaming ist gegenwärtig der wichtigste Politikansatz zur Überwindung der Geschlechterungleichheit. Chancengleichheit setzt die Anerkennung der Verschiedenheit von Menschen, ihrer unterschiedlichen Biografien, Lebensweisen sowie Befähigungen voraus und fördert die Entfal-

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tung ihrer jeweiligen Lebensperspektiven. Die Dominanz männlich oder eurozentrisch geprägter Sichtweisen in Bildung, Wissenschaft, Kultur und Medien ist zu überwinden. Auch eine nur ökonomisch orientierte Ausrichtung widerspricht einer umfassenden Bildung. Bildungspolitik nimmt eine Schlüsselstellung ein im erfolgreichen Bemühen um Chancengleichheit; andere Politikbereiche wie Arbeitsmarkt-, Familien-, Innen- und Sozialpolitik müssen unterstützend tätig werden, unabhängig von ihrer eigenständigen Verantwortung für mehr Chancengleichheit in der Gesellschaft. Eine breite Debatte über Chancengleichheit wird die wissenschaftlichen und intellektuellen Diskurse in unserer Gesellschaft neu beleben und zugleich soziale bzw. technologische Ver-änderungsprozesse stimulieren. Chancengleichheit ist in vielen Feldern nur ansatzweise erreicht Eine Bestandsaufnahme des Bildungswesens zeigt unbestreitbare Erfolge im Abbau von Ungleichheit. Geschlecht, soziale Lage, Kultur, Herkunft oder Behinderung stellen jedoch nach wie vor Diskri–minierungsmerkmale dar: Diese verstärken sich gegenseitig vielfach, wie sich insbesondere bei Kindern der meisten Zuwanderinnen und Zuwanderer (Arbeitsmigration, Aussiedlung, Flucht), aber auch für Kinder aus anderen sozial benachteiligten Gruppen belegen lässt. Das Prinzip des lebensbegleitenden Lernens - vom vorschulischen Kindesalter über schulische und berufliche Bildung bis zu unterschiedlichen Formen der Weiterbildung für Erwachsene und nicht zuletzt Seniorinnen und Senioren - muss Merkmal moderner Gesellschaften sein, hat aber in Deutschland noch

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nicht den ihm gebührenden Stellenwert erlangt. Im Einzelnen erbringt eine Analyse durchaus unterschiedliche Tendenzen: 1. Die Bildungsexpansion seit den 60er Jahren hat zu einer Ausweitung der Bildungschancen geführt. In der Bundesrepublik Deutschland besuchen immer mehr Jugendliche aus allen gesellschaftlichen Gruppen weiterführende Schulen. Bei Realschul- und Gymnasialabschlüssen sowie vergleichbaren Abschlüssen sind junge Frauen inzwischen in der Mehrheit. 2. Die soziale Ungleichheit im Bildungssystem besteht fort, der Abstand zwischen ”ganz oben” und ”ganz unten” ist geblieben. Kinder aus den sozial schwachen Schichten, unter ihnen zugewanderte Jugendliche, sind an Gymnasien und Hochschulen unterrepräsentiert; Jungen, besonders deutlich in Ostdeutschland, stellen einen großen Teil der Schüler mit Hauptschul, mit einem vergleichbaren oder ohne jeden Abschluss. Kinder von Zuwanderinnen und Zuwanderern der Unterschichten erfahren zusätzlich Nachteile, weil Multikulturalität vielfach mehr als Problem denn als Chance gesehen wird; ihr Anteil an Sonderschulen ist überproportional. Bei Mädchen aus solchen Gruppen sozial Benachteiligter kumulieren diese Probleme. Ganztägige Bildungsangebote fehlen weitgehend. Dabei würden sie für die Erziehung und Bildung von Kindern und jungen Heranwachsenden Chancengleichheit fördern und auch angesichts der Veränderungen in den Familienstrukturen einen ausgleichenden pädagogischen Stellenwert haben. 3. Ungeachtet aller Erfolge bei der Gleichstellung von Frauen ist die geschlechtshierarchische Strukturierung der Bildungsinhalte noch nicht beseitigt; auch die Verteilung der


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Lehrenden auf die Bildungsbereiche findet bisher nach geschlechtshierarchischen Mustern statt. Im Erziehungsbereich (Kindergarten) und in den Grundschulen dominieren Frauen, Männer dagegen immer noch in den technisch-naturwissenschaftlichen Fächern und vielfach noch an den Gymnasien und Berufsschulen, vor allem in Leitungspositionen. Der Anteil von Frauen an den Lehrenden und Forschenden in den Hochschulen ist aufgrund der herrschenden Auswahlverfahren eklatant gering und beträgt etwa bei der Gruppe der Professoren und Professorinnen gerade neun Prozent - auch im internationalen Vergleich ist dies ein auffallend geringer Anteil. Zu Studienbeginn liegt er hingegen derzeit bei über 50 Prozent. 4. Berufliche Bildung vermittelt weniger Lebenschancen als die akademische Bildung. Die Benachteiligung ihrer Absolventinnen und Absolventen zeigt sich in Karriereverläufen sowie am Grad ihrer Beteiligung an der Hochschul- und Weiterbildung. Die Unterschiede beim Zugang zum Beruf, im Hinblick auf Lernorte, Lernorganisation und Angebotsstruktur sowie hinsichtlich der Finanzierung führen zu spezifischen Nachteilen, generell aufgrund des Geschlechts, speziell bei Behinderten, Zuwanderinnen und Zuwanderern und sozial benachteiligten Jugendlichen. Junge Männer aus den sozial schwachen Schichten sind besonders häufig in Übergangsmaßnahmen ohne Zukunftsperspektive anzutreffen; Zuwanderinnen und Zuwanderer haben vielfach mangelhafte Sprachkenntnisse im Deutschen; ostdeutsche Jugendliche sind von den Folgen der noch schwach ausgeprägten Wirtschaftsstruktur betroffen. Frauen finden sich vielfach in wenigen, gering

bezahlten bzw. gering bewerteten Berufen; dies gilt insbesondere für Zuwanderinnen der Unterschicht und andere sozial benachteiligte Gruppen. Vollzeitschulische Berufsausbildungen - fast ausschließlich Ausbildungen für Frauen - vermitteln eine anspruchsvolle Ausbildung; ihnen fehlt allerdings die hinreichende Anerkennung, so dass sie eher als andere Ausbildungen in die Arbeitslosigkeit führen und in vielen Bundesländern bei Reformdiskussionen nicht hinreichend berücksichtigt werden. Die Chancen junger Menschen in strukturschwachen Regionen, einen Ausbildungsplatz zu bekommen, sind schlechter geworden. Dies trifft besonders junge Frauen, die zunehmend auf weiterführende allgemeinbildende oder gebührenpflichtige berufliche Schulen verwiesen werden. 5. Eine Ungleichheit kennzeichnet nach wie vor das gesamte ”Arbeitsleben”, unter dem jede Form bezahlter wie unbezahlter Arbeit zu verstehen ist: Frauen leisten den überwiegenden Teil der gesellschaftlich lebensnotwendigen, aber unbezahlten Arbeit. Betreuungsangebote in Schulen und Ganztagsschulen fehlen, sie könnten qualifizierte Dienstleistungs- und Bildungsaufgaben erfüllen, zudem viele Eltern, insbesondere allein stehende Mütter oder Väter, entlasten. Auf dem Arbeitsmarkt haben Frauen - trotz besserer Bildung - aufgrund latenter und manifester Ungleichheiten in der Berufsausbildung sowie im Hochschulbereich schlechtere Chancen als Männer, insbesondere in wichtigen Bereichen, Funktionen und Positionen. 6. Ungleichheiten kennzeichnen auch den größten Bildungsbereich, die Weiterbildung. Zwar sind die Unterschiede in der Weiter-

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bildungsbeteiligung zwischen Männern und Frauen nur noch gering, in zukunftsträchtigen beruflichen Weiterbildungsangeboten finden sich jedoch mehr Männer. Weil Frauen in leitenden Stellungen seltener anzutreffen sind, nehmen Männer als leitende Mitarbeiter überproportional betrieblich finanzierte Weiterbildungsangebote wahr. Bildungsstand und beruflicher Status entscheiden maßgeblich über die Teilnahme an Weiterbildung: Allgemein dominieren einerseits junge Menschen mit Abitur bzw. Hochschulabschluss, andererseits Beamtinnen und Beamte. Wer nur über einen Hauptschul-, einen vergleichbaren oder gar keinen Abschluss verfügt, bleibt in der Bildungsgesellschaft fast chancenlos. Weiterbildung verschärft so die Auslese und verstärkt die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern. 7. Den neuen Informations- und Kommunikationstechnologien kommt beim Übergang der Industrie- in die Bildungsgesell–schaft eine zentrale Bedeutung zu. Der Zugang zu den entscheidenden Ressourcen ist ungleich verteilt: Der typische Online-Nutzer ist jung, wohlgebildet, berufstätig, und männlich. Kinder aus Unterschichten haben vielfach keinen aktiven Zugang zu den neuen Medien und laufen daher Gefahr, aus der Bildungsgesellschaft herauszufallen. Frauen werden beim Zugang zu den neuen Medien strukturell behindert; ihnen fehlen neben den Möglichkeiten, Erfahrungen mit der technischen Struktur zu sammeln vor allem bedarfsgerechte Angebote im Netz. Die Organisation von Arbeit auf Netzbasis ist geschlechtshierarchisch geprägt. Themen und Arbeitsfelder, die gesellschaftlich Frauen zu-

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geordnet werden, finden bisher kaum Berücksichtigung. Es fehlt an Systemspezialistinnen und Software-Entwicklerinnen. 8. Die erheblichen ökonomischen Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland schaffen spezifische Bildungsbenachteiligungen in den neuen Bundesländern. Unzureichende wirtschaftliche Struktur und deren geringe Entwicklungsmöglichkeit, das weitgehende Fehlen der dualen betrieblichen Berufsausbildung wie auch die problematische Arbeitsmarktlage erschweren den Zugang zu beruflicher Ausbildung und zu Arbeitsmöglichkeiten. Seit 1990 ist die industrienahe Forschung in Ostdeutschland auf unter 20 % der ursprünglichen Kapazitäten zurückgegangen; der ostdeutsche Anteil an der deutschen Industrieforschung beträgt nur noch 2 %. Auch der ostdeutsche Anteil der Hochschulzugangsberechtigten, besonders aber der Studierenden liegt unter dem westdeutschen. Die Bestandsaufnahme zeigt: Trotz aller Fortschritte ist es noch ein weiter Weg zu einem Mehr an Chancengleichheit. Mit den ökonomischen und sozialen Veränderungen im Zuge des Ausbaus und der Erweiterung der Europäischen Union, vor allem aber angesichts der weltweiten Globalisierung sind nicht nur Chancen, sondern auch Gefahren verbunden, die die geschlechtsspezifischen, sozialen und kulturellen Spaltungen der Gesellschaft zu verstärken drohen. Politische Regelungen zur Sicherung von Chancengleichheit und deren konsequente Umsetzung sind daher unerlässlich. Für eine sozialverträgliche Gestaltung der Gesellschaft brauchen wir eine neue Philosophie der Chancengleichheit.


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Eine neue Philosophie Die neue Diskussion um Chancengleichheit verbindet Geschlechterdemokratie, soziale Gerechtigkeit und Interkulturalität. Sie lenkt den Blick gezielt auf Bildung als wichtigste Grundlage für den Wohlstand moderner Gesellschaften. Denn die Sicherung und Entwicklung der Zukunft ist längst nicht mehr primär an technische Produktionssysteme und -instrumente gekoppelt, sondern fußt mehr und mehr auf dem Wissensstand der Menschen und ihrer Kommunikationsfähigkeit. In der Bildungsgesellschaft ist es entscheidend, wie und was wann gelernt werden soll und wer Zugang zum Wissen hat. Lernorganisation und Themenauswahl der Bildung müssen die Teilhabe aller Menschen an der Entwicklung der Bildungsgesellschaft sichern; zu vermitteln sind: ■ Grundlagenwissen, bezogen auf die Schlüsselfragen der gegenwärtigen Gesellschaft, ■ methodische Kompetenzen hinsichtlich der instrumentellen Bewältigung von Techniken - auch der Informationstechniken, ■ soziale und personale Kompetenzen des Umgangs mit sich, mit anderen Menschen sowie zur aktiven Beteiligung an der Demokratie. Diese Kompetenzen sind Grundlage einer Bildung für alle Menschen, die sie befähigt, selbstbestimmt Verantwortung für sich und die Gesellschaft zu übernehmen. Eine moderne Politik der Chancengleichheit muss sich hierbei am Grundsatz der Demokratisierung orientieren: In allen gesellschaftlichen Bereichen müssen die Partizipations- und Gestaltungsmöglichkeiten der Bürgerinnen und

Bürger erweitert werden. Diesem Ziel dienen die folgenden Leitlinien: ■ Geschlechterdemokratie Frauen und Männer müssen die gleichen Lebensbedingungen haben und in allen gesellschaftlichen Bereichen über die gleichen Teilhabemöglichkeiten verfügen. Eine demokratische Gesellschaft darf nicht unter dem Schein der rechtlichen Gleichheit die traditionellen Ausgrenzungen aufgrund des Geschlechts faktisch fortführen. ■ Soziale Gerechtigkeit und Solidarität Moderne Gesellschaften werden sich nur dann als Zivilgesellschaften erhalten und weiterentwickeln, wenn jeder Mensch über ein existenzsicherndes und eigenständiges Einkommen verfügt. Die Überwindung von Armut und Not muss eine von allen politischen Kräften gewollte Aufgabe sein. Jeder Mensch muss am materiellen, sozialen und kulturellen Leben wie am Erwerbsleben teilhaben können; das gesellschaftspolitische Leitbild des Mannes als alleiniger Familienernährer widerspricht der gesellschaftlichen Realität und dem Ziel der Chancengleichheit aller Menschen. Auf der Grundlage eines solchen Verständnisses sozialer Gerechtigkeit können Menschen sich solidarisch gegenüber den Menschen des eigenen Landes und anderer Länder verhalten. ■ Heterogenität und Interkulturalität Moderne Gesellschaften sind heterogen; sie sollen die Verschiedenheit ihrer Menschen und Gruppen achten und auf der Grundlage der universalen Menschenrechte im täglichen Zusammenleben Raum für die Differenz gewähren.

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Die Herausforderungen der kommenden Jahrzehnte - demografische Veränderungen, die Lebens- und Arbeitsverhältnisse umwälzende Entwicklung der Informations- und Kommunikationstechniken, die Internationalisierung der Gesellschaft, aber auch die Herausbildung neuer politischer Gestaltungsformen - können nicht nur mit kurzfristigen Maßnahmen beantwortet werden. Bedürfnisse der Gegenwart dürfen zudem nicht auf Kosten künftiger Generationen befriedigt werden; notwendig ist eine Politik der Nachhaltigkeit (Sustainable Development), die langfristig ökologisch angelegt ist und eine Gesellschaft mit gerechterer Verteilung von Lebens- und Arbeitschancen anstrebt. Bildung muss hierzu beitragen. Eine moderne Politik der Chancengleichheit braucht berechenbare, d.h. über Wahlperioden hinausgehende stabile Rahmenbedingungen. Junge Menschen, vor allem Frauen, müssen Sicherheit für eine selbstbestimmte Existenz haben, also auf die nachhaltige Förderung von Chancengleichheit bauen können. Anforderungen an die Politik 1. Generell ist die Sensibilisierung für Geschlechterfragen als durchgängiges Bildungsziel zu verankern. Das Konzept des Gender-Mainstreaming ist eine maßgebliche Strategie zur Wahrnehmung geschlechtsspezifischer Wirkungen politischer Maßnahmen und muss als notwendige Veränderung von Organisationen und ihrer Politik auf allen gesellschaftlichen Ebenen Eingang in die Köpfe derer finden, die Entscheidungen treffen; den Medien fällt hierbei eine unersetzbare Aufgabe zu. Die öffentliche Verwaltung muss die Rolle

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einer Vorreiterin übernehmen und den Erfahrungsaustausch mit allen gesellschaftlichen Einrichtungen und Gruppen fördern. Regional sind Kompetenzzentren für Geschlechterfragen zu schaffen, in denen Expertinnen und Experten für Beratung und Fortbildung tätig werden. Sämtliche politischen Maßnahmen und Konzepte müssen einer Geschlechterverträglichkeitsprüfung unterzogen werden. Sowohl die inhaltlichen Konzeptionen der Bildungseinrichtungen als auch der Unterricht und die Lehrveranstaltungen sind nach dem Gender-MainstreamingPrinzip zu gestalten. Die Geschlechterverhältnisse müssen systematisch mit öffentlicher Förderung erforscht, ihre Ergebnisse veröffentlicht und in praktische Politik umgesetzt werden. Hierzu bedarf es der Einrichtung eines deutschen und eines europäischen GenderInstituts. Die Entwicklung vergleichbarer Indikatoren über den erreichten Stand von Chancengleichheit in EU-Mitgliedsstaaten und Gemeinschaftsinstitutionen muss vorangetrieben und die regelmäßige differenzierte Aufbereitung EU-weiter geschlechtsspezifischer Daten auf nationaler wie europäischer Ebene sichergestellt werden. 2. Alle Menschen der Gesellschaft sind für die Multikulturalität und ihre Probleme zu sensibilisieren. Die Integration von Zuwandererinnen und Zuwanderern, verstanden als deren gleichberechtigte Teilhabe an den Lebensmög–lichkeiten in einer demokratischen Gesellschaft, muss ein durchgehendes Prinzip der Bildungspolitik werden. Dafür ist der Erwerb der deutschen Sprache wie auch die Pflege der Muttersprache für jede und jeden unerlässlich. Ebenso ist


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die Herkunft der Schülerinnen und Schüler aus unterschiedlichen Ländern, Kulturen und Religionen zu beachten, beispielsweise in den Lehrplänen und in der Gestaltung der Bildungseinrichtungen. Bei der Auswahl des Lehrpersonals sind Zuwanderinnen und Zuwanderer zu berücksichtigen. 3. Alle Kinder müssen im vorschulischen Alter die Möglichkeit haben, die eigenen Fähigkeiten spielerisch zu entwickeln und insbesondere auch ihre Sprachfähigkeit zu entfalten. Die systematische Förderung der Kinder in diesem Alter verlangt die Einführung einer Bildungspflicht für Kinder ab dem 4. Lebensjahr. Zweisprachigkeit sowie das spielerische Erlernen einer ersten Fremdsprache sind zu erproben. Kindertagesstätten und Kindergärten sind so auszustatten, dass sie diese Bildungsaufgaben für alle Kinder erfüllen können. Die Ausbildung der Pädagoginnen und Pädagogen ist qualitativ zu verändern und eng mit der Ausbildung für den Grundschulbereich zu verbinden. Insbesondere der Staat mit seiner Gesetzgebung, aber auch die gesellschaftlichen Gruppen und Einrichtungen haben dafür Sorge zu tragen, dass private Erziehungsund Betreuungseinrichtungen staatliche Grundregeln für das Zusammenleben, wie z. B. das Toleranzgebot, den Gleichheitsgrundsatz und die Gleichstellung von Männern und Frauen beachten. 4. Die Schule hat ihre Aufgabe, auf die Zivilgesellschaft vorzubereiten, aktiv wahrzunehmen. Chancengleichheit muss Bestandteil von Schulprogrammen werden. Die gemeinsame Erziehung aller jungen

Menschen einschließlich der Behinderten und die Anerkennung ihrer Verschiedenheit muss das Prinzip jeder pädagogischen Arbeit sein. Gute Schulen sind solche, deren Schülerinnen und Schüler hohe Leistungen erbringen, möglichst unabhängig von ihrer sozialen und kulturellen Herkunft. Die Offenheit der Schullaufbahn muss für die gesamte Schulzeit Geltung haben. Deshalb ist die Gesamtschule die angemessene Fortsetzung der Grundschule und das Herzstück von Chancengleichheit im Schulsystem. Schulen in sozialen Brennpunkten bedürfen einer besonders guten Ausstattung; sie sind zudem in die integrierte Stadtteilarbeit einzubeziehen. Die Ganztagsschule bzw. die Schule mit ganztägigen Angeboten muss endlich eine für alle Eltern wahrnehmbare Möglichkeit werden. Neue Lernformen (z.B. soziale, ökologische Praktika), die Öffnung der Schule zur kommunalen Umwelt sowie verstärkte Berufsorientierung und Biografieplanung bewirken eine Veränderung der Schule insgesamt. Multilingualität und die Vermittlung von Englisch als lingua franca (schon im Grundschulalter) sind wesentliche Beiträge zur Realisierung von Interkulturalität in der Schule. 5. Die berufliche Bildung kann umso erfolgreicher sein, je besser und frühzeitiger die allgemein bildenden Schulen darauf vorbereiten. Die Gleichwertigkeit beruflicher Bildung mit dem Ausbildungsweg Gymnasiale Oberstufe/Hochschule ist durch ein System vielfältiger Maßnahmen herzustellen. Hochschulen müssen auch für Berufstätige sowie Bewerberinnen und Bewerber

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mit qualifizierter Berufsausbildung ohne formelle Hochschulzugangsberechtigung offen sein. Mit der Gleichwertigkeit vollzeitschulischer und dualer betrieblicher Ausbildungswege sowie der engeren Verknüpfung berufstheoretischer und berufspraktischer Anteile können heute bestehende Benachteiligungen, insbesondere für Frauen, abgebaut werden. Die Kompetenzen, die in den personenbezogenen Dienstleistungsberufen erworben werden, sind als Schlüsselqualifikationen der Zukunft aufzuwerten. Dies ist besonders bei der Ausbildung der Ausbilderinnen und Ausbilder zu sichern. Junge Menschen müssen über Beratung und Praktika bzw. Hospitationsangebote für zukunftsfähige Berufe gewonnen werden. Insbesondere ist der Zugang von Frauen zu technischen und informationstechnischen Berufen, der von Männern zu Sozial- und Pflegeberufen zu fördern. 6. Die Ausbildungs- und Studienförderung muss neu geordnet und verbessert werden, so dass der Hochschulbesuch für Angehörige benachteiligter Gruppen mehr als bisher ermöglicht wird: Die Gesamtzahl der Geförderten sowie die Anteile der ostdeutschen Studienbewerber und -bewerberinnen sind zu erhöhen. Durch bundesweite Regelungen ist sicherzustellen, dass keine Studiengebühren für das Erststudium erhoben werden. Die zu starre Abgrenzung zwischen Universitäten und Fachhochschulen ist durch Kooperationsmodelle und -verfahren schrittweise zu überwinden. Das Laufbahnrecht des öffentlichen Dienstes muss für

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alle Hochschulabschlüsse die gleiche Ausgangsbasis bieten. Die Studienbedingungen müssen behindertengerecht sein; für ausländische Studierende ist eine spezifische Unterstützung anzubieten. Die Personalstruktur an den Hochschulen und anderen Wissenschaftseinrichtungen ist mit dem Ziel zu reformieren, die Selbständigkeit der Arbeit des wissenschaftlichen Nachwuchses zu sichern, die Positionen sowie Arbeitsbedingungen für alle Gruppen des wissenschaftlichen Personals zu verbessern, die Zahl der unbefristeten Stellen zu vermehren und den Frauenanteil auf allen Qualifikationsstufen zu erhöhen. Im internationalen Vergleich nicht übliche Qualifikationselemente wie die Habilitation müssen entfallen. Notwendig ist eine begleitende Förderung durch ein Bund-Länder-Programm, das die Einführung der Assistenz- oder Junior(innen)Professur unterstützt und dabei insbesondere einen Beitrag zur Gleichstellung der Geschlechter leistet. Im Verhältnis zwischen Ost- und Westdeutschland ist ein Chancenausgleich für die ostdeutschen Wissenschaftsregionen durch den verstärkten Ausbau der Hochschulen und Forschungseinrichtungen in benachteiligten ostdeutschen Regionen notwendig. Die Gründung privater Hochschulen und eine Beteiligung Privater an der Hochschulfinanzierung entheben den Staat nicht seiner Gesamtverantwortung dafür, einem wachsenden Anteil von jungen Menschen ein überregional ausgeglichenes Hochschulangebot zur Verfügung zu stellen. Hochschulen in privater Trägerschaft sind


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deshalb in das regionale und überregionale Studienangebot einzufügen; sie müssen grundsätzlich den Hochschul-Zugangsberechtigten offen stehen. Die jetzt eingeführten, international üblichen Hochschulabschlüsse (Bachelor und Master) dürfen nicht zu einer Hierarchisierung der Hochschulen und des Studienangebots führen; im Rahmen von Akkreditierungsverfahren für Studiengänge mit neuen Abschlüssen ist einer weiteren Trennung und Abgrenzung zwischen Universitäts- und Fachhochschulangeboten entgegenzuwirken. 7. In der Weiterbildung sind neue Formen der öffentlich geförderten Finanzierung erforderlich. Das System der Weiterbildung ist, unterstützt durch bundesrahmenrechtliche Vorgaben, auszubauen; dabei sind Qualitätsstandards und die Kooperation der Institutionen in Weiterbildungsverbünden zu sichern. Die personellen Kapazitäten im öffentlichen Weiterbildungsbereich müssen gestärkt werden. Durchlässigkeit von Erstausbildung und Weiterbildung ist durch Modularisierung herzustellen. Lernzeitansprüche müssen durchgesetzt werden. Jeder Mensch hat das Recht auf Weiterbildung; die dafür erforderlichen Instrumentarien (Bildungsurlaub, Sabbatical etc.) sind zu verbessern und gesetzlich oder tarifvertraglich abzusichern. Die Möglichkeit, die erworbenen Qualifikationen und Kenntnisse aufzufrischen und zu erweitern, muss allen im Erwerbsleben Stehenden in regelmäßigen Zeitabständen eröffnet werden. 8. Alle Menschen, unabhängig von Geschlecht, sozialer, kultureller und regiona-

ler Herkunft oder körperlicher Behinderung, müssen die modernen Informationsund Kommunikationstechnologien umfassend nutzen können. Eine Voraussetzung dafür bildet die Vermittlung von Medienkompetenz, d.h. die Fähigkeit, sich mit einer geschickten Navigation in der Fülle der Internet-Angebote zurechtfinden und Informationen gezielt suchen, finden und bewerten zu können. Informationstechnische Ausbildungsgänge sind zu erneuern. Sie müssen ökologische, betriebs- und sozialwissenschaftliche Elemente umfassen und in neuen kooperativen und kommunikativen Lernformen vermittelt werden. Informationstechnische Inhalte sind vor allem in die Ausbildung für jene Berufe zu integrieren, in denen heute noch vorwiegend Frauen tätig sind. Internet-Anbieter haben die Zielgruppe Frauen und Mädchen angemessen zu berücksichtigen; dies erfordert frauenbezogene Angebote mit persönlichem und beruflichem Nutzen; bundesweite und dezentrale Frauenserver sind einzurichten. Mädchenpraktika zur technischen Berufsfelderkundung sollen zum Regelangebot der allgemeinbildenden Schule gehören. Zum Recht auf Bildung gehört heute das Recht auf ungehinderten Zugang zu den Kommunikationsnetzen. Der Staat hat dafür Sorge zu tragen, dass ein umfassendes öffentliches Internet-Angebot allgemein erreichbar ist und kostenlos zur Verfügung steht. Die laufenden Kosten des Internetzugangs für Bildungseinrichtungen und Bibliotheken sind öffentlich zu tragen.

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Alle Schulen und Schulformen, beginnend in der Grundschule, müssen nicht nur über Internet-Zugänge, sondern über ein ausreichendes Hard- und Software-Angebot zur Nutzung in jedem Klassenraum verfügen. Mittelfristig muss jede Schülerin und jeder Schüler mit einem eigenen Notebook lernen können. Der Einsatz der neuen Medien in allen Fächern verlangt eine umfassende Neuorientierung in der Aus- und Fortbildung von Lehrerinnen- und Lehrern. Medienkompetenz erhält den Charakter einer Schlüsselqualifikation und damit einen zentralen Stellenwert in der Vermittlung für Lehrende und Lernende. Die Hochschulen haben dafür zu sorgen, dass Multimedia-Angebote für Studierende allgemein zugänglich sind und inhaltlichen Mindeststandards entsprechen. Die öffentlichen Weiterbildungseinrichtungen müssen umfassende Angebotsstrukturen zur informations- und kommunikationstechnischen Nachqualifi–zierung Erwachsener bereitstellen. Informationstechnische Anwendungen müssen sich nutzungsgerecht, qualitätsorientiert und effizient in bestehende Arbeitsabläufe einpassen.

Zur Potsdamer Erklärung 1949 – 1969 – 1989 – 1999 … Die Maßstäbe für die Beurteilung der Herstellung von Chancengleichheit knüpfen an die Grundrechte des Grundgesetzes an, das 1949 für Westdeutschland, mit der Herstellung der deutschen Einheit 1990 für ganz Deutschland unmittelbar geltendes Recht wurde. Die fried-

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liche Revolution der DDR-Bevölkerung von 1989 und 1990 hat dafür die Voraussetzungen geschaffen. Die ersten zwanzig Jahre der Nachkriegszeit wurden im westdeutschen Bildungswesen überwiegend durch eine Restauration der Weimarer Verhältnisse geprägt. Beispiele sind hierfür der Wiederaufbau des herkömmlichen dreigliedrigen Schulwesens mit Volksschule, Realschule und Gymnasium oder der alten Ordinarienuni-versität. Nur in einzelnen Ländern gab es Ansätze für Reformen, etwa die acht-, dann die sechsjährige Grundschule oder die Mitbestimmung an der Freien Universität in Berlin. 1969 hatte die Bildungsreformbewegung der 60-er Jahre in Westdeutschland breite Anerkennung erreicht. Ein umfassender Reformansatz und Chancengleichheit als Leitziel waren Grundlagen der Regierungspolitik für das Bildungswesen auf der Bundes- und überwiegend ebenso auf der Landesebene. Bereits in der ersten Hälfte der 60-er Jahre ist der Anteil der Abiturientinnen und Abiturienten am jeweiligen Altersjahrgang in Westdeutschland schrittweise erhöht worden. Die Bildungseinrichtungen wurden ausgebaut. Neue Modelle, wie die Fachhochschule, die Gesamtschule oder die Gesamthochschule, gaben wegweisende Reformanstöße. Auf der Bundesebene schufen dafür, auf der Grundlage einer 1969 erfolgten Verfassungsänderung, neue Bundesgesetze Rahmenvoraussetzungen. Dazu gehören u.a. das Bundesausbildungs–för–derungsgesetz, das Hochschulrahmengesetz oder das Hochschulbauförderungsgesetz des Bundes. Entscheidende Neuregelungen zur tatsächlichen Gleichstellung von Frauen und Männern wurden nach 1969 auf den Weg gebracht. Das


POTSDAMER ERKLÄRUNG Chancengleichheit - Leitbegriff für Politik und Gesellschaft ...

Erste Eherechtsreformgesetz von 1977 hob in Westdeutschland beispielsweise die Regelung des Bürgerlichen Gesetzbuches auf, wonach die Frau nur dann erwerbstätig sein durfte, wenn dies mit ihren Pflichten in Ehe und Familie vereinbar war. Seitdem sind nach § 1356 des Bürgerlichen Gesetzbuches beide Ehegatten berechtigt, erwerbstätig zu sein. Die Gleichberechtigung der Frauen und die Teilhabe junger Mädchen an einer qualifizierten Bildung wurden in den siebziger Jahren zu wesentlichen Politikzielen in Westdeutschland. Der Europäische Gerichtshof und das Europäische Parlament gaben wichtige Anstöße zur Weiterentwicklung der Gleichstellungspolitik. Mit der Erweiterung des Gleichberechtigungsartikels des Grundgesetzes im Jahre 1994 wurde der Staat in die Pflicht genommen, die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern zu fördern und auf die Beseitigung bestehender Nachteile hinzuwirken. Mit dem Inkrafttreten des Amsterdamer Vertrages ist durch die Europäische Union ein neues Kapitel im Bemühen um die Herstellung von Chancengleichheit zwischen Frauen und Männern aufgeschlagen worden. Die Mitgliedstaaten sind durch den Vertrag zu einer aktiven Gleichstellungspolitik nach dem Prinzip des Gender-Mainstreaming verpflichtet worden. Die Reformansätze in Westdeutschland wurden nicht auf allen Gebieten erfolgreich abge-

schlossen. Fehlentwicklungen sowie politische und gesellschaftliche Widerstände führten zum Scheitern wichtiger Erneuerungsprojekte. Nach wie vor bestehen beträchtliche Defizite bei der Verwirklichung von Chancengleichheit. Geschlecht und soziale Herkunft sind z.B. immer noch Diskriminierungsmerkmale im Bildungswesen. Die Bilanz zeigt aber ebenso unbestreitbare Erfolge. Die Bildungsexpansion, die Öffnung des Hochschulzugangs sowie Strukturreformen in Schulen und Hochschulen stehen dafür als Beispiele. Seit 1989, dem Jahr der Wende, hat der Anspruch auf Chancengleichheit eine weitere, neue Dimension im innerdeutschen Ausgleich erhalten. In Bildung und Wissenschaft bestehen über zehn Jahre nach der Wende noch immer große Unterschiede zwischen Ost und West. Die Möglichkeiten zur Förderung und Erneuerung der ostdeutschen Bildungs- und Wissenschaftseinrichtungen und zur Reform des Bildungs- und Wissenschaftssystems in ganz Deutschland wurden bis 1999 nicht in ausreichendem Umfang genutzt. Die Politik wird sich in den kommenden Jahren auf allen Ebenen den eingangs beschriebenen und zugleich weiteren neuen Herausforderungen stellen müssen. Sie wird daran gemessen werden, ob und inwieweit es ihr gelingt, mehr Chancengleichheit in Deutschland zu verwirklichen und dafür auch eine Perspektive in der Europäischen Union zu eröffnen. Weitere Informationen zu dem Thema finden sie unter: http://www.zweiwochendienst.de

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THEMA

WEITERENTWICKLUNG DER QAULITÄT SCHULISCHER ARBEIT von Bodo Richard, Abteilungsleiter im Ministerium für Bildung, Jugend und Sport des Landes Brandenburg In den letzten Jahren hat das Thema „Qualität schulischer Arbeit“ zusätzlich an Bedeutung und Aufmerksamkeit gewonnen. Dafür gibt es vielfältige Ursachen: Die nach wie vor ungünstigen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen in Brandenburg und die ursächlich damit zusammenhängende katastrophale Situation am Ausbildungsstellenmarkt haben dazu geführt, dass seitens der Wirtschaft die Ausbildungsfähigkeit der Schulabgängerinnen und Schulabgänger in den Blickpunkt öffentlichen Interesses gerückt ist. Die Landesregierung hat zwar durch Sondermaßnahmen sicherstellen können, dass für alle Jugendlichen eine qualif izierte Ausbildung auch unter schwierigen Bedingungen gesichert werden konnte. Zugleich erhöhte sich aber der Stellenwert der individuellen Leistungen der Absolventen des Bildungssystems im Bereich der gesellschaftlich und wirtschaftlich nachgefragten Qualifikationen. Es entwickelt sich zunehmend ein Ausleseprozess unter den Schulabgängerinnen und Schulabgängern, der zwar nicht durch die tatsächlichen Anforderungen der jeweiligen besonders nachgefragten Berufsausbildung gerechtfertigt ist, jedoch im Sinne von greifenden Marktmechanismen auch nicht verhindert werden kann. Während in Zeiten des Arbeitskräftemangels Qualifikations-

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defizite der Auszubildenden im Rahmen der Ausbildung aufgefangen wurden, besteht jetzt die Tendenz, diese Jugendlichen als nicht ausbildungsreif zu kennzeichnen und der Schule eine unzureichende Vorbereitung auf das Arbeitsleben anzulasten. Mit der Neuordnung von Berufen und entsprechend neu gefassten Ausbildungsordnungen sind zudem die Anforderungen in vielen Berufsbereichen gestiegen. Weiter haben an diesen Anforderungen orientierte systematische Auswahlverfahren eine größere Bedeutung in der betrieblichen Praxis gewonnen und die von den Schulabgängerinnen und Schulabgängern mitgebrachten oder fehlenden Leistungen deutlicher werden lassen. Aber auch veränderte gesellschaftliche Rahmenbedingungen für das Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen und eine dadurch notwendig werdende Prüfung des Selbstverständnisses und der Arbeitsformen von Schule spielen zunehmend eine Rolle bei der Beurteilung schulischer Leistung. Beispiele für die sich verändernden gesellschaftlichen Rahmenbedingungen sind z.B. die Pluralisierung der Lebensformen und der sozialen Beziehungen, die mehr Chancen für ein selbstbestimmtes Leben und gleichzeitig neue


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Anforderungen und Risiken mit sich bringen, zum Teil eine Erosion traditioneller Werte im Bereich von Arbeit und Leistung und eine Prägung der Lebenswelt der Kinder und Jugendlichen durch neue Technologien und Medien. Sie stellen ein traditionelles Selbstverständnis von Schule als einer vorrangig Wissen vermittelnden Institution in Frage und verlangen Schulqualität im Sinne des sozialen Lernens, der Förderung von Identitätsentwicklung und der sozialen Integration. Die Verstärkung der internationalen, insbesondere der europäischen Vernetzung und des Wettbewerbs zwischen den Bildungssystemen führen zu einem Bedeutungsgewinn der Ergebnisse vergleichender empirischer Studien über Schulleistungen. Die methodische Anlage solcher Studien führt, das zeigt das Beispiel der TIMS-Studie (dritte internationale Studie zum Vergleich der Leistungen in Mathematik und den Naturwissenschaften der OECD), zu einer Fokussierung auf kognitive Kenntnisse und Fertigkeiten innerhalb bestimmter fachlicher Zusammenhänge. Eine primäre Orientierung an solchen Studien und ihren Ergebnissen führt zu einer Ausrichtung an testempirisch fassbaren fachlichen Schülerleistungen als den zentralen Ergebnissen schulischer Arbeit. Weiter gewinnt im Sinne einer Wettbewerbsorientierung die Bildung von Rangfolgen z.B. zwischen Ländern oder Schulformen nach fachlichen Schülerleistungen an Bedeutung. Schließlich sind die Nachwirkungen des gesellschaftlichen Umbruchs von 1989 eine nicht zu unterschätzende Einflussgröße auf die gesellschaftliche Diskussion schulischer Qualitätsentwicklung und Qualitätssicherung. Der Phase der Euphorie über die neu gewonnen Freiheiten und die erweiterten Gestaltungs-

möglichkeiten des Einzelnen in der Gesellschaft und damit auch in der Schule folgt seit einiger Zeit die Phase der Ernüchterung, in der man feststellt, dass trotz aller positiven Seiten des Wandels viele Hoffnungen auf Fortschritt sich nicht in kurzer Zeit erfüllen lassen. Unter diesem Blickwinkel wird auch das Schulsystem in seiner veränderten Struktur gesehen. Dabei ist festzustellen, dass der veränderte Bildungsund Erziehungsauftrag, wie er im Schulgesetz von 1996 definiert wurde, offensichtlich noch nicht in dem Maße Eingang in das Unterrichtsgeschehen gefunden hat, wie das wünschenswert wäre. Bedeutung von Evaluation im Kontext schulischer Qualitätsentwicklung und Qualitätssicherung Evaluation wird verstanden als die Sammlung, Verarbeitung und Interpretation von Informationen über schulische Arbeit. Sie hat das Ziel, zu gesicherten Beschreibungen zu kommen, Bewertung nach klaren Kriterien durchzuführen und Entscheidungen über die weitere Entwicklung der Arbeit zu treffen. Sie ist damit zusammen mit verabredeten pädagogischen Zielen ein zentrales Element von Schulentwicklung und damit der Qualitätsentwicklung und Qualitätssicherung. Evaluation muss, wenn sie wirksam sein soll, ein alltägliches Element der schulischen Arbeit werden. Ziel ist die Entwicklung einer reflektierten Evaluationskultur in den Schulen und ihre Absicherung durch externe Evaluationsmaß-nahmen im Sinne einer Feed-Back-Kultur. Diese Evaluationskultur umfasst die Schulentwicklung in der Klasse und die Schulentwicklung als Entwicklung des Systems.

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Schulische Qualitätsentwicklung und Qualitätssicherung - Erwartungen und Verständnis Alle Initiativen und Maßnahmen zur Entwicklung und Sicherung der Qualität schulischer Arbeit orientieren sich an dem bildungspolitischen Leitziel einer umfassenden Bildung für alle Schülerinnen und Schüler, die sowohl die Vorbereitung der Schülerinnen und Schüler auf die Anforderungen der Berufsausbildung und des Studiums als auch auf das Leben in einer demokratischen Gesellschaft und eine persönlich zufriedenstellende Lebensgestaltung einschließt. „Die Schule trägt als Stätte des Lernens, des Lebens und der Tätigkeit von Kindern und Jugendlichen bei zur Achtung und Verwirklichung der Werteordnung des Grundgesetzes und der Verfassung des Landes Brandenburg und erfüllt die in Artikel 28 der Verfassung des Landes Brandenburg niedergelegten Aufgaben von Erziehung und Bildung.“ (§4 BbgSchulG) Eine besondere, immer wieder neu anzunehmende Herausforderung ist dabei die umfassende Förderung von Schülerinnen und Schülern entsprechend ihrer Leistungsfähigkeit und damit die Förderung von Chancengleichheit und sozialer Integration. Es geht in Unterricht, Erziehung und Schulleben sowohl um die Vermittlung grundlegender fachlicher und überfachlicher Kenntnisse, Fertigkeiten, Fähigkeiten, Werthaltungen und die Förderung lebenslangen Lernens als auch um die Entwicklung einer mündigen und sozial verantwortlichen Persönlichkeit. Schulorganisatorisch geht es um eine Gestaltung der schulischen Arbeitsprozesse bedeutsam, die sich gleichermaßen an den Zielen ei-

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ner hohen Effizienz, einer wirksamen Leitung, der Förderung einer umfassenden Teilhabe aller am Schulleben Beteiligten und einem Verständnis von Lehrerprofessionalität ausrichtet, das eine wirksame Kooperation und ein abgestimmtes Handeln im Sinne der gemeinsamen Erarbeitung und Abstimmung pädagogischer Ziele oder auch Schulprogramme mit der pädagogischen Freiheit und Verantwortung der Lehrkräfte verbindet. Die Stärkung der Schule im Sinne einer Erweiterung der Gestaltungsspielräume und der Selbstverantwortung der einzelnen Schule hat eine bessere Verwirklichung des Bildungs- und Erziehungsauftrags zum Ziel. Die aktive Umsetzung dieser Zielsetzung in der Verabredung pädagogischer Ziele oder durch die Entwicklung von Schulprogrammen, durch Evaluation, Weiterentwicklung des Unterrichts und der Unterrichtsorganisation dient zugleich der konkreten Verbesserung der schulischen Arbeit wie dem Erwerb von Entwicklungs- und Gestaltungskompetenz und damit der Entwicklung der Schule zu einer lernenden Organisation. Die Stärkung der Selbständigkeit der Schule ist Mittel zur Beförderung von Schulqualität, die Umsetzung der damit verbundenen Zielsetzungen ist zugleich ein Merkmal von Schulqualität. Die Erkenntnis über die Bedeutung der einzelnen Schule als pädagogischer Handlungseinheit hat den Blick auf vielfältige Faktoren der inneren Gestaltung der Schule wie pädagogischer Grundkonsens, klare Leistungsorientierung und herausfordernder Unterricht, effektive Zeitnutzung, Zielklarheit, wirksame Führung durch die Schulleitung usw. gerichtet. Auf diese Weise kommen eine Vielzahl von innerschulischen Gestaltungselementen und damit


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eine Vielzahl von Qualitätsmerkmalen im Bereich der Strukturen, Prozesse und Ergebnisse schulischer Arbeit in ihrer entscheidenden Bedeutung für schulische Qualitätsentwicklung und Qualitätssicherung in den Blick. Das entspricht der Erkenntnis, dass über die Qualität der schulischen Arbeit letztlich auf der Ebene der einzelnen Schule entschieden wird und dass sie dazu Gestaltungsspielräume und Handlungsmöglichkeiten benötigt. Der Zusammenhang von größerer Selbständigkeit der einzelnen Schule und eigenverantwortlicher Ausgestaltung vor Ort mit der Gesamtverantwortung des Staates für die Schule erfordert, die Inhalte und Lernziele deutlicher als bisher herauszustellen, die im Hinblick auf die Abschlüsse der Sekundarstufen I und II und ein zwischen den Schulen vergleichbares Ausbildungsniveau unverzichtbar sind. Dies ist als zentrales Ziel bei der Weiterentwicklung der Rahmenpläne zu Rahmenlehrplänen zu berücksichtigen. In der ersten Stufe werden die neuen Rahmenlehrpläne für die Sekundarstufe I bis zum Sommer 2000 erarbeitet und damit eine der wesentlichen Voraussetzungen für kontinuierliche interne Evaluation geschaffen. Zugleich werden damit die Konsequenzen aus der Erfahrung mit der ersten Generation brandenburgischer Rahmenpläne gezogen, die in diesem Punkt offensichtlich nicht genügen Orientierung für die Gestaltung von Lernprozessen enthielten.

Qualitätsentwicklung und Qualitätssicherung als gemeinsame Aufgabe von Schulen, Schulaufsicht, Schulträgern und schulischem Umfeld Qualitätsentwicklung und Qualitätssicherung schulischer Arbeit verbindet die Erfassung, Beschreibung und Bewertung eines erreichten Qualitätsstandes mit dessen Bewahrung und dynamischer Weiterentwicklung. Erfassung und Bewertung, Bewahrung und weiterführende Gestaltung von Schulqualität sind als Einheit zu betrachten. Dabei helfen systematische Verfahren der Sicherung und Entwicklung der Qualität schulischer Arbeit (Qualitätsmanagement). Wie in allen deutschsprachigen Ländern gibt es bereits eine differenzierte Steuerung über die Gestaltung des Inputs von schulischer Arbeit (Qualifizierung der Lehrkräfte, Normierung der Ressourcenverwendung, Richtlinien und Rahmenpläne u.a.). Die staatliche Schulaufsicht hat in starkem Maße Funktionen bei der Umsetzung, Unterstützung und Gewährleistung dieser staatlichen Input-Steuerung. Hinzu kommt eine Steuerung und Qualitätssicherung des Prozesses schulischer Arbeit im wesentlichen durch eine Begleitung schulischer Arbeit durch die Schulaufsicht in ihrer Doppelfunktion von Beratung und Kontrolle (Anleitung der Arbeit der Schulleitungen, Beurteilungen von Lehrkräften, Kontrolle und Genehmigung der Aufgaben von Abschlussprüfungen u.a.). Schwächer ausgeprägt ist demgegenüber eine über die individuelle Bewertung der Schülerleistungen hinausgehende systematische Erfassung und Bewertung des Outputs schulischer Arbeit (vor allem der Leistungen der Schülerinnen und Schüler).

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Die Schulaufsicht bleibt entsprechend ihrer bisherigen Funktion Ausdruck der umfassenden staatlichen Verantwortung für das gesamte Schulwesen. Im Zusammenhang mit der Selbständigkeit der Schulen und sich weiterentwikkelnden gesellschaftlichen Ansprüchen an die Qualität schulischer Arbeit erhält ihr Auftrag eine Neuakzentuierung. Zu ihrem Aufgabenbereich gehört es zukünftig verstärkt, sich durch Beratung und Unterstützung der Qualitätsentwicklung und -sicherung an den einzelnen Schulen anzunehmen. Ihr obliegt es, darüber hinaus die Vergleichbarkeit der Anforderungen und der Arbeitsergebnisse in selbständigeren Schulen landesweit auf einem hohen Qualitätsniveau zu gewährleisten. Es gab und gibt noch kaum Erfahrungen mit systematischen Qualitätsüberprüfungen und Ergebnismessungen durch standardisierte Tests. Hier gilt es Entwicklungsarbeit zu leisten, die durch Projekte wie QuaSUM (Qualitätsuntersuchung an Schulen zum Unterricht in Mathematik) in Brandenburg und PISA (Internationales Programm zur Schulbewertung) und andere nationale und internationale Studien verstärkt in Angriff genommen wurde. Schülerinnen und Schüler und ihre Eltern sind unmittelbar von den Wirkungen schulischer Arbeit betroffen. Sie sind in besonderer Weise geeignet, zuverlässige Rückmeldungen an die Schule zu geben. Ihre stärkere Einbindung in die schulischen Prozesse der Qualitätsentwicklung und Qualitätssicherung ist deshalb von großer Bedeutung. Es ist ein zentrales Anliegen schulischer Qualitätsentwicklung und Qualitätssicherung, die vorhandenen Möglichkeiten der Mitwirkung von Eltern und Schülerinnen und Schülern aktiv auszugestalten. Dar-

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auf muss durch die schulaufsichtliche Beratung systematisch hingewirkt werden. Schulen sind als Einrichtungen der Schulträger Teil der kommunalen Strukturen. Sie nehmen ihre Aufgaben in vielfältiger Vernetzung zu ihrem regionalen Umfeld, gesellschaftlichen Gruppen und anderen Einrichtungen der Schulträger wahr. Die Schulträger sind in hohem Maße an der Qualität der schulischen Arbeit und der Mitgestaltung des pädagogischen Profils ihrer Schulen interessiert. Künftig sollen neben der Schulaufsicht auch die Schulträger in die Berichterstattung der Schulen über die Ergebnisse der Arbeit einbezogen werden. Das soll sie und das regionale Umfeld in den Stand versetzen, aktiver Partner der Schulen bei ihrer Entwicklung zu werden. Eine besondere Bedeutung als Dialogpartner kommt dabei Ausbildungsbetrieben als Abnehmern schulischer Leistungen in regionalen Gesprächskreisen zu.

Weiterentwicklung des Auftrags und der Aufgabenwahrnehmung von Schulleitung Eine der wesentlichen Bedingungen einer wirksamen Qualitätsentwicklung und Qualitätssicherung auf schulischer Ebene ist eine funktionsfähige und wirksame Schulleitung. Neben der Effizienz ihrer Arbeit in ihren verschiedenen Handlungsfeldern ist die Vorbildwirkung der Schulleitung von großer Bedeutung für die Entwicklung eines Qualitätsbewusstseins in den Schulen. Die Schulleiterinnen und Schulleiter sollen deshalb in ihren Kompetenzen gestärkt werden, z.B. durch Übertragung einer Reihe bisher von der Schulaufsicht wahrgenommener Aufgaben.


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Innerschulischer Diskurs über Leistungsanforderungen und Ergebnisse Es ist erforderlich, in allen Schulen zu einem verstärkten innerschulischen Diskurs über Leistungsanforderungen, Beurteilungsmaßstäbe und die Weiterentwicklung des Unterrichts zu kommen. Dieser professionelle Diskurs braucht Anlässe und Maßstäbe. Lehrerinnen und Lehrer sollen auf der Grundlage entsprechender inhaltlicher Absprachen in bestimmten Abständen gemeinsame Arbeiten für mehrere Parallelklassen schreiben. Sie sollen außerdem über wechselseitige Korrekturen und den Austausch von Klassenarbeitssätzen in eine Erörterung ihrer Beurteilungsmaßstäbe eintreten, wie sie an einzelnen Schulen bereits jetzt praktiziert wird. Die Schulaufsicht hat den Auftrag, diesen Prozess in den einzelnen Schulen anzustoßen und zu diesen Fragen einen Austausch zwischen den Schulen zu organisieren. Gemeinsame Arbeiten für mehrere Klassen verschiedener Schulen, die auf entsprechenden inhaltlichen Absprachen basieren, können ein Element des zwischenschulischen Diskurses über Leistungsanforderungen und die Weiterentwicklung des Unterrichts sein. Verdeutlichung der Anspruchshöhe und sachgerechter Beurteilungskriterien durch Aufgabenbeispiele Um die Vergleichbarkeit der Abschlüsse besser zu sichern, werden zukünftig zunächst in den Kernfächern Deutsch, Mathematik und Fremdsprache Aufgabenbeispiele entwickelt, die die jeweils erforderliche Anspruchshöhe und sachgerechte Beurteilungskriterien verdeutlichen.

Dies geschieht in einem gestuften Verfahren. In einem ersten Schritt werden Aufgabenbeispiele für die Fächer Deutsch, Englisch und Mathematik in Klasse 10 im Hinblick auf die Vergabe der Fachoberschulreife erarbeitet. Grundlage dafür sind die bundesweit verabredeten inhaltlichen Anforderungen, wie sie sich in den Rahmenplänen des Landes spiegeln. In nachfolgenden Arbeitsschritten werden beispielhafte Aufgaben für die Anforderungen am Ende der Klasse 6 der Grundschule sowie für weitere Fächer erarbeitet werden. Mit den entsprechenden Arbeiten wird 2001 begonnen. Die herauszugebenden Aufgabenbeispiele sollen ein weiterer Ausgangspunkt des professionellen Diskurses in der einzelnen Schule und zwischen den Schulen über Leistungsanforderungen, Beurteilungsmaßstäbe und die Weiterentwicklung des Unterrichts sein. Sie sollen zur Verwendung in Klassenarbeiten sowie in Parallelarbeiten im Rahmen der Leistungsbewertung dienen. Sie sind aber ebenfalls geeignet für umfassendere Lernstandserhebungen und Unterrichtsdiagnosen außerhalb der Leistungsbewertung. Schließlich werden die Abschlussprüfungen am Ende der Sekundarstufe I und die Abiturprüfung zukünftig den äußeren Rahmen für die Absicherung vergleichbarer Standards der unterschiedlichen Bildungsgänge abgeben. Externe Evaluation durch Schulaufsicht oder Dritte Externe Evaluation bedeutet die Sammlung, Verarbeitung und Interpretation von Informationen über schulische Arbeit durch nicht direkt zur Schule gehörende Personen und Institutionen (Schulaufsicht, andere Schulen, externe Dritte, Wissenschaftler u.a.m.).

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Dabei ist entsprechend dem Grundsatz der Orientierung an der Stärkung von Qualitätsentwicklung und Qualitätssicherung durch die einzelne Schule selbst vorrangig und regelmäßig die mit den Schulen abgesprochene Überprüfung schulinterner Evaluation im Hinblick auf Konzepte, Verfahren und Ergebnisse notwendig. Eine solche mit den Schulen abgesprochene regelmäßige Überprüfung der schulinternen Evaluation wird als Instrument schulaufsichtlicher Beratung entwickelt, erprobt und soll bis zum Schuljahr 2001/2002 systematisch eingeführt werden. Ergänzt wird eine solche Überprüfung durch gelegentlich vereinbarte themenbezogene, d.h. auf eingegrenzte Fragestellungen bezogene Evaluationen, die sowohl der Förderung schulischer Entwicklung als auch der Gewinnung von Steuerungswissen dienen. Schließlich können bei besonderen Anlässen (z.B. Kriseninterventionen) als Ausnahme umfassendere Schulinspektionen hinzukommen.

Regelmäßige Auswertung vorhandener Schuldaten im Hinblick auf Indikatoren für Schulqualität Es fallen regelmäßig eine Vielzahl von schulischen Daten insbesondere im Bereich der Amtlichen Schuldaten an, die als Qualitätsindikatoren herangezogen werden können (Abschlussquoten, Schülerverbleib, externe Abschlussprüfung im berufsbildenden Bereich). Es ist beabsichtigt, auch diesen Aspekt in die Entwicklung eines Gesamtkonzepts konkretisierten und systematisierten schulaufsichtlichen Handelns einzubeziehen, diese Daten zunächst zu identifizieren und dann ein Auswertungsverfahren zu entwickeln. Auf der Grundlage einer zentralen Auswertung durch das MBJS soll die Schulaufsicht Auswertungen im Hinblick auf einzelne Schulen vornehmen und zum Ausgangspunkt von Gesprächen mit den Schulen auf dem Hintergrund regionaler und lokaler Trends machen. Mit dieser Maßnahme wird zunächst eine größere Transparenz über zentrale Schuldaten erreicht und eine Grundlage für Gespräche der Schulaufsicht mit den Schulen über die schulische Arbeit geschaffen, die Ausgangspunkt von Vereinbarungen und schulinternen Arbeitsprozessen sein können.

Bodo Richard ist Abteilungsleiter „Schulaufsicht“ im Ministerium für Bildung, Jugend und Sport des Landes Brandenburg.

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DOKUMENTATION

SOZIALE GERECHTIGKEIT IM 21. JAHRHUNDERT Positionspapier der Zukunftskommission I Die Kommission „Soziale Gerechtigkeit und Moderne“ hat den Auftrag erhalten, ein Thesenpapier zur „sozialen Gerechtigkeit in einer sich globalisierenden Wirtschaft“ zu erarbeiten. Im Zentrum der Diskussion standen Ansätze für eine aktivierende Sozial- und Arbeitsmarktpolitik sowie die Auseinandersetzung über zukünftige Finanzierungsmodelle sozialer Sicherungssysteme. Aber auch Anforderungen an bürgerschaftliches Engagement und zivilgesellschaftliche Strukturen sind Gegenstand der Erörterung. Aus dem Auftrag an die Kommission ergibt sich, dass unter Berücksichtigung des vorgegebenen Umfangs (etwa fünf Seiten) spezifische und detaillierte Aussagen zu Brandenburg kaum möglich sind. Die Kommission ist jedoch der Auffassung, dass viele der anstehenden Probleme den ostdeutschen Bundesländern gemeinsam sind und dass Lösungen in vielen Fällen ohnehin auf Bundesebene zu finden sind. Zentrale Forderungen der brandenburgischen SPD sind: 1. Die Einkommensangleichung bis zum Jahr 2009 Die fehlende Angleichung der Einkommen in Ostdeutschland wird von der Bevölkerung als besondere Benachteiligung empfunden. Spätestens bis zum Jahr 2009 muss die Anglei-

chung an das westdeutsche Niveau schrittweise erreicht sein. 2. Schaffung von Arbeit Durch gezielte Bildungs- und Qualifizierungsoffensiven, die Ausweitung von Teilzeitbeschäftigung und die Förderung von Existenzgründungen sollen die individuellen Zugangsvoraussetzungen für den ersten Arbeitsmarkt erhöht und neue Arbeitsplätze geschaffen werden. Zwischen den Einkommen von regulär Beschäftigten und den Empfängern von Transferzahlungen muss ein hinreichender Einkommensabstand bestehen, um die Aufnahme von Beschäftigung attraktiv zu machen. 3. Die armutsfeste und auf Dauer angelegte Reformierung des Rentensystems Dieses sollte auf den drei Säulen Gesetzliche Rentenversicherung, betrieblicher Alterssicherung und privater Vorsorge basieren. 4. Die Förderung von Vermögensbildung speziell für Ostdeutschland Private Vermögen helfen, soziale Unsicherheiten abzufedern. Die Bildung von privaten Vermögen – insbesondere Wohneigentum - muss gezielt gefördert werden. Hierzu sind eigenständige Programme für Ostdeutschland zu entwickeln.

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5. Gesundheitspolitik Eine Gesundheitspolitik, die den Patienten die notwendige medizinische Versorgung sichert, ohne die Beitragszahler zu stark zu belasten. Die Sozialmauer Ost-West muss fallen. 6. Politik für Kinder. Eine kinderfreundliche Politik muss so ausgerichtet sein, dass Kinder eine gesicherte Zukunft haben. Soziale Gerechtigkeit in einer sich globalisierenden Gesellschaft 1. Freiheit, Gleichheit und Solidarität sind zeitlose sozialdemokratische Grundwerte. Freiheit ist nicht die neoliberal verkürzte Wahlfreiheit des Konsumenten, sondern die Chance zur Entfaltung der individuellen Fähigkeiten eines jeden einzelnen und zur Gestaltung der Gesellschaft. Freiheit ist aber auch das Freisein von entwürdigenden Abhängigkeiten und von Not. In Not Geratene bedürfen der Solidarität, des gemeinsamen Handelns anderer, um ihre Notlage zu überwinden. Erst dann wird gesellschaftliche Teilhabe möglich. Die Wahrnehmung individueller Chancen setzt aber auch ein Mindestmaß an Gleichheit der Lebensbedingungen voraus. Ohne wohlverstandene Freiheit, Gleichheit und Solidarität ist Gerechtigkeit nicht denkbar. Soziale Gerechtigkeit in einer sich globalisierenden Wirtschaft bedeutet nach wie vor Chancengleichheit, sozialer Ausgleich und Hilfe für diejenigen, die sich nicht selbst helfen können. 2. Die Lebensbedingungen in Ostdeutschland sind von den Folgen der Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion geprägt, deren Ziel

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die zügige Schaffung gleicher Lebensverhältnisse in Ost- und Westdeutschland war. Gerade im Vergleich zu anderen östlichen Transformationsgesellschaften sind die Erfolge dieser Politik unübersehbar. Allerdings ist eine umfassende Angleichung der Lebensverhältnisse auch zehn Jahre nach der deutsch-deutschen Vereinigung nicht gelungen; die erstrebte Angleichung blieb unvollständig: ■ Die Arbeitslosenquote in den neuen Bundesländern ist doppelt so hoch wie in den alten, ■ Das durchschnittlichen Pro-Kopf-Einkommen beträgt nur gut 70% der westdeutschen, ■ Das durchschnittliche Pro-Kopf-Vermögen in Ostdeutschland beläuft sich auf etwa 1/4 der westdeutschen, ■ Nur 6% des Produktivvermögens in den neuen Bundesländern gehört ostdeutschen Eigentümern, ■ Die Wirtschaftsstruktur in Ostdeutschland zeichnet sich vor allem durch das Fehlen einer tragfähigen industriellen Basis aus, ■ Ostdeutschland ist und bleibt auch in den nächsten Jahren von westdeutschen Transfers abhängig. 3. Vor diesem Hintergrund beteiligen sich Brandenburgs Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten am Diskurs der europäischen Sozialdemokratie über soziale Gerechtigkeit in der sich globalisierenden Gesellschaft des 21. Jahrhunderts. Der Prozess der Globalisierung von Information, Ökonomie, Handel und Kapitalverkehr bietet große Chancen für Fortschritt und Entwicklung. Er birgt aber auch Risiken: Teile der internationalen Wirtschafts-


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und Finanzbeziehungen sind nationalstaatlichen Einflussmöglichkeiten entzogen, wodurch sich die Machtverhältnisse zwischen Staat und Ökonomie verschieben. Es entsteht z.B. die Möglichkeit eines Steuersenkungswettlaufs, der die nationalstaatliche Finanzbasis bedroht. Die Liberalisierung der Finanzmärkte begünstigt Spekulationen in großem Stil, die zu Krisen ganzer Regionen führen können. Hier gilt es das Primat der Politik durch international abgestimmte Regulierungen sicherzustellen. Die Europäische Union spielt in diesem Zusammenhang eine bedeutende Rolle, vor allem, wenn sie sich zukünftig stärker als bisher an den Grundsätzen der Bürgernähe, Subsidiarität, Demokratie und des sozialen Ausgleichs orientiert. Dazu ist das Europäische Parlament zu stärken, und die unverzügliche Verwirklichung der europäischen Sozialunion ist das Gebot der Stunde. Der Ruf nach immer mehr Markt bei Tendenz zum Minimalstaat ist ein Irrweg. Aber auch ein allzuständiger Staat wird den Bedürfnissen der Menschen nicht gerecht. Für Sozialdemokraten ist eine gerechte Gesellschaft eine, die allen Menschen die Teilhabe an den Lebensmöglichkeiten der Gesellschaft gewährleistet. Dazu gehört ein ausgewogenes Verhältnis öffentlicher und privater Daseinsvorsorge. Soziale Gerechtigkeit hat auch eine persönliche Komponente. Aktive Sozialpolitik ist darauf angewiesen, die Leistungen bedarfsgerecht und zielgenau zu erbringen. Ansprüche auf Sozialtransfers beinhalten auch Pflichten. An die Gewährung der Leistungen sind daher entsprechende Anforderungen zu knüpfen (Bereitschaft zur Arbeit und Qualifizierung), denn Solidarität ist keine Einbahnstraße.

4. Die Beschäftigungs- und Wirtschaftsentwicklung ist innerhalb Ostdeutschlands regional unterschiedlich. Um die industriellen Zentren ist in Ostdeutschland eine hochmoderne Dienstleistungsstruktur entstanden, die ein qualifiziertes Arbeitskräfteangebot benötigt. In den entfernten Bereichen ist die (agro-) industrielle Basis zusammengebrochen und neue Beschäftigungsfelder konnten unter Marktbedingungen nur ansatzweise geschaffen werden. Staatliche und staatlich finanzierte Versorgungs- und Dienstleistungseinrichtungen sind hier die wesentlichen Beschäftigungsträger. Das hat direkt Auswirkung auf die Lebensverhältnisse in den einzelnen Regionen. Gibt es in wirtschaftlich starken Regionen ein mit Westdeutschland vergleichbares Wohlstandsniveau, so bieten strukturschwache Gebiete wie auch in Brandenburg nur eingeschränkte Beschäftigungs- und Lebensperspektiven. Gerade hier ist der Staat zur Krisenintervention beim Erhalt grundlegender Wirtschaftsstrukturen verpflichtet. 5. Sozialdemokratische Politik hat in Ostdeutschland die wesentliche Aufgabe, die infrastrukturellen Voraussetzungen für ein gleichmäßiges und territorial umfassendes Arbeitsplätzeangebot zu schaffen und dort, wo dies auf absehbare Zeit nicht realisierbar ist, den Menschen staatliche Hilfsangebote bei der Arbeitsplatzsuche und Qualifizierung zu unterbreiten. 6. Auch wenn die Angleichung der Lebensverhältnisse an das westdeutsche Niveau in Ostdeutschland weit fortgeschritten ist, so ist sie doch in noch zu hohem Maße unvollständig geblieben. Dies betrifft insbesondere

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die Beteiligung am Erwerbsleben. Daher sind für das Zustandekommen sozialer Gerechtigkeit in den neuen Bundesländern die Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit, die Schaffung neuer Arbeitsplätze, die Verbesserung der Zugänge in das Erwerbsleben und eine umfassende soziale Sicherung wesentlich. Soziale Gerechtigkeit stellt derzeit vor allem eine Herausforderung für die Arbeitsmarkt-, Beschäftigungs-, Bildungs- und Sozialpolitik dar.

bination von nachfrage- und angebotsorientierten Maßnahmen auf nachhaltiges Wachstum zielt, unverzichtbar. Neben der Entwicklung der industriellen Kerne kommt der Förderung innovativer Technologien hier eine besondere Bedeutung zu. Kleine und mittlere Unternehmen sowie Existenzgründungen sollen insbesondere auch wegen ihres Beitrags zur Stabilisierung von Beschäftigung besonders unterstützt werden.

Die zukünftige Finanzierung der sozialen Gerechtigkeit

8.2 Da Automatisierung und Rationalisierung auch weiterhin zu einer Reduzierung des Arbeitsvolumens führen werden, ist eine umfassende Politik der Arbeitsumverteilung nötig, die alle zur Verfügung stehenden Instrumente berücksichtigt: Arbeitszeitverkürzung (der Lebens-, Jahres-, Wochenarbeitszeit), Teilzeitarbeit einschließlich Altersteilzeit und Teilzeit statt Entlassung, Umwandlung von Schicht-, Nachtarbeits- und Wochenendzuschlägen in Freizeit, Abbau von Überstunden, Möglichkeit von erwerbsarbeitsfreien Familienphasen und Sabbatjahre, Verknüpfung von Arbeit und Weiterbildung (z. B. Job-Rotation). Bei der Ausgestaltung der verschiedenen Formen der Arbeitsumverteilung kommt es jeweils darauf an, dass eine nicht diskriminierende arbeits- und sozialrechtliche Regulierung erfolgt.

7. Bereits vor der Wiedervereinigung wurde in Westdeutschland deutlich, dass die bestehenden Systeme zur Gewährleistung von sozialer Gerechtigkeit grundlegend reformbedürftig waren, weil sie den zukünftigen Herausforderungen in unveränderter Form nicht mehr gerecht wurden. Die inzwischen vielfältig veränderten Rahmenbedingungen haben diese Notwendigkeit noch massiv verstärkt. Der notwendige Umbau des Sozialstaats muss davon ausgehen, dass nur ein Sozialstaat, der breite Bevölkerungskreise umfasst, die notwendige Legitimations- und Finanzierungsbasis erhält, um sozialen Sicherungsbedarf wirklich entsprechen zu können. Die Reduktion von Sozialpolitik auf Armenhilfe ist kein sozialdemokratisches Rezept; sozialdemokratische Sozialpolitik wirkt präventiv. Das gilt im besonderen Maße für eine Politik, die verhindern muss, dass Kinder zum Armutsrisiko werden. 8. Beschäftigungspolitik ist die beste Sozialpolitik. 8.1 Gerade in Ostdeutschland ist eine Wirtschaftspolitik, die durch sinnvolle Kom-

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8.3 Absehbar bleibt aber auch eine aktive Arbeitsmarktpolitik unabdingbar. Zum einen geht es um Angebote zur Integration am Arbeitsmarkt benachteiligter Zielgruppen wie Jugendliche, Langzeitarbeitslose, Alleinerziehende, Behinderte und gesundheitlich beeinträchtigte Arbeitnehmer, Berufsrückkehrer/innen sowie ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Zum anderen sollen entsprechend


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der Devise, Arbeit statt Arbeitslosigkeit finanzieren, auch zukünftig alle Möglichkeiten zur Schaffung zusätzlicher Arbeit genutzt werden (ABM, SAM, Arbeit statt Sozialhilfe, Existenzgründungen aus Arbeitslosigkeit). Die Sicherung der beruflichen Erstausbildung genießt absolute Priorität. Die Chancengleichheit von Frauen ist verbindlich zu wahren. 8.4 Eine Frage der Gerechtigkeit ist es auch, die Lasten dieses Prozesses entsprechend der jeweiligen Leistungsmöglichkeit von Bürgern und Unternehmen zu verteilen. Private und betriebliche Vermögen sollten durch geeignete steuerliche Vorschriften in eine auf mehr Beschäftigung zielende Politik einbezogen werden. Im Hinblick auf die Unternehmensbesteuerung muss Steuerpolitik darauf gerichtet sein, günstige Bedingungen für arbeitsplatzschaffende Investitionen im Inland zu schaffen. Ziel muss auch sein, die nur von wenigen nutzbaren Ausnahmetatbestände des Steuerrechts zurückzuführen und die so frei werdenden Mittel zur Erhöhung von Freibeträgen und zur Senkung von Steuersätzen insbesondere im Eingangsbereich der Besteuerung einzusetzen. Dies schafft mehr Steuergerechtigkeit und ist zugleich wesentliche Voraussetzung dafür, dass die gesellschaftliche Akzeptanz des Steuersystems erhalten bleiben und gestärkt werden kann. Reformen für eine aktivierende Sozial- und Arbeitsmarktpolitik 9. Soziale Sicherung wird künftig stärker als heute auf mehreren Säulen aufbauen. Neben den Sozialversicherungen, die die wichtigste Säule des Systems sozialer Sicherung

bleiben, müssen die Unternehmen ihrer Verantwortung für eine betriebliche Vorsorge gerecht werden. Schließlich muss auch die private Vorsorge zu einer eigenständigen Säule der sozialen Sicherung entwickelt werden. Die Bezieher niedriger Einkommen sind durch staatliche Förderung in die Lage zu versetzen, entsprechende Vorsorgemaßnahmen ergreifen zu können. 10. Das Alterssicherungssystem muss unter Einbeziehung einer sozialen Grundsicherung armutsfest weiter entwickelt werden. Die ausschließliche Anknüpfung an das Normalarbeitsverhältnis erscheint angesichts des Wandels in der Arbeits- und Wirtschaftswelt nicht mehr zukunftsfähig. Die Rentenversicherung sollte daher zu einer Versicherung für alle ausgeweitet werden, die ein angemessenes Grundversorgungsniveau für alle gewährleistet. Sie ist durch betriebliche und private Altersvorsorge zu ergänzen. 11. Die gesetzliche Krankenversicherung ist so zu reformieren, dass sie ihren solidarischen Charakter nicht verliert. Die Aufrechterhaltung und der Ausbau der medizinischen Versorgung in Ostdeutschland erfordert darüber hinaus die schrittweise Einführung eines gesamtdeutschen Risikostrukturausgleichs, die Aufhebung der getrennten Rechtskreise zwischen Ost- und Westdeutschland und die Entschuldung der ostdeutschen Krankenkassen. 12. Arbeit statt Arbeitslosigkeit zu finanzieren ist die Leitmaxime einer modernen Arbeitsmarktpolitik. Lohnersatzleistungen der Bundesanstalt für Arbeit bzw. Leistungen zum Lebensunterhalt der Sozialämter sollen so um-

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fänglich wie möglich für die Finanzierung von Arbeit aktiviert werden. Die Reglungen zur Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe sollen überprüft werden, um ein aufeinander abgestimmtes System der steuerfinanzierten Leistungen zum Lebensunterhalt zu schaffen. 13. Angesichts der erheblichen Ungleichverteilung des Vermögens bedarf es tarifpolitischer Initiativen und verbesserter gesetzlicher Rahmenbedingungen, um die Möglichkeiten zur Vermögensbildung breiter Bevölkerungskreise zu erhöhen. Das gilt insbesondere hinsichtlich der Beteiligung der Arbeitnehmer am Produktivvermögen. Dessen ungeheure Konzentration verlangt aber auch eine Reform der Arbeitnehmermitbestimmung, die die Verfügungsmacht der Unternehmer wirkungsvoll kontrolliert und beschränkt. Zur Überwindung des Rückstandes der Ostdeutschen bei der Beteiligung am Haus- und Grundvermögen schlagen wir eine spezielle Förderung des privaten und genossenschaftlichen Wohneigentums in Ostdeutschland vor. 14. Angesichts der bestehenden Möglichkeiten der privaten Ansammlung von Geld und der daraus resultierenden Vererbung großer Vermögen müssen Anreize dafür geschaffen werden, dieses private Geld sozialen und kulturellen Strukturen zur Verfügung zu stellen. Dies sollte unter anderem steuerlich privilegiert werden. Die bestehenden Möglichkeiten zur Schaffung und Weiterentwicklung von entsprechenden Stiftungen sind daher zu verbessern.

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Zivilgesellschaftliche Strukturen 15. Bürgerschaftliches Engagement setzt die aktive Einbindung der Bürger in politisches Handeln voraus. Diese muss organisiert werden. Zivilgesellschaftliche Strukturen sind hierfür eine notwendige Voraussetzung. Der Staat ist darauf angewiesen, Strukturen gesellschaftlichen Engagements anzuregen und zu unterstützen. Zivilgesellschaftliche Strukturen erfordern eine ausreichende Absicherung, hierfür ist die Entwicklung eines eigenständigen Beschäftigungssektors nachdrücklich zu unterstützen. Dabei geht es um die Entstehung eines dritten Sektors selbstorganisierter, gemeinnütziger Beschäftigung jenseits von Markt und Staat. Bürgerschaftliches Engagement, zivilgesellschaftliche Strukturen und der hiermit einhergehende neue Beschäftigungssektor stehen deshalb in einem engen Zusammenhang. Es ist anzustreben, dass sich dieser Bereich auf Dauer selbst trägt. Die Inanspruchnahme sozialer Dienstleistungen benötigt ein angemessenes Entgelt, das es ermöglicht, Arbeitnehmer in diesem Segment zu entlohnen. Das entsprechende politische Bewusstsein dazu muss erzeugt werden. 16. Kommunalpolitik muss dies aktiv fördern durch politische Ermutigung, durch Moderation und durch die Bereitstellung von Sachmitteln sowie finanzieller Ressourcen. Zur Förderung des kommunalen Interesses an einer zielorientierten Beschäftigungspolitik ist die Verantwortung für die Beschäftigung im sozialen und kulturellen Bereich bei den Kommunen zu bündeln.


DOKUMENTATION

ZUKUNFTSREGION BRANDENBURG Positionspapier der Zukunftskommission II 1. Die Funktion der Hauptstadtregion offensiv annehmen Das Land Brandenburg ist durch die Verlagerung der Hauptstadtfunktion nach Berlin von einer geographischen Randlage in das Zentrum der bundesdeutschen Politik und des größer werdenden Europa gerückt. Brandenburg ist zur Hauptstadtregion geworden. Dies wird in den kommenden Jahren zu einer größeren, auch internationaleren Aufmerksamkeit für unser Bundesland führen. Die wachsende Aufmerksamkeit bietet große Chancen, die wir nur nutzen können, wenn wir unsere Rolle als Hauptstadtregion annehmen. Insbesondere müssen wir unsere Möglichkeiten nutzen, auf die Bundespolitik stärkeren Einfluss zu nehmen. Die Nähe zu Berlin ist für Brandenburg auch ökonomisch von Bedeutung, da Berlin ein attraktives und räumlich gut erreichbares Absatzpotential für landwirtschaftliche und andere Produkte aus Brandenburg bietet. Brandenburg muss die Chancen der Umlandfunktion konsequent ergreifen. Mit dem anstehenden Beitritt Polens und weiterer osteuropäischer Länder zur EU wird sich auch die gegenwärtige Randlage Brandenburgs

innerhalb Europas ändern. Brandenburg hat die Chance, eine Scharnierfunktion zwischen den west- und osteuropäischen Märkten zu übernehmen. Hauptstadtregion bedeutet auch, dass zunehmend mehr Menschen aus der Metropole und anderen Bundesländern vornehmlich in den engeren Verflechtungsraum ziehen werden. Andere Berlinerinnen und Berliner suchen in Brandenburg Erholung. Brandenburg wird aber auch für viele deutsche und ausländische Unternehmen, die aus unterschiedlichen Gründen einen Produktionsstandort oder eine Repräsentanz in der Nähe der Bundeshauptstadt suchen, attraktiv. Brandenburg hat die Chance, ein Tourismusland zu werden. Mit seinem Reichtum an Wasser und Wald, mit weithin intakten Dorfstrukturen, mit einer kulturellen Vielfalt in Museen, Schlössern und Herrensitzen sowie der Nähe zur Bundeshauptstadt besitzt es sehr gute Voraussetzungen für ein qualitatives und quantitatives Tourismuswachstum. Um die bei weitem noch nicht ausgeschöpften Potenziale des Tourismus in Brandenburg zu nutzen, muss an den Schwachstellen angesetzt werden. So ist Brandenburg als Reiseland weniger bekannt als

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ZUKUNFTSREGION BRANDENBURG Positionspapier der Zukunftskommission II

andere Länder, es fehlen Jahreszeit-unabhängige touristische Angebote und das äußerlich wahrnehmbare Bild der touristischen Infrastruktur entspricht noch nicht den Standards in anderen Regionen Deutschlands. Auch Intoleranz gegenüber Fremden und die zum Teil noch nicht genug ausgeprägte Servicementalität halten potenzielle Gäste von einem Besuch in Brandenburg ab. 2. Wanderungsbewegungen und demographische Veränderungen Brandenburg wird in den kommenden Jahren und Jahrzehnten einen dramatischen Wandel seiner Bevölkerungsstruktur erleben. Nach den Bevölkerungsprognosen werden im Jahre 2005 2671.000 Menschen in Brandenburg leben, das sind 78.000 Einwohner mehr als noch 1998. Diese Zahl wird bis zum Jahr 2015 wieder auf 2.625.300 Einwohner sinken. Richtig dramatisch werden diese Prognosen aber erst dadurch, dass die Veränderung der Einwohnerzahl regional sehr unterschiedlich verläuft und mit einer ebenfalls deutlich veränderten demographischen Struktur der Bevölkerung einhergeht. Während etwa für den Kreis Potsdam-Mittelmark ein Bevölkerungswachstum von 199.100 (1998) über 230.500 (2005) auf 246.100 (2015) prognostiziert wird, verringert sich die Einwohnerzahl im Kreis Uckermark von 156.200 (1998) über 145.600 (2005) auf 129.300 (2015). Alleine die Einwohnerzahl der Stadt Schwedt wird sich im Prognosezeitraum von 44.500 (1998) über 37.000 (2005) auf 30.400 (2015) verringern. Die demographische Entwicklung in Brandenburg im Prognosezeitraum spiegelt den allgemeinen angenommenen „Alterungsprozess“ der deutschen Bevölke-

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rung, der aber wiederum regional unterschiedlich verläuft: Der Anteil der Brandenburger, die älter als 65 Jahre sind, steigt von 14,3% (1998) über 18,5% (2005) auf 20,6% (2015). Die regionalen Unterschiede lassen sich wieder im Vergleich der Kreise Potsdam-Mittelmark und Uckermark zeigen: Während in PotsdamMittelmark die Zahl der 65 Jahre und älteren Bürger von 13,8% (1998) über 16,2% (2005) auf 18% (2015) steigt, wächst er in der Uckermark von 13,8% (1998) über 19,3% (2005) auf 22% (2015) an. Besonders dramatisch ist die Entwicklung wiederum in der Stadt Schwedt: Der Anteil der 65 Jahre und älteren Bürger steigt von 10% (1998) über 18,1% (2005) auf 26,6% (2015). Grundsätzlich ist zu konstatieren, dass die Bevölkerungszahl im engeren Verflechtungsraum entsprechend der Bevölkerungsprognosen bis zum Jahr 2005 deutlich ansteigen wird. Dieser Anstieg wird auch bis zum Jahr 2015 - wenn auch verlangsamt - anhalten. In den Regionen des äußeren Entwicklungsraumes - mit Ausnahme des Kreises Spree-Neiße - und den kreisfreien Städten - mit Ausnahme der Landeshauptstadt Potsdam - wird im selben Zeitraum ein drastischer Bevölkerungsrückgang zu verzeichnen sein. Im Prognosezeitraum wird sich die brandenburgische Alterspyramide dramatisch verändern. Der „Alterungsprozess“ wird in den Regionen, die durch starken Bevölkerungsrückgang gekennzeichnet sind, schneller verlaufen als im engeren Verflechtungsraum. Gleichzeitig wird die Zahl der schulpflichtigen Kinder drastisch zurückgehen. Diese Veränderungen in der regionalen Bevölkerungsstruktur und der demographischen Zu-


ZUKUNFTSREGION BRANDENBURG Positionspapier der Zukunftskommission II

sammensetzung werden unmittelbar erhebliche Konsequenzen haben: ■ In den Regionen, die in den kommenden Jahren massiv vom Zuzug aus Berlin und anderen Bundesländern profitieren, wird es einen erheblichen Investitionsbedarf im Bereich öffentlicher Infrastruktur geben. ■ Im ganzen Land werden viele Schulen und Kindereinrichtungen geschlossen werden müssen. Insbesondere im ländlichen Raum werden den schulpflichtigen Kindern längere Anfahrtswege zu den Schulen zugemutet werden müssen. In vielen kleineren Dörfern wird es nicht mehr möglich sein, Kindertagesstätten aufrecht zu erhalten. ■ Der Bevölkerungsrückgang in vielen Regionen wird die finanzielle Selbständigkeit der betroffenen Kommunen und Kreise gefährden. ■ Die deutliche Zunahme der über 65 Jahre alten Bürgerinnen und Bürger wird dazu führen, dass die nachgefragten Sozial- und Betreuungsdienste für diesen Personenkreis stark zunehmen werden. Gleichzeitig wird auch der Bedarf an altersgerechtem Wohnraum deutlich steigen. Schwieriger zu prognostizieren ist, welche gesellschaftlichen und mentalen Folgen die unterschiedlichen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklungen der einzelnen Regionen Brandenburgs haben werden. Es ist denkbar, dass in den Wachstumsregionen des engeren Verflechtungsraumes eine Bevölkerungsschicht bestimmend wird, die – materiell relativ gut abgesichert – in ihrer Erwerbs-,

Wert-, Freizeit- und Kulturorientierung stark auf Berlin fixiert ist. Eine denkbare Gefahr ist, dass diese Bevölkerungsschicht die Brandenburger in den Regionen des äußeren Entwicklungsraumes Verflechtungsraumes als „Kostgänger“ betrachtet. In den Regionen des äußeren Verflechtungsraumes besteht die Gefahr, dass sich ein Gefühl des „Abgehängtseins“ herausbildet, das zur Lähmung bzw. Schwächung der vorhanden Potenziale beitragen kann. Denkbar ist aber auch, dass ein „Eigensinn“ gestärkt wird, der die Unterschiede akzeptieren und die vorhandenen Potenziale konsequent ausnutzen lässt. 3. Den Wandel der Region gestalten Prognosen zeigen Entwicklungstrends unter nicht veränderten Bedingungen auf. Sie sollen Entscheidungshilfen für Politik sein. Aufgabe von Politik ist es, Rahmenbedingungen so zu setzen, dass gewollte Veränderungen herbeigeführt werden bzw. nicht gewollte Veränderungen verhindert werden. Angesichts der prognostizierten demographischen und wanderungsbedingten Veränderungen ist die Frage zu stellen, ob die brandenburgische Politik diese Veränderung will. Wenn nicht, ist die Frage zu stellen, ob sie die Möglichkeiten hat, die prognostizierte Entwicklung in eine andere Richtung zu lenken. Wenn sie keine oder nur unzureichende Möglichkeiten hat, die Entwicklung zu beeinflussen, ist die Frage zu beantworten, welche Möglichkeiten sie hat, negative Begleiterscheinungen der Entwicklung zu verhindern bzw. zu mildern. Politik in Brandenburg muss unter den Bedingungen knapper werdender finanzieller Mittel

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ZUKUNFTSREGION BRANDENBURG Positionspapier der Zukunftskommission II

die Voraussetzungen dafür schaffen, dass die Chancen der Region genutzt werden und der Wandel gestaltet wird: ■ Der Zuzug nach Brandenburg ist eine große Chance für unsere Region und erfordert besondere Anstrengungen bei der Verbesserung der Infrastruktur. ■ Das gemeinsam mit Berlin umgesetzte Regionalbahnkonzept schafft erfolgreich Mobilitätsalternativen zum Individualverkehr. Dieses Netz ist auch vor dem Hintergrund des Zuzuges nach Brandenburg weiter zu qualifizieren. ■ Der Ausbau der Infrastruktur ist entscheidende Voraussetzung für wirtschaftliche Entwicklung. Von besonderer Bedeutung ist ein schneller Anschluss an das Brandenburger Autobahnnetz. ■ Die Verkehrsverbindungen zwischen den Mittel- und Oberzentren müssen verbessert werden. ■ Stabilisierung und Entwicklung der industriellen Kerne und der nach der Wende neu entstandenen Wirtschaftsstandorte. Brandenburg muss insbesondere sein Profil als Medienstandort und als Zentrum der Verkehrs-, Komunikations- und Biotechnologie und der Mikroelektronik schärfen. Zur Reindustrialisierung auch als Voraussetzung für die Entwicklung von Dienstleistungen gibt es keine Alternative, da in Brandenburg insbesondere unternehmensbezogene Dienstleistung fehlen. ■ Unterstützung beim Wandel von der Industrie- zur Dienstleistungsstruktur. Dazu ge-

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hört u.a. die genaue Definition der spezifischen Entwicklungschancen einzelner Regionen und eine gezielte Unterstützung bei der Fort- und Weiterbildung und dem Regionalmarketing. Ziel ist die Entwicklung einer Dienstleistungskultur, die insbesondere dem wachsenden Bedarf bei personenbezogenen Dienstleistungen Rechnung trägt. ■ Weitere rasche Professionalisierung und Entbürokratisierung aller Entscheidungsabläufe, die im Zusammenhang mit Ansiedlungsbegehren und Standortmarketing stehen. ■ Der Ausbau der grenz- und länderübergreifenden Kooperation und Infrastruktur. Insbesondere für einen erfolgreichen Strukturwandel der Lausitz ist es notwendig, die Zusammenarbeit mit Sachsen zu verstärken.

3.1 Politik der Dezentralen Konzentration fortsetzen, bessere Verkehrsverbindungen schaffen Der für den Zeitraum bis zum Jahre 2015 prognostizierte Zuzug, die Wanderungsbewegungen innerhalb des Landes und die gleichzeitigen demographischen Veränderungen sind durch die Politik des Landes Brandenburg nur noch sehr begrenzt beeinflussbar. Der Zuzug Zehntausender von Berliner und Bürger anderer Bundesländer vornehmlich in den engeren Verflechtungsraum ist für Brandenburg eine große Chance. Die Abwanderung jüngerer Bürger aus den Regionen des äuße-


ZUKUNFTSREGION BRANDENBURG Positionspapier der Zukunftskommission II

ren Entwicklungsraumes kann durch eine aktive und erfolgreiche Ansiedelungs- und Wirtschaftspolitik gedämpft werden. Die Politik der Dezentralen Konzentration, also die Stabilisierung der regionalen Entwicklungszentren, ist dazu ohne Alternative. Die Förderinstrumentarien für die Ansiedelungspolitik und die Unternehmenssicherung müssen im Rahmen der vorhandenen Finanzmittel aufrecht erhalten werden. Die Abwanderung von Bürgern aus dem äußeren in den engeren Entwicklungsraum aus Erwerbsgründen kann aber auch dadurch verlangsamt werden, dass bessere und schnellere Verkehrsverbindungen geschaffen werden.

3.2 Gemeindegebietsreform vorantreiben, kommunalen Finanzausgleich schaffen, Zentren stärken Um die Leistungsfähigkeit der Kommunen in den Regionen zu stärken, die von einem starken Bevölkerungsrückgang betroffen sind, muss zügig eine Gemeindegebietsreform umgesetzt werden, die dauerhaft leistungsstarke kommunale Gebietskörperschaften schafft. Für die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse in den einzelnen Regionen des Landes ist es unabdingbar – analog zum Länderfinanzausgleich – ein kommunales Finanzausgleichsgesetz zu schaffen. Um die Leistungsfähigkeit der kreisfreien Städte, aber auch einiger weiterer Zentren aufrecht zu erhalten, ist eine Entscheidung notwendig, ob umliegende Kommunen in diese Städte eingemeindet werden oder die umliegende Kreise im Rahmen eines speziellen Finanzaus-

gleiches an der Aufrechterhaltung der sozialen, kulturellen und verkehrlichen Infrastruktur beteiligt werden, die auch von ihren Bürgern in Anspruch genommen werden.

3.3 Den Willen für ein gemeinsames Bundesland wachsen lassen Die Gesamtregion wird sich am besten in einem gemeinsamen Bundesland gestalten lassen. Die Politik hat die Aufgabe, den Willen zu einem gemeinsamen Bundesland wachsen zu lassen. Eine wichtige Voraussetzung ist die finanzielle Konsolidierung der beiden Länder. In der laufenden Legislaturperiode bis zum Jahre 2004 werden sich die Veränderungen in der Bundeshauptstadt und deren Auswirkungen im engeren Verflechtungsraum, die sich im Gefolge des Hauptstadtumzuges jetzt noch einmal beschleunigt haben, stabilisieren. Deshalb ist es sinnvoll, in der kommenden Legislaturperiode erneut Verhandlungen über einen Staatsvertrag zur Bildung eines gemeinsamen Bundeslandes aufzunehmen. Die SPD setzt sich dafür ein, dass das Abgeordnetenhaus Berlin und der Landtag Brandenburg eine gemeinsame Enquetekommission Berlin-Brandenburg berufen, in der Abgeordnete, Vertreter von Gewerkschaften, Unternehmerverbänden, Kirchen, der kommunalen Spitzenverbände und andere Sachverständige Mitglied sind. Die Entscheidung über die Bildung des Bundeslandes Berlin-Brandenburg sollte dann in einer Volksabstimmung im Jahr 2007 getroffen und im Jahr 2009 durch die Wahl eines gemeinsamen Landesparlamentes vollzogen werden.

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ZUKUNFTSREGION BRANDENBURG Positionspapier der Zukunftskommission II

Bevölkerungsprognose (Ausgewählte Kennziffern des Landes Brandenburg; Angaben in Prozent des jeweiligen Gebietes) Jahr

unter 15

15-65

Land Brandenburg

1998 2005 2015

14,8 10,8 11,7

71,0 70,7 67,8

14,3 18,5 20,6

Stadt Brandenburg an der Havel

1998 2005 2015

13,4 9,0 11,2

71,0 68,5 63,9

15,6 22,5 24,9

Stadt Cottbus

1998 2005 2015

14,2 9,6 12,5

72,7 71,6 66,8

13,1 18,8 20,7

Stadt Frankfurt/Oder

1998 2005 2015

14,7 10,2 13,0

73,0 72,2 67,8

12,3 17,6 19,2

Stadt Potsdam

1998 2005 2015

13,5 9,8 12,5

72,0 70,5 67,2

14,5 19,7 20,3

Landkreis Barnim

1998 2005 2015

14,7 10,4 11,0

72,0 71,8 68,0

13,3 17,8 21,0

Landkreis Dahme-Spreewald

1998 2005 2015

14,4 11,1 11,7

71,1 70,3 67,4

14,5 18,5 20,9

Landkreis Elbe-Elster

1998 2005 2015

14,5 10,5 11,0

69,3 69,2 67,1

16,2 20,4 21,9

Landkreis Havelland

1998 2005 2015

15,7 13,3 13,5

70,6 69,9 68,0

13,6 16,8 18,5

Landkreis Märkisch-Oderland

1998 2005 2015

15,0 10,5 11,0

71,1 71,6 68,9

13,9 17,9 20,1

60

65 und älter


ZUKUNFTSREGION BRANDENBURG Positionspapier der Zukunftskommission II

Jahr

unter 15

15-65

65 und älter

Oberhavel

1998 2005 2015

14,9 11,8 11,7

71,1 70,0 67,2

14,0 18,3 21,1

Landkreis Oberspreewald-Lausitz

1998 2005 2015

14,1 9,7 11,3

70,3 69,6 66,5

15,6 20,7 22,2

Landkreis Oder-Spree

1998 2005 2015

14,7 10,6 10,9

71,2 70,4 66,9

14,2 19,0 22,2

Landkreis Ostprignitz-Ruppin

1998 2005 2015

15,6 10,8 11,8

70,1 70,6 67,2

14,3 18,6 21,0

Landkreis Potsdam-Mittelmark

1998 2005 2015

15,3 11,8 11,8

70,9 72,0 70,2

13,8 16,2 18,0

Landkreis Prignitz

1998 2005 2015

14,7 9,6 10,5

68,8 68,7 65,6

16,5 21,8 23,9

Landkreis Spree-Neiße

1998 2005 2015

14,5 9,8 10,8

70,8 72,4 70,1

14,7 17,8 19,1

Landkreis Teltow-Fläming

1998 2005 2015

15,3 12,1 12,7

70,8 70,9 68,5

13,8 17,0 18,8

Landkreis Uckermark

1998 2005 2015

15,5 10,6 11,4

70,7 70,2 66,6

13,8 19,3 22,0

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ZUKUNFTSREGION BRANDENBURG Positionspapier der Zukunftskommission II

Bevölkerungsprognose

1998

2005

2015

Land Brandenburg ............................. 2 593 100 .......... 2 671 000 ........ 2 625 300 Stadt Brandenburg an der Havel ............ 80 800 ............... 72 500 ............. 64 700 Stadt Cottbus ........................................ 115 300 ............. 104 500 ............. 99 500 Stadt Frankfurt/Oder ............................... 76 400 ............... 71 100 ............. 68 500 Stadt Potsdam ...................................... 129 400 ............. 124 400 ........... 125 900 Landkreis Barnim .................................. 164 000 ............. 181 300 ........... 184 900 Landkreis Dahme-Spreewald ................ 154 300 ............. 169 800 ........... 175 300 Landkreis Elbe-Elster ............................ 135 100 ............. 129 500 ........... 118 000 Landkreis Havelland .............................. 140 600 ............. 158 600 ........... 167 200 Landkreis Märkisch-Oderland ............... 182 900 ............. 197 000 ........... 196 300 Landkreis Oberhavel ............................. 182 700 ............. 200 400 ........... 201 300 Landkreis Oberspreewald-Lausitz ........ 151 600 ............. 141 300 ........... 127 600 Landkreis Oder-Spree ........................... 196 900 ............. 206 200 ........... 197 300 Landkreis Ostprignitz-Ruppin ............... 115 800 ............. 115 600 ........... 110 400 Landkreis Potsdam-Mittelmark ............. 199 100 ............. 230 500 ........... 246 100 Landkreis Prignitz .................................... 97 700 ............... 89 400 ............. 77 500 Landkreis Spree-Neiße .......................... 157 800 ............. 162 700 ........... 161 500 Landkreis Teltow-Fläming ..................... 156 400 ............. 170 600 ........... 174 000 Landkreis Uckermark ............................ 156 200 ............. 145 600 ........... 129 300

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DOKUMENTATION

BILDUNG FÜR ZUKUNFT ZUKUNFT FÜR BILDUNG Positionspapier der Zukunftskommission III Thesen zu den Themen: 1. Notwendigkeit einer Bildungsoffensive 2. Selbständigkeit und Qualitätsmanagement der Schule 3. Motivation und Qualifikation der Lehrkräfte 4. Zukunft der Schule in Brandenburg durch differenzierte Förderung und Chancengleichheit 5. Stärkung der regionalen Bindung der Schulen 6. Weiterentwicklung der beruflichen Bildung und der Weiterbildung 7. Zusammenarbeit der Länder Berlin und Brandenburg

1. Notwendigkeit einer Bildungsoffensive Der Wandel von der Industriegesellschaft zur Informationsgesellschaft, Globalisierung und wirtschaftliche Konzentration verändern für alle Menschen im Land erlebbar die sozialen

Strukturen, Arbeit und Wirtschaft, Privatleben und Freizeit. Wertorientierungen, Qualifikationsprozesse und -profile verändern sich grundlegend. Die Erwartungen an die Qualität der allgemeinen Schulbildung, der Ausbildung und beruflichen Qualifizierung und die Nachfrage nach hoch qualifizierten Beschäftigten steigen. Die Herausforderungen für die Bildungspolitik sind vergleichbar mit den Herausforderungen der sozialen Frage im 19. und 20. Jahrhundert. Die Erwartungen, die Schüler und Eltern, Wirtschaft und Gesellschaft zurecht an ein modernes Qualifizierungs- und Bildungswesen richten, greift die SPD erneut auf. Bildung begleitet die ganze Lebenszeit. Die Organisation ihrer Aneignung darf nicht nur auf die Schulzeit begrenzt bleiben. Der Weiterbildung wird größere Bedeutung zukommen. Persönliches Engagement, Eigeninitiative und Wettbewerb werden gegenüber staatlichen Vorgaben größere Freiräume beanspruchen, ohne dass es zu einer Zurücknahme staatlicher Verantwortung im Bildungsbereich kommen darf. Die Festlegung von Standards und Handlungsrahmen, die Vorsorge für Innovationen und der soziale Ausgleich werden stärker als bisher die staatlichen Aufgaben bestimmen.

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BILDUNG FÜR ZUKUNFT - ZUKUNFT FÜR BILDUNG Positionspapier der Zukunftskommission III

2. Selbständigkeit und Qualitätsmanagement der Schule 2.1 Qualität im Bildungswesen braucht u.a. Kreativität, Selbstbestimmung und Verantwortung. Die Stärkung der Selbständigkeit der Schule durch die Erweiterung der Gestaltungsspielräume und der Selbstverantwortung der einzelnen Schule dient der besseren Erfüllung des Bildungs- und Erziehungsauftrags, im Rahmen der gesamtgesellschaftlichen Verantwortung. Dieses Steuerungskonzept zielt darauf ab, Eigeninitiative, Flexibilität und die Entwicklung sinnvoller Lösungen vor Ort zu stärken, pädagogisch wirksamer und wirtschaftlich effizienter zu gestalten. Die erweiterte Selbständigkeit der einzelnen Schule und eigenverantwortlicher Ausgestaltung vor Ort unter der Gesamtverantwortung des Staates für die Qualität der Schule erfordert eine verbindliche Überprüfung und Setzung der Bildungs- und Erziehungsziele. 2.2 Künftig soll der Schulleiter für einen begrenzten Zeitraum (Vorschlag 8 Jahre) bestellt werden. Die Bestellung der Schulleiter soll möglichst im Einvernehmen und muss unter angemessener Beteiligung der Schul-konferenz (Eltern, Lehrer, Schüler), des Schulträgers und der Schulaufsicht (Land) entschieden werden. Die Schulkonferenz, der Schulträger und die Schulaufsicht haben ein Vorschlagsrecht. 2.3 Qualitätsmanagement verbindet die Erfassung, Beschreibung und Bewertung eines erreichten Qualitätsstandes mit dessen Bewahrung und dynamischer Weiterentwicklung im Sinne einer ganzheitlichen Schulentwicklung. Dabei helfen Verfahren der systematischen Sicherung und Entwicklung der

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Qualität schulischer Arbeit z.B. durch regelmäßige Vergleichsarbeiten, Vorgabe von Standards für den Unterricht, zentrale Abschlussprüfungen etc. Die Bildungsgänge der Sekundarstufe I werden künftig durch Prüfungen auf der Basis von zentralen Vorgaben in der Jahrgangsstufe 10 und die gymnasiale Oberstufe durch ein zentrales Abitur in der Jahrgangsstufe 12 bzw. 13 abgeschlossen. Die Ergebnisse der Qualität schulischer Arbeit bedürfen der öffentlichen Diskussion und entsprechende Schlussfolgerungen. 2.4 Die verstärkte Internationalisierung sowie die wirtschaftliche und politische Vernetzung insbesondere innerhalb Europas schließen auch die Bildungssysteme ein und drücken sich auch in deren zunehmender Bedeutung für den internationalen Wettbewerb aus. Zum Zwecke interkultureller Bildung und zur Stärkung der fremdsprachlichen Kompetenz soll die Teilnahme von Schulen an europäischen Bildungsprogrammen wie SOKRATES und LEONARDO DA VINCI gezielt gefördert werden. Durch besondere, mit Kreditinstituten zu entwickelnde Angebote des Bildungssparens sollen möglichst viele Eltern angeregt werden und in die Lage gesetzt werden, Schulauslandsaufenthalte ihrer Kinder zu finanzieren. 2.5 Zu den Aufgaben der Schulaufsicht gehört es zukünftig verstärkt, sich in dialogischer Weise - durch Visitation, Beratung und Unterstützung - der Qualitätsentwicklung und -sicherung an den einzelnen Schulen anzunehmen. Dieser Schulberatung obliegt es darüber hinaus, die Vergleichbarkeit der Anforderungen und der Arbeitsergebnisse in selbständigeren Schulen landesweit auf einem hohen Qualitätsniveau zu gewährleisten.


BILDUNG FÜR ZUKUNFT - ZUKUNFT FÜR BILDUNG Positionspapier der Zukunftskommission III

2.6 Es ist erforderlich, in allen Schulen zu einem verstärkten innerschulischen Diskurs über Leistungsanforderungen, Beurteilungsmaßstäbe und die Weiterentwicklung des Unterrichts zu kommen. Dieser professionelle Diskurs braucht Anlässe und Maßstäbe z.B. durch Abschlussprüfungen, vorgegebene Vergleichsarbeiten in definierten zeitlichen Abständen in den Kernfächern etc. Eine Präsentation der Ergebnisse und Leistungen von Schulen im Rahmen der Qualitätsentwicklung soll die öffentliche Auseinandersetzung, regional und landesweit, mit der Arbeit der Schule und ihre Würdigung fördern. 2.7 Die Stärkung von Eigeninitiative, Flexibilität und die Entwicklung sinnvoller Lösungen vor Ort durch Eltern und Lehrer bedeutet, dass sich das öffentliche Schulwesen stärker als bisher dem Wettstreit mit Schulen in freier Trägerschaft stellt.

3. Stärkung der Motivation und Qualifikation der Lehrkräfte 3.1 Die innere Schulreform im Land Brandenburg ist mit einer Reform der Rahmenbedingungen für die Bildungs- und Erziehungsarbeit in Schulen und für das Berufsbild des Lehrers zu verknüpfen. Ziel muss es sein, die gesellschaftliche Anerkennung und den Stellenwert der pädagogischen Berufe zu erhöhen und gleichzeitig deren Aufgabenprofil in Einheit von Bildung und Erziehung weiter zu entwickeln. Der dazu notwendige Diskurs setzt voraus, dass alle am Prozess der Bildung und Erziehung Beteiligten aktiv einbezogen werden.

3.2 Die Rahmenbedingungen für die Bildungs- und Erziehungsarbeit sind zur Erhöhung der beruflichen Zufriedenheit und Leistungsgerechtigkeit schrittweise den Anforderungen der inneren Schulreform anzupassen. Als besonderer Erfolg der SPD ist in dieser Hinsicht die mit den Gewerkschaften geschlossene Vereinbarung zur Beschäftigungssicherung im Schulbereich zu werten. Neben der dauerhaften Sicherung der Beschäftigungsverhältnisse und der Sicherung eines Einstellungskorridors für junge Lehrer gewährleistet dieses Abkommen mittelfristig die kontinuierliche Verbesserung der Lehr- und Lernbedingungen. Es sind neue Arbeitszeitmodelle für Lehrkräfte zu entwickeln und vertraglich zu vereinbaren, die die Komplexität der Anforderungen von Bildung und Erziehung berücksichtigen. Wir werden uns einsetzen für eine breite öffentliche Würdigung der besonderen Leistungen engagierter und verdienter Lehrkräfte. 3.3 Dies schließt mittelfristig eine Reform des bestehenden zugunsten eines leistungsbezogenen Besoldungs- bzw. Vergütungssystems für Lehrkräfte ein. Auf der Grundlage von internen und externen Formen der Evaluierung muss ein transparentes System der Vergütung und Anerkennung geschaffen werden, das besondere Leistungen und besonderes Engagement von Lehrkräften würdigt. Dabei sind unterschiedliche Formen der ideellen und materiellen Anerkennung zu entwikkeln. In die Evaluation und Bewertung der Leistungen der Lehrkräfte sind in geeigneter Weise die Schülerinnen und Schüler und Eltern einzubeziehen.

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BILDUNG FÜR ZUKUNFT - ZUKUNFT FÜR BILDUNG Positionspapier der Zukunftskommission III

3.4 Es ist ein System der kontinuierlichen, zielgerichteten und bedarfsorientierten Fortbildung von Lehrkräften zu entwickeln. Die verbindliche Fortbildung der Lehrkräfte muss über das bestehende Volumen hinaus ausgebaut werden. Der Nachweis medienpädagogischer und computertechnischer Kompetenz wird künftig u.a. Voraussetzung für die Anerkennung der Bewährung und Beförderung von Lehrkräften sein. 3.5 Die wissenschaftliche Ausbildung von Lehrerinnen und Lehrern an der Universität muss in Umsetzung des Lehrerbildungsgesetzes die pädagogische Aufgabe der Schule stärker berücksichtigen. Der Anteil der Schulpraktika im Studium ist konsequent auszubauen. Neben der fachwissenschaftlichen Ausbildung sind Kompetenzen u.a. in Kommunikation, Beratung, Konfliktbewältigungsstrategien, Kooperation und pädagogischem wie schulorganisatorischem Management wie auch Medienkompetenz zu entwickeln und zu einem verbindlichen Bestandteil der Qualifizierungsnachweise und der Prüfungen zu erklären. Entsprechende Maßstäbe sind an die Weiterbildung der Lehrkräfte anzulegen.

4. Zukunft der Schule in Brandenburg durch differenzierte Förderung und Chancengleichheit 4.1 Die zentrale Aufgabe ist die umfassende Förderung aller Schülerinnen und Schüler entsprechend ihrer individuellen Leistungsfähigkeit und Begabungen und damit die Wahrung und Förderung von Chancengleichheit und sozialem Zusammenhalt.

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4.2 Die Organisation des Schulwesens hat erheblichen Einfluss auf die Bildungschancen und Bildungsmöglichkeiten von Kindern und Jugendlichen. Organisationsformen des Schulwesens sind historisch gewachsen und ändern sich in Folge des gesellschaftlichen Wandels. Deshalb muss die Weiterentwicklung der Schulorganisation als kontinuierlicher Prozess gestaltet werden. Die Durchlässigkeit der Bildungsgänge und zeitliche Flexibilität beim Erwerb der Abschlüsse ist zu sichern. 4.3 Weiterhin werden im Land Brandenburg Kinder und Jugendliche mit sonderpädagogischem Förderbedarf integrativ in Regelschulen oder in Förderschulen ihre sozialen und kommunikativen Kompetenzen und ihre Leistungspotenziale zu entfalten lernen. 4.4 Die Bildung und Erziehung im vorschulischen, schulischen und berufsbildenden Bereich folgt einer Gesamtkonzeption, deren einzelne Bestandteile aufeinander abgestimmt und durch konkrete Bildungs- und Erziehungs-aufträge bestimmt sind. Besonderer Augenmerk wird der inhaltlichen Gestaltung und der Flexibilität der einzelnen Übergänge geschenkt. 4.5 Im Zusammenhang mit der Schulzeitverkürzung erhält die inhaltliche Ausgestaltung des Bildungsauftrages der Kindertagesstätten besondere Priorität. Die Erhöhung der Verbindlichkeit des Bildungsauftrages der Kindertagesstätten und die flexible Gestaltung der Eingangsphase der Grundschule leisten einen konkreten Beitrag zur Verbesserung des Schuleingangsvoraussetzungen und die individuellen Entwicklungsbedingungen für die Kinder in der Schule.


BILDUNG FÜR ZUKUNFT - ZUKUNFT FÜR BILDUNG Positionspapier der Zukunftskommission III

4.6 Am Grundsatz mehr Chancengleichheit durch Integration wird festgehalten. Eine längere gemeinsame Schulzeit ist anzustreben. Deshalb bleibt die 6-jährige Grundschule zur Stärkung der Entwicklungsmöglichkeiten der Kinder und der Erziehungs- und Sozialfunktion der Grundschule erhalten. Es wird für alle Schülerinnen und Schüler im Bildungsgang Allgemeine Hochschulreife die Möglichkeit geschaffen, das Abitur nach 12 Jahren abzulegen (6 Jahre Grundschule, 6 Jahre weiterführende Schule). Dazu ist die Stundenzahl in den Klassenstufen 5 und 6 der Grundschule zu erhöhen und neben der Binnendifferenzierung eine äußere Leistungsdifferenzierung einzuführen. Der Bildungsgang zum Abitur nach 12 Jahren wird an Gymnasien und an Gesamtschulen mit gymnasialer Oberstufe angeboten. Die Einführungsphase der Abiturstufe wird in die Klasse 10 vorverlegt. Die Möglichkeit das Abitur nach 13 Jahren abzulegen bleibt als Angebot und für die berufliche Orientierung an Oberstufenzentren erhalten.

4.9 Die Möglichkeiten individueller Schulzeitverkürzung durch Überspringen von Jahrgangsstufen an geeigneten Schnittstellen sind unter dem Aspekt der Durchlässigkeit zu sehen und werden gefördert. 4.10 Im Mittelpunkt der Ausbildung muss die ausgewogene Entwicklung und Förderung von Fachkompetenz, Methodenkompetenz, personaler, sozialer und ökologischer Kompetenz stehen. Brandenburg wird das Angebot gemeinsamer Lehrplanentwicklung an Berlin und andere Bundesländer insbesondere in Ostdeutschland unterbreiten. 4.11 Die Voraussetzungen zur Stärkung der Medienkompetenz sowie der Fremdsprachenkompetenz der Schülerinnen und Schüler sind zu schaffen bzw. zu verbessern durch die sachgerechte Ausstattung der Schulen mit Medien, gezielte Lehreraus-, -fort- und -weiterbildung und die Aufnahme medienpädagogischer Bestandteile in die Studienpläne der Lehrerausbildung.

4.7 Schulen mit besonderer Prägung erhalten die Möglichkeit, im musischen, mathematisch-naturwissenschaftlichen, sprachlichen und sportlichen Bereich Klassen für besonders leistungsstarke Schüler ab der Jahrgangsstufe 5 zu eröffnen.

4.12 Die Voraussetzungen zur Stärkung der Fremdsprachenkompetenz der Schülerinnen und Schüler sind zu schaffen bzw. zu verbessern durch den Beginn des Fremdsprachenunterrichts in Klassenstufe 3, die sachgerechte Ausstattung der Schulen und gezielte Lehreraus-, -fort- und -weiterbildung

4.8 Unter dem Aspekt der Durchlässigkeit der Bildungsgänge wird die Sekundarstufe I ebenfalls durch eine Stundenerhöhung gestärkt. Dazu können die Lernbereiche aufgelöst und Fachunterricht durchgängig angeboten werden.

4.13 Der Sicherung der Schulversorgung bei zurückgehenden Schülerzahlen muss auch schulorganisatorisch Rechnung getragen werden. Die zur Prüfung der insbesondere für den äußeren Entwicklungsraum geeigneten Varianten künftiger Schulstrukturen berufene Kom-

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mission wird dazu Empfehlungen unterbreiten. Auf der Grundlage dieser Ergebnisse werden neue Formen der Schulorganisation in Brandenburg zu entwickeln und unter den Aspekten öffentlicher Akzeptanz zu prüfen sein.

5. Stärkung der regionalen Bindung der Schulen 5.1 Die Bildungsoffensive ist durch das Land und durch die kommunalen Schulträger ausreichend und langfristig verlässlich abzusichern. Zur Sicherung der nötigen Entscheidungsfreiräume und Gleichbehandlung der kommunalen Schulträger sind die entsprechenden Mittel über das Gemeindefinanzierungsgesetz (GFG) überwiegend pauschal und ohne Zweckbindung bereitzustellen. 5.2 Das bestehende Zinssubventionsprogramm der Landesregierung zur Förderung des Schulbaus hat sich bereits als wirksames Instrument der Investitionsförderung bewährt; mit der Aufstockung des Programms über das GFG 2000 trägt die SPD der großen Nachfrage der Schulträger Rechnung und erweitert damit das für Sanierungs-, Erweiterungs- oder Neubaumaßnahmen bereitstehende Finanzvolumen. Eine Erhöhung der Zuweisung investiver Mittel an die kommunalen Schul-träger für den Schulbau und die Schulsanierung wird durch Öffnung des Investitionsförderungsgesetzes (IFG) und Förderprogramme der Europäischen Union (EFRE) erreicht. 5.3 Die Schulträger sind in hohem Maße an der Qualität der schulischen Arbeit

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und der Mitgestaltung des pädagogischen Profils ihrer Schulen interessiert. Künftig sollen neben der Schulaufsicht auch die Schulträger in die Berichterstattung der Schulen über die Ergebnisse der Arbeit einbezogen werden. Das soll sie und das regionale Umfeld in den Stand versetzen, aktiver Partner der Schulen bei ihrer Entwicklung zu werden. 5.4 Der Kontakt zwischen den einzelnen Schulen und der örtlichen Wirtschaft und den jeweiligen Ausbildungsbetrieben ist ein wichtiger Bestandteil der Öffnung von Schule und der Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Anforderungen an die Schule. Er muss institutionalisiert und ausgebaut werden, z.B. durch Rahmenvereinbarungen der Landesregierung mit den Kammern und Verbänden.

6. Weiterentwicklung der beruflichen Bildung und der Weiterbildung 6.1 Die Oberstufenzentren werden langfristig zu regionalen Kompetenzzentren der beruflichen Aus- und Weiterbildung entwickelt, die damit auch Aufgabe des Technologietransfers für kleinere und mittlere Unternehmen in der Region übernehmen. Das erfolgreiche OSZ-Bauprogramm ist im geplanten Volumen von 250 Mio. DM fortzusetzen. 6.2 In den neuen Bundesländern steht die berufliche Erstausbildung bei den Jugendlichen an erster Stelle. Ein deutlich geringerer Prozentsatz als in Westdeutschland durchläuft eine berufliche Erstausbildung im Rahmen des dualen Systems. Trotz der vorhandenen wirt-


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schaftlichen und finanziellen Probleme ist auch für die Zukunft sicherzustellen, dass jeder Jugendliche, die Chance einer beruflichen Erstausbildung erhält. 6.3 Angesichts des Übergangs von der Industriegesellschaft in die Dienstleistungsgesellschaft muss eine zukunftsorientierte Bildungsoffensive für das Land Brandenburg die allgemeine und die berufliche Bildung, sowie die Weiterbildung in einem alle Bildungsbereiche umfassenden Ansatz erfassen und würdigen. Dabei ist es ein zentrales Anliegen, die Gleichwertigkeit beruflicher und allgemeiner Bildung zu realisieren. 6.4 Zur Sicherung und Weiterentwicklung der Qualität beruflicher Bildung ist eine enge Verzahnung von schulischer und betrieblicher Aus- und Weiterbildung erforderlich. 6.5 Folgende grundlegenden Veränderungen sind zur Weiterentwicklung der beruflichen Bildung erforderlich: 1. Politik und Gesellschaft müssen Wissen als Produktionsfaktor, Information als Ressource, Innovation als Motor der Produktentwicklung verstehen, akzeptieren und fördern. 2. Die Selbstverantwortung des Einzelnen ist insbesondere im Bereich der Fort- und Weiterbildung deutlich zu stärken, die Fähigkeit des Selbstmanagements zu entwickeln und zu fördern. Dazu muss die Befähigung zum selbstgesteuerten Lernen und Einsicht in die Notwendigkeit lebenslangen Lernens als Auftrag jeder schulischen Bildung ausgestaltet werden.

3. Analog zur Koalitionsvereinbarung der Bundesregierung gilt es auch in Brandenburg, die berufliche, allgemeine und kulturelle Weiterbildung als vierte Säule des Bildungssystems zu stärken und auszubauen. 4. Die Bildungsfinanzierung der Aus- und Weiterbildung bedarf der Anpassung an die veränderten Rahmenbedingungen. 6.6 Eine Stärkung des Wettbewerbs, des Vergleichs und der öffentlichen Anerkennung von Leistungen können auch im Bereich der beruflichen Bildung und der Weiterbildung neue Impulse geben. Zur Förderung der Entwicklung und Qualifizierung der Weiterbildung sollen künftig die besonderen Leistungen der Weiterbildungsregionen durch Auszeichnungen honoriert und die Bedeutung dieses Qualifi-zierungssystems stärker öffentlich gewürdigt werden. Das besondere Engagement und die Innovationskraft von Oberstufenzentren und Weiterbildungseinrichtungen kann in gemeinsam von den Kammern und der Landesregierung zu verleihenden Auszeichnungen Anerkennung finden.

7. Zusammenarbeit der Länder Berlin und Brandenburg Die Zusammenarbeit der Länder Berlin und Brandenburg ist zum gegenseitigen Nutzen vor dem Hintergrund zunehmender Mobilität, der Notwendigkeit eines intensiveren Austausches zwischen Metropole und Umland und nicht zuletzt vor dem Hintergrund einer möglichen Fusion der Länder auszubauen und zu verbessern.

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Dazu ist insbesondere zu leisten: ■ die Weiterentwicklung der bereits bestehenden Kooperation der Hochschulen der Länder im Bereich der didaktischen Forschung und Lehrerausbildung ■ eine stärkere Verzahnung und Abstimmung der Arbeit der pädagogischen Landesinstitute

■ der Lehrerfort- und Lehrerweiterbildung durch PLIB und BIL ■ die Abstimmung der schulischen Curricula/ Rahmenpläne ■ die Abstimmung der Schulentwicklungsplanung ■ die Entwicklung und Ausgestaltung des Gastschülerabkommens

Eine Dokumentation der Positionspapiere der SPD-Zukunftkommissionen und weitere Informationen finden Sie auf der Hompage des SPD-Landesverbandes Brandenburg: http://www.spd-brandenburg.de Anmerkungen und Anregungen richten Sie bitte an: lv-brandenburg@spd.de

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RETRO

DEFINITIONSFRAGEN, STANDORTPROBLEME UND DIE GERECHTIGKEITSLÜCKE Anmerkungen zu Klaus Ness „Soziale Gerechtigkeit als Kernpunkt der Parteienkonkurrenz zwischen SPD und PDS in Ostdeutschland“. von Dr. Hans Misselwitz „Für die SPD in Ostdeutschland wird es zu einer Überlebensfrage, ob sie in der Lage ist, in ihrer Kernkompetenz Vertrauen zurückzugewinnen.“ Das ist die schlechte Nachricht der Analyse, aus der Klaus Ness, programmatisch zugespitzt, die gute Nachricht auf dem Fuße folgen läßt: „Sozialdemokratische Politik in Ostdeutschland kann nur erfolgreich sein, wenn sie die Deutungsmacht zurück erlangt, wie soziale Gerechtigkeit in einer modernen Gesellschaft definiert wird und durch konkrete Politik zu erreichen ist.“ Es macht sich immer gut, wenn man komplizierte Sachverhalte auf den Punkt bringen kann. Allerdings ist man auch schnell durch Bertolt Brecht gewarnt, der wusste, was er zum „Lob des Kommunismus“ sagte: Es ist das Einfache, das schwer zu machen ist. Missverständnisse sind folglich nicht auszuschließen. Deshalb einige Fragen an den Beitrag am Anfang:

Haben wir da mal eben nur ein Definitionsproblem, einen Mangel an Deutungsmacht? Haben wir das Thema - machttechnisch gesprochen - nicht hinreichend „besetzt“? Liegt es am rückständigen oder falschen Bewußtsein der Ostdeutschen, am Mief der „sozialistischen Wärmestuben“? Wenn Klaus Ness weiter fragt „Was ist gerecht in Ostdeutschland?“, möchte man doch wetten, dass die Frage eigentlich auf eine andere zielt: Was gilt statt dessen in der Bundesrepublik? Sie wird nicht gestellt, aber sie ist gemeint und sie steht auf der Tagesordnung. Hat also der Osten die Gerechtigkeitslücke im Kopf? Oder hat er viel mehr Standortprobleme vor den Füßen? Oder sind das alles nur Definitionsfragen? Mit anderen Worten: Klaus Ness hat eine mutige, ehrliche Diskussion begonnen. Seine Problemanzeige ist richtig, wenn auch nicht vollständig. Sie könnte eine wichtige Debatte provozieren, wenn sie nicht eilig mit Formelkompromissen zugedeckt wird. Sie könnte uns

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in der Tat ein entscheidendes Stück voran bringen. Gerade in der Auseinandersetzung mit der PDS interessiert nämlich kaum einen mehr, wer was sagt, sondern was man will. Wir müssen uns also der überfälligen Diskussion um die vorrangigen gesellschaftlichen Ziele sozialdemokratischer Politik stellen. Und zwar heißt das nach Lage der Dinge vor allem im Osten: Alternativen aufzeigen und vertreten. Notfalls gegen den Einwand der Macher, dass sie dafür weder Blaupausen noch Finanzierungspläne haben. Ohne einen wirklichen Zielvorrat, das heißt ohne Veränderungswillen, weiter nach dem Motto „Keine Experimente!“ angeblich ideologiefreier Praktiker geht uns das Geld vielleicht später, früher aber die Luft aus. Eine Programm- und Strategiedebatte der SPD, angeführt vom Osten, das wäre nun wirklich neu! Und für die Ost-SPD bitter nötig, weil uns merklich nicht nur der Vorrat an Mitteln, sondern auch der Glauben an eine konventionelle Bewältigung der Probleme im Osten auszugehen droht. Der Fall des „Monuments Kohl” wird auch die vorherrrschende, lähmende Tabuisierung von Alternativen zur Praxis des Einigungsprozesses aufbrechen. Wie am Beispiel Leuna/Elf-Aquitaine als Spitze des Eisbergs sichtbar, wird der Schein des Unvermeidlichen von der Geschichte fallen, werden die heutigen Probleme des Ostens deutlicher im Lichte interessengeleiteter Entscheidungen gesehen werden. Nach der Erblast Honecker, mit der sich die PDS in die Schranken weisen ließ, wird nun das Erbe Kohl neu zu bewerten sein. Das ist vor dem Hintergrund einer sich abzeichnenden westdeutschen Distanzierung von der Mitverantwortung für die ostdeutsche Lage - das reicht vom Streit

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um den Länderfinanz-ausgleich bis zum Bild des Ostdeutschen als Frühkindlichsystemgeschädigten - von außerordentlicher und nicht nur psychologischer Bedeutung. Bei den Standortproblemen des Ostens geht es nicht mehr um den Beweis der Unfähigkeit der Planwirtschaft, sondern nun um den Nachweis der Fähigkeit der Marktwirtschaft, bessere und zugleich gerechte Lebensbedingungen herzustellen. Der Kredit dafür ist bei vielen im Osten nahezu aufgebraucht. Der Aufholprozeß der ostdeutschen Wirtschaft stagniert spätestens seit 1997. Das Zurückbleiben der Ost-Wirtschaft - bislang mit dem Zurückfahren des Bausektors erklärt und beschönigt - hat ernstere Gründe. Seit 1996 sinken die privaten Anlagen- und Ausrüstungsinvestitionen im Osten und lagen 1998 nur noch bei 90 Prozent der westdeutschen Pro-Kopf-Rate. Im Westen steigen sie seitdem weiter, so daß von Aufholen keine Rede mehr sein kann. Zusätzlich bedeutet der Haushalt-Konsolidierungskurs der Bundesregierung, dass dieses Zurückbleiben auch nicht durch ein höheres Niveau öffentlicher Investitionen kompensiert werden wird. Was bedeutet es aber, wenn auf lange Sicht gilt: Kein Anschluß unter dieser Nummer? Was also müssen wir neu definieren? Die Kriterien, die Regeln oder die Erwartungen der Menschen? Die ostdeutsche Wählerschaft hat 1998 die SPD auf Bundesebene ins Spiel gebracht. Kurz danach stand sie schon wieder distanziert am Spielfeldrand, während wir in der Furche akkerten und weiter um den Anschluß kämpften. Sollten wir nicht einmal innehalten und den Blick über die Furche aufs ganze Feld richten? Gleichzuziehen mit dem alten Igel hat schon


DEFINITIONSFRAGEN, STANDORTPROBLEME ... Dr. Hans Misselwitz

der Hase im Kohl nicht geschafft. Das ist tragisch, aber komisch wird es erst, wenn der Hase nicht merkt, dass der Igel gar nicht mehr der ist, der er vorgibt zu sein. Schon deshalb lohnt es sich, über die Spielregeln des Wettlaufs neu nachdenken, ehe wir die Erwartungen der Menschen für falsch erklären.

1. Definitionsfragen sind Machtfragen Mein zentraler Einwand gegenüber Klaus Ness Position betrifft eine Unklarheit von großer Reichweite: Wollen wir die Spielregeln neu definieren oder die Erwartungen der Menschen? In seiner Argumentation für eine „neue Offensive sozialdemokratischer Reformpolitik“ scheint beides durch und kann wohl nach Lage der Dinge nicht anders sein. Wenn das so ist, dann müssen wir allerdings die Prioritäten klären, weil erst dann glaubhaft wird, wofür oder für wen wir stehen. Meiner Meinung nach ist Definitionsstreit zuerst Ideologiekritik und dann kommt erst der Kampf um Deutungshoheit. Definitionsfragen sind eben nicht nur Streit um Begriffe und Deutungshoheit ist mehr als bloße Kosmetik, Sprachregelung von Werbestrategen oder Sonntagsrednern. Politisch geht es um Machtfragen. Wer in der DDR gelebt hat, kennt das noch genau: „Die Lehre von Marx ist allmächtig, weil sie wahr ist.“ Die Erkenntnis daraus war: Das Bündnis von Macht und Ideologie kann noch jedes bisschen Wahrheit zuschanden machen. Deshalb neigen wir besonders im Osten zum Bekenntnis der Ideologiefreiheit und überlassen die Definitionen den anderen. Die betreiben allerdings

Begriffsmanagement als einen immer wichtigeren Teil der Technik der Macht. Politische Auseinandersetzungen, sofern sie gewalt- oder korruptionsfrei und demokratisch vor sich gehen, spielen sich im Streit der Argumente, der Worte und deren Bedeutung ab. Der Kampf um die Besetzung, Bedeutung oder Umdeutung politischer Begriffe geht um Positionsvorteile bei den sich daraus ableitenden Optionen politischen Handelns. Wem es gar gelingt, die Begriffe des politischen Gegners auszuhöhlen, zu unterwandern oder umzuprägen, nimmt dem Gegner nicht nur ein Stück seiner politischen Identität, sondern vor allem seine Mobilisierungs- und schließlich Handlungsfähigkeit. Wer die eigene Sicht auf soziale oder andere Probleme in Begriffe gießen kann und diese erfolgreich in Umlauf bringt, bestimmt auch die Art ihrer Lösung und die Wahl der Instrumente. Die Spielregeln eben. Als Kurt Biedenkopf und Heiner Geißler, die beiden Lichter in der CDU, in den siebziger Jahren als Generalsekretäre erkannt hatten, daß der Generationswechsel in der Bundesrepublik der Partei die Basis entzog, taten sie genau dies. Der von der CDU zuvor geprägte wertkonservative Mehrheitskonsens der Kriegsgeneration wurde unvermeidlich abgelöst von Wertvorstellungen einer sich gegen die Eltern abgrenzenden Nachkriegsgeneration. Die Wiedererringung der Mehrheit hing für die Union davon ab, ob es ihr gelingen würde, Schlüsselbegriffe der 68iger Generation, die sich links und liberal mit Begriffen wie „Freiheit“, „Gleichheit“ und „Solidarität“ identifizierte, neu zu definieren und zu besetzen. Also

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durfte zum Beispiel „Solidarität“ kein linker Begriff bleiben, sondern mußte - angereichert mit dem Begriff der „Subsidiarität“ - in die konservative Argumentation integriert und zugleich umgedeutet werden. Noch deutlicher wird das am Beispiel des „Reform“-Begriffs, der Losung der sozialliberalen Ära schlechthin. Dieser war zunächst alles andere als linke Tradition, aber erfolgreich, weil er im Gegensatz zum damals noch kommunistisch-besetzten „Revolution“-Begriff eine mehrheitsfähige Zieldefinition in der antikommunistisch geprägten Bundesrepublik erlaubte. Umso aufregender ist es zu sehen, wie dessen erfolgreiche Umdeutung wiederum kaum eine Generation später den Konservativen gelang. In den 90iger Jahren verbindet man mit „Reform“ das Gegenteil seiner vorherigen politischen Prägung, nämlich Staatsverschlankung, Sozialabbau und neoliberale Wirtschaftspolitik. Das kann man unter erfolgreichem Begriffsmanagement verstehen. Den Erfolg sieht man auch daran, dass es bis in die Sozialdemokratie hinein die Vorstellung gab und gibt, es gäbe dazu keine Alternativen mehr. Weil der Reform-Begriff auch für die SPD keinen Kompetenzvorteil mehr signalisierte, entschied sie sich im Wahlkampf1998 für den Begriff „Innovation“. Erfolgreich war dieser Ansatz allerdings erst in Verbindung mit einem entscheidenden Zusatz, nämlich: „und soziale Gerechtigkeit“. Es bedurfte also mehr als nur eines geschickten Schachzuges zur Umgehung einer Vermittlungs-Blockade. Es brauchte für die Mehrheit schon das Angebot einer substantiellen Position.

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2. Sozialdemokratische Standortprobleme in Ostdeutschland Die sind unübersehbar, aber nicht länger auf Ostdeutschland beschränkt. Wir sind im Sommer und Herbst 1999 in den Verdacht geraten, vom Kurs für mehr soziale Gerechtigkeit im Land abzuweichen. Die Einbrüche bei den Landtagswahlen und bei der NRW-Kommunalwahl zeigen das. Vor allem die Stimmenthaltung in der eigenen Wählerklientel, war eindeutig so motiviert. Zwar ist inzwischen durch einige politische Signale und die CDU-Affären annähernder Gleichstand der drei großen Parteien im Osten wieder erreicht, die Schwankungen bei der SPD seit der Bundestagswahl belegen aber, dass wir bei doppelt so großer Streuung bei den Parteipräferenzen in der Bevölkerung eigentlich eine nur zur Hälfte stabile Wählerbasis haben (R. STÖSS). Das kann, je nach politischer Lage und Kurs der SPD nicht für eine absolute Mehrheit, aber trotzdem für eine dominante Rolle reichen. Was ist nun der Schlüssel dazu? Wirkliche Mehrheitsfähigkeit verlangt von einer Partei die Vermittlung sozialer und politischer Identifikationsangebote und die Verankerung in politisch-kulturellen Milieus mit Meinungsführerschaft bei zentralen Wertvorstellungen. Der von Klaus-Jürgen Scherer in seinem Beitrag „Kann die Politik ostdeutsche Erwartungshaltungen erfüllen?“ schon zitierte Soziologe Thomas Koch (Deutschland Archiv 3/99) diagnostiziert drei einander überlappende, politisch-kulturelle Milieus, die nach dem vorwiegenden Identifikationstypus im deutsch-deutschen Kraftfeld hier verkürzt als das „Ostdeut-


DEFINITIONSFRAGEN, STANDORTPROBLEME ... Dr. Hans Misselwitz

sche“, das „Bundesdeutsche“ und das „Völkische“ bezeichnet werden sollen. Der Stärke nach verhalten sich diese Milieus schätzungsweise wie 60:30:10. Die jeweiligen Parteiidentifikationen sind natürlich nicht mit diesen Milieus identisch. Die PDS ist erwartungsgemäß ausschließlich im „ostdeutschen“ Milieu zu Hause, die sogenannten „Völkischen“ sind bisher nur ansatzweise parteipolitisch eingrenzbar, jedenfalls nicht auf rechtsextreme Parteien beschränkt. Für die SPD trifft wie für die CDU zu, dass sie beide übergreifend und vorwiegend mit sowohl „ostdeutschem“, als auch „bundesdeutschem“ Profil agieren. Die Chance der SPD bestand nun darin, einerseits durch gesamtdeutsche Kompetenz, andererseits als „Partei des sozialen Ausgleichs“ im „ostdeutschen“ und zugleich gleichheitsorientierten Wertemilieu eine doppelte Verankerung herauszubilden. Daraus ließ sich ableiten, dass - nach dem unaufhaltsamen Vertrauensverlust der CDU - nur sie sich als Partei der deutschen Einheit profilieren kann. Seit Mitte der 90-iger Jahre konnten wir in dieser Vermittlungsposition durch Identifi-kationsträger wie Manfred Stolpe, Regine Hildebrandt und Reinhard Höppner wachsen. Nun ist jedoch absehbar, daß sich das Pendel wieder zurück bewegt, und zwar mit einer notwendigen inneren Akzentverschiebung der zentralen Identifikationsthemen hin zum jeweiligen sozialen Status und dessen Interessenlage. Das ist jedoch nicht gleichbedeutend mit gleichen Parteiidentifikationen wie im Westen. Die Verarbeitung gesellschaftlicher Erfahrungen ist komplizierter. Dafür spricht trotz wachsender Annäherung von individuellen Einstellungen

und Werten bei Ost- und Westdeutschen das sich eher verstärkende soziale Selbstverständnis der ostdeutschen Mehrheit als Unterschicht. Ostdeutsche ordnen sich selbst zu fast zwei Dritteln der gesellschaftlichen Unterschicht zu, im Westen knapp ein Drittel. Zur Mittelschicht rechnen sich nur ein gutes Drittel Ostdeutscher, im Westen fast zwei Drittel der Bevölkerung. Eine Oberschicht gibt es im Osten praktisch nicht (3 Prozent), im Westen verstehen sich immerhin 12 Prozent als Oberschicht (Vgl. Wohlfahrtssurvey 1998). Die Selbstwahrnehmung der Ostmehrheit ist - stärker als durch Einkommensunterschiede belegbar - ein Reflex auf eine vermeintliche oder wirkliche Statusdifferenz verglichen mit dem Westen. Also keine „Neue Mitte“-Identität, sondern, wie das Beispiel Berlin, die sprichwörtliche „Werkstatt der Einheit“ und die Region der am weitesten fortgeschrittenen Annäherung von Lebensweisen und Lebensverhältnissen zeigt. Übrigens, wie man in Ostberlin sah, ein für die Sozialdemokratie höchst problematisches Szenario. So paradox es ist: die Verringerung des innerstädtischen Abstandes scheint sogar eine Vergrößerung der Unzufriedenheit, eine Tendenz der Abschottung, allerdings von beiden Seiten, zu fördern. Das folgt einem durchaus bekannten Phänomen: Die Sensibilität für Ungleichheiten wächst in dem Maße, je höher der Grad der Gleichheit ist. Welche Konsequenzen hat das für die SPD im Osten? Die Mittellage zwischen CDU und PDS war in der Zeit der von der CDU-geführten Bundesregierung geeignet, unerfüllte gesamtdeutsche Erwartungen und ostdeutsche Unterscheidungen zu binden, also die wichtigsten politischen Identifikationsmomente in der Be-

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völkerung am besten zu integrieren. Diese Mittellage erweist sich aber als Falle, sobald wir zur Projektionsfläche allgemeiner Unzufriedenheit mit der eigenen Bundesregierung werden und die CDU als gesamtdeutsche oder die PDS als ostdeutsche Alternative Punkte machen können. Die Erosion des sozialdemokratisch-geprägten Mehrheitsmilieus nach beiden Richtungen kann also nur aufgehalten werden, wenn es gelingt, Vertrauen im Kernbereich soziale Gerechtigkeit wiederherzustellen und durch Erfolge auf dem wirtschafts- bzw. arbeitsmarktpolitischen Feld zu überzeugen.

zweitens ihrer Stärke gegenüber der PDS bewusst ist, dass nur sie die Ostprobleme lösen kann, die die Ostdeutschen selbst - im Gegensatz zur PDS - aufheben möchten. Das verlangt vor allem stärkere Öffnung gegenüber jenem „ostdeutschen Milieu“, dessen langfristige Interessen die PDS nicht verwirklichen kann, sie aber bislang definiert und vertritt. Und es heißt auch Verzicht auf jene immer kontraproduktiver verlaufenden, ideologisch aufgeladenen, pflichtgemäßen Abgrenzungsritualen gegenüber der Vergangenheit von Menschen, die man eigentlich gewinnen will;

Beides hängt natürlich miteinander zusammen. Wegen der für den Osten mittelfristig noch ungünstig(er)en wirtschafts- und arbeitsmarktpolitischen Prognose spricht aber alles für die Notwendigkeit, wenigstens in Glaubwürdigkeit und Perspektiven zu investieren. Dies bedeutet nicht zuerst die Verteilung von mehr Mitteln, sondern vor allem die Verbesserung bei den Chancen. Hierzu gehört der psychologisch wichtige Bereich des Abbaus ostdeutscher Anerkennungsdefizite, wie zum Beispiel im Hinblick auf die Tarifpolitik eine verbindliche Angleichungsperspektive im öffentlichen Dienst.

drittens, dass wir uns inhaltlich deutlich zu Fragen der sozialen Gerechtigkeit positionieren, weil wir die ostdeutschen Erfahrungen, insofern sie schon Ergebnis jener „modernisierten“ ökonomisch-sozialen Realität sind, kritisch oder selbstbewusst zur Debatte stellen müssen und können.

Die Position politischer Meinungsführerschaft im Osten wird für die SPD davon abhängen, ob sie sich erstens der Thematisierung der vorhandenen Ost-West-Differenzen nicht verschließt, sondern diese in einem begrenzten Konflikt auch mit der eigenen Partei offen legt und zugleich nachweist, wie sie diese Differenzen in Anerkennung der ostdeutschen Erfahrungen und Interessenlagen gesamtdeutsch lösen will;

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3. Die Gerechtigkeitslücke Für die Glaubwürdigkeit der Sozialdemokratie ist die entscheidende Frage, ob wir den im letzten Jahr aufgekommenen Verdacht aus der Welt räumen können, es handele sich bei dem nach „Innovation“ zweiten Versprechen „soziale Gerechtigkeit“ schließlich doch um nicht mehr als eine Begriffs-Operation. Jedenfalls sollte eines klar sein: Ein Holzmann erspart nicht die Axt im Haus! Die gesellschaftlichen Veränderungen verlangen nach neuen Spielregeln und die Mehrheit hat deutlich durchblikken lassen, wie sie diese Reformen verstanden wissen will: Sozial gerecht.


DEFINITIONSFRAGEN, STANDORTPROBLEME ... Dr. Hans Misselwitz

Soziale Gerechtigkeit ist das Schlüsselmandat der Sozialdemokratie. Entsprechend muss sie beides, Regieren und Motivieren. Und sie muss ihr Mandat so begreifen, dass in dieser Gesellschaft etwas geändert werden muss, nachdem sich die vorangegangenen Begriffsverschiebungen neoliberaler Deutung als nicht mehrheits- und nicht tragfähig erwiesen haben. Man muss der Mehrheit der Bevölkerung nicht mehr erzählen, was es heißt, flexibel zu sein und sich aus der Hängematte zu bewegen. Sie erwarten, dass sie mit ihrem Leistungswillen und ihrer Leistungsfähigkeit unter stabilen Rahmenbedingungen für sich selbst sorgen können. Daran werden wir gemessen, und nicht, weil es so aussieht, als seien wir manchmal die besseren Menschen und weniger korrupten Politker. Wie wollen wir nun den Begriff „soziale Gerechtigkeit“ neu definieren, ohne in die aufgestellten Fallen seiner neoliberalen Entleerung („Soziale Hängematte“, „Deutschland als Freizeitpark“, „Sozialstaatsmafia“, „Versorgungsstaat“, „Anspruchsdenken“) hineinzutreten und bestenfalls defensive Klientelpolitik zu betreiben? Eine besondere Falle steht für Ostdeutschland: Das gegeneinander Ausspielen von „Gleichheit“ und „Gerechtigkeit“. Dem postmate-rialistischneoliberalen Zeitgeist ist es gelungen, „Gleichheit“ mit „Gleichmacherei“ zu denunzieren und die Debatte mit der klassischen konservativen Position von der quasi natürlichen Ungleichheit der Menschen individualistisch zu versöhnen. Für die davon unberührten Ostdeutschen haben jedoch mit der Gleichheitsforderung anderes im Sinn: Die Forderung nach Veränderung von Positions- und Anerkennungsdefiziten, die sich aus der Geschichte vor und nach 1990 ergeben

haben. Die Sensibilität gegenüber Privilegien, Vorrechten, hat das Gerechtigkeitsbewusstsein der Ostdeutschen geprägt und nicht nur, wie oft polemisch behauptet wird, ihr Denken in versorgungsstaatlichen Anrechten. Den Gegenbeweis tritt seit Jahren die Mehrheit der Ostdeutschen selbst an, indem sie, verglichen mit der westdeutschen Mehrheit, flexibler auf berufliche, lebensweltliche und lebensplanerische Veränderungen eingeht, also eigene Rechte durchaus zurückstellt, aber ein solches Verhalten entweder honoriert oder von anderen auch abverlangt haben will. Die Ost-SPD kann sich keinen größeren Schaden zufügen, als diese Haltung in der aktiven Mehrheit der ostdeutschen Bevölkerung eilfertig zu ignorieren. Vielmehr muss sie konstruktiv darauf eingehen, will sie nicht letztlich doch - fixiert auf den Wettlauf beim materiellen Wohlstandsvergleich - den kürzeren ziehen. Die Versuchung, sich stattdessen gleich als Anwalt der „Gewinner“ zu profilieren, würde übrigens nichts nützen. Denn jene aufstiegsorientierten Arbeitnehmer und Selbständigen sind zwar materiell erfolgsorientiert, gleichwohl ideell und empirisch sensibel für Gerech-tigkeitsfragen, nämlich in Gestalt der Gleich-heitsoption, für Rechtsgleichheit in einem durchaus nicht chancengleichen Wettbewerb auf dem Markt. Also: Trotz eines sicherlich vorhandenen versorgungsstaatsfixierten Rechtsgefühls bei Teilen der Bevölkerung, die sich im übrigen eher autoritär-konservativ und durch die Hintertür in einer latent fremdenfeindlichen „Deutsche zuerst“-Position äußert, liegt der Kern der Gerechtigkeitsfrage für - ich nenne sie die nichtresignierte Mehrheit - nicht bei der

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DEFINITIONSFRAGEN, STANDORTPROBLEME ... Dr. Hans Misselwitz

Verteilungsfrage, sondern der nach der Gleichheit der Chancen und vor dem Gesetz. Hier stoßen sie sich an allerhand Ungewohntem, alten Besitzrechten und einem Privilegienkatalog sondergleichen, von Steuerprivilegien, Bildungsprivilegien, Status- und Herkunftsprivilegien bis zu unerwarteten Zugangsprivilegien in die bessere Gesellschaft. Solange diese Erfahrung mit der Ankunftsgesellschaft dominiert, wirkt das Postulat, man müsse nur seine Chance nutzen, wie Hohn. Politisch liegt an dieser Stelle die Schwäche der SPD gegenüber der PDS. Die PDS macht hier ihren entscheidenden Schnitt, nicht durch wohlfeile Sprüche und Populismus. Wenn die SPD es nicht vermag, an dieser Stelle anzusetzen, das heißt die PDS wirklich auf das ihr immer schwerer am Bein hängende Traditionsmilieu zu beschränken, haben wir wenig hinzu zu gewinnen. Es sind die Rechte eines selbstbewussten und qualifizierten Milieus, das in den letzten Jahren bereits härtere Modernisierungsschübe erlebte, als vergleichbare Kollektive im Westen. Diese Modernisierungswellen hinterlassen nämlich nicht nur zufällige individuelle Gewinner und Verlierer, sondern auch den Lerneffekt, dass die Bewältigung ihrer Folgen kann nur kollektiv und organisiert, also politisch vermittelt erfolgen kann. Weil das schon jetzt nicht auf den Osten beschränkt ist, deshalb ist diese Debatte auch relevant für den Westen. Der Modernisierungsvorsprung Ost im Sinne der Erfahrung und Bewältigung radikaler Strukturbrüche - erfordert eine neue Gerechtig-keitsdebatte, nämlich durchaus im normativen Sinn von Grundrechten und ihrer Garantie durch den Staat.

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Folglich: Wenn schon Neudefinition, dann bitte nicht mit Haushaltsvorbehalt! Wenn es um eine grundsätzliche Orientierung gehen soll, um ein Leitbild, das über die nächste Rentenanpassung oder Steuernovelle hinaus orientiert, so steht die Gerechtigkeitsfrage in einem grundsätzlichen Zusammenhang mit den Menschenrechten, der Würde des Menschen, der Nichtdiskriminierung und des Rechtes auf freie Entfaltung. Es geht eben auch und vor allem den Ostdeutschen nicht um Versorgung, die Rückversetzung in eine Kultur der Anpassung oder Abhängigkeit, sondern um die Schaffung von Voraussetzungen wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Selbstbestimmung. Wenn Eigentum die Grundlage von Freiheit ist, nämlich im Sinne des Grundgesetzes die Basis ökonomischer Selbständigkeit und der Selbstbestimmung des Einzelnen darstellt und Eigentum gerade in der heraufziehenden „Wissensgesellschaft“ weit mehr ist als Grund, Geld- oder Kapitalvermögen, dann hilft der großen Mehrheit im Osten vor allem eine Politik, die den Wert ihres sogenannten Humankapitals steigert. Dies kann letztlich nur durch bessere Nachfrage und Qualifikation von Arbeitskraft geschehen, aber auch durch gesicherte Rechte gegen bodenlose Entwertung. Wenn die Menschen aus den bekannten strukturellen Veränderungen der Industriegesellschaft solche Bedingungen immer weniger organisiert auf dem Arbeitsmarkt aushandeln können, ja wenn sie sogar zu erhähter Selbständigkeit ermutigt werden sollen, dann braucht es dafür einen Rechtsrahmen, der wie im Vertragsrecht eine Art Gleichheit der Waffen garantiert. Nach der von der Bundesrepublik unterzeichneten UN-


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Konvention von 1966 über die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte erkennen wir das Recht auf Arbeit an, von dem es heißt, es sei „das Recht jedes einzelnen auf die Möglichkeit, seinen Lebensunterhalt durch frei gewählte oder angenommene Arbeit zu verdienen“ (Artikel 6(1)). Ausgehend von dieser schon als lebensfremd geltenden Prämisse, aber letztlich über das Gesicht unserer Gesellschaften entscheidenden Verständnis der Grundwerte Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität, muß man die Frage nach den Instrumenten stellen.

Das heißt - wie wir gelernt haben - nicht den Staat als Gesamtunternehmer wiedererfinden - aber wenigstens, die Verantwortlichkeiten neu zu definieren. Wenn wir von Zukunft sprechen, müssen wir uns einem weiten Horizont öffnen: Tragfähig, wegbereitend und motivierend sind Lösungen nur angesichts einer Zukunft, die hier im Osten schon begonnen hat. Unsere Probleme sind typisch für eine Welt, die sich insgesamt im Übergang befindet!

Dr. Hans Misselwitz war von 1990 bis 1999 Leiter der Landeszentrale für politische Bildung des Landes Brandenburg. Seit 1999 ist er Büroleiter des stellvertretenden SPD-Bundesvorsitzenden Wolfgang Thierse.

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IMPRESSUM

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BEZUG: Bestellen Sie Ihr kostenloses Abonnement direkt beim Herausgeber. Nutzen Sie dazu die beigeheftete Postkarte oder senden Sie uns eine Mail.

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SPD-Landesverband Brandenburg REDAKTION: Thomas Grimm Lars Krumrey Klaus Ness (V.i.S.d.P.) ANSCHRIFT: Friedrich-Ebert-Straße 61 14469 Potsdam TELEFON: 0331 / 29 20 30 FAX: 0331 / 2 70 85 35 MAIL: Perspektive-21@spd.de INTERNET: http://www.spd-brandenburg.de DRUCK: Gieselmann, Rehbrücke SATZ & LAYOUT: Thomas Grimm, Lars Krumrey




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