perspektive21 - Heft 10

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perspektive 21 Brandenburgische Hefte für Wissenschaft und Politik

ZUKUNFTSREGION BRANDENBURG

Mit Beiträgen von: Wilma Simon Stefan Rink Jörg Vogelsänger Dr. habil. Jochen Franzke Mark F. Watts Steffen Reiche Rolf Schneider Madeleine Jakob Andreas Büchner Heft 10

April 2000


D i e I m p l o s ion de s CDU-Staats Stellungnahmen von Sabine Berghahn ● Wilfried von Bredow ● Wolfgang Fach ● Iring Fetscher ● Martin und Sylvia Greiffenhagen ● Richard Herzinger ● Hans Joas ● Otto Kallscheuer ● Arno Klönne ● Jürgen Kocka ● Ekkehart Krippendorff ● Christine Landfried ● Claus Leggewie ● Peter Lösche ● Wilfried Loth ● Andrei S. Markovits ● Mohssen Massarrat ● Klaus Naumann ● Claus Offe ● Roland Roth ● Karen Schönwälder ● Gesine Schwan ● Jürgen Seifert ● Kurt Sontheimer ● Ilse Staff ● Gerhard Stuby ● Bodo Zeuner Weitere Themen in Heft 3'99: Der Fall Österreich. Debattenbeiträge von Balduin Winter, Gerda Zellentin und Arthur Heinrich. ● Wolfgang Ehmke: Ausstiegsillusionen. ● Thomas Gesterkamp: Neue Selbständige in der Medienbranche. ● Tobias Nickel: Wie ich lernte, die Börse zu lieben. ● Lothar Evers: Entschädigungskompromiß ohne Verantwortung. ● Norbert Mappes-Niediek: Kroatien nach Tudjman.

Die „Blätter“ kosten im Abonnement 137,40 DM/ 107,40 DM. Bestellen Sie ein Probeabo – zwei aktuelle Hefte für 19 DM (keine automatische Verlängerung) oder ein kostenloses älteres Probeheft: Blätter Verlagsgesellschaft Postfach 2 831, 53 018 Bonn Tel. 0 228 / 650 133, Fax 650 251 e-mail: blaetter@t-online.de Internet: www.blaetter.de

Blätter für deutsche und internationale Politik


INHALT

ZUKUNFTSREGION BRANDENBURG Zusammenwachsen der Regionen durch Infrastrukturausbau von Jörg Vogelsänger . . . . . . . . . .Seite 32 Brandenburg und die EU-Osterweiterung von Dr. habil. Jochen Franzke . . .Seite 36

Interview

London and the South East von Mark F. Watts . . . . . . . . . . . .Seite 42

mit Matthias Platzeck, Oberbürgermeister der Landeshauptstadt Potsdam . . . . . .Seite 3

Beiträge

DIe Hauptstadtregion zur gemeinsamen Zukunftsregion entwickeln! von Steffen Reiche . . . . . . . . . . . .Seite 46

Neue Herausforderungen für die Brandenburger Finanzpolitik von Wilma Simon . . . . . . . . . . . . . .Seite 8

Realistische Utopie

Das Raumordnerische Leitbild der dezentralen Konzentration – Richtschnur oder Korsett für die Landesentwicklung? von Stefan Rink . . . . . . . . . . . . . . .Seite 23

Wieviele Menschen werden im Jahr 2010 in Berlin-Brandenburg leben? von Madeleine Jakob und Andreas Büchner . . . . . . . . . . . . . .Seite 56

von Rolf Schneider . . . . . . . . . . . . .Seite 49

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VORWORT

Konsolidierung der Landesfinanzen. Brandenburgs Finanzministerin Dr. Wilma Simon stellt in ihrem Beitrag ihr Konzept vor. Welche Auswirkungen die Osterweiterung der EU für die Hauptstadtregion hat, beleuchtet Dr. habil. Franzke von Universität Potsdam. Brandenburgs SPD-Landesvorsitzender Steffen Reiche stellt sein Konzept für einen Neuanlauf zur Länderfusion vor. Stefan Rink zieht eine Bilanz des auch in Brandenburg umstrittenen Konzepts der „Dezentralen Konzentration“. Unsere neuen Redaktionsmitglieder Madeleine Jakob und Andreas Büchner setzen sich mit den Konsequenzen aus den absehbaren demographischen Veränderungen in der Gesamtregion auseinander. Ein besonderes Bonbon ist der Beitrag von Rolf Schneider, der im Vorfeld der Fusionskampagne 1996 verfaßt wurde. Der geneigte Leser mag entscheiden, ob die Argumente in diesem Beitrag heute nicht noch genauso aktuell sind wie vor gut 4 Jahren....

Liebe Leserinnen und Leser, Berlin und Brandenburg sind aus der Randlage heraus. Mit dem Regierungsumzug im Herbst vergangenen Jahres sind beide Länder zur Hauptstadtregion geworden und ins Zentrum gerückt. Wenn auch noch nicht überall realisiert wird, dass der Weg in die „Berliner Republik“ unumkehrbar ist, macht sich in der Hauptstadtregion etwas wie Aufbruchstimmung bemerkbar. Sicherlich ist es deshalb kein Zufall, dass seit wenigen Monaten wieder die Diskussion um einen erneuten Anlauf zur Länderfusion aufgeflammt ist. Die politische Klasse scheint langsam den Schock vom Mai 1996 zu verdauen, als insbesondere die Brandenburger den Weg in ein gemeinsames Bundesland Berlin-Brandenburg verweigerten. Der Mut, einen neuen Fusionsanlauf zu wagen und damit die Hauptstadtregion gemeinsam zu entwickeln, wächst wieder. Ob allerdings aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt worden ist, scheint angesichts des Streits um den Zeitpunkt eines erneuten Fusionsanlauf zweifelhaft. Mit unserer zehnten Ausgabe der Perspektive wollen wir einen Beitrag leisten, die Diskussion über die Zukunft der Hauptstadtregion zu forcieren. Eine wichtige Frage der Zukunftsgestaltung der Länder Berlin und Brandenburg ist die

P.S. Viele ältere Ausgaben der Perspektive 21 sind mittlerweile vergriffen. Mit der beigefügten Postkarte können aber noch die Ausgaben 6 - 9 kostenlos nachbestellt werden. Oder einfach per e-mail: perspektive21@spd.de.

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INTERVIEW

„ÜBERLEBEN GROSSER STÄDTE BEDEUTET AUCH SICHERHEIT FÜR UMLANDGEMEINDEN.“

Ein Interview mit Matthias Platzeck, Oberbürgermeister der Landeshauptstadt Potsdam Brandenburg ist mit seiner Industrie- und Gewerbestruktur, mit dem Reichtum an Zeugnissen und Stätten der Kultur und Wissenschaft, an Wald und Wasser, mit der Vielzahl an Naturschutzgebieten, Naturparks und Biosphärenreservaten der ideale Partner für die europäische Metropole Berlin. Die Konzentration nationaler und internationaler Aufmerksamkeit auf die Hauptstadt ist auch eine Chance zur Weiterentwicklung Brandenburgs und eine der besten Werbemaßnahmen für unser Land. Das Interesse an Brandenburg und an der Landeshauptstadt Potsdam ist z.B. an der wachsenden Zahl nationaler und internationaler Tagungen und Konferenzen ablesbar, die in Potsdam und im Land Brandenburg stattfinden.

Die Bundesregierung sitzt jetzt in Berlin. Ändert das wirklich etwas für Brandenburg? Für das Land Brandenburg ist der Regierungswechsel nach Berlin ein großer Gewinn. Brandenburg ist damit in das Zentrum der bundesdeutschen Politik gerückt. Wir sind Hauptstadtregion, die Lage Brandenburgs an der Grenze zu Polen ist Herausforderung und Aufgabe bei der gesamteuropäischen Entwicklung. Der anstehende Beitritt Polens und weiterer mittel- und osteuropäischer Länder zur EU wird im Rahmen der deutsch-polnischen und insbesondere der brandenburgisch-polnischen Zusammenarbeit vorbereitet und unterstützt .

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ÜBERLEBEN GROSSER STÄDTE BEDEUTET … Interview mit Potsdams Oberbürgermeister Matthias Platzeck

Seit einigen Monaten wird wieder über die Fusion der Länder Berlin und Brandenburg diskutiert. 1996 haben die Brandenburgerinnen und Brandenburger in einer Volksabstimmung die Fusion abgelehnt. Warum kam es zu dieser Ablehnung?

Der Streit konzentriert sich gegenwärtig auf die Frage, wann ein neuer Anlauf zur Länderfusion gestartet werden kann. Können Sie überhaupt erkennen, dass ein neuer Fusionsanlauf im Jahr 2004 oder im Jahr 2009 eine größere Chance hätte als im Jahr 1996? Hat sich die Einstellung der Brandenburgerinnen und Brandenburger zu einer Fusion geändert?

Es gab mehrere Gründe für diese Ablehnung. Wir müssen konstatieren, dass wir es nicht vermocht haben, insbesondere der brandenburgischen Bevölkerung die Vorzüge einer Fusion der Länder Berlin und Brandenburg zu verdeutlichen. Der Umfang der Veränderungen im persönlichen, familiären, im beruflichen, im sozialen Umfeld eines jeden einzelnen hat in den Jahren von 1989 bis 1996 ein vorher nie für möglich gehaltenes Ausmaß umfasst. Es ist verständlich, dass da eine innere Abwehrhaltung gegen weitere Veränderungen, deren objektive Notwendigkeit nicht klar nachvollziehbar war, eingenommen wurde. Emotionen spielten außerdem eine große Rolle - alte Abneigungen gegen Ostberlin, das immer als Schaufenster der DDR bevorzugt wurde, und neue Abneigungen gegen Westberlin, geschürt durch arrogante Bemerkungen von Klaus Landowsky, spielten bei der Stimmabgabe 1996 auch mit. Und dann der Vorbehalt, sind wir schon standfest genug, werden uns die Berliner unterbuttern? Müssen wir die Schulden der Berliner am Ende mitbezahlen? All´ dies gehörte zum Ursachengefüge.

Die ungeschminkten Diskussionen nach dem Scheitern des Fusionsanlaufes von 1996 haben dazu beigetragen, dass ohne Zeitdruck sofortiger Entscheidungsnotwendigkeit wesentlich emotionsloser die Vor- und Nachteile angesprochen werden können. Die Entwicklungen im gesamteuropäischen Kontext, das verstärkte Hinwenden auf Regionen, die auch im europäischen Zusammenhang identifizierbar und strukturell ausgewogen sein müssen, ist meines Erachtens zwischenzeitlich in Brandenburg wesentlich mehr in das allgemeine Bewusstsein getreten. Das Land Brandenburg allein ist zu klein, und daher nicht in der Lage, sich langfristig allein zu behaupten. Durch den von mir unterstützten Gedanken eines Nordstaates Berlin-Mecklenburg/Vorpommern-Brandenburg würde wesentlich mehr strukturelle Ausgewogenheit entwickelt werden können. Dies würde auch die Fragen der Zusammenarbeit mit unserem polnischen Nachbarn positiv beeinflussen. Übrigens wirkt sich auch der Umzug der Bundesregierung und deren steigendes Ansehen positiv auf die Bereitschaft, über die Fusion nachzudenken, aus. 4


ÜBERLEBEN GROSSER STÄDTE BEDEUTET … Interview mit Potsdams Oberbürgermeister Matthias Platzeck

Ich halte den Zeitplan von Steffen Reiche in vielen Punkten für sinnvoll - überstürztes Handeln bringt uns nichts.

mit einer Stabilisierung und Entwicklung der industriellen Kerne, der neuentstandenen Wirtschaftsstandorte und mit einer kieselklaren Profilierung als Medienstandort, als Zentrum der Verkehrs-, Kommunikations- und Biotechnologie muss Brandenburg seinen Kurs für jeden in der Welt klar erkennbar bestimmen. Falsche Eitelkeiten in Bezug auf die länderübergreifende Zusammenarbeit, z.B. im Medienbereich, sind fehl am Platz. Die Kooperation nach Norden und Süden muss ebenso selbstverständlich sein wie der wirtschaftliche Handschlag über die Oder-NeißeGrenze.

Unabhängig , ob es zu einer Fusion kommt oder nicht: Brandenburg ist zur Hauptstadtregion geworden. Davon profitiert insbesondere der sogenannte „Speckgürtel“, der engere Verflechtungsraum. Brandenburg will mit der Politik der „Dezentralen Konzentration“ auch den äußeren Entwicklungsraum stärken. Die Arbeitslosigkeit in der Prignitz, Uckermark und Lausitz ist aber deutlich höher als im Berlin nahen Raum. Wenn Sie jetzt nach zehn Jahren Bilanz ziehen, ist die Politik der „Dezentralen Konzentration“ nicht gescheitert?

Bevölkerungsprognosen bis zum Jahr 2015 zeigen, dass insbesondere die kreisfreien Städte Brandenburg, Frankfurt und Cottbus, aber auch die Landeshauptstadt Potsdam einen drastischen Bevölkerungsschwund erleiden werden. Wie kann aus Ihrer Sicht die Überlebensfähigkeit der großen Städte gewährleistet werden?

Die Politik der dezentralen Konzentration ist nicht gescheitert. Die Einschätzung, dass man mit dezentraler Konzentration die Fragen der Arbeitslosigkeit, der Entwicklung der Infrastruktur schneller in den Griff bekommt, ist richtig. Ohne die Konzentration auf die im Hinblick auf Berlin dezentralen Standorte hätte es dort einen wesentlich größeren Zusammenbruch auf dem Arbeitsmarkt gegeben und die damit verbundene Talsohle wäre noch tiefer gelegen. Dennoch muss darauf geachtet werden, dass die dezentrale Konzentration nicht und wider besseren wirtschaftlichen Wissens Förderungen in strukturschwache Gebiete bringt, die auch bei besten Prognosen nicht zu selbsttragenden Entwicklungen führen. Mit einer Verbesserung der Verkehrsverbindungen zwischen den Mittel- und Oberzentren,

Um zu verhindern, dass die größeren Städte unseres Landes zu Sozialstationen werden, müssen viele Räder sinnvoll ineinandergreifen. Zunächst müssen die Städte alles tun, um aus sich heraus handlungsfähig zu bleiben und Attraktivität zu entwickeln. Dazu gehören die konsequente Konsolidierung der Haushalte, so unpopulär dies auf den ersten Blick auch sein mag, sowie die zügige Reform der Verwaltungen hin zu ganz klar auf die Bürger orientierte 5


ÜBERLEBEN GROSSER STÄDTE BEDEUTET … Interview mit Potsdams Oberbürgermeister Matthias Platzeck

Dienstleistungseinrichtungen genauso wie ein Leitbild und eine daraus abgeleitete Prioritätensetzung, die die Potentiale und Chancen der jeweiligen Stadt verdeutlicht. Prioritäten zu setzen, heißt nicht nur „ja“ zu Vorhaben zu sagen, sondern auch „nein“ zu anderen - da liegt dann meist der Schwachpunkt. Auf der anderen Seite muss das Land den Städten das Dasein von Bildung, Kultur, von Arbeitsplätzen, von Wissenschaft und Forschung etc. auch ermöglichen. Dazu gehört neben der finanziellen Ausstattung auch eine konsequent durchgeführte Gebietsreform. Diese Zukunftssicherung bedeutet nicht nur Überleben der großen Städte, sondern auch Sicherheit für die jeweiligen Umlandgemeinden. Der Ausgleich, das gemeinsame Tragen von Lasten zugunsten der Bevölkerung wie z.B. Theater, Schwimmhallen, Sportstätten kann darüber ebenso gesichert werden wie ein servicefreundliches Verfahren, z.B. bei der Nahverkehrsanbindung und dem Service der jeweiligen Verwaltungen. Hier wird mit Sicherheit die aktive Rolle der Landesregierung gefordert sein, da dieser Prozess aus meiner Sicht ansonsten mit zuviel Kraft und Zeitaufwand zu schleppend vorangehen würde.

Welche Konsequenzen wird das für die mentale Entwicklung und Stimmung im Land haben? Es ist nicht auszuschließen, dass Stimmungen wie „die da drinnen“ und „die da draußen“ entstehen können. Bevölkerungsrückgang im äußeren Entwicklungsraum kann durch Politik gedampft, aber nicht verhindert werden - sonst müsste man Freiheiten beschneiden, z.B. bei der Wohnort und Arbeitsplatzwahl. Gute verkehrliche Anbindung der Zentren im äußeren Raum mit Schiene und Straße, die gezielte Förderung passender Ansiedlungen und der Kommunikationsinfrastruktur werden Beiträge sein, die Entwicklung nicht dem Selbstlauf zu überlassen. Der Prozess der Osterweiterung der Europäischen Union kommt langsam in Bewegung. Die Politik betont insbesondere die Chancen dieses Prozesses. In der Bevölkerung gibt es aber sehr viele Vorbehalte und Ängste. Welche Auswirkungen erwarten Sie für Brandenburg durch den Prozess der Osterweiterung? Die Erweiterung der Gemeinschaft nach Osten ist für mich kein karitativer Akt, sondern liegt in unserem ureigensten Interesse und außerdem - was wäre denn die Alternative? Abschottung o.ä. hält wohl niemand mehr für ein erfolgversprechendes Mittel. Für Brandenburg selbst sind zügige Verhandlungen, insbesondere mit unseren Nach-

Noch einmal zurück zur Entwicklung der unterschiedlichen Regionen im Land Brandenburg. Es ist zu erkennen, dass im engeren Verflechtungsraum um Berlin sehr viele relativ gut verdienende zuziehen, während die peripheren Regionen sehr stark unter Abwanderung und Überalterung zu leiden haben. 6


ÜBERLEBEN GROSSER STÄDTE BEDEUTET … Interview mit Potsdams Oberbürgermeister Matthias Platzeck

barn Polen, aber auch mit Tschechien und Ungarn von direktem Vorteil. Ängste und Sorgen, z.B. in Bereichen der Landwirtschaft und des Arbeitsmarktes, müssen aufgenommen, offen besprochen und evtl. mit ja auch bei der Süderweiterung praktizierten Übergangsregelungen vermindert werden.

Die Effekte, die die Vergrößerung des Marktes, die der große Modernisierungsbedarf im Osten, die in Sachen Sicherheit und Stabilität aber erzielt werden können, überwiegen mit Sicherheit temporäre Schwierigkeiten und Umgewöhnungsprozesse auf einigen Sektoren.

Matthias Platzeck ist Oberbürgermeister von Potsdam und war bis 1998 als Umweltminister verantwortlich für Raumordnung und Landesplanung. www.potsdam.de/stadtpolitik

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THEMA

NEUE HERAUSFORDERUNGEN FÜR DIE BRANDENBURGER FINANZPOLITIK

von Wilma Simon

Darüber hinaus haben im Bereich der Planung, Erstellung und Finanzierung öffentlicher Leistungen viele der von der öffentlichen Hand wahrzunehmenden Aufgaben einen Komplexitätsgrad erreicht, der mit dem hergebrachten Instrumentarium der öffentlichen Verwaltung und des kameralistischen Finanzwesens allein nicht zu bewältigen ist. Beispielhaft zu nennen sind hier große Infrastrukturprojekte wie Flughäfen, aber auch die gesamte Umgestaltung der Verwaltung hin zu modernen und bürgerorientierten Dienstleistern. Speziell in den neuen Bundesländern muss dabei auf vielen Gebieten ein immer noch immenser Nachholbedarf realisiert werden, obwohl sich die staatlichen Refinanzierungsmög-

I. Einleitung Der Landeshaushalt steht unter einem unbestreitbaren Konsolidierungsdruck, der unterschiedlichste Gründe hat. Neben der Verschuldungsproblematik sieht sich Brandenburg – wie auch die anderen neuen Länder - der unabweislichen Tatsache gegenüber, dass die Finanztransfers an die neuen Länder langfristig kaum auf dem derzeitigen Niveau verbleiben werden. Der Solidarpakt läuft mit dem Jahr 2004 aus. Die prekäre Mittelknappheit öffentlicher Kassen allerdings nur einnahmeseitig zu betrachten hieße, das Problem zu verkürzen; denn der finanzpolitische Handlungsspielraum wird auch durch Fehlbewirtschaftung auf der Ausgabenseite eingeschränkt. 8


NEUE HERAUSFORDERUNGEN … von Wilma Simon

lichkeiten etwa durch die erforderliche steuerliche Entlastung von Unternehmen und privaten Haushalten durch die Einkommen- und Unternehmensteuerreform ab 2001 weiter verschlechtern werden. Das Ziel des Beitrags besteht darin, die aktuellen und zukünftigen Herausforderungen für die Brandenburger Finanzpolitik darzustellen und das Bewusstsein für die bevorstehenden Aufgaben zu schärfen. Dabei werden Probleme des Landes erörtert, die zum Teil als typisch brandenburgisch, überwiegend jedoch als symptomatisch für die neuen Bundesländer angesehen werden können und von daher auch ein allgemeines Dilemma der gesamtdeutschen Finanzpolitik beschreiben.

II. Ausgangssituation in Brandenburg Nach Gründung des Landes im Herbst 1990 waren die Startbedingungen Brandenburgs ähnlich ungünstig wie die der anderen neuen Länder. Das Erbe der DDR umfasste vor allem verrottete Infrastruktursysteme, marode Städte und Dörfer, eine hohe Umweltbelastung und flächendeckend nicht wettbewerbsfähige Wirtschaftsstrukturen. Der Zustand im Osten Deutschlands wurde maßgeblich dadurch verursacht, dass die Grundversorgung der Bevölkerung nur bei einer gleichzeitigen Vernachlässigung des volkswirtschaftlichen Sachkapitals sichergestellt werden konnte. Diese jahrzehntelang praktizierte Verschleißwirtschaft hat

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Beschäftigungspotenzial, von denen das Wohl ganzer Regionen abhing. Als Startbedingung von großem Vorteil für Brandenburg war sicherlich das Zentrum Berlin im Herzen des Landes. Dies hat von Beginn an die Gründung und Ansiedlung von Betrieben in Brandenburg erleichtert und wichtige Absatzmöglichkeiten für Brandenburger Produkte geschaffen. Dabei profitiert Brandenburg davon, dass das in West-Berlin ansässige Gewerbe als Folge der Berlinförderung in vielen Fällen zentrumsuntypisch war und aus diesem Grund ins Umland verlagert wurde. Umgekehrt kann Brandenburg wesentliche Freizeit- und Erholungsfunktionen für die Berliner Bevölkerung anbie-

überall tiefgreifende und deutlich sichtbare Spuren hinterlassen. In Brandenburg kam als weitere Startbedingung eine extrem ungünstige Siedlungsstruktur mit unzähligen Klein- und Kleinstgemeinden erschwerend hinzu. Zudem waren die wenigen großen Industriebetriebe häufig eine Folge von Standortentscheidungen der Planbürokratie und deswegen nicht in ein Netzwerk gewachsener regionaler Produktionsstätten eingebettet. Gerade die Großbetriebe wirkten zum Teil wie industrielle Fremdkörper in einer sonst sehr ländlichen Umgebung. Auf der anderen Seite waren sie in der Regel weit und breit die einzigen Betriebe mit einem nennenswerten

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ten, was auch das Angebot tourismusorientierter Dienstleistungen erleichtert. Ganz wichtig war natürlich auch die Hauptstadtentscheidung zugunsten Berlins, wodurch sich auch die Chancen Brandenburgs als hauptstadtnaher Wohnund Gewerbestandort und als Naherholungsgebiet weiter verbessert haben. Trotz der Synergieeffekte, die durch eine arbeitsteilige Kooperation zwischen Berlin und Brandenburg genutzt werden können, darf nicht übersehen werden, dass Brandenburg mehr ist als das Berliner Umland. Unter den neuen Bundesländern ist Brandenburg mit Abstand das flächenmäßig größte. Von daher erfasst die Ausstrahlungskraft Berlins mit den damit verbundenen positiven Effekten nur einen relativ kleinen Teil des Landes. Der größere Teil Brandenburgs wird vom Hauptstadtboom nur wenig berührt, und deswegen ergeben sich hier natürlich besondere Spannungsfelder der Landesentwicklungs- und Strukturpolitik. Zu Beginn der 90‘er Jahre war die finanzpolitische Strategie der Landesregierung, Brandenburg in seiner Leistungsfähigkeit so schnell wie möglich an das Niveau der westdeutschen Länder heranzuführen. Dies war nur möglich durch eine rasche Modernisierung und Erneuerung der Infrastruktursysteme, um die Voraussetzungen für eine selbsttragende wirtschaftliche Entwicklung möglichst schnell zu schaffen. Von daher hat die erste Landesregierung bereits im Jahr 1991 eine umfassende Investitionsoffensive gestartet. Aus dem Landeshaushalt sind in den

Anfangsjahren extrem hohe Beträge für öffentliche Investitionen und Investitionsförderung bereitgestellt worden. Die Investitionsquoten lagen in diesen Jahren regelmäßig über 30 Prozent. In der zweiten Hälfte der 90‘er Jahre wurde die investitionsorientierte Haushaltspolitik fortgesetzt, wegen engerer Finanzierungsspielräume allerdings auf etwas niedrigerem Niveau. Seitdem betragen die investiven Ausgaben Brandenburgs je Einwohner aber immer noch das Dreifache des in den westdeutschen Flächenländern erreichten Niveaus. Die Investitionsquote konnte immerhin auf einem Niveau von rd. 25 Prozent stabilisiert werden. Seit 1991 sind aus dem Landeshaushalt für investive Zwecke insgesamt mehr als 46 Mrd. DM ausgegeben worden. Das ist je Einwohner die stolze Summe von rd. 18.000 DM. Damit liegen wir mit an der Spitze der neuen Länder. Diese Mittel wurden schwerpunktmäßig vor allem dort eingesetzt, wo die Defizite der öffentlichen Leistungserstellung am größten waren und wo für die Entwicklung Brandenburgs die größten Multiplikatoreffekte zu erwarten waren: in der wirtschaftsnahen und sozialen Infrastruktur. III. Bewertung der wirtschaftlichen Entwicklung Die neun Jahre, die seit der Gründung der neuen Länder verstrichen sind, sind durchaus ein angemessener Zeitraum, um die Ergebnisse dieses enormen finanzpolitischen Kraftakts einer Bewertung zu unterziehen. Hier kann das Land Bran11


NEUE HERAUSFORDERUNGEN … von Wilma Simon

denburg insbesondere bei der wirtschaftlichen Entwicklung - gerade auch im Vergleich zu den anderen neuen Ländern beachtliche Erfolge vorweisen. Die Modernisierung der überwiegend veralteten Infrastruktur, die Ansiedlung auch international wettbewerbsfähiger Betriebe, die Gestaltung einer leistungsfähigen Hochschul- und Forschungslandschaft, der Aufbau eines modernen Sozial- und Gesundheitswesens, die ausreichende Versorgung der Bevölkerung mit Wohnraum, die Revitalisierung der Städte und Gemeinden und die Schaffung eines zeitgemäßen Schulsystems sind in den vergangenen Jahren sichtbar vorangebracht worden. Diese Fortschritte spiegeln sich auch beim Bruttoinlandsprodukt und den Pro-KopfEinkommen der Erwerbstätigen in Brandenburg wider: Seit 1995 weist Brandenburg (außer in 1998) durchweg die höchsten Wachstumsraten aller neuen Bundesländer auf. Aufgrund dieser hohen wirtschaftlichen Dynamik hat sich das Bruttoinlandsprodukt Brandenburgs seit 1991 mehr als verdoppelt. Die Wirtschaftsleistung je Einwohner lag 1998 mit einem Betrag von rd. 30.130 DM deutlich über den Ergebnissen der anderen vier neuen Länder. Entgegen der landläufigen Meinung ist also nicht Sachsen oder Thüringen, sondern Brandenburg das wirtschaftlich stärkste unter den neuen Ländern. Die hohen investiven Aufbauleistungen des Landes konnten nur zu einem Teil aus laufenden Einnahmen finanziert werden. Gut die Hälfte des investiven Finanzbe-

darfs wurde dagegen durch die Aufnahme von Krediten gedeckt. Dieses Verhältnis ist aus einer betriebswirtschaftlichen Sichtweise sicher nicht ungewöhnlich. Zu berücksichtigen ist allerdings, dass öffentliche Investitionen in der Regel nicht rentierlich sind und sich von daher auch nicht selbst finanzieren. Lehrbuchmodelle, in denen solche Selbstfinanzierungseffekte in geschlossenen Volkswirtschaften dargestellt werden, können auf kleine und extrem importabhängige Länder wie Brandenburg nicht übertragen werden, zumal sich die laufenden Einnahmen aufgrund der im Länderfinanzausgleich wirksamen Mechanismen unabhängig von der Entwicklung des eigenen Steueraufkommens immer gleichgerichtet mit denen der anderen Länder bewegen. In den ersten Jahren lagen die Kreditfinanzierungsquoten im Landeshaushalt bei jeweils über 20 Prozent. Dies sind Größenordnungen, die selbst bei rasch wachsenden Steuereinnahmen nicht dauerhaft aufrechtzuerhalten gewesen wären. Eine Hauptursache für die rasch anwachsende Verschuldung des Landes war die zu geringe Dotierung des Fonds „Deutsche Einheit“, der bis 1994 die wichtigste Einnahmequelle der neuen Länder war. Die Zuweisungen aus dem Fonds waren gemeinsam mit den sonstigen Einnahmen zwar ausreichend zur Finanzierung der laufenden Ausgaben, der immense investive Aufwand konnte damit jedoch nicht abgedeckt werden. Mit dem Auslaufen des Fonds „Deutsche Einheit“ Ende 1994 lag die Gesamtver12


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schrittweise bis auf 1 Mrd. DM zurückgeführt werden. Dies war ein äußerst ambitioniertes und ehrgeiziges Ziel, das in diesem Umfang und in diesem Tempo von keinem anderen Bundesland angestrebt worden ist. Die Landesregierung war dennoch zuversichtlich, das hohe Investitionsniveau halten zu können, indem der erforderliche Konsolidierungsaufwand im wesentlichen aus dem Zuwachs bei unseren Steuereinnamen erbracht werden sollte. Diese Erwartung hat sich nicht erfüllt. Die Einnahmen aus Steuern und Länderfinanzausgleich sind im Jahr 1999 nicht – wie in 1995 erwartet – kontinuierlich auf 15 Mrd. DM angestiegen. Im Gegenteil:

schuldung Brandenburgs bereits über dem Niveau der westdeutschen Flächenländer, ohne dass eine annähernd vergleichbare Ausstattung an Infrastruktur erreicht worden wäre. Aus diesem Grund hat die Landesregierung ab 1995 einen zukunftsorientierten finanzpolitischen Kurs eingeschlagen, mit dem die Investitionskraft und gleichzeitig die finanzielle Handlungsfähigkeit des Landes dauerhaft gesichert werden sollten. Kern dieser Strategie war eine nachhaltige Reduzierung der jährlichen Neuverschuldung. In einem ersten Schritt wurde die Nettokreditaufnahme zunächst von 4,4 auf 3 Mrd. DM abgesenkt. Danach sollte die Neuverschuldung bis zum Jahr 1999

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musste im vergangenen Jahr tiefer in die Tasche gegriffen werden als ursprünglich vorgesehen war. Trotz dieser extrem schwierigen Rahmenbedingungen wurden bisher alle Etappenziele bei der Reduzierung der Nettokreditaufnahme erreicht. Im abgelaufenen Jahr 1999 wurde – wie mittelfristig geplant - gut 1 Mrd. DM aufgenommen. Obwohl diese Reduzierung der Nettokreditaufnahme bereits als Erfolg gewertet werden darf, ist das Ziel noch lange nicht erreicht. Nach wie vor wird der Landeshaushalt von einem immensen Schuldenberg und den daraus resultierenden Zins- und Tilgungsraten in Höhe von jährlich knapp 1,5 Mrd. DM belastet.

Im vergangenen Jahr (1999) standen lediglich 13 Mrd. DM zur Verfügung, was in etwa dem Niveau von vor fünf Jahren entspricht. Das bedeutet im Ergebnis, dass die gesamtstaatlichen Steuereinnahmen über einen Zeitraum von fünf Jahren nahezu stagniert haben. Auch andere finanzrelevante Entwicklungen verliefen durchaus nicht im Sinne der Finanzministerin. Bei den gesetzlichen Verpflichtungen des Landes mussten in erheblichem Maß Mehrbedarfe abgedeckt werden. Zugleich sind für landespolitische Schwerpunkte wie die Wirtschafts- und Forschungsförderung oder die Sicherstellung der Erstausbildung mehrfach zusätzliche Mittel bereitgestellt worden. Auch bei den tarifbedingten Personalausgaben

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IV. Schuldenstand und Aufgabenproblematik Brandenburg hat unter den neuen Ländern trotz der bisherigen Konsolidierungserfolge der vergangenen Jahre die höchste Vorbelastung durch Haushaltskredite. Die Pro-Kopf-Verschuldung des Landes liegt nach wie vor an der Spitze im Osten. Sie betrug Ende 1999 fast 9.700 DM, Sachsen liegt als Bestes der neuen Länder bei knapp der Hälfte. Dies führt im Ländervergleich zu einer extrem hohen Schuldendienstbelastung Brandenburgs von derzeit fast 1,4 Mrd. DM pro Jahr, das sind umgerechnet fast 4.000 DM pro Tag. Es werden also bereits mehr als 7 Prozent der Gesamtausgaben für Zinszahlungen aufgewandt, ohne damit auch nur eine Mark zu tilgen. Auch der Vergleich zu den westdeutschen Flächenländern bestätigt den dringenden Handlungsbedarf zur Reduzierung der zusätzlichen Neuverschuldung in Brandenburg. Zum Ende des Jahres 1998 waren nur Schleswig-Holstein und das haushaltsnotleidende Saarland je Einwohner höher verschuldet als Brandenburg, wobei diese Länder im Bereich der Personal- und konsumtiven Sachausgaben eine wesentlich günstigere Struktur aufweisen und auch im Bereich der Infrastrukturausstattung deutliche Vorteile haben. Das Haushaltsvolumen lag in Brandenburg in den letzten Jahren jeweils etwa bei 19 Mrd. DM. Damit konnte zwar die hohe Ausgabendynamik früherer Jahre gestoppt werden, trotzdem hat Brandenburg immer noch ein um fast 50 Prozent

höheres Niveau als westliche Flächenländer. Mit diesem überdurchschnittlichen Volumen wird in erster Linie die Finanzierung des hohen Investitionsbedarfs sicher gestellt. Daneben bestehen gegenüber den alten Ländern aber auch in einzelnen nichtinvestiven Bereichen finanzielle Mehrbedarfe. Abgesehen von den Zinsen trifft das zum Beispiel für die Lehrkräfte zu. Aufgrund der relativ hohen Geburtenraten in der DDR liegen die Schülerzahlen in Brandenburg wie auch in den anderen neuen Ländern erheblich über den vergleichbaren westdeutschen Werten. Da die Schüler einen Anspruch auf eine Schulbildung auf bundesdeutschem Niveau haben, muss von Seiten des Landes ein entsprechendes Schüler-Lehrer-Verhältnis sichergestellt werden. Das wird sich in den nächsten Jahren aber zunehmend normalisieren und entsprechende Anpassungen bei den Lehrerzahlen nach sich ziehen. Der zweite Bereich, in dem erhebliche Mehrbedarfe geschultert werden müssen, ist der kommunale Finanzausgleich. Die Steuerkraft der Kommunen liegt derzeit bei weit weniger als 50 Prozent des westdeutschen Niveaus. Zugleich haben die Kommunen aber bei der Gewährleistung der örtlichen Daseinsvorsorge ein ähnliches Leistungsspektrum zu erfüllen wie westdeutsche Gemeinden. Aufgrund der Nachholbedarfe bei der kommunalen Infrastruktur dürften die finanziellen Belastungen der ostdeutschen Kommunen sogar überdurchschnittlich ausfallen. Die Kommunen sind staatsorganisatorisch 15


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belaufen sich auf knapp 5 Mrd. DM, das ist etwa ein Viertel der Gesamtausgaben des Landes. Ohne eine Veränderung des Personalbestands wären auf absehbare Zeit überdurchschnittlich stark anwachsende Personalausgaben unvermeidbar. Der BAT-Ost und damit korrespondierend die Beamtenbezüge liegen derzeit bei 86,5 % des Westniveaus. Aufgrund des gegenwärtig sehr starken Drucks, auch bei den Löhnen und Gehältern im öffentlichen Dienst weitere Schritte in Richtung Ost-West-Angleichung zu unternehmen, ist mit erheblichen Problemen zu rechnen. Der Druck hat sich sicher infolge des Umzugs der Bundesregierung nach Berlin noch einmal erhöht, weil in der ehemals geteilten Stadt die durch die derzeitige Regelung hervorgerufenen Zufälligkeiten besonders offenkundig werden. Die vollständige Angleichung an das Westniveau würde den Landeshaushalt dauerhaft um rd. 750 Mio. DM pro Jahr belasten. Hinzu kommt der Mehraufwand, der aufgrund der jährlichen linearen Tarifanpassung entsteht.

den Bundesländern zugeordnet und von daher obliegt es auch den Ländern, den Kreisen und Gemeinden eine angemessene Finanzausstattung zu sichern. In Brandenburg ist das Land sogar durch die Verfassung verpflichtet, durch einen kommunalen Finanzausgleich dafür zu sorgen, dass die Gemeinden ihre Aufgaben erfüllen können. Im Ergebnis bedeutet dies, dass nahezu ein Fünftel des Haushaltsvolumens unmittelbar vom kommunalen Finanzausgleich aufgezehrt wird. Darüber hinaus gewährt das Land Brandenburg seinen Kommunen noch eine Reihe von in der Regel zweckgebundenen Zuweisungen, durch die häufig die Durchführung größerer kommunaler Projekte erst ermöglicht wird. Alles in allem fließen fast 40 Prozent der Ausgaben des Landes in kommunale Hände. Solange die Relation von Einnahmen und Ausgaben relativ stabil bleibt, ist diese hohe Ausgabenbindung kein besonderes Problem. Anders sieht es dagegen aus, wenn auf der Ausgabenseite zusätzliche unerwartete Mehrbelastungen entstehen oder wesentliche Einnahmepositionen wegzubrechen drohen. In Brandenburg wird derzeit mit beiden Problemen gekämpft. Im Bereich der Ausgaben zeichnen sich derzeit drei große Problemfelder ab:

2. Schuldendienst Bei den Ausgaben für Zinsen sind wir aufgrund der hohen Gesamtverschuldung des Landes bei einem Jahresbetrag von knapp 1,4 Mrd. DM angekommen. Zumindest in den beiden kommenden Jahren werden weitere Nettokreditaufnahmen zum Ausgleich des Landeshaushaltes erforderlich werden, was den Zinsaufwand dauerhaft weiter erhöhen wird. Darüber hinaus besteht bei der nun schon seit mehreren

1. Entwicklung der Personalausgaben Im Landeshaushalt sind derzeit rd. 63.000 Stellen für Landesbedienstete ausgewiesen. Die jährlichen Personalausgaben einschließlich Personalnebenkosten 16


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Jahren andauernden Niedrigzinsphase die latente Gefahr eines Anstiegs der Kapitalmarktzinsen. Eine Erhöhung der durchschnittlichen Verzinsung der Kapitalmarktverbindlichkeiten des Landes um einen Prozentpunkt würde im Landeshaushalt mit jährlichen Mehrausgaben von 250 Mio. DM zu Buche schlagen.

dringend notwendige öffentliche Vorhaben früher und zum Teil auch kostengünstiger fertig gestellt werden können als bei dem traditionellen Verfahren. Die Entscheidung für solche Maßnahmen wird sicher auch dadurch erleichtert, dass die unmittelbare Haushaltsbelastung im Verhältnis zum Wert der zu erstellenden Projekte relativ gering ist. Der Hauptnachteil ist allerdings, dass häufig eine langjährige Vorbelastung zukünftiger Haushalte in Kauf genommen und von daher finanzpolitische Entscheidungsspielräume erheblich eingeengt werden. In Brandenburg haben wir uns z. B. bei der Durchführung des staatlich geförderten Wohnungsbaus für ein Finanzierungs-

3. Langfristig wirksame Verbindlichkeiten Seit einigen Jahren erfreuen sich verschiedene Alternativen zur klassischen Haushaltsfinanzierung bei der Durchführung öffentlicher Investitionsvorhaben einer gewissen Beliebtheit. Der Vorteil solcher Modelle ist sicher darin zu sehen, dass

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sen. Allein aus der geplanten Unternehmensteuerreform werden jährliche Steuerausfälle für das Land in Höhe von bis zu 250 Mio. DM erwartet. Ausfälle in einer solchen Größenordnung stellen die Finanzpolitik in Anbetracht der sowieso stark angespannten Haushaltslage vor sehr ernste Herausforderungen. Hinzu kommen die Effekte aus dem beabsichtigten Vorziehen der Einkommensteuerreform, die den Landeshaushalt gerade im Jahr 2001 – wenn den Ländern nicht noch Kompensation auf der Einnahmeseite gewährt wird, mit 300 bis 400 Mio. DM belasten werden.

modell außerhalb des Haushalts entschieden. Mit Hilfe dieser Konzeption ist es tatsächlich gelungen, eine angemessene Wohnraumversorgung der Bevölkerung innerhalb eines relativ kurzen Zeitraums in den Griff zu bekommen. Die Schattenseite dieses Erfolgs sind außerhalb des Landeshaushaltes aufgelaufene Verbindlichkeiten von 14 Mrd. DM, die über einen Zeitraum von mindestens 15 Jahren durch nahezu gleichbleibende Anmuteten finanziert werden müssen. Im Ergebnis könnte selbst durch eine ersatzlose Streichung aller Wohnungsbaumaßnahmen kurz- und mittelfristig keine nennenswerte Entlastung des Landeshaushaltes erreicht werden.

2. Auslaufen des Solidarpaktes I Brandenburg erzielt einen ganz maßgeblichen Anteil seiner nicht zweckgebundenen Einnahmen aus den im Solidarpakt I festgelegten Regularien zum bundesstaatlichen Finanzausgleich. Die Steuereinnahmen des Landes allein reichen für eine angemessene Finanzierung der Ausgaben bei Weitem nicht aus. Sie decken nicht einmal die Hälfte des aktuellen Finanzbedarfs ab. Erst durch die Einnahmen, die aus dem horizontalen Länderfinanzausgleich, den Ergänzungszuweisungen des Bundes und den Leistungen nach dem Investitionsförderungsgesetz Aufbau Ost fließen, kann ein verfassungsgemäßer Haushalt aufgestellt werden. Derzeit wird ein Viertel des gesamten Haushaltsvolumens aus den auf den Regelungen des Solidarpakts I beruhenden Einnahmen finanziert. Ein großer Teil dieser Einnahmen – rd. 3

V. Einnahmeentwicklung Auf der Einnahmeseite des Landeshaushalts zeichnen sich derzeit zwei große Risiken ab: 1. Steuerreform Das weitreichende Steuerreformpaket der Bundesregierung setzt wichtige Signale für die positive Entwicklung von Wachstum und Beschäftigung in Deutschland und bringt sowohl für Investoren als auch für Arbeitnehmer erhebliche Verbesserungen. Nach dem derzeitigen Stand der Dinge werden im Zeitraum bis 2005 gegenüber 1998 insgesamt Entlastungen über 70 Mrd. DM erreicht. So wichtig weitere Reformschritte für die Zukunftsfähigkeit Deutschlands sind, so schmerzhaft sind die finanziellen Einschnitte, die dem Land Brandenburg daraus erwach18


NEUE HERAUSFORDERUNGEN … von Wilma Simon

Mrd. DM – war von Beginn an über einen Zeitraum von 10 Jahren, d. h. bis zum Jahr 2004 zeitlich befristet. Seit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Verfassungsmäßigkeit des bundesstaatlichen Finanzausgleichs vom 11. November 1999 ist bekannt, dass der gesamte bundesstaatliche Finanzausgleich bis spätestens zum Jahr 2004 auf eine neue Grundlage gestellt werden muss. Da bei der Neugestaltung des bundesstaatlichen Finanzausgleichs sehr unterschiedliche Interessen aufeinander prallen, kann heute unmöglich eingeschätzt werden, wie die zukünftigen Regelungen einmal aussehen werden und welche Maßnahmen für den Solidarpakt II zugunsten der neuen Länder vereinbart werden. Fest steht nur, dass der Ausgang der nun zu führenden Verhandlungen für die neuen Länder, die allesamt Steuerdeckungsquoten von unter 50 % aufweisen, mit gravierenden Haushaltsrisiken verbunden ist. Es wäre deswegen mehr als fahrlässig davon auszugehen, dass nach dem Jahr 2004 alles so bleibt wie es ist. Vor diesem Hintergrund dürfen die skizzierten Haushaltsrisiken nicht einfach nur zur Kenntnis genommen und gehofft werden, dass alles schon nicht ganz so schlimm kommen wird. Dies würde innerhalb kurzer Zeiträume dazu führen, dass der gesamte Konsolidierungsbedarf zulasten der Investitionen erbracht würde, weil dort die größte Manövriermasse steckt. Dies wäre zwar der unkomplizierteste und der am schnellsten umzusetzende Weg zur Schließung von Haushalts-

löchern. Nur: Im Interesse des Landes ist es der falsche Weg, weil er den sowieso schon langwierigen Aufholprozess noch weiter verzögert. Dem muss entgegengewirkt und entsprechende Vorsorge getroffen werden. VI. Finanzpolitische Strategie Die finanzpolitische Strategie geht davon aus, dass 1. die überproporzionale finanzielle Ausstattung der neuen Länder auf dem derzeitigen Niveau nur bis zum Jahr 2004 definitiv gesichert ist und 2. innerhalb dieses Zeitraums die verfügbaren Mittel vorrangig für strukturverbessernde Maßnahmen bereitgestellt werden müssen. Dies setzt zunächst einmal voraus, dass konsumtive Ausgaben, insbesondere für Personal und Schuldendienst strikt begrenzt werden müssen. Aus diesem Grund hat die Landesregierung beschlossen, die Anzahl der Stellen in der Landesverwaltung von derzeit 63.000 bis zum Jahr 2005 auf 55.000 zu reduzieren. Parallel dazu müssen viele der derzeitigen Verwaltungsstrukturen noch stärker auf Effektivität getrimmt werden, um die Leistungsfähigkeit der Verwaltung auch zukünftig sicherzustellen. Zum Zweiten hat die Landesregierung beschlossen, die Nettokreditaufnahme bis zum Jahr 2002 auf »Null« abzusenken. Damit ist vor allem die Erwartung verbunden, den besorgniserregenden Anstieg der Zinsausgaben zu stoppen und mittelfristig den Anteil des Schuldendienstes an 19


NEUE HERAUSFORDERUNGEN … von Wilma Simon

den Gesamtausgaben des Landes wieder deutlich zurückzuführen. Ohne diesen Schritt wird es nicht gelingen, die finanzpolitische Handlungsfähigkeit dauerhaft zu erhalten. Ob dieses ehrgeizige Ziel erreicht wird, hängt nicht zuletzt von der Einnahmenseite ab. Umfangreiche Steuerentlastungen ohne Gegenfinanzierung, wie derzeit von der Bundesregierung geplant, erschweren natürlich den Defizitabbau. Die bereits aufgezeigten Haushaltsrisiken und die stufenweise Rückführung der Nettokreditaufnahme erfordern erhebliche Einsparungen, um dauerhafte Rahmenbedingungen für ausgeglichene Haushalte zu schaffen. Die Möglichkeiten, zumindest einen Teil der erforderlichen Konsolidierungsbeiträge über steigende Einnahmen zu erbringen, sind dagegen sehr begrenzt. Aufgrund der im bundesstaatlichen Finanzausgleich wirksamen Ausgleichsmechanismen ist eine expansive Entwicklung des gesamtstaatlichen Aufkommens die zentrale Voraussetzung für eine Verbesserung der eigenen Einnahmesituation. In einer rein fiskalischen Betrachtungsweise sind aufgrund der bereits feststehenden zukünftigen Steuererleichterungen und der noch ausstehenden Stufen der Steuerreform zumindest die kurz- und mittelfristigen Perspektiven alles andere als günstig. Das Konsolidierungspotenzial durch die in vergangenen Jahren üblichen globalen Haushaltskürzungen ist weitgehend ausgereizt. Beispielsweise liegen die sächlichen Verwaltungsausgaben in Branden-

burg je Einwohner bereits zwischen 30 und 70 DM unter dem Niveau der anderen neuen Länder. Auch die sonstigen konsumtiven Sachausgaben können aufgrund bestehender rechtlicher Bindungen nicht entscheidend reduziert werden. Bei den Investitionen werden in erheblichem Umfang Drittmittel gebunden, sowohl bei der Mittelbeschaffung beim Bund und der EU als auch durch Anreizung privater Investitionen, so dass Kürzungen in diesem Bereich doppelt schmerzlich wären. Aus diesen Gründen geht an einer strukturellen Entlastung der Ausgabenseite des Landeshaushaltes kein Weg vorbei. Die Landesregierung hat zur Vorbereitung eines entsprechenden Haushaltsstrukturgesetzes einen umfangreichen Maßnahmenkatalog beschlossen. Kernpunkte sind neben der bereits erläuterten Reduzierung der Personalausgaben eine leistungsorientierte Umgestaltung der Forstverwaltung, eine Absenkung von Leistungsstandards bei den Kindertagesstätten sowie eine Rückführung der Betriebskostensubventionierung im öffentlichen Personennahverkehr. Daneben wurde eine umfangreiche Palette von Einzelmaßnahmen erarbeitet, die vor allem auf eine effizientere staatliche Aufgabenwahrnehmung abzielen. Dazu gehören auch ein Outsourcing von Aufgaben und die Ausgliederung von Teilen der Verwaltung in betriebswirtschaftlich arbeitende Landesbetriebe bis hin zur Privatisierung. Mittel- bis langfristig wurde ein Entlastungsvolumen von nahezu 900 Mio. DM 20


NEUE HERAUSFORDERUNGEN … von Wilma Simon

ins Auge gefasst. Das sind etwa 5 Prozent des Haushaltsvolumens. Dabei wurden die Investitionen weitgehend aus den Konsolidierungsüberlegungen ausgeklammert, so dass im Ergebnis nicht nur die finanzielle Leistungsfähigkeit des Landes gestärkt, sondern auch die Ausgabenstruktur nachhaltig verbessert wird.

im privaten Sektor kostengünstiger erledigt werden können. Schon heute ist klar: Kürzungen in Einzelbereichen führen bei haushaltsstrukturellen Verwerfungen nicht weiter. Zukünftig müssen ganze Bereiche definiert werden, die nicht mehr staatlich oder kommunal gefördert oder betrieben werden sollen. Weg von der Subventions- oder Vollkaskomentalität! 3. Bei den Mitarbeitern muss unternehmerisches Denken und Kostenorientierung gefördert werden. Auch der sogenannte hoheitliche Bereich darf sich zukünftig nicht völlig losgelöst von Wirtschaftlichkeit bewegen. Dazu gehört auch die kräftige Begrenzung oder besser noch Abschaffung des im Ausland teilweise völlig unbekannten und antiquierten öffentlichen Dienstrechts einschließlich des Berufsbeamtentums. Kleine und flinke staatsnahe oder lediglich im staatlichen Auftrag handelnde Agenturen erledigen dort Aufgaben, die bei uns in den Ministerien liegen. Wenn die Aufgaben erledigt sind, verschwinden auch die Agenturen vom Markt oder werden völlig umgestaltet. 4. Schwerpunktsetzung in einem modernen Brandenburg bedeutet auch die konsequente Nutzung moderner Datenverarbeitungstechnik; dies ist nebenbei bemerkt die unabdingbare Voraussetzung einer funktionierenden Kosten-LeistungsRechnung und aller betriebswirtschaftlichen Steuerungsmodelle. 5. Und schließlich geht es um die größten Herausforderungen für die nächsten Jah-

VII. Schlussfolgerungen Angesichts der heutigen Lage muss die Modernisierung des Staates schnell vorangetrieben werden. Allerdings ist die Krise der öffentlichen Haushalte nicht mehr durch herkömmliche Methoden zu bewältigen. Obgleich lineare Kürzungen und sogenannte Giftlisten des Finanzministeriums in modernen Steuerungskonzepten nicht vorgesehen sind, werden sie heute noch gebraucht. Worum es aber wirklich geht, ist die Entwicklung einer neuen Denkweise: »Zukunft modernes Brandenburg«. Dies bedeutet: 1. Betriebswirtschaftliche Steuerung der öffentlichen Haushalte: Nicht mehr Einnahmen/Ausgaben und strikte Verbuchung nach Haushaltsjahren, sondern Kosten/Erträge und Bilanzen schaffen zukünftig die entscheidungsrelevanten Informationen. Dazu gehören in einem ersten Schritt Rücklagenmodelle, die den Einrichtungen mehr Flexibilität geben. 2. Kosten- und Leistungsrechnung im öffentlichen Dienst schafft die Voraussetzung zur Identifikation von Bereichen, die 21


NEUE HERAUSFORDERUNGEN … von Wilma Simon

mann/Vodafone zeigt doch schlaglichtartig, dass der internationale Wettbewerb mit aller Härte auch nach Deutschland greift. Es ist die wichtigste Aufgabe das Land dafür fit zu machen. Die Vorbereitungen des Haushaltsstrukturgesetzes befinden sich z. Zt. in der Endphase. Der Gesetzentwurf soll gemeinsam mit dem Doppelhaushaltsentwurf 2000/2001 in drei Wochen von der Landesregierung beschlossen werden. In den vorbereitenden Gesprächen dazu, vor allem aber in öffentlichen Äußerungen von Interessenverbänden und in der Darstellung in den Medien ist einmal mehr deutlich geworden, dass nahezu alle beabsichtigten Sparmaßnahmen nur gegen mehr oder weniger hohe Widerstände durchsetzbar sind, vor allem dann, wenn die Sicherheit von Arbeitsplätzen oder Arbeitsbedingungen von Landesbediensteten unmittelbar berührt wird. Auch in Zukunft wird viel Kraft und eine große Portion Stehvermögen aufgebracht werden müssen, um die Zukunftsfähigkeit Brandenburgs weiter voranzubringen.

re: Wenn durch steuerpolitisch gewollte Maßnahmen (wie gerade von der Bundesregierung beschlossen) eine dauerhaft niedrige Steuerquote erreicht wird – insbesondere auch niedrigere Unternehmensteuern -, dann fordert es die Ehrlichkeit, auch einen niedrigeren Ausgabenpfad anzusteuern. Konkret: Konsequente Streichung von Subventionen für Unternehmen und auch hier im Osten. Es kann doch nicht auf die Dauer so weiter gehen, dass jeder Unternehmer erst einmal fragt, wieviel Zuschüsse (z. B. im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe »Regionale Wirtschaftsförderung«) er vom Staat kassieren kann, bevor er investiert. Die Gesellschaft muss sich entscheiden: Will sie einen modernen, effizienten und marktwirtschaftlich denkenden Staatssektor? Dann muss sie aber auch bereit sein, auf lieb gewordenes Versorgungsdenken zu verzichten. Und das gilt natürlich auch und insbesondere für Unternehmer. An dieser modernen Form der Umgestaltung des Staates führt kein Weg vorbei. Die jüngste Entwicklung im Fall Mannes-

Wilma Simon ist Finanzministerin des Landes Brandenburg. www.brandenburg.de/land/mdf

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THEMA

DAS RAUMORDNERISCHE LEITBILD DER DEZENTRALEN KONZENTRATION – RICHTSCHNUR ODER KORSETT FÜR DIE LANDESENTWICKLUNG? von Stefan Rink Der wiederkehrenden Forderung nach einer Veränderung oder gar Abschaffung des raumordnerischen Leitbilds wird postwendend vehement widersprochen von anderen Wirtschaftsexperten, von Fachleuten für Raumordnung und von Politikern aus den ländlichen Regionen. Die Verteidiger des geltenden Leitbilds betonen die politische Verpflichtung, gleiche Lebensverhältnisse in allen Landesteilen herzustellen und widersprechen energisch dem Vorwurf, die wirtschaftliche Entwicklung in Brandenburg sei mit den Mitteln der Raumordnung gebremst worden. Was ist dezentrale Konzentration? Warum wurde dieses Leitbild entwickelt? Wie leitet es das Regierungshandeln und

Alle 2 bis 3 Jahre wiederholt sich das gleiche Ritual. Einer oder mehrere Wirtschaftsexperten treten auf und brandmarken das raumordnerische Leitbild der dezentralen Konzentration als Überbleibsel aus längst vergangener staatsdirigistischer Zeit. Die von diesen Experten favorisierten Alternativen heißen „Förderung von Wachstumspolen” oder - wie in der aktuellen Diskussion - „vorausschauende Regionalpolitik”. Das Ziel dieser Vorstöße ist es, insbesondere die Wirtschaftsförderung auf das Umland von Berlin zu konzentrieren. Der dadurch ausgelöste Wirtschaftsboom bleibt - so zumindest hofft man - nicht auf den Speckgürtel von Berlin beschränkt, sondern breitet sich nach und nach über das ganze Land aus. 23


RAUMORDNERISCHES LEITBILD … von Stefan Rink

welche Beiträge zur Entwicklung des Landes gehen auf sein Konto?

len gleichwertige Lebens- und Arbeitsbedingungen zu schaffen und zu erhalten. Eine gemeinsame Regierungskommission der Länder Berlin und Brandenburg legte schließlich Ende 1992 die Eckwerte für ein gemeinsames Landesentwicklungsprogramm vor, darunter das Leitbild der dezentralen Konzentration. Der Raumordnungsbericht definiert das Leitbild der dezentralen Konzentration wie folgt: Der Siedlungsdruck auf große Stadtregionen soll auf umliegende, zum Kern der Stadtregion dezentral liegende Entlastungsorte gelenkt und dort konzentriert werden. Damit werden einerseits Entwicklungsimpulse auf die Zentren und ihre Verflechtungsbereiche erwartet, andererseits soll damit der Zersiedelung des Landschaftsraumes entgegengewirkt werden. Der Entwicklungsdruck auf das Berliner Umland soll so konzentriert auf Entwicklungsschwerpunkte - teilweise in die Fläche des Landes gelenkt werden. Entscheidend für die Auswahl der Schwerpunktorte sind die vorhandenen Arbeitskräfte- und Infrastrukturangebote. Gleichzeitig werden besondere Probleme wie ehemalig militärisch genutzte Areale oder monostrukturierte industriell-gewerbliche Schwerpunkte berücksichtigt (siehe Grafik). Seit 1993 hat das Leitbild Eingang in die Ressortpolitik der Landesregierung gefunden. Infrastrukturinvestitionen, der Einsatz von Wirtschaftsfördermitteln und die Ansiedlung von Behördenstandorten wurden auf die räumlichen und sachlichen Schwerpunkte des Leitbilds konzentriert.

Ursprung und Inhalt der dezentralen Konzentration Die abrupte Einführung der Marktwirtschaft in Ostdeutschland hat auch in Brandenburg zu einem drastischen Strukturwandel geführt. Das Niveau der wirtschaftlichen Aktivität sank rapide, industrielle Produktionsstandorte mußten aufgegeben werden oder überlebten nur nach einer durchgreifenden Rationalisierung. Die brandenburgische Landwirtschaft und der Braunkohleabbau in der Lausitz verloren stark an Bedeutung. Bereits im ersten Jahr nach der Wirtschafts- und Währungsunion war das Produktionsvolumen in der Industrie um ein Drittel geschrumpft; 50.000 von ursprünglich 180.000 Beschäftigten in der Landwirtschaft und 60.000 von 300.000 Beschäftigten in der Industrie hatten ihre Arbeit verloren. Der wirtschaftliche Kollaps löste erhebliche und bis heute anhaltende Wanderungsbewegungen von der Peripherie des Landes in den Ballungsraum Berlin aus. Das wachsende Ungleichgewicht zwischen beiden Landesteilen war Anlass, nach einem raumordnerischen Leitbild für die Gesamtregion Berlin-Brandenburg zu suchen. Dies geschah auf der Grundlage der Verfassung des Landes Brandenburg, die in Artikel 44 formuliert: Das Land gewährleistet eine Strukturförderung der Regionen mit dem Ziel, in allen Landestei-

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RAUMORDNERISCHES LEITBILD … von Stefan Rink

hen, weil eine hohe Bevölkerungskonzentration, eine große wachstumsstarke, dominierende Firma bzw. die räumliche Konzentration von solchen Firmen das regionale Wachstum in Gang setzen. Da solche Regionen aufgrund ihrer Attraktivität neue Firmen und qualifizierte Fachkräfte anziehen, verfestigen sich die Wachstumsvorsprünge gegenüber anderen Regionen. Der Politik wird geraten, Wachstumspole besonders zu fördern. Denn wenn in ihnen die Gewerbegebiete ausgelastet sind und Fachkräfte knapp werden, schwappt die Wachstumsdynamik auf angrenzende Regionen über. Für die Kritiker des Leitbilds der dezentralen Konzentration sind Berlin und sein Umland der einzige Wachstumspol. Eine vorrangige Förderung ist notwendig, um im weltweiten Wettbewerb der Regionen zu bestehen. Die Befürworter des Leitbilds argumentieren kleinräumiger. Sie sehen auch in der Peripherie des Landes Wachstumspole. Außerdem konstatieren sie regionale Pro-

Das Leitbild aus ökonomischer Sicht Befürworter und Gegner des raumordnerischen Leitbilds verfolgen gleiche theoretische Konzepte, obwohl sie anderes behaupten. Den Argumenten liegt in der Regel eine Theorie der Wachstumspole zugrunde. Nach dieser Theorie setzt Regionalentwicklung an Regionen mit Wachstumsvorsprüngen an. Diese beste25


RAUMORDNERISCHES LEITBILD … von Stefan Rink

stehen, dann müssen zusätzliche Straßen gebaut werden, auf denen die Pendler aus dem Umland in die Stadt gelangen können. Beispiele aus den USA zeigen, dass die Infrastrukturkosten pro Kopf in einer nicht durch Raumordnung beeinflusste Entwicklung auf das Zehnfache steigen können.

bleme wie z.B. die Bewältigung des Strukturwandels im Lausitzer Braunkohlerevier, die nicht durch die Ausstrahlung der Entwicklungsdynamik aus dem Berliner Umland gelöst werden können. Mit folgenden ökonomischen Argumenten begründen sie ihre Ablehnung einer nur auf den Ballungsraum Berlin ausgerichteten Regionalpolitik: Erstens: Wenn die Politik durch einseitige Förderung des Berliner Raums die Bevölkerungswanderung dorthin unterstützt, dann wird die in der Peripherie vorhandene und zum Teil erst in den 90er Jahren entstandene Infrastruktur entwertet, was volkswirtschaftlich auf eine Kapitalvernichtung hinausläuft. Gleichzeitig muß im Berliner Raum verstärkt Infrastruktur (Gewerbegebiete, Straßen, Kindergärten, Schulen) neu entstehen. Zweitens: Das von lokaler Nachfrage abhängige Gewerbe wie Einzelhandel und Handwerk wandert mit der Bevölkerung. Durch Bevölkerungszuwachs ausgelöstes wirtschaftliches Wachstum im Berliner Umland kommt somit einer Verlagerung wirtschaftlicher Aktivitäten innerhalb der Region Berlin-Brandenburg gleich. Volkswirtschaftlich ist es wenig sinnvoll, durch einen Verzicht auf die Anwendung raumordnerischer Instrumente einen verstärkten Zuzug in den Ballungsraum Berlin herbeizuführen. Drittens: Wenn die Bevölkerungsentwicklung im Berliner Raum nicht gelenkt wird, dann steigen die Kosten der Infrastruktur. Wenn Wohngebiete überall und nicht gebunden an zentrale Verkehrstrassen ent-

Fallbeispiel: Wirtschaftsförderung Die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur” (GA) wurde unmittelbar nach der Wirtschaftsund Währungsunion das wichtigste wirtschaftspolitischen Instrument in Ostdeutschland und ist es bis heute geblieben. Denn die Investoren kamen nicht wie erhofft in Scharen. Marode Infrastruktur, hohe Arbeitskosten, ungeklärte Eigentumsverhältnisse, Altlasten etc. drückten die erwartete Rendite von Investitionen. Die GA, aus der Zuschüsse für betriebliche Investitionen und für Infrastrukturmaßnahmen gezahlt werden, setzte wirkungsvoll an diesen Schwachstellen an. Die Gemeinschaftsaufgabe ist ihrem Wesen nach ein Instrument der Regionalpolitik. Durch sie sollen auch innerhalb der Bundesländer regionale Standortnachteile ausgeglichen werden. Dazu erarbeitet jedes Land eine eigene Förderkulisse, die regional abgestufte Fördersätze vorsieht. In Brandenburg entwickelte sich die Förderkulisse in drei Phasen: In der ersten Phase 1991 und 1992 wurde die Förderung nach der Strukturschwäche der Regionen gewährt. In Berlinnähe waren die Fördersätze niedrig, in der Peripherie hoch. Doch trotz höchster Förder26


RAUMORDNERISCHES LEITBILD … von Stefan Rink

sätze investierten nur wenige Unternehmen in der Peripherie. Im Berliner Umland, an industriellen Kernen und an sonstigen Orten mit Wachstumschancen waren die Fördersätze jedoch niedriger als in vergleichbaren Standorten in den neuen Bundesländern. In der zweiten Phase bis 1995 wurde die Liste besonders förderungswürdiger Standorte deshalb unsystematisch ergänzt. Schnell wurde klar, dass eine sinnvolle Förderkulisse wirtschaftlich und wissenschaftlich begründet sein mußte. Das erste Leitbild sah eine Förderung des Städtekranzes Neuruppin, Eberswalde, Frankfurt (Oder), Lübbenau/Luckau, Cottbus, Jüterbog/Luckenwalde und Brandenburg vor. Daraus ist im Wege der Verfeinerung das Leitbild der dezentralen Konzentration entstanden. Doch auch diese Förderkulisse erwies sich als wenig transparent und zu unflexibel. Das Land glich fördertechnisch einem Flickenteppich. Eine ökonomische Begründung für die vielen unterschiedlichen Fördersätze war nicht möglich. Im Berliner Umland wurden für unterschiedliche Investitionsarten auch wenig attraktive Fördersätze von 3% oder 5% gewährt, die den Antragsaufwand kaum lohnten. Abweichungen von den festgelegten Fördersätzen waren nur mit größtem Aufwand erreichbar. Bis 1996 wurde das Förderkonzept von Wirtschaftsminister Dreher gründlich überarbeitet: danach konnte grundsätzlich jeder Betrieb an jedem Ort in Brandenburg die Höchstförderung erhalten, wenn

bestimmte Bedingungen erfüllt wurden, z.B. die Schaffung von Frauenarbeitsplätzen, Ausbildungsplätzen oder Investitionen in Innovationen. Das Land unterschied nur noch zwischen Schwerpunktorten in der Peripherie (A-Orte) und im Berliner Umland (B-Orte). Alle anderen Orte wurden zu „C-Orten”. Die Gewährung der Höchstförderung war in den Schwerpunktorten der Peripherie am einfachsten. Die Auflagen waren höher in den Schwerpunktorten des Berliner Umlands und am höchsten dort, wo keine Schwerpunktorte definiert waren. Mit der 1996 entwickelten und bis heute geltenden Förderkulisse war es möglich, flexibel auf die Standortpräferenzen von Investoren zu reagieren. Es zeigte sich, dass Investoren mit nicht auf den Ballungsraum Berlin ausgerichtetem Marktkonzept durchaus für Ansiedlungen in der Peripherie des Landes gewonnen werden konnten. Investoren dagegen, die die Nähe zu Berlin suchten, erhielten die gleichen Förderbedingungen wie in allen anderen ostdeutschen Zentren. Nach neun Jahren Wirtschaftsförderung läßt sich feststellen, dass: • 75% der 13 Mrd. DM GA-Mittel in den Außenräumen des Landes platziert worden sind. • die brandenburgische Wirtschaft zwar im Jahr 1999 eine Verschnaufpause eingelegt, in den vorangegangenen vier Jahren aber das höchste Wirtschaftswachstum aller Länder erreicht hat. • die Brandenburger weiterhin das höchste Inlandsprodukt in Ostdeutschland (je 27


RAUMORDNERISCHES LEITBILD … von Stefan Rink

pole auch in strukturschwachen Regionen unterstützen sollte, hat mittlerweile auch Staatsregierung Sachsens erkannt. Sie scheint nunmehr zu einer Abkehr der Förderung von Leuchttürmen in Leipzig, Chemnitz und Dresden bereit. Wirtschaftsminister Schommer versprach gegenüber dem Handelsblatt, mehr Geld in bislang strukturschwache Regionen fließen zu lassen. Auch abgestufte Fördersätze seien denkbar (Handelsblatt, 24.2.2000, S.15). Die Regionalpolitik auf der Grundlage des raumordnerischen Leitbilds hat den Prozess des „Auseinanderdriftens„ der Landesteile gedämpft. Entgegen den Befürchtungen Anfang der 90er Jahre verzeichnen zwei Drittel der brandenburgischen Gemeinden im ländlichen Raum Zuwanderungsgewinne. Jedoch geht diese positive Entwicklung auf Kosten der Städte. Im Berliner Umland wurde der Prozess der Suburbanisierung durch die Raumordnung positiv beeinflusst. Die Hälfte aller befürworteten Planungen für Wohnungsbauten konzentriert sich auf potenzielle Siedlungsbereiche, die weniger als ein Zehntel der Gesamtfläche ausmachen. So können die siedlungsnahen Landschafts- und Naturräume erhalten und als Regionalparks entwickelt werden. Trotz dieser positiv zu bewertenden Ergebnisse verschärft sich das Ungleichgewicht zwischen dem Berliner Umland und der Peripherie. Zum raumordnerischen Leitbild der dezentralen Konzentration gibt es daher keine Alternative. Um

Einwohner und Erwerbstätigem) erwirtschaften. • namhafte Unternehmen sich berlinferne Standorte suchten: u.a. ABB in Cottbus, MAN TAKRAF in Lauchhammer, Samsung Corning in Tschernitz, Lafarge in Vetschau, Cargo Lifter in Brand, Toleram, Polyamid 2000 und La Seda in Premnitz, Hoechst in Guben, Pneumant in Fürstenwalde, Haindl und DEA/VEBA in Schwedt. • die Zeit der Ansiedlungen auch in der Peripherie Brandenburgs nicht beendet ist: Wirtschaftsminister Fürniß kündigte im Februar 2000 die Förderung von Erweiterungsinvestitionen bei der BASF Schwarzheide an und unterschrieb eine Ansiedlungsvereinbarung mit der italienischen Gruppo Bonazzi in Schwedt. Ergebnisse und Ausblick Mit der 1996 formulierten GA-Förderkulisse verfügt die Wirtschaftspolitik über ein transparentes und flexibles Instrument zur Gewährung von Investitionszuschüssen für gewerbliche Unternehmen und Infrastrukturprojekte. Das raumordnerische Leitbild hat seitdem die wirtschaftliche Entwicklung in Brandenburg nicht gebremst, sondern unterstützt. Es mag Einzelfälle gegeben haben, in denen Ansiedlungen durch unflexibles Agieren der Raumordnungsbehörden erschwert worden sind. Eine pauschale Diskriminierung des Leitbilds kann daraus jedoch nicht abgeleitet werden. Dass die Wirtschaftspolitik Wachstums-

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RAUMORDNERISCHES LEITBILD … von Stefan Rink

der Entwicklung der vergangenen Jahre Rechnung zu tragen und um die Wirksamkeit der Regionalpolitik auch künftig sicherzustellen, sollten folgende Handlungsempfehlungen beherzigt werden: Erstens: Die Planungsphilosophie muss dauerhaft durchgehalten werden. In der Wirtschaftsförderung ging dem heute angewandten Förderkonzept ein langer Lernprozess voraus. Die Phase der konsequenten Umsetzung dieses Konzepts ist somit zu kurz, um ein abschließendes Urteil über Erfolg und Misserfolg zu fällen. Einschneidende Änderungen am Leitbild der Raumordnung setzen erneut ein Lernprozess in Gang. Während dieses Lernprozesses mit ungewissem Ausgang wird eine erhebliche Unsicherheit bei allen Handelnden - auch bei den umworbenen Unternehmen - auftreten. Unsicherheit über wirtschaftspolitische Rahmenbedingungen ist jedoch ein mindestens ebenso großes Investitionshemmnis wie die vermeintliche Gängelung von Investoren durch eine Raumordnungsbehörde. Zweitens: Vorhandene Mittel müssen vorrangig für Entwicklungsvorhaben in Wachstumspolen eingesetzt werden. Ein Beispiel hierfür liefern sog. Ansiedlungsinitiativen. 1998 wurde in Zusammenarbeit mit dem Chemieunternehmen BASF Schwarzheide eine solche Initiative begonnen. Das Großunternehmen schafft gemeinsam mit der Wirtschaftsfördergesellschaft und den örtlichen Verwaltungen günstige Rahmenbedingungen für die chemische Produktion. So verbilligen sich

Investitionsvorhaben für weitere Unternehmen der Branche im Vergleich zu anderen Standorten. Eine wesentliche Voraussetzung dieses Ansatzes, der sukzessive auf andere Standorte wie Schwedt (chemische Industrie) und Wittenberge (Holzindustrie) übertragen wird, besteht darin, das die Region sich darauf verständigt, finanzielle Mittel für die Gewährung von Investitionszuschüssen und den Ausbau der wirtschaftsnahen Infrastruktur vorrangig an solchen Standorten einzusetzen. Drittens: Die Städte im Land Brandenburg benötigen stärkere Unterstützung. Hierzu ist ein ganzes Bündel von Maßnahmen notwendig. Ein Finanzausgleichsgesetz ist notwendig, damit die Städte auch weiterhin Funktionen für das jeweilige Umland wahrnehmen können. Die regionalen Entwicklungszentren müssen als Infrastrukturschwerpunkte ausgebaut werden. Stadt-Umland-Kooperationen sind notwendig. So können Städte und lagebegünstigte Gemeinden vereinbaren, gemeinsam für ein Gewerbegebiet der Gemeinde zu werben und einen Teil der daraus resultierenden Steuereinnahmen an die Stadt zu überweisen. Zwischen Gewerbegebieten im Umland und Städten können Pendellinien eingerichtet werden, um die Nachfrage nach Wohngebieten außerhalb von Städten zu begrenzen. Stefan Rink ist Referent für Wirtschaft, Mittelstand und Technologie der SPD-Landtagsfraktion. www.brandenburg.de/spd/spd-fraktion/ 29


EINLADUNG

DIE HAUPTSTADTREGION BERLIN-BRANDENBURG „PERSPEKTIVEN DER FINANZPOLITIK“ Diskussionsveranstaltung mit Finanzministerin Dr. Wilma Simon und Professor Hans-Georg Petersen am Mittwoch den 19. April 2000 im Universitätskomplex Potsdam Griebnitzsee Haus 1, Raum 215

Eine Veranstaltung von perspektive 21 Brandenburgische Hefte für Wissenschaft und Politik

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EINLADUNG

In der politischen Arena Brandenburgs werden momentan der Entwurf zum Haushaltsstrukturgesetz und der damit verbundene Doppelhaushaltsentwurf 2000/2001 heiß diskutiert. Der Landeshaushalt steht unter enormen Konsolidierungsdruck, dennoch sind viele Menschen mit der vorgesehenen Sparpolitik nicht einverstanden. Im aktuellen Heft der „Perspektive 21“ stellt die Brandenburger Finanzministerin Frau Dr. Wilma Simon die aktuellen Bedingungen und Perspektiven der Brandenburger Finanzpolitik vor. Anknüpfend daran möchten wir mit ihr und Hans–Georg Petersen, Professor für Finanzwissenschaften an der Universität Potsdam diskutieren. Welche Chancen, aber auch Risiken verbergen sich hinter der aktuellen Sparpolitik? Hierbei gilt es vor allem die Finanzlage des Landes Brandenburg unter die Lupe zu nehmen und zu hinterfragen, auch im Hinblick auf eine mögliche Fusion mit Berlin. Diese und andere Fragen sind Schwerpunkte unserer Diskussionsrunde zu der wir herzlich einladen.

PROGRAMM 19.00 Uhr 19.05 Uhr

19.25 Uhr

21.00 Uhr

Begrüßung und Eröffnung „Perspektiven der Brandenburger Finanzpolitik“ Frau Dr. Wilma Simon, Ministerin für Finanzen des Landes Brandenburg Diskussionsrunde: „Hauptstadtregion Berlin - Brandenburg“Chance oder Risiko für das Land Brandenburg? Diskussionsgäste: Frau Dr. Wilma Simon, Finanzministerin des Landes Brandenburg Professor Hans-Georg Petersen, Professur für Finanzwissenschaften der Universität Potsdam Moderation: Klaus Ness, Landesgeschäftsführer der SPD Brandenburg Ende der Veranstaltung

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THEMA

ZUSAMMENWACHSEN DER REGIONEN DURCH INFRASTRUKTURAUSBAU

von Jörg Vogelsänger

Zukunftsweisend wurde es Zielnetz 2000 genannt. Kernpunkte des Konzeptes sind die Durchbindung der wichtigsten Regionalexpresslinien durch Berlin und die schnelle Anbindung der Zentren des äußeren Entwicklungsraumes. Die Realisierung wurde jedoch erst durch die von der EU beschlossene Bahnstrukturreform möglich. In der Bundesrepublik Deutschland wurde dies untersetzt durch das Regionalisierungsgesetz. Hier ist festgeschrieben, dass die Bundesländer ab dem 01.01.1996 verantwortlich sind für die Bestellung des Schienen-Personennahverkehrs. Dazu zählen Regionalbahnen, Regionalexpress und die S-Bahn. Vorher wurden diese Leistungen zentral

Chancen und Perspektiven durch die Bahnreform Es gibt kaum einen Politikbereich der so im Interesse der Öffentlichkeit steht, wie die Verkehrspolitik. Von Entscheidungen im Verkehrsbereich sind die Bürger unmittelbar betroffen. Weiterhin hängen vom Ausbau der Infrastruktur in einer Region unmittelbar die Entwicklungschancen ab. Am Beispiel des Schienen-Personennahverkehrs in der Region Brandenburg/Berlin soll dies verdeutlicht werden. Bereits im Jahr 1991 entstand beim SPDLandesverband Brandenburg die Idee eines gemeinsam mit Berlin zu entwickelnden Regionalbahnnetzes. 32


ZUSAMMENWACHSEN DER REGIONEN … von Jörg Vogelsänger

durch den Bund bestellt. Dies führte nicht nur zu Meinungsverschiedenheiten zwischen Bund und den Ländern, sondern auch dazu, dass der Schienen-Personennahverkehr im Jahr 1993/94 seinen Tiefpunkt bezüglich der Fahrgastzahlen erreicht hatte. Die Trendwende in Brandenburg wurde bereits mit dem Fahrplan 1994/95 eingeleitet. In Abstimmung mit Bund und Bahn wurde zum Fahrplanwechsel im Mai 1994 der erste Abschnitt des Regionalexpress-1 eingeweiht. Dieser Vorgriff auf die Landesverantwortung für den Schienen-Personennahverkehr war sicherlich nur durch das vorhandene Zielnetz 2000 möglich. Von diesem Zeitpunkt ging es im Stundentakt von Frankfurt/Oder und Fürstenwalde direkt nach Berlin-Ostbahnhof. Das sollte jedoch nur der Anfang sein. Das Land Brandenburg ist seit 1996 in der Verantwortung den Schienen-Personennahverkehr zu gestalten. Wir müssen dabei die uns zur Verfügung stehenden Mittel aus dem Regionalisierungsgesetz so effektiv wie möglich einsetzen. Dies sind immerhin rund eine dreiviertel Milliarde DM jährlich, alles Mittel der Steuerzahler. Somit wurde nicht jede Leistung im Schienen-Personennahverkehr im Land Brandenburg weiterhin bestellt. Das führte zu erheblichen öffentlichen Diskussionen. Jedoch ohne ein entsprechendes Fahrgastaufkommen läßt sich der relativ teure Schienen-Personennahverkehr gegenüber dem Steuerzahler kaum rechtfertigen. Wichtig war bei diesen schmerzlichen Entscheidungen, dass weiterhin ein

entsprechendes Verkehrsangebot im öffentlichen Personennahverkehr vorgehalten wird. Dabei unterstützt das Land Brandenburg den SPNV-Ersatzverkehr erheblich. Das ist im Sinne der Nutzer und natürlich auch der Landkreise, die für den straßengebundenen ÖPNV verantwortlich sind. Der Schienen-Personennahverkehr ist insbesondere bei schnellen, direkten und vertakteten Verbindungen konkurrenzfähig. Seit dem Jahr 1996 kam es durch die schrittweise Umsetzung des Zielnetzes 2000 zu deutlichen Steigerungen der Fahrgastzahlen. Ein Quantensprung erfolgte mit dem Fahrplanwechsel 1998/99. Anbei eine Tabelle bezüglich der Fahrgastzahlen. Trotz Anfangsschwierigkeiten ist die Stadtbahndurchbindung ein voller Erfolg. Im Jahr 1991 war es noch eine Vision, seit 1998 ist es Wirklichkeit. Städte wie Angermünde, Brandenburg (Havel), Eberswalde, Frankfurt/Oder, Fürstenwalde oder Lübben haben eine direkte Verbindung ins Berliner Zentrum, zum Alex oder Zoo. Besser noch, viele dieser Städte sind schneller mit der Berliner City verbunden, als viele Gemeinden mit S-Bahn-Anschluss im sogenannten engeren Verflechtungsraum. In einer guten halben Stunde ist man von Brandenburg (Havel) am Bahnhof Zoo, eine knappe dreiviertel Stunde braucht man von Ostbahnhof nach Eberswalde. Damit wächst unsere Region Brandenburg/Berlin nicht nur zusammen, sondern auch Unterschiede zwischen engerem Verflechtungsraum und äußerem Entwicklungsraum werden 33


ZUSAMMENWACHSEN DER REGIONEN … von Jörg Vogelsänger

Damit wird deutlich, dass die RE-Linien nicht Konkurrenz zur S-Bahn sind, sondern das Gesamtsystem gestärkt wird. Die Bestellung von Verkehrsleistungen ist die eine Seite der Entwicklung. Genauso wichtig sind Investitionen in die Schieneninfrastruktur. Wichtigstes Projekt hierbei ist der Bau des Nord-Süd-Tunnels durch die Berliner City und der Bau eines zentralen Umsteigebahnhofes, dem Lehrter Bahnhof. Berlin bekommt damit zum ersten Mal in seiner langen Eisenbahngeschichte einen Zentralbahnhof. Damit wird das alte System der Kopfbahnhöfe endgültig ersetzt. Das sorgt auch für neue Perspektiven im Regionalverkehr. Mit der Fertigstellung des Nord-Süd-Tunnels in Berlin werden sich die Fahrzeiten aus dem Norden und dem Süden nochmals deutlich verringern. Insbesondere in den Landkreisen Barnim, Oberhavel, Uckermark und Teltow-Fläming werden sich damit verbesserte Perspektiven im Bahnverkehr erschließen. Weiterhin muss in Brandenburg erheblich in die regionalen Schienennetze investiert werden. Auf vielen Nebenstrecken sind mitunter nur durchschnittliche Reisege-

kleiner. Dabei machen wir nicht an der Landesgrenze halt. Der Regionalexpress-1 führt alle 2 Stunden bis Magdeburg und mit dem RE-3 hat auch Dessau eine direkte Verbindung nach Berlin. Mit dem Fahrplanwechsel 2000/01 gibt es übrigens auch wieder eine Direktverbindung Cottbus Dresden mit dem Lausitz-Express. Ebenfalls zwischen Cottbus und Leipzig wird das Angebot verbessert. Im Werbeslogan heißt es „Berlin ist 24h geöffnet„. Dies kann nun auch von den Brandenburgern genutzt werden. Mit dem Fahrplan 2000/01 werden auf den wichtigsten von Berlin ausgehenden Strecken zusätzliche Züge im Nachtverkehr am Wochenende angeboten. Dabei ist der Fahrplan mit S-Bahn und BVG abgestimmt. Der Verkehrsverbund Berlin/Brandenburg wird zum Standortfaktor. Die Einführung des Verbundtarifs am 01. April 1999 war kein Aprilscherz, sondern ein sehr erfolgreiches Projekt. Maßstab sind auch hierbei die Fahrgastzahlen. So stiegen nach Angaben des Verkehrsverbundes seit dem 01.04.1999 die Fahrgastzahlen beim: RE 1

zwischen Frankfurt/Oder und Berlin 15 %

RE 4

zwischen Nauen und Berlin 10 %

RE 2

zwischen Berlin und Cottbus 8 %

RB 21 zwischen Griebnitzsee und Golm 5 % RB 22 zwischen Berlin-Schönefeld und Potsdam 5 % S-Bahn Berlin GmbH über 4 % . 34


ZUSAMMENWACHSEN DER REGIONEN … von Jörg Vogelsänger

zu einem Markenzeichen der Region geworden. Weitere Doppelstockwagen sind bestellt und werden mit Förderung des Landes Brandenburg angeschafft. Dies ist schon deshalb notwendig, da vielfach der Regionalexpress an seine Kapazitätsgrenzen stößt. Ein besserer Beleg für eine erfolgreiche Bahnpolitik gibt es nicht. Brandenburg ist Eisenbahnland. Die Nutzer und die Regionen Brandenburg profitieren von der Neugestaltung des Schienen-Personennahverkehrs in Berlin und Brandenburg. Die Umsetzung des Zielnetz 2000 trägt zum Zusammenwachsen unserer Region bei.

schwindigkeiten von 40 km/h fahrbar. Damit ist die Schiene nicht konkurrenzfähig. Die jahrzehntelange Vernachlässigung von Infrastrukturinvestitionen zu DDR-Zeiten erfordert mindestens einen dreistelligen Millionenbetrag für den Schienenwegeausbau. Derzeit im Bau sind der Prignitz-Express und die Scharmützelsee-Bahn Fürstenwalde-Bad-Saarow-Beskow. Dies darf erst der Anfang sein, weitere Projekte sind dringend notwendig. Insbesondere gilt es auf die zügige Umsetzung der Projekte zu drängen. Investitionen betreffen natürlich auch die Fahrzeuge. Der rote Regionalexpress ist

Jörg Vogelsänger ist Mitglied des Brandenburgischen Landtages und Verkehrspolitischer Sprecher der SPD-Landtagsfraktion. Er ist Vorsitzender des Unterbezirkes Oder-Spree. www.spd-brandenburg.de/ub/los.html

Fahrgastzählung Regionalverkehr (ohne S-Bahn) (Quelle: DB Region)

Aus-/Einsteiger pro Tag jeweils Juni bis September 1997, 1998, 1999 Bahnhöfe

1997

1998

1999

Fürstenwalde Erkner Angermünde Luckenwalde Eberswalde Potsdam Stadt /Hbf Potsdam Wildpark/Park Sanssouci Falkensee

4.650 1.545 1.390 920 3.220 7.130 470 1.660

6.249 1.701 1.450 780 3.490 7.780 500 2.020

6.169 3.635 1.720 1.040 3.360 8.300 1.040 2.420

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THEMA

BRANDENBURG UND DIE EU-OSTERWEITERUNG

von Jochen Franzke, Universität Potsdam heitspolitische Trennlinie in Europa entstehen zu lassen, weder an Oder und Neiße noch am Bug und Pruth. Frieden und Sicherheit aller Europäer sind dauerhaft nur gewährleistet, wenn auch die Polen wie alle anderen Völker in Mittel- und Osteuropa in Frieden und Sicherheit leben können. Die geplante Osterweiterung der EU ist der richtige Weg, um dies zu erreichen. Sie soll zugleich zur wirtschaftlichen, sozialen und politischen Stabilisierung der mittel- und osteuropäischen Staaten beitragen. 3. Die EU-Osterweiterung besitzt auch eine beachtliche wirtschaftliche Dimension. Europa wird einen zukunftsträchtigen Markt mit über 100 Millionen Menschen integrieren. Von diesem Markt können künftig wichtige Impulse für die ökonomische Dynamik der europäischen Integration ausgehen. Eine Reihe von Beitrittskandidaten, insbesondere Polen, Ungarn, Slowenien und Estland, haben eine bemerkenswert positive Bilanz der wirtschaftli-

Deutschland hat ein großes Interesse an der Aufnahme mittel- und osteuropäischer Staaten in die EU.1 Drei Gründe sind dafür maßgebend: 1. Die westeuropäische Werte-, Sicherheits- und Wohlstandsgemeinschaft hat die moralische Verpflichtung zur Aufnahme jener Staaten im Osten Europas, die durch die Geschichte daran gehindert wurden, den Weg der europäischen Einigung von Anfang an mitzugehen (siehe Charta von Paris 1990). Jede andere Entscheidung würde Europa (und zwar Ostsowie Westeuropa) nachhaltig schaden. Deutschland hat als (neben Österreich) diesem Raum am nächsten gelegenes EULand und aus historischen Gründen eine besondere Verantwortung, den Prozess der Umwandlung der westeuropäischen Integrationsgemeinschaft in eine gesamteuropäische voranzutreiben. 2. Deutschland ist daran gelegen, keine neue soziale, wirtschaftliche oder sicher36


BRANDENBURG UND DIE EU-OSTERWEITERUNG von Jochen Franzke

verbindliche Terminzusagen für die Beitrittskandidaten von außerordentlicher Bedeutung. Ohne diese würde der Druck, tiefgreifende Reformen mit weitreichenden wirtschaftlichen und sozialen Konsequenzen durchzuführen, deutlich nachlassen. Wachsende innenpolitische Instabilität unserer Nachbarn im Osten wäre die Folge. Profitieren würden vor allem die nationalistischen Kräfte. Drittens würde die Festlegung eines Termins allen Versuchen einen Riegel vorschieben, den Prozeß der Ausweitung der EU nach Osten in letzter Minute doch noch zu stoppen oder auf die lange Bank zu schieben. Ex-Bundeskanzler Kohl hatte den Polen den EU-Beitritt für das Jahr 2000 versprochen und damit große Illusionen geweckt. Gegenwärtig ist das Jahr 2003 im Gespräch. Eine weitere Verzögerung des Beitritts wenigstens einiger der mittelund osteuropäischen Staaten vertrüge die Idee eines einheitlichen Europas kaum. Es sollte nicht vergessen werden, daß der politische Umbruch in diesen Staaten bereits vor über zehn Jahren erfolgt ist. Diese Völker eine weitere unbestimmte Anzahl von Jahren »vor der europäischen Türe« warten zu lassen, bildet eine nicht zu unterschätzende psychologische Belastung auf deren weiterem „Weg nach Europa”. Das window of opportunity könnte sich wieder schließen, wenn die Europabegeisterung der Eliten und der Bevölkerung spürbar zurückgeht. Erste Anzeichen einer solchen Entwicklung sind nicht zu übersehen. Schließlich warten nicht nur in Polen und Ungarn ausgespro-

chen Transformation seit 1990 vorzuweisen. Die Aufnahme neuer mittel- und osteuropäischer Mitglieder in die EU in den nächsten Jahren ist allerdings – entgegen dem ersten Anschein – keineswegs ausgemacht. In einer Reihe von EU-Ländern, die auch geographisch weiter vom Osten Europas entfernt liegen, werden andere politische Prioritäten bevorzugt. Vor allem aber die strukturelle Verknüpfung der Aufnahme neuer Mitglieder mit der Reform der EU-Institutionen und ihrer Arbeitsweise (die »Vertiefung«) könnte die EU-Osterweiterung weiter verzögern oder gar zum Scheitern bringen.2 Das bedeutet: nicht nur die Beitrittskandidaten müssen ihre »Hausaufgaben« machen (sprich den acquis communautaire in ihren Ländern umsetzen), sondern auch die EU und deren Mitgliedsstaaten müssen hinsichtlich der inneren Strukturreform endlich zu Ergebnissen kommen. Die laufende Regierungskonferenz ist daher zum Erfolg verurteilt, um einen überarbeiteten Amsterdamer Vertrag rechtzeitig auf den Weg zu bringen. Heftig gestritten wird gegenwärtig um den möglichen Beitrittstermin der EUKandidaten. Dies ist keine akademische Diskussion, den eine solche Terminierung macht politisch durchaus Sinn. Erstens so lehren die Erfahrungen der Diplomatie - sollte, wer politische Visionen realisieren will, Fristen setzen. Nur damit können Verhandlungen vor einer zeitlichen »Drohkulisse« geführt und damit evtentuell beschleunigt werden. Zweitens sind 37


BRANDENBURG UND DIE EU-OSTERWEITERUNG von Jochen Franzke

chen europafeindliche Kräfte darauf, unter Nutzung der anhaltenden Unzufriedenheit über die bisherigen Ergebnisse der Transformation unter weiten Teilen der Bevölkerung, endlich ihre Chance für die Regierungsübernahme zu bekommen. Welche Konsequenzen eine solche Entwicklung haben könnte, hat nicht zuletzt die Regierungszeit Meciars in der Slowakei gezeigt. Aber auch in Deutschland - täuschen wir uns nicht – besteht kein ein Konsens über die EU-Osterweiterungspolitik. Die antieuropäischen Positionen des bayerischen Ministerpräsidenten Stoiber wie auch unhaltbaren Forderungen von Vertriebenenfunktionäre an die Beitrittskandidaten belasten die Beziehungen zu mittelost- und osteuropäischen Staaten. Es deutet sich an, daß diese Fragen sicher auch in den bevorstehenden Wahlkämpfen (z. B. zur Bundestagswahl 2002) eine Rolle spielen könnten.

Alle drei oben genannten Dimensionen der EU-Osterweiterung werden auch vom Land Brandenburg mitgetragen. Für die Brandenburger - wie für alle Ostdeutschen, die im Zuge der Vereinigung auf der EU beitraten - ist dies auch eine Frage der Solidarität mit den Menschen östlich von Oder und Neiße, die unter den Folgen der Teilung Europas immer noch stark zu leiden haben. Die politische und wirtschaftliche Dimension der EU-Osterweiterung besitzt für Brandenburg als Grenzland zu diesem Raum natürlich besondere Bedeutung. Brandenburg hat in den zehn Jahren seit einer Wiederbegründung als Land eine Menge getan, um die Zusammenarbeit mit seinen östlichen Nachbarn zu entwickeln. Im Rahmen seiner Möglichkeiten leistet es einen aktiven Beitrag zur Heranführung dieser Staaten an die EU. Nunmehr kommt es darauf an, die bis zum EU-Beitritt verbleibende Zeit zu nutzen, um sich auf die dann grundlegend veränderten Bedingungen politischen einzustellen. Dabei kommt es darauf an, diesen Wandel – bei allen heute bereits erkennbaren unausweichlich auftretenden Problemen - als historische Chance zu betrachten. Für das Land Brandenburg ist die EUOsterweiterungsproblematik vor allem mit der Perspektive seiner Kooperation mit Polen verbunden.3 Wenn unser Nachbarland Mitglied der EU wird, ändern sich die Rahmenbedingungen dieser Zusammenarbeit grundlegend. Brandenburg selbst wird von einer solchen Entwicklung

Brandenburg und die EU-Osterweiterung Die Frage der EU-Osterweiterung ist natürlich eine Frage der deutschen Außenpolitik und fällt damit in die Kompetenzen des Bundes. Europapolitik ist seit vielen Jahren jedoch zugleich Innenpolitik und berührt die Interessen der Länder. Gerade für die an mitteleuropäische Staaten grenzenden deutschen Länder – darunter Brandenburg - haben ein starkes Interesse dran, an der EU-Osterweiterung als politischer Gestaltungsaufgabe aktiv mitzuwirken. 38


BRANDENBURG UND DIE EU-OSTERWEITERUNG von Jochen Franzke

ze zusammenfaßt und die das Ziel verfolgen sollte, ein intelligente Zukunftsvision für unseren Raum zu entwerfen. Weiterreichende Ideen, die in letzter Zeit in Polen diskutiert werden, definieren diesen Raum sogar größer. Dies laufen darauf hin aus, im Rahmen der künftig erweiterten EU einen polnischen-deutschen »Oder-Verband« zu schaffen. In der Region zwischen Berlin, Rostock, Stettin, Warschau und Krakau könnten gemeinsame Strukturen z. B. im Schul- und Bildungssektor geschaffen werden.6 Brandenburg sollte an solche Initiativen anknüpfen. 3. Spezielle Überlegungen sind hinsichtlich der künftigen Entwicklung der Zusammenarbeit im deutsch-polnischen Grenzgebiet erforderlich. Die Grenze an Oder und Neiße ist weiterhin eine der schwierigsten Grenzen in Europa. Sie ist eine tief gehende sprachliche und mentale Grenze, in gewisser Weise eine konfessionelle Grenze. Sie ist die Grenze in der Welt mit dem steilsten Lohngefälle.7 Die EU-Osterweiterung wird langfristig dazu beitragen, dieses Gefälle abzubauen. Dies wird umfassende Anpassungsprozesse auf beiden Seiten von Oder und Neiße erfordern. Wenn sich die EU-Außengrenze bei einer Mitgliedschaft Polens nach Osten verlagert, wird sich zugleich der trennende Charakter dieser Grenze vermindern. Negative Auswirkungen des Grenzregime werden spürbar nachlassen (Verkehrsstaus, Zollkontrollen, Flüchtlinge). Allerdings werden sich dann auch die finanziellen Grundlagen der grenzüberschreiten-

wesentlich profitieren, da es ihm damit möglich werden wird, sich aus seiner gegenwärtigen EU-Randlage zu befreien. Was kann das Land Brandenburg, was können seine Politiker konkret tun, um den Prozeß der EU-Osterweiterung zu unterstützen und damit verbundenen Interessen des Landes zu sichern? Welche Veränderungen wird die EU-Osterweiterung für die Menschen im Land mit sich bringen und wie können sie auf diese Veränderungen vorbereitet werden? Im folgenden stelle ich einige Thesen vor, die zur Diskussion dieser Fragen beitragen und anregen sollen: 1. Brandenburg wirkt – wie alle Bundesländer - an der Erarbeitung eines zweiten, weitergehenden Amsterdamer Vertrages mit. In diesem Prozeß kann es viel dazu beitragen, daß die innere Reform der EU erfolgreich und rechtzeitig abgeschlossen und die EU-Osterweiterung nicht verzögert wird. 2. Die Idee der »deutsch-polnischen Interessengemeinschaft«4 sollte stärker regional definiert und ausgestaltet werden. Dazu bestehen bereits viele gemeinsame Gremien und Initiative in der Region, die Brandenburg (natürlich auch Berlin) und dessen benachbarte polnische Wojewodschaften umfaßt.5 Was offensichtlich fehlt, ist ein gemeinsames Leitbild, wie sich unsere Region - nach dem Beitritt Polens als Region innerhalb der EU - entwickeln sollte. Vielleicht wäre es an der Zeit, eine Zukunftkommission ins Leben zu rufen, die den politischen und wissenschaftlichen Sachverstand auf beiden Seiten der Gren39


BRANDENBURG UND DIE EU-OSTERWEITERUNG von Jochen Franzke

schaft nach Osten ist auch Teil der Globalisierung, vor der Abschottung wenig hilft. Wichtig für Brandenburg wird sein, wie es dem Land gelingt, von den möglichen Wachtumsgewinnen einer EU-Osterweiterung zu profitieren.10 Die Chancen dafür stehen nicht schlecht. Die EUOsterweiterung wird die Zugangsmöglichkeiten brandenburgischer Unternehmen zu den dortigen Märkten verbessern. Die Export in diesen Raum wird weiter ansteigen. Es wachsen die Chancen für Investitionen mittel- und osteuropäischer, vor allem polnischer Firmen (mit entsprechenden neuen Arbeitsplätzen) in unserem Land. Zur notwendigen öffentlichen Diskussion gehört – nicht nur in Brandenburg, aber auch hier - auch die Frage, wie die vertriebenen Deutschen und die Polen dauerhaft ausgesöhnt werden können. Die künftige EU-Mitgliedschaft unseres östlichen Nachbarn bietet auch den Vertriebenen und ihren Nachkommen neue Chancen, wenn sie wirklich zur Aussöhnung bereit sind. Betrachten wir die bevorstehende Erweiterung der EU nach Osten als Chance für alle in der Oder-Neiße-Region lebenden Menschen, gemeinsam ihre Zukunft zu sichern.

den Zusammenarbeit neu definiert werden müssen. 4. Eine stärkere öffentliche Diskussion um die Auswirkungen der EU-Osterweiterung auf die Menschen in Brandenburg ist dringend erforderlich. Dies ist vor allem eine Aufgabe der Parteien und Verbände im Land wie natürlich der Institutionen für politische Bildung. Unübersehbar steht ein Teil der Brandenburger gegenwärtig einem Beitritt Polens zur EU ablehnend oder skeptisch gegenüber.8 Dies ist ein deutliches Zeichen fehlenden Selbstvertrauens. Es zeigt auch, daß polenfeindliche Vorurteile in unserem Land noch weit verbreitet sind. Viele Ängste brandenburgischer Arbeitnehmer verbinden sich mit der Öffnung der Grenze für polnische Arbeitskräfte, die im Zuge des EU-Beitritts auch auf dem brandenburgischen Arbeitsmarkt Freizügigkeit genießen würden. In der Landwirtschaft und im Handwerk sind Ängste vor der Konkurrenz aus dem Osten Europas weit verbreitet. Diese Ängste sollen ernst genommen werden. Sie werden sicher in den Beitrittskonditionen auch ihren Niederschlag finden.9 Allerdings macht es wenig Sinn, zu verschweigen, dass der Region schmerzhafte Veränderungen bevorstehen. Die Erweiterung der Europäischen Integrationsgemein-

Dr. habil Jochen Franzke ist Sozialwissenschafter an der Universität Potsdam, Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Fakultät. www.uni-potsdam.de/u/ls_verwaltung/ index.htm 40


BRANDENBURG UND DIE EU-OSTERWEITERUNG von Jochen Franzke

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Kandidaten aus diesem Raum sind Polen, Ungarn, Tschechien, Slowenien, Estland sowie die Slowakei, Rumänien, Bulgarien, Lettland und Litauen. Die EU führt seit 1999 mit der ersten Gruppe Beitrittsverhandlungen und will diese mit der zweiten Gruppe in diesem Jahr aufnehmen. 2 Welche Konsequenzen für die EUOsterweiterung die Isolierung der neuen österreichischen Mitte-Rechts-Regierung durch die EU haben könnte, bleibt abzuwarten. Aber die Ratifizierung der Beitrittsverträge durch Österreich könnte zu einem Druckmittel in dieser Auseinandersetzung werden und damit den Erweiterungsprozeß in Gefahr bringen. 3 Als zweiter Schwerpunktstaat für Brandenburg in diesem Raum hat sich in den vergangenen Jahren Rußland herauskristallisiert. 4 Dieser Begriff wurde 1990 von damaligen polnischen Außenminister Skubiszewski geprägt und dient den deutsch-polnischen Beziehungen seither als konzeptionelle Grundlage. 5 Die territorial vergrößerten Wojewodschaften verfügen seit der Gebietsreform vom 1.1.1999 über größere Kompetenzen. 6 siehe gemeinsamer Artikel des deutschen Außenministers Fischer und des polnischen Außenministers Geremek »Europa ist unsere letzte Utopie«; in: DER TAGESSPIEGEL, 17.2.2000.

Nach einer ILO-Studie verbessert ein Migrant, der diese Grenze von Osten her überschreitet, seinen Lohn um den Faktor elf. (siehe FAZ, 2.3.2000) 8 Nicht vergessen werden sollte, dass auch auf der polnischen Seite solche Ängste verbreitet sind, hier insbesondere vor deutschen Rückübertragungsansprüchen sowie vor einem Ausverkauf an das »deutsche Kapital«. Es ist auch eine Aufgabe für Brandenburg, solche Ängste ernst zu nehmen und sich mit ihnen auseinanderzusetzen. 9 z. B. durch Übergangsfristen z. B. bezüglich der Freizügigkeit polnischer Arbeitnehmer zumindestens in bestimmten Wirtschaftszweigen. 10 Es gibt gegenwärtig sehr unterschiedliche Szenarien über die wirtschaftlichen Folgen der EU-Osterweiterung, darunter auffallend viele pessimistische. Ich gehe eher von einem optimistischen Szenario aus und stützte mich dabei auf Christian Keuschnigg (Universität des Saarlandes) und Wilhelm Kohler (Universität Linz), die in einer jüngst veröffentlichten Untersuchung für die EU-Kommission davon ausgehen, dass die EU-Osterweiterung zu volkswirtschaftlichen Nettogewinnen insbesondere in Frankreich, Großbritannien, Deutschland und Österreich führen wird. Sie schätzen die Wachstumsgewinne allein aus der ersten Runde der EU-Osterweiterung auf 0,4 bis 0,5% des BIP. (siehe FAZ, 25.10.1999)

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THEMA

LONDON AND THE SOUTH EAST

von Mark F. Watts

lages began to rapidly urbanise as the population grew and rural areas depopulated. This urbanisation process threw up new problems. Although it provided a workforce to meet the growing demands of industry it led to acute public health problems and undermined the delicate balance in the countryside between agriculture and conservation. Prior to the industrial revolution rural life in Britain was hard and life expectancy was short, it was far from the romantic view of the countryside. However, a certain balance existed between market towns and villages and the establishment and the working classes. An equilibrium, almost unchanged since the end of the English Civil War in 1660. Not democratic by any means, but not feudal either. That civil war ended the despotic rule of

Before my election to the European Parliament ďŹ ve years ago I served as a Councillor on a local planning authority working with colleagues of all parties to strike the right balance between meeting housing needs and conserving the countryside. It was not any easy job and I always tried desperately to encourage the provision of affordable housing to meet local needs developed in such away that would not kill the goose that laid the golden egg – namely the rich countryside the we are privileged to be the guardians of this part of Britain. In fact this has been the regional planning challenge for the best part of a century in the UK to plan for town and country. The industrial revolution began in Britain and urbanisation began with it. Cities like London which were up until the beginning of the 19th Century collections of vil42


LONDON AND THE SOUTH EAST von Mark F. Watts

the monarchy and unleashed the forces of enterprise which fostered trade, investment and discovery creating the conditions for industrial revolution. That revolution smashed the old order and paved the way for the new in ways unthinkable to the ruling classes in the beginning of the 19th Century. The biggest challenge became public health and public order. Although these problems were manageable in rural Britain in Britain’s cities they became quite unmanageable. Poor living standards, squalor, lack of clean water, poor sanitation and an unhealthy diet coupled with appalling working conditions fanned the flames of dissent but more importantly for industrialists undermined the ability of labour to produce. Therefore, the public health movement grew coupled with the development of local government in the form of public works boards and Poor Law boards to keep the workers healthy (up to as point) and divided. The provision of basic infrastructure ironically created fresh problems as transport improved and ultimately electricity became the main source of power. For example the growth of the railways created a new stage, namely counter-urbanisation. The cities grew outwards, densities fell and the countryside was eroded. In the 1920s so great was the problem that it became a central concern of Government. Electric power in particular had freed many industries and were attracted to the huge consumer market of London which, at the same time, provided skilled

and versatile workers and a good distribution centre not just for Britain but for the Empire and beyond. A ‘Green Belt’ was advocated to be designated around London. A girdle of open space would check the growth of London and control the forces of counter urbanisation. In 1935 the Labour controlled London County Council put forward a scheme which owed much to Lord Morrison of Lambeth. (The Great Grandfather of current Labour Minister Peter Mandelson). The Green Belt Act of 1938 and the Town and Country Planning Act 1947 were the result. London was not the only city to have green belt designation. Birmingham, Leeds and Sheffield closely followed London’s lead. It was perhaps the defining planning decision and marked an historic compromise and consensus which prevails to this day. Namely development is to be focused in the cities and the countryside is to be protected. This at the time represented a major intrusion of the state in the decisions of private individuals and whole industries but it suited the working classes in the city and the middle classes in rural Britain. It aimed not just to regenerate the city and protect the country but to engineer a reduction in the gap between rich and poor, particularly through the provision of better housing. The aim of fostering counter urbanisation was however not always effective as development jumped the green belt and developers just simply refused to invest in the 43


LONDON AND THE SOUTH EAST von Mark F. Watts

city. In particular whilst the suburbs prospered the inner city declined. The 1947 Act also nationalised almost all planning decisions but it was essentially a negative tool and the resources to allow local authorities to encourage and facilitate development were never up to the scale of the job. Fifty years on the situation has hardly changed and 1938 and 1947 Act, although up-dated, still define the relationship between City and countryside, between London and the South East. It was never a fully effective settlement as towns around London continued to expand sometimes as a result of Government policy. In addition the development of local Government divided London from the surrounding counties, partly because London was more left inclined than the surrounding Conservative rural areas, villages and towns. So even in the hay days of the British planning system in the 1960s London secured a Greater London Council (GLC) to represent inner city and suburban London, but the south east outside of London was Governed at a local level by hundreds of smaller councils. Regional planning was almost impossible. To make matters in the 1980s Margaret Thatcher abolished the Labour run GLC and London was governed once again by city wide boards and 33 individual Borough Councils. She also seriously undermined the whole planning process and promoted a more laissez-faire regime which eroded the Green Belt concept.

Whilst the new Labour Government is restoring local democracy to London with the creation of a new Greater London Authority and a Mayor for the first time for the entire metropolis, the surrounding areas of South East England remain outside. Not a satisfactory solution but one which recognises the historic development of town and country and the political realities. However, the new Government whilst not seeking to undermine the historic compromise mentioned earlier is trying to bolster it. To once again foster inner city growth – a renaissance of city life – whilst protecting the countryside. The previous Governments laissez-faire approach seriously undermined our ability to plan in a rational, sustainable way. The lack of strong planning guidance coupled with their obsession with overturning local planning decisions at appeal undermined the very essence of local democracy. That is why the recent announcement by the British Deputy Premier, John Prescott, of a more responsive approach to housing needs in the area is to be welcomed. The region outside London continues to under perform economically and undoubtedly the planning problems encountered are a key factor. If we are to realise of regional aim of becoming one of the most prosperous regions in Europe we must, for example, tackle housing as a matter of urgency. We must be able to exploit a strategic location – between the three world cities of London, Paris and Brussels. And we must do that in an affordable and sustainable way. 44


LONDON AND THE SOUTH EAST von Mark F. Watts

examine the potential for high quality, well planned development in Milton Keynes and Ashford. This will be subject to further studies and extensive consultation. However, John Prescott’s proposals are just that - proposals -and he has launched a massive public consultation exercise. Perhaps at last the people of our region will be able to shape the future of their communities. Ironically they still encounter many of the problems that were familiar in 19th century Britain. Poor housing and inadequate public health for the urban poor and isolation and social exclusion for the rural poor. Whilst planning had undoubtedly been a useful instrument in regenerating the city and preserving the countryside it has failed in one of its aims, namely to tackle the divide between rich and poor in urban or rural Britain.

The approach of the last Government to let developers decide was without question a disaster, allowing developers to pick the best greenfield sites first, and leave derelict or difficult sites to go under used . The old ‘predict and provide’ approach gave us urban sprawl, out-of-town shopping and pepper-pot development. The Deputy Prime Ministers announcement kills that approach stone dead. Instead we have a new, more flexible approach which will conserve greenfield land and improve the quality and design of housing developments. In future local Councils must give priority to recycling previously developed sites and empty properties. Brownfield first, greenfield last will be the new planning law. 60% of new homes will have to be on brownfield land. This approach takes into account the need to provide affordable housing in towns and villages and the desire to protect he countryside by making better use of brownfield sites. All local councils and local people will have more say, more often. Afer brownfield development, the most sustainable way to develop is to build town extensions. He is therefore proposing the

More information can be obtained on the DETR Website at http://www.planning.detr.gov.uk E:mail me your views on mfwatts1@aol.com. Mark F. Watts ist und Mitglied des Europäischen Parlaments für Südostengland und der Labour Party.

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THEMA

DIE HAUPTSTADTREGION ZUR GEMEINSAMEN ZUKUNFTSREGION ENTWICKELN! - Vorschläge für den Weg zu einem gemeinsamen Land -

von Steffen Reiche

Vorschläge von gestern taugen nicht immer für morgen. Jetzt muss ein wirklich neuer Vorschlag auf den Tisch. In der Sache muss dieser von Brandenburg kommen, also dem Land, an dem die Fusion 1996 scheiterte. Die Politik muss erneut um die Zustimmung für dieses großartige und ambitionierte Projekt werben. Um Zustimmung wirbt man, indem man einen geeigneten Weg vorschlägt. Durch welches Instrumentarium ein solcher Weg und der mit ihm einhergehende Diskussionsprozess organisiert wird, orientiert sich im Wesentlichen an der Einschätzung über die Breitenwirkung. Für uns Sozialdemokraten ist eine Enquete-Kommission Berlin-Brandenburg, in der Abgeordnete, Vertreter von Gewerkschaften, Unternehmerverbänden, Kirchen, den kommunalen Spitzenverbän-

Die Region Berlin-Brandenburg ist so attraktiv wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Diese Attraktivität entsteht nicht alleine durch den Regierungsumzug, sonder auch aus den eigenen Potenzialen der Region. Die einzigartige Chance, diese Potenziale zusammenzufassen, Kräfte, Gelder und Ressourcen zu bündeln, um Synergien zu erzielen, muss genutzt werden. Es muss aber auch aus den Fehlern von 1996 gelernt werden. Richtig ist, dass objektive Gründe eine Fusion der Länder Berlin und Brandenburg fast zwingend erfordern. Wichtig ist aber auch, dass Befürchtungen, Ängste und Vorbehalte abgebaut werden. Dieses erreichen wir nur dadurch, dass ein umfangreicher, nicht überstürzter, gelebter und gut vorbereiteter gesellschaftlicher Dialog über die Zielprämissen einer Fusion angeregt wird. 46


HAUPTSTADTREGION ZUR ZUKUNFTSREGION ENTWICKELN von Steffen Reiche

gemeinsame Berlin-Brandenburger Verfassung und einen neuen Vertrag zur Länderneugliederung erfolgen. Bis dahin wissen die Menschen nicht nur technisch, welche Schritte man zum gemeinsamen Land gehen muss und wie das Land, die Hauptstadt und die Flagge heißen bzw. aussehen, sondern sie bestimmen auch den Rahmen, in dem man ab 2009 zusammenlebt. Aber noch ein anderen Grund spricht für diesen Zeitpunkt: Im November 2009 werden 20 Jahre Mauerfall gefeiert werden. In diesem Jubiläumsjahr eine weitere Ost-West-Vereinigung abzuschließen, hätte hohen symbolischen Wert für die Herstellung auch der inneren Einheit.

den, Kirchen und andere Sachverständige Ansprüche an ein gemeinsames Land und einen Staatsvertrag über eine Länderneugliederung formulieren, der geeignete Weg. Durch ihn werden große Teile der Bevölkerung erfasst und können sich schon frühzeitig an der Diskussion über die Ziele einer Fusion und deren Ausgestaltung beteiligen. Folgende Themen müssen Schwerpunkte in der Debatte über das neue gemeinsam Land sein: Zeitablauf Die Zeitpunkte für die Bildung eines gemeinsamen Landes sind seit dem 1999 synchronisierten Legislaturperioden immer zu den Wahlzeitpunkten gegeben also 2004, 2009, 2014. Das Jahr 2004 ist nicht nur nach Einschätzung der SPD eindeutig zu früh und seit der Berliner Koalitionserklärung darüber hinaus ein unmöglicher Zeitpunkt geworden, da die notwendige Konsolidierung des Berliner Haushaltes bis dahin noch nicht so weit fortgeschritten ist, wie es notwendig wäre. Ein zu später Zeitpunkt - also 2014 - würde unsere Region aber in das Hintertreffen geraten lassen. Deshalb ist das Jahr 2009 aus unserer Sicht das geeignete Jahr, die beiden Länder Berlin und Brandenburg in ein gemeinsames Land aufgehen zu lassen. Im Jahr 2007 sollte - um einen genügenden zeitlichen Vorlauf gewährleisten zu können - eine Volksabstimmung über eine

Verfassung Ein gemeinsamer Verfassungsentwurf ist unabdingbare Vorraussetzung für eine Fusionsentscheidung. Hierbei bildet der Verfassungsentwurf von 1996 einen Orientierungsrahmen. Der damalige Entwurf muss aber grundlegend überarbeitet und an die neuen Verhältnisse angepasst werden. Insbesondere muss er den Menschen die Befürchtungen nehmen, dass eine Länderneugliederung zu Disparitäten zwischen den Regionen führt. Vielmehr müssen sich schon aus der Verfassung heraus die Chancen und Potentiale eines gemeinsamen Landes für die Bevölkerung ableiten lassen. Die Grundlagen für den Verfassungsentwurf müssen in der Enquete-Kommission gelegt werden. 47


HAUPTSTADTREGION ZUR ZUKUNFTSREGION ENTWICKELN von Steffen Reiche

vielfältige Anknüpfungspunkte für gemeinsames Regierungshandeln in wichtigen Feldern der Landespolitik. Beispielhaft seien hier nur die Bereiche Bildung und Hochschule, Kultur, Innenpolitik und Wirtschaft genannt. Die Anfänge sind insbesondere durch eine gute Arbeit des Koordinierungsrates zu verstärken und dadurch, dass sozusagen parteinah die sozialdemokratischen Bildungs-, Arbeits- und Sozial- bzw. Stadtentwicklungs- und Planungsverantwortlichen (Reiche-Böger, Schöttler-Ziel, Strieder-Meyer/Birthler) zusammenarbeiten. Parteiübergreifend ist das gemeinsame Interesse an einer Haushaltskonsolidierung zu organisieren (Simon-Kurth).

Haushaltspolitik Die Länder Berlin und Brandenburg hatten für 1999 ein vergleichbares Niveau der Nettokreditaufnahme vereinbart. Dieses muss auch für einen neuen Fusionsanlauf gelten. Es muss einer verbindliche Vereinbarung darüber getroffen werden, bis 2009 in beiden Länder die Nettoneuverschuldung auf 0 zu fahren haben und mit dem Schuldendienst begonnen zu haben. Brandenburg wird dieses bereits 2002 umgesetzt haben. Angleichung der Lebensverhältnisse Ein sozial zweigeteiltes Land ist politisch nicht gewollt und birgt - wie nicht zuletzt die Erfahrungen der Wiedervereinigung zeigen - erhebliche Gefahren für das Zusammenwachsen der Region. Vergleichbare Lebensverhältnisse, was insbesondere auch Arbeitszeit und Einkommen betrifft, sollen bis 2009 erreicht sein. Es müssten von heute an jährlich nur 1 Prozent strukturelle Anpassungsschritte unternommen werden, bis auf 2 Jahre, wo zum Schlussspurt ein doppelt hoher Betrag zumutbar und auf Grund der Angleichung der Arbeitsproduktivität und des Steueraufkommens auch finanzierbar sein müsste.

Die Sozialdemokraten aus Berlin und Brandenburg sollte die Chance für einen neuen Fusionsanlauf aktiv wahrnehmen und politisch gestalten. Gleichzeitig müssen sie sich aber auch der Verantwortung gegenüber den Bürgern bewusst sein, diese mit einbeziehen und sie auffordern, an der Gestaltung des neuen Landes mitzuwirken. Eine Länderneugliederung, die von unten mitgetragen und mitverantwortet wird, wird auch eine breite Zustimmung und Engagement in Berlin und Brandenburg erfahren.

abgestimmte Landesplanung Bis zur Fusion der Länder Berlin und Brandenburg muss die Zusammenarbeit auf Regierungs- und Verwaltungsebene, wie im Kabinett verabredet, weiter intensiviert werden. Schon heute bieten sich

Steffen Reiche ist Landesvorsitzender der SPD Brandenburg und Minister für Bildung, Jugend und Sport des Landes Brandenburg. www.brandenburg.de/land/mbjs

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THEMA

REALISTISCHE UTOPIE

von Rolf Schneider

ner, wohl bloß bescheiden ausfallen, und angesichts des Umstands, daß alle bürokratischen Apparate in der modernen Welt nach dem Parkinsonschen Gesetz zu einer ständigen Vergrößerung ihrer selbst tendieren, würden sie schon bald wieder aufgezehrt sein. Ich fürchte, dies alles trifft in etwa so zu. Mit der Rechnung des sprich-wörtlichen Milchmädchens ist das Zusammengehen der beiden Territorien bloß ungenügend begründbar. Von größerem Gewicht scheint mir da das Argument der Ansiedlungsmanager. Man weiß, die einzelnen Länder der Bundesrepublik Deutschland verstehen sich vorrangig als Agenturen und Maklerbüros für anstehende industrielle Investitionen. Im einen und anderen Fall hat dies spektakuläre Erfolge gezeitigt. Die früher ärmliche und einigermaßen rückständige Agrarregion Bayern wurde durch solche

Wir wollen es zugeben: Wenn die Fusion der zwei Bundesländer Berlin und Brandenburg bei den bevorstehenden Volksabstimmungen scheitern sollte, ginge anschließend die Welt nicht unter. Die beiden Subjekte würden weiterhin nebeneinander existieren, sie würden sich gelegentlich den Weg versperren, und in allen entsprechenden Entscheidungsgremien, von der Länderministerpräsidentenkonferenz bis zur Assoziationsrunde der einzelnen Fachminister, würden sie jeder ihr schwaches Stimmchen erheben, um, wie bisher, einen eher bescheidenen Einfluß geltend zu machen. Selbst die erhofften Einsparungen im Verwaltungsapparat, die von den Fusionsbefürwortern ständig hervorgekehrt werden und die in der Tat, angesichts gähnender Löcher in den öffentlichen Haushalten, ein triftiges Argument bedeuten, würden, so behaupten es jedenfalls die Fusionsgeg49


REALISTISCHE UTOPIE von Rolf Schneider

Art inständiger Bemühung binnen bloß anderthalb Jahrzehnten zu jener blühenden HighTech-Landschaft, die sie heute ist, und im benachbarten Württemberg verhalten sich die Dinge ebenso. Wenn gegenwärtig ein Investor im Berliner Raum unternehmerische Neugierde äußert, treten ihm die beiden interessierten Bundesländer als erbitterte Konkurrenten gegenüber. Berlin kann dabei mit einem Reservoir an vergleichsweise besser ausgebildetem Arbeitspersonal, Brandenburg mit seinen ungleich niedrigeren Bodenpreisen argumentieren. Jeder dieser unzweifelhaften Vorzüge wird durch die Konkurrenzsituation alsbald zunichte gemacht, wogegen bei einer administrativen Einheit in solchen Fällen viel vernünftiger und angemessener verhandelt werden könnte. Berlin liegt heute an der Peripherie. Von seinem östlichen Stadtrand bis zur polnischen Staatsgrenze an der Oder sind es eben siebzig Kilometer, von seinem westlichen Stadtrand bis zur belgischen Staatsgrenze sind es hunderte, und gleich mehrere deutsche Schicksalsflüsse müssen dabei überquert werden: die Elbe, die Weser und der Rhein. Die gegenwärtige Randlage der größten deutschen Stadt ist eines von vielen melancholischen Ergebnissen des Zweiten Weltkriegs, und sie wird, sehen wir von ein paar rechtsradikalen Narren ab, durch niemanden mehr ernsthaft in Frage gestellt. Daß Hauptstädte in der geographischen Mitte des von ihnen aus verwalteten Territoriums liegen, ist keinesfalls die Regel:

Washington, St. Petersburg und selbst London beweisen das Gegenteil. Den drei zitierten Orten ist freilich auch gemeinsam, daß ihre periphere Situation von Beginn an vorgegeben und, da es sich dabei um Flußmündungen mit wichtigen Seehäfen handelte, auch gewollt war. Als Berlin eine Hauptstadt wurde, befand es sich völlig im geographischen Zentrum erst des preußischen, später des Deutschen Reiches. Es wußte mit dieser Situation logistisch umzugehen, da es von ihr seit jeher geprägt war, als Verkehrsknotenpunkt und als kulturelles Zentrum. Dergleichen kam der Stadt mit ihrer nun völlig anderen geopolitischen Lage mehr oder weniger abhanden, und es blieb dann auch nicht bloß bei dieser einen Beschädigung. Die andere, spektakulärere, geschah ihr durch die deutsch-deutsche Nachkriegspolitik, da sie erst virtuell, dann höchst sinnfällig geteilt wurde und jede der beiden an Größe und Gewicht so ungleichen Stadthälften hernach eine ganz unterschiedliche Entwicklung antrat. Besonders die drei Westsektoren lebten nach einem ziemlich unruhigen Einstand als Blockadeobjekt und Gegenstand sowjetischer Eroberungsbegierden über lange Zeit ein nicht unkomfortables Sonderdasein. Das wurde teuer alimentiert. Die Bonner Bundesrepublik entrichtete Milliardenzahlungen, die den Stachel im Fleisch des kommunistischen Ostens scharf und lebendig hielten. Zudem konnte sie sich dadurch für ihr schlechtes Gewissen in Sachen ostelbischer Angelegenheiten 50


REALISTISCHE UTOPIE von Rolf Schneider

einen beruhigenden Ablaß erkaufen. Die Gelder flossen in Industrien, die sonst abgewandert wären, in Wohnungen, die reichlich und ansehnlich gebaut wurden, und ernährten einen Kulturbetrieb, der so üppig und aufwendig im gesamten übrigen Land kein Beispiel fand. Die Halbstadt wurde ein Eldorado für Nachtschwärmer und anarchistische Aussteiger, da die in Deutschland sonst überall gültige polizeiliche Sperrstunde hier nicht stattfand. Westberlin hatte keine Bundeswehr und kannte auch keinen Dienst dortselbst, hingegen bot es mit dem bröselnden Plebejerbezirk Kreuzberg eine urbanistische Nische für jegliche Form von alternativem Dasein. Seit dem Viermächte-Abkommen über die Stadt war ihr Westen nicht mehr ernstlich bedroht. Die Furcht vor roter Umklammerung und Inbesitznahme wurde zu einer ritualisierten Äußerlichkeit, mit der sich vor allem werbewirksame Effekte erzeugen ließen, bevorzugt bei den zahlreichen Besuchern aus aller Welt. Als ein sonderbares soziales Biotop lebte die Halbstadt mitsamt ihren Bewohnern ihr privilegiertes Dasein bis zum Fall der innerstädtischen Mauer. Da wurde ihr offenbar, daß Gewohnheiten enden können und sich Privilegien wieder zurücknehmen lassen. West-Berlin mußte sich zurück in die Normalität bequemen, und die erfuhr sie überwiegend als Benachteiligung und Einbuße. Die meisten Gelder flossen nicht mehr. Die Industrien verließen die Stadt nun doch. Größere Zuwendungen, sofern sie erteilt wurden, gingen vorwiegend in

den Osten. West-Berlin begann sich als ein Hauptopfer der deutschen Wiedervereinigung zu empfinden und produziert deswegen hauptsächlich schlechte Laune. Die Fusion von Berlin und Brandenburg hat ihre massivste Ansammlung von Gegnern unter anderem hier, und zumal in den konservativen Villenvororten rund um den Wannsee und Grunewald herrscht die Angst, man könne in dem roten Meer der Mark Brandenburg unrettbar versinken. Es handelt sich bei diesem Gefühl um eine aus Ignoranz und mangelnder Flexibilität genährte Schimäre. Es müßte nämlich bloß die Rechnung angestellt werden hinsichtlich der Bevölkerungsstärken: Berlin hat vier Millionen Einwohner, Brandenburg eben zweieinhalb. Der Einfall, daß gerade die gewünschte und versuchte Fortexistenz der insularen Künstlichkeit sich als ruinös erweisen könnte, vor allem für die Betreiber, scheint noch niemandem gekommen. Das Biotop ist vom Ende bedroht. Es kann Sterben heißen oder Trans-mutation. Fürs zweite steht allein die Vereinigung. Berlin hat fast keinerlei historische Erfahrungen als Stadtstaat. Dies macht den gewichtigen Unterschied etwa zu den Hansestädten Hamburg und Bremen, die damit erfolgreich und folgenreich über die Jahrhunderte kamen, die daraus ihr Selbstwertgefühl bezogen, ihre demokratischen Regularien und ihre kulturelle Identität. Zudem kommen neuerdings deutliche Tendenzen auf, die mit dem Prinzip Stadtstaat notwendig verbundene Kleinteiligkeit baldestmöglich zu beenden 51


REALISTISCHE UTOPIE von Rolf Schneider

und in einer allgemeinen Gebiets- und Verwaltungsreform eine administrative Ausgeglichenheit anzustreben. Sollte ausgerechnet das deutsche Bundesland Berlin, das bar aller hanseatischen Erfahrungen ist und demnächst sowohl das zentrale Parlament als auch die gesamtdeutsche Exekutive beherbergen wird, in diesem Status fortfahren können? Als Dienstleistungskoloß, als Verwaltungs- und Repräsentationsriese, dem der natürliche wirtschaftliche Stoffwechsel mit einer produzierenden Industrie überwiegend abhanden kam, drohten ihr alle Monstrositäten eines urbanen Wasserkopfs. Den von Berlin entfernteren Gebieten der Mark Brandenburg droht das genaue Gegenteil, nämlich eine schleichende Devastierung. Brandenburg ist armselig, Brandenburg ist arm. Die Landschaft, bestimmt von den geologischen Hinterlassenschaften der letzten Eiszeit, besteht hauptsächlich aus Binnenseen und Sand. Die Wälder haben als Vorzugsgewächse die Kiefer und die Birke. Das Land ist dünn besiedelt. Die Agrarwirtschaft, die betrieben wurde und teilweise noch betrieben wird, läßt ihre Ursprünge in der Latifundialorganisation des preußischen Landadels erkennen. Sie war eher extensiv als intensiv, denn die Böden waren meistens schlecht. Am besten gedieh der Erdapfel, den man auch vergären und brennen konnte. Der billigste Fusel im wilhelminischen Deutschland war der in brandenburgischen Destillerien erzeugte Kartoffelschnaps.

Das gewöhnliche brandenburgische Dorf besteht aus einer langen Durchgangsstraße, von der ein paar Querwege abgehen. An den Rändern hocken langgestreckte und niedrige Siedlerhäuser mit Satteldach. Den Dorfmittelpunkt bildet eine aus Feldsteinen errichtete Kirche, und dann gibt es noch das Gutshaus, ausgestattet mit spätbarockem oder klassizistischem Zierat. Meist ist es ziemlich verfallen, wofür es gleich zwei Ursachen gibt: Der Staat DDR nutzte dergleichen erbarmungslos als Verwaltungsgebäude oder Kindergarten und tat für den Erhalt überhaupt nichts. Zusätzlich zeigte und zeigt sich die Bausubstanz so miserabel, weil sie so billig war. Die ostelbischen Landjunker hatten für die höheren Formen feudaler Repräsentation kein Geld, und sofern sie doch welches hatten, verjuxten sie es lieber am Spieltisch oder bei der Parforcejagd und spendierten es nicht etwa für die Kultur. Dies alles hat sich in sechs Nachwendejahren fast überhaupt nicht verändert, und wenn kein kräftiger Adrenalinstoß erfolgt, wird es auch künftig dabei bleiben. Kein Zweifel besteht, daß man sich aus uralter Routine mit den Zuständen derart abgefunden hat, daß man sie als gottgegeben und jegliche Veränderung, wie die Fusion sie brächte, als Unglück empfindet. Es herrscht eine geheimnisvolle, den Beteiligten kaum bewußte Symbiose mit den Fusionsgegnern in den West-Berliner Villenvororten. Man kann sie entweder respektieren oder bekämpfen. Jene aus der classe politique, die sie respektieren, 52


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fürchten in aller Regel bloß um ihre bislang gesicherten politischen Pfründe. Nur recht selten ist in der Fusionsdebatte ein Argument zu vernehmen, das geschichtliche Erinnerungen beschwört, indem es die Vereinigung zu einer versuchten Restitution des alten Preußen erklärt. Preußen, das weiß man, ist der derzeit lebendigste Untote der europäischen Geschichte. Fortwährend wird inzwischen preußischer Geist beschworen, preußische Tugenden werden gerühmt, preußische Untugenden verdammt, und ein besonders bizarrer Gedanke lautet, der einzig wirkliche Verlierer des Zweiten Weltkrieges sei Preußen gewesen. Diese hübsche These verdankt sich zwei Amateurhistorikern, Sebastian Haffner und Wolf Jobst Siedler. Sie kamen schon vor einem Vierteljahrhundert damit auf den Markt. Seit 1990 sitzt Deutschland eindeutig unter den Gewinnern des Kalten Krieges, und da der bekanntlich in direkter Fortsetzung des Zweiten Weltkrieges verlief, hat Deutschland diesen gleich noch mitgewonnen. Unter den Verlierern aber, angeführt von den Russen, befindet sich der Staat Preußen. Während das übrige Deutschland, wie es Siegern zukommt, entweder in seinen alten Beständen fortexistiert oder, wie Bayern und Württemberg, mit beträchtlichen Landgewinnen arrondiert wurde, sieht sich Preußen diminuiert auf die Grenzen der Mark Brandenburg zur hochmittelalterlichen Zeit von Albrecht dem Bären. Sämtliche unwiederbringli-

chen deutschen Landverluste im Osten betreffen ehedem preußisches Territorium. Dies alles geschah in der Konsequenz von Beschlüssen, die auf der Konferenz der drei alliierten Siegermächte vom 17. Juli bis zum 2. August 1945 im Potsdamer Schloß Cecilienhof gefaßt worden sind. Damals entschied man unter anderem, den Staat Preußen als Hort des deutschen Militarismus und der imperialen Aggression für immer zu zerschlagen. Keine andere Übereinkunft der Siegermächte betreffend das unterlegene Deutschland wurde so angelegentlich befolgt. Der Beschluß ist dennoch oder eben deshalb Wirklichkeit geworden und geblieben, und ob man ihn heute aufheben könne und dürfe, ist eine durchaus bedenkenswerte Frage. Was aber war denn eigentlich Preußen, und was sind die Antriebe seines historischen Vampirismus? Der Name, man weiß es, kam von einer indogermanischen Völkerschaft, den Pruzzen. Sie saß im Baltikum und ähnelte in Sprache, Religion und Kultur den Litauern und den Letten. Ihr Siedlungsgebiet fiel unter die Eroberungen des Deutschritterordens, dessen letzter Hochmeister ein Hohenzoller war. Nach dessen Abtritt gerieten die Herrschaftsansprüche an dessen nächsten Verwandten, der die Brandenburger regierte. Als der Sohn des barocken Kurfürsten Friedrich Wilhelm in einem Anfall von absolutistischem Geltungswahn nach der Königswürde gierte, nahm er die Krönung auf borussischem Gelände vor. Er übernahm den dortigen Territorialnamen in 53


REALISTISCHE UTOPIE von Rolf Schneider

seinen Regententitel und nannte sich nicht brandenburgischer, sondern preußischer König. Bereits sein Enkel war dann jenes außerordentliche Talent, das jede feudale Dynastie, sofern sie nur lange genug regiert, irgendwann einmal hervorbringt. Neuerdings ist es wieder üblich, von Friedrich dem Großen zu reden, woran ich persönlich nicht teilnehmen mag, da dieser Mensch so genialisch wie furchtbar war. Sein glänzender Intellekt wurde relativiert durch Zynismus, Menschenverachtung, Blutdurst, und die Stellung, in die er sein Land hineinkartätschte, war mit dem massenhaften Elend seiner und anderer Landeskinder erkauft. Was er hinterließ, war freilich unzweifelhaft eine europäische Großmacht. Sie hat die Erschütterungen und Niederlagen, die ihr im Verlauf der folgenden anderthalb Jahrhunderte widerfuhren, irgendwie sämtlich bewältigen können, um im Zweifelsfalle gar noch daran zu wachsen. Sie wurde die Hegemonialmacht des deutschen Kaiserreiches von 1871, und selbst in der ersten deutschen Republik war sie mit dem Staat so gut wie identisch. Preußens Erfolge waren stets militärische. Das gilt nicht bloß für die in den schlesischen oder dänischen Kriegen blutig erfochtenen Territorial-gewinne, sondern außerdem für die innere Organisation, die bevorzugt der Vorbereitung des Militärischen diente und deren Strukturen mit jenen des Heeres entweder identisch waren oder von daher ihre Vorbilder bezogen. Das beginnt schon mit dem Kurfür-

sten Friedrich Wilhelm, der sich anstelle der bis dahin üblichen Söldnerarmeen ein stehendes Heer schuf Es geht weiter mit dem Kantonsystem des Soldatenkönigs, mit der Unterordnung von Landwirtschaft und Manufaktur unter die Heeres-bedürfnisse, mit der unbedingten Verpflichtung des Landadels zum Offiziersberuf, mit der Adaption von Volksheer und Ievde en masse, beides Errungenschaften der Französischen Revolution, über die konservative Preußenmonarchie bis hin zu jener Vorform des totalen Krieges, die der preußische Industrielle Rathenau den Deutschen zum Ende des Ersten Weltkrieges verordnete. Preußen war immer der Staat, der sich eine Armee hielt. Das innere Ordnungsprinzip einer Armee ist der Gehorsam, die übliche Anweisung ist der Befehl. Beider Vorzug ist die Stringenz, also der geringe Reibungsverlust und die Unmittelbarkeit, ihr Nachteil ist die unbedingte Subordination mit dem Effekt der schleichenden Entmündigung. Alles, was gemeinhin als preußische Tugenden rubriziert wird, erweist sich als eine direkte Ableitung militärischen Brauchtums. Es gibt recht verschiedene Definitionen dieser Tugenden, und niemals decken sie sich völlig, was auf ein schwammiges Ungefähr hinausläuft. Die Pflichterfüllung wird fast überall erwähnt, dazu noch Geradlinigkeit, Gehorsam, Unbestechlichkeit, Sparsamkeit, seltener Toleranz. Ein Vorzugswort ist Dienen. Ein niemals genannter Begriff ist Humor. Dies alles ergibt einen möglicherweise ziemlich auf54


REALISTISCHE UTOPIE von Rolf Schneider

geklärten Militarismus, doch Militarismus bleibt es. Ich selbst bin ein Anhänger des Zusammenschlusses von Berlin und Brandenburg. Zugleich bin ich, schon wegen meiner sächsischen Herkunft, dann noch wegen meines grundsätzlichen Pazifismus, kein Preußenanhänger. Befinde ich mich in einem Widerspruch? Wenn wir, wie immer wieder und rechtens geschieht, zur größten Errungenschaft (und zum Erfolgsgeheimnis) der Bundesrepublik Deutschland ihre zutiefst zivile Gesellschaft erklären, schließt dies einen besinnungslosen Rückgriff auf Preußen samt seinen vermeintlichen Tugenden zunächst einmal aus. Nun hat die militärische Unbedingtheit in den nichtmilitärischen Bezirken des öffentlichen und privaten Lebens von Preußen Folgen gezeitigt, denen selbst Pazifisten zuneigen können. Es gehören dazu das gute Funktionieren großstädtischer Organismen und jene abstrahierende Geistigkeit, die sich etwa in Schleiermachers Theologie äußert. Auch das, was man Kunst in Preußen nennen kann (und was hauptsächlich Kunst in Berlin ist), also die Architektur Knobelsdorffs, die Musik Mendelssohn-Bartholdys, die Salonkultur der Rahel Varnhagen, die Belletristik zwischen Fouqué, Kleist und Georg Heym wären hier zu nennen, wobei nicht unterschlagen sei, wieviel zutiefst leidvolle Reibung an

preußischer Unbedingtheit da allemal mitschwingt. Als Alibi für das Prinzip Preußen taugt es nicht. Immerhin gehört es zu jenen Traditionen, die das Territorium hervorbrachte und auf die sich jetzt unbedenklich zurückgreifen läßt. Der Zusammenschluß der territorialen Zwerggebilde Berlin und Brandenburg zu einem mittelgroßen Bundesland ist die wundersame Chance zu einem Preußen, das es, übereinstimmend mit dem deutschen Zeitgeist, so unaggressiv noch niemals gab. Es wäre der Nachvollzug dessen, was die größere Bundesrepublik bereits beispielhaft vorgab. Es wäre das Ziel, auf das die beiden gründlich erschütterten Landschaften, aus denen es zusammenwüchse, sich zubewegen könnten. Entgegen der Meinung des von mir sonst sehr geschätzten österreichischen Bundeskanzlers Franz Vranitzky, Visionen seien ausschließlich eine Sache für die Psychiatrie, bin ich fest davon überzeugt, daß kollektive Existenzen, wie sie Staaten und Länder nun einmal sind, eines ideellen Stimulans bedürfen, einer realistischen Utopie, eben einer Vision, um in einem Prozeß ständiger Selbstvergewisserung ihre Zukunft sinnvoll zu bestimmen und zu formen. Das Bruttosozialprodukt allein macht das nicht. Das Ziel eines zutiefst friedlichen und zivilen Preußen wäre etwas, das unsere gemeinsamen Anstrengungen gewiß lohnt. Rolf Schneider ist Schriftsteller und Publizist. 55


THEMA

WIEVIELE MENSCHEN WERDEN IM JAHR 2010 IN BERLIN-BRANDENBURG LEBEN? Die Demographische Entwicklung in Berlin und Brandenburg und ihre Folgen

von Madeleine Jakob und Andreas Büchner

wird. Dagegen wird in Berlin mit einem Absinken der Bevölkerung bis 2010 zu rechnen sein. 1998 lebten 3,46 Millionen Menschen in der Hauptstadt, für 2010 wird jedoch mit einer Bevölkerungszahl von nur noch 3,30 bis 3,37 Millionen Einwohnern gerechnet. Die Einwohnerzahl in der Gesamtregion hält sich also bis zum Jahr 2010 stabil. Jedoch sind in einzelnen Regionen sehr unterschiedliche Bevölkerungsentwicklungen zu beobachten. Aus dem Ausland ergibt sich für Berlin ein Wanderungsgewinn von 200.000 Menschen, für Brandenburg von etwa 150.000. Dagegen wird die räumliche Binnenwan-

Im Osten Deutschlands sind seit 10 Jahren dramatische Bevölkerungsbewegungen zu beobachten, die auch in den nächsten Jahren noch anhalten werden. Hiervon ist die Region Berlin-Brandenburg in besonderem Maße betroffen. Im Land Brandenburg lebten am 30.Juni 1999 2,59 Millionen Menschen. Davon hatten 898.000 Einwohner ihren Wohnsitz im engeren Verflechtungsraum Berlin-Brandenburg. Verschiedene Prognosen über die Bevölkerungsentwicklung für das Land Brandenburg gehen davon aus, dass es bis 2010 ein leichtes Ansteigen der Bevölkerung auf 2,65 bis 2,73 Millionen Einwohner geben 56


DEMOGRAPHISCHE ENTWICKLUNG IN BERLIN-BRANDENBURG von Madeleine Jakob und Andreas Büchner

schöpft nicht nur aus Wanderungsgewinne aus Berlin, sondern auch aus Potsdam und der Stadt Brandenburg. In einigen Ämtern ist die Einwohnerzahl in den letzten Jahren um mehr als 50% angestiegen. Eine Ursache dafür dürfte auch ein „Nachholbedarf“ sein, da der Traum vom eigenen Haus im Grünen vor 1990 nicht verwirklicht werden konnte. Mit der Zeit ist hierbei ein gewisser Sättigungsgrad zu erwarten und die hohe Wanderungsgewinne der vergangenen Jahren werden sich nicht fortsetzen. Für die Entwicklung der Gesamtbevölkerung bleibt die Wanderungsbilanz entscheidend, weil die natürliche Bevölkerungsbewegung negativ ist und auch in Zukunft sein wird. Städte mit den höchsten Wanderungsverlusten haben auch die stärksten Verluste in der Gesamtentwicklung aufzuweisen. Das sind einerseits Städte, die zu DDR-Zeiten ein großes Bevölkerungswachstum zu verzeichnen hatten, wie zum Beispiel die ehemaligen Bezirkshauptstädte und Industriestandorte mit einem hohem Anteil komplexen Wohnungsbaus wie beispielsweise die Stadt Schwedt. Andererseits sind davon auch Orte betroffen, beispielsweise Wittenberge, die schon zu DDR-Zeiten eine ungünstige Altersstruktur und einen Bevölkerungsrückgang aufwiesen. Gleichzeitig hält der bereits zu DDR-Zeiten auffallend dramatische Bevölkerungsrückgang in den ländlichen Gemeinden unvermindert an, die nicht vom Zuzug aus den großen Städten profitieren können.

derung aus anderen deutschen Bundesländern für Brandenburg leicht negativ, für Berlin positiv ausfallen. Insgesamt ist im Jahr 2010 mit einer Gesamtbevölkerung in der Region BerlinBrandenburg von rund 6 Millionen Menschen zu rechnen, ein mit dem Bundesland Hessen vergleichbarer Wert.

1.

Brandenburg

1.2. Bevölkerungsentwicklung in den Regionen Seit Beginn der neunziger Jahre ist im Land Brandenburg eine regional sehr differierende Bevölkerungsentwicklung auffällig, Es ist absehbar, dass dieser Trend in den nächsten Jahren weiter anhalten wird. Während die Bevölkerung im Berliner Umland weiter wächst, setzt sich dagegen der Bevölkerungsrückgang in den peripheren Regionen fort. Nach einer Prognose des Brandenburger Landesamt für Datenverarbeitung und Statistik (LDS) geht dort die Bevölkerung in den nächsten Jahren um 200.000 Einwohner zurück. Generell ist ein Trend „raus aus den Städten“ zu beobachten, der in den nächsten Jahren nachlassen wird. Es ist festzuhalten, dass die Bevölkerungsgewinne in vielen Kommunen im engeren Verflechtungsraum eindeutig durch Zuwanderungen aus Berlin zu erklären sind. Profitieren können auch Ämter, die an größere Städte angrenzen. Der Landkreis Potsdam-Mittelmark, für den der größte Bevölkerungszuwachs prognostiziert wird, 57


PM

HVL

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Landkreise

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Stadtkreise

DEMOGRAPHISCHE ENTWICKLUNG IN BERLIN-BRANDENBURG von Madeleine Jakob und Andreas Büchner

schon seit längerem rückläufig. Waren zur Volkszählung am 01.01.1971 noch 22,6% der DDR-Bevölkerung jünger als 16 Jahre, so sank dieser Anteil bis zum Jahresende 1981 auf 18,8 % ab. Zwischen der wirtschaftlicher Entwicklung und den Geburtenzahlen zeichnet sich eine Korrelation ab. Die niedrigsten Geburtenzahlen werden in den Regionen des Landes Brandenburg erwartet, die von der Arbeitslosigkeit besonders betroffen sind. Dies lässt sich dadurch begründen, dass gerade junge Menschen dem Arbeitsplatzangebot hinterher ziehen. Für das Jahr 2010 prognostiziert das LDS beispielsweise in Wittenberge einen Anteil der unter 16jährigen von nur 8,1% gemessen an der Einwohnerzahl, für Falkensee dagegen von 14,1%.

1.2. Natürliche Bevölkerungsentwicklung Die neunziger Jahre waren durch einen rapiden Rückgang der Geburtenzahlen gekennzeichnet. Sie lagen auf einem nie gekannten Tiefstwert. Mittlerweile ist eine leichte Erholung bei den Geburtenzahlen zu beobachten, die weiter anhält, jedoch nicht wieder die Werte von vor 1990 erreicht. Selbst die Geburtenzahlen vor 1990 konnten die Sterbezahlen nicht vollständig ausgleichen, deshalb wird auch in Zukunft der Saldo der natürlichen Bevölkerungsentwicklung negativ sein. Diese Tendenz trifft auf alle Regionen gleichermaßen zu, obwohl das Minus zum Beispiel in der Prignitz oder der Uckermark höher ausfällt als im Berliner Umland. Die Entwicklung der Geburtenzahlen ist jedoch 58


DEMOGRAPHISCHE ENTWICKLUNG IN BERLIN-BRANDENBURG von Madeleine Jakob und Andreas Büchner

Hingegen kann man davon ausgehen, dass die Zahl der Menschen über 65 Jahren kontinuierlich zunehmen wird. 2015 wird jeder fünfte Einwohner im Land Brandenburg über 65 Jahre alt sein, in der Stadt Brandenburg sogar jeder Vierte. Einerseits wird dies verursacht durch steigende Lebenserwartung, niedrige Geburtenzahlen und der Tatsache, dass vor allem junge Menschen häufiger ihren Wohnort wechseln und Ältere dagegen in der Heimat bleiben. Deshalb zeichnen sich Städte mit den höchsten Wanderungsverlusten, wie zum Beispiel Schwedt durch stark ansteigende Seniorenzahlen aus. In Städten mit den niedrigsten Kinderzahlen wie Wittenberge oder Lübbenau werden 2015 sogar 3 von 10 Einwohnern über 65 Jahre alt sein. Dabei darf nicht vergessen werden, dass diese Entwicklung in den kreisfreien Städten und berlinfernen Landesteilen dramatischer ausfällt als im engeren Verflechtungsraum um die Stadt Berlin.

2.

che Situation in anderen Staaten die Prognose erschweren. Trotzdem weisen die Prognosen des Senates und des Statistischen Landesamtes übereinstimmend für Berlin einen leichten Bevölkerungsrückgang aus. Dieser wird hauptsächlich durch die natürliche Bevölkerungsentwicklung der deutschen Bevölkerung und die Migration in das Umland verursacht. Auf Grund der Prognosen ist absehbar, dass bis 2010 65.000-70.000 mehr Berliner sterben als geboren werden. Die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung geht davon aus, dass 184.000 Berliner mehr in das Umland abwandern als nach Berlin ziehen werden, die Hauptstadt jedoch in der Bilanz betrachtet 70.000 Menschen aus anderen Bundesländern gewinnen wird. Die Zahl der Ausländer wird sich weiter erhöhen, einerseits durch ein positiven Wanderungssaldo von etwa 200.000 bis 2010, andererseits durch höhere Geburtenzahlen. Somit erhöht sich der Ausländeranteil von derzeit 12,5% auf etwa 15% der Einwohner. Ähnlich wie im Land Brandenburg wird der Anteil der Menschen über 65 deutlich steigen, jedoch mit einem Wert von 18% (heute 14,5 %) an der Gesamtbevölkerung nicht die Dimensionen wie in weiten Teilen Brandenburgs erreichen. Hierbei steigt in bemerkenswerter Weise der Anteil der über 65jährigen unter den Ausländern. Innerhalb Berlins ergeben sich Bevölkerungsverschiebungen von den inneren

Berlin

Prognosen für die Bevölkerungsentwicklung sind umso schwieriger, je mehr Einflussfaktoren hinzu kommen. Dies trifft auch auf Berlin zu. Hier ist vor allem die Zahl der Ausländer nur schwer vorhersehbar, weil neben einer anderen Altersstruktur und Geburtenrate auch politische Rahmenbedingungen wie beispielsweise ein mögliches Einwanderungsgesetz oder die unsichere politische und wirtschaftli59


DEMOGRAPHISCHE ENTWICKLUNG IN BERLIN-BRANDENBURG von Madeleine Jakob und Andreas Büchner

äußeren Entwicklungsraumes. Dort ist traditionell die Bevölkerungsdichte niedrig, es gibt eine Vielzahl von Klein- und Kleinstgemeinden. Das Zurückgehen der Einwohnerzahlen bedeutet gleichzeitig auch ein weiteres Absinken der Bevölkerungsdichte. Schon heute haben viele Schüler im ländlichen Raum weite Anfahrtswege zu ihren Schulen. Aufgrund der sinkenden Zahlen der Kinder - die

Altbaubezirken wie Prenzlauer Berg und Wedding zu den Schwerpunkten des Wohnungsbaus in Pankow und Weißensee. Die Bezirke mit einem hohen Anteil komplexen Wohnungsbaus können dagegen wider Erwarten ihre Einwohnerzahl halten. 3.

Welche Folgen hat die Einwohnerentwicklung ?

Die Bevölkerungsentwicklung verursacht eine Vielzahl von Problemen, die gelöst werden müssen. Einer der Bereiche, der unmittelbar von der Bevölkerungsentwicklung betroffen ist, ist der Bildungssektor. Gemeinden, die durch hohe Wanderungsgewinne gekennzeichnet sind, vor allem im Berliner Umland, haben auch höhere absolute Kinderzahlen zu verzeichnen als zum heutigen Zeitpunkt. Dies bedeutet, dass die Kapazitäten der vorhandenen Schulen nicht ausreichen. Im Gegensatz dazu steht der Trend in weiten Teilen des 60


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niedrigen Geburtenzahlen der neunziger Jahren wirken sich erst jetzt in den Grundschulen und in den nächsten Jahren in den weiterführenden Schulen aus müssen weitere Schulen geschlossen werden und Fahrtwege für Schüler werden sich vergrößern. So wird eventuell bei weiterführenden Schulen die Einrichtung von Internaten zu erwägen sein. Steigende Einwohnerzahlen im Berliner

Umland bedeuten auch erhöhten öffentlichen Investitionsbedarf in dieser Region beispielsweise für die Infrastruktur. Im äußeren Entwicklungsraum müssen dagegen beispielsweise Eisenbahnstrecken auf ihre Wirtschaftlichkeit überprüft werden. Dabei sollten neue Verkehrswege in der Prignitz oder der Uckermark vor dem Hintergrund der Effizienz überdacht werden. Dadurch wird das Konzept der „Dezentralen Konzentration“ beeinflusst. Die Bevölkerungsentwicklung wirkt sich auch in großen Maße auf die Finanzausstattung der Kommunen aus. Sinkende Einwohnerzahlen bedeuten niedrigere Steuereinnahmen und Landeszuweisungen. Der finanzielle Handlungsspielraum, der notwendig ist, um Investitionen vorzubereiten, aber auch ein attraktives Angebot an freiwilligen Leistungen für die Einwohner bereitstellen zu können, wird immer geringer. Diese sind jedoch notwendig, um die Attraktivität der einzelnen Kommunen so 61


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zu gestalten, dass dies einen positiven Einfluss auf die Wanderungsbilanzen hat. Dort, „wo nichts los ist“, investiert kaum ein Unternehmen, ziehen die Bewohner noch schneller weg. Hierbei besteht also die Gefahr in einen Teufelskreis zu geraten. Gemeinden mit Einwohnergewinnen profitieren durch höhere Steuereinnahmen, zumal davon auszugehen ist, dass eher besser Verdienende zuziehen. Auch erhalten sie, wenn die Vergabepraxis so beibehalten wird, mehr Landeszuweisungen. Das heißt, wirtschaftlich erfolgreiche Kommunen im Berliner Umland profitieren, weniger erfolgreiche Kommunen im äußeren Entwicklungsraum verlieren. Es gibt also eine gegenläufige Entwicklung, die Kluft zwischen „reichem“ Speckgürtel und „armer“ Peripherie wird immer größer. Das Konzept der „Dezentralen Konzentration“ wird in seiner Wirksamkeit in Frage gestellt. Der Siedlungsdruck wird nicht in dezentral liegenden Entlastungsorte gelenkt, sondern konzentriert sich auf das Berliner Umland und die an die größeren Städte angrenzenden Gemeinden. Die Regionalen Entwicklungszentren des Städtekranzes und äußeren Entwicklungsraumes verlieren mehr Einwohner durch Migration als andere Städte dieser Landesteile, für die wie beispielsweise Forst oder Templin mitunter sogar positive Wanderungsbilanzen prognostiziert werden. Impulse gehen also nicht von den Entwicklungszentren, sondern von anderen Städten in diesem Raum aus.

Es muss darauf geachtet werden, dass die Vorzüge des Berliner Umlandes mit seinen Seen, seinen Wäldern und seiner einmaligen Parklandschaft nicht durch Wohnparkanlagen zerstört werden. Bisher sind nur Einzelfälle wie die Bebauung am Glienicker Horn in Potsdam zu verzeichnen. Der Wunsch nach einer schönen Wohnumgebung, beispielsweise nach einem Wassergrundstück besteht. 4.

Fazit

Die Hauptstadtregion Berlin-Brandenburg weist große Bevölkerungsverschiebungen auf und dieser Trend wird bis 2010 anhalten. Im Gegensatz zu anderen Teilen Ostdeutschlands wird diese Entwicklung entscheidend von Berlin und seiner Hauptstadtfunktion beeinflusst, dadurch bleibt die Bevölkerung in BerlinBrandenburg auch in den nächsten Jahren konstant. Während die periphere Gebiete in Brandenburg wie andere ostdeutsche Regionen Bevölkerungsverluste zu verzeichnen haben, steigt die Bevölkerung im Berliner Umland weiter an. Dies wird vor allem durch Migration verursacht, da die natürliche Bevölkerungsentwicklung trotz einer Erholung der Geburtenzahlen negativ bleibt. Grundsätzlich wird in den nächsten Jahren mit deutlich mehr Alten und weniger Jungen zu rechnen sein, das Durchschnittsalter der Bevölkerung nimmt weiter zu. Die auseinander fallende Entwicklung der Bevölkerung in Brandenburg und somit auch die daraus resultierenden Probleme 62


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lich sein wird, Kindertagesstätten aufrecht zu erhalten, vornehmlich im ländlichen Raum. In diesem Zusammenhang wird es unabdingbar sein, schulpflichtigen Kindern und Jugendlichen größere Anfahrtswege zuzumuten. Von der finanzieller Seite betrachtet, führt die Bevölkerungsentwicklung in den Gemeinden zu einer Gefährdung ihrer finanziellen Selbständigkeit. Hinzu kommt es zu einem Mehrbedarf an Sozial- und Betreuungsdiensten für Senioren. Daher wird es Aufgabe der Landespolitik sein, Chancen zu nutzen und die sich aus der Bevölkerungsentwicklung ergebenden Probleme zu bekämpfen. Um der Gefahr einer auseinander fallenden Entwicklung zwischen dem Großraum Berlin und der Peripherie entgegenzutreten, steht die Landesregierung vor einer großen Aufgabe.

setzen sich fort. Dies stellt die Landespolitik vor eine große Herausforderung, zumal einige Folgeerscheinungen der Bevölkerungsentwicklung heute noch nicht absehbar sind. Aufgabe der Politikerinnen und Politiker beider Länder wird es sein, Rahmenbedingungen zu schaffen, die erwünschte Veränderungen herbeiführen bzw. unerwünschte verhindern. Es ist damit zu rechnen, dass ein erheblicher Investitionsbedarf in Bereichen der öffentlichen Infrastruktur zu verzeichnen sein wird und zwar speziell für Landesteile Brandenburgs, die von einem Zuzug aus Berlin profitieren werden. Des weiteren kann davon ausgegangen werden, dass auf Grund der rückläufigen Tendenz bei Kindern und Jugendlichen, sowie der Abnahme der Geburten bis 2010 Schulen und Kindereinrichtungen schließen müssen beziehungsweise es nicht mehr mög-

Madeleine Jakob und Andreas Büchner studieren Politikwissenschaften an der Universität Potsdam. www.brandenburg.de

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Herausgeber SPD-Landesverband Brandenburg Redaktion Klaus Ness (V.i.S.d.P.), Lars Krumrey, Madeleine Jakob, Andreas Büchner Anschrift Friedrich-Ebert-Straße 61 14469 Potsdam Telefon 03 3 – 29 20 30 Telefax 03 3 – 2 70 85 35 Mail Perspektive-21@spd.de Internet http://www.spd-brandenburg.de Druck Druck- und Medienhaus Hans Gieselmann, Bergholz-Rehbrücke Satz kw

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Zeitgeschichte

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10 Jahre Junge Sozialdemokraten in der DDR mit einem Vorwort von Manfred Stolpe 208 Seiten, Paperback, 19,80 DM ISBN 3-933909-07-4

10 JAHRE JUNGE SOZIALDEMOKRATEN IN DER DDR

»Die ostdeutsche SPD kann es sich langfristig nicht erlauben, junge Menschen ausschließlich für Handlangerdienste zu verwenden. Sie müssen Freiräume für ihre eigenen politischen Themen erhalten. Nicht zuletzt muß ihnen auch institutionell eine Chance eingeräumt werden. ... Insofern können es sich junge Menschen erlauben, etliche Jahre auf ihre Chance in der Politik zu warten; ob sich die SPD dieses Abwarten leisten kann, ist mehr als fraglich.« mit einem Vorwort von Manfred Stolpe

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Interview mit Matthias Platzeck, Oberbürgermeister der Landeshauptstadt Potsdam

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