perspektive21 - Heft 14

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Brandenburgische Hefte für Wissenschaft & Politik

perspektive 21 Heft 14 • Juli 2001

B ra n d e n b u rg i s c h e Identität e n



Inhalt

Brandenburgische Identitäten Vorwort

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Klaus Faber Wer sind die Brandenburger?

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Christian Maaß und Madeleine Jakob Kämpfen für den Traum von Tüffelland

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Julius H. Schoeps Zweckmäßigkeit und Staatsräson?

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Pavel Karolewski Chancen des Zusammenwachsens in Europa: Übergang zu einer Europäischen Identität

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Prof. Dr. rer. nat. habil. Dr. h. c. Ernst Sigmund Wissenschaftliche technische Entwicklung und Leitbild für die Infrastrukturpolitik

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Prof. Dr. Helmut Seitz Demographischer Wandel und Infrastrukturaufbau in Berlin-Brandenburg bis 2010/15

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Benjamin Ehlers Wohnungswirtschaftlicher Strukturwandel in Ostdeutschland

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Impressum

Herausgeber SPD-Landesverband Brandenburg Redaktion Klaus Ness (ViSdP) Lars Krumrey Christian Maaß Klaus Faber Madeleine Jakob Klara Geywitz Benjamin Ehlers Anschrift Friedrich-Ebert-Straße 61 14469 Potsdam Telefon 03 31 - 200 93 - 0 Telefax 03 31 - 270 85 35 Mail perspektive-21@spd.de Internet http://www.spd-brandenburg.de Bezug Bestellen Sie Ihr kostenloses Abonnement direkt beim Herausgeber. Nutzen Sie dazu die beigelegte Postkarte oder senden Sie uns eine Mail.

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Druck Druck- und Medienhaus Hans Gieselmann, Bergholz-Rehbrücke Satz kai weber medienproduktionen


Vorwort

Liebe Leserinnen und Leser! „Die Heimatlosigkeit der Macht“ ist zur Zeit ein viel diskutiertes Buch der Politikwissenschaftler Franz Walter und Tobias Dürr. Sie setzen sich u.a. mit der Frage auseinander, welche Identitäten Parteien und politische Lager nach zunehmender Auflösung der sozialmoralischen Milieus in einer globalisierten Ökonomie noch vermitteln können. Mit dieser Ausgabe der Perspektive 21 bewegen wir uns im Fahrrwasser auch dieser Debatte, versuchen sie aber zu erweitern und auf die Bedingungen Brandenburgs herunterzubrechen. In Brandenburg, aber auch in den anderen ostdeutschen Bundesländern, ist 12 Jahre nach Wiedererstehung des Landes der Transformationsprozefl immer noch nicht abgeschlossen. Der Bezug auf die Landesidentität war für die Märker in den Veränderungsprozessen der vergangenen Jahre ein wesentlicher Orientierungpunkt. Offensichtlich zumindest so wichtig, dass die große Mehrheit der Brandenburger einen wichtigen Modernisierungsprojekt der politischen Klasse, der Fusion mit Berlin, eine klare Absage erteilte.

Das Abstimmungsergebnis war quasi ein Wink mit dem Zaunpfahl in Richtung Politik, dass die Menschen gerade in Zeiten, in denen ökonomische Prozesse Flexibilisierung und Individualisierung abverlangen, ein verstärktes Bedürfnis nach Heimat und Identität haben. Für die Einleitung von notwendigen Modernisierungsprozessen bedeutet das, dass die Menschen von der Politik verläßliche Orientierungspunkte, die Vermittelung von Identitäten und schlüssigen Leitbildern verlangen. Ein SPD-General würde das „Sicherheit im Wandel“ nennen… Die Autoren des vorliegenden Heftes nehmen diese Debatte aus unterschiedlichen Blickwinkeln auf, versuchen Umrisse für Leitbilder zu entwickeln, rekurrieren auf die Geschichte der Region, analysieren Zukunftspotentiale, diskutieren die Rolle der Sozialdemokratie und blicken von außen auf Brandenburg. Ein Anfang einer notwendigen Debatte, nicht mehr und nicht weniger Ein weites Feld, hätte ein identitätsstiftender Brandenburger Dichter gesagt. Wer es aus unser Leserschaft mit beackern will, kann seinen Beitrag gerne an die Redaktion übermitteln. Wir freuen uns auf ihre Reaktionen.

Die Redaktion

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Wer sind die Brandenburger? von Klaus Faber Das Thema ist weder neu noch originell. Ein „Leitbild“ – ein trotz einiger Bezüge zu anderen aktuellen Debatten doch noch unbelasteter Begriff – soll für die regionale Politik und Präsentation gefunden, eine regionale Identität definiert werden, nämlich diejenige Brandenburgs, des „Landes Brandenburg“, wie man im Land selbst formulieren muß, um das Land von der Stadt Brandenburg zu unterscheiden. Die „Mark“ und das „Märkische“ sind seit 1945 aus dem staatlichen Sprachgebrauch verschwunden; als Namensgeber bleiben sie heute Zeitungen und Agrarprodukten vorbehalten. Brandenburg – das Land Brandenburg – hat im Gegensatz zur Mehrheit der anderen deutschen Länder so etwas wie eine eigene Hymne, die ein Berliner mit nicht ganz zweifelsfreiem politischem Hintergrund verfaßt hat. Das Rot des Adlers,den die Hymne besingt, läßt – wohl meist auf Mißverständnissen beruhende – Assoziationen zu, die nichts mit heraldischen Traditionen oder der Entstehungsgeschichte des Liedes zu tun haben. Brandenburg sei eine kleine DDR, war eine zunächst nicht freundlich gemeinte Charakterisierung. Andere griffen das Stichwort auf und machten daraus ein positives Etikett. Daß

Brandenburg sich stärker an DDR-Traditionen orientiere als andere ostdeutsche Länder, war aber, so oder so gewendet und bewertet, nie eine rundum überzeugende These. Einige Diskussionsteilnehmer meinen, es sei nicht die Zeit oder überhaupt keine gute Idee, Identitätskonturen für ein Land wie Brandenburg zu bestimmen. Das Land stehe über kurz oder lang vor einer Fusion mit Berlin und überdies im Schatten des in jeder Hinsicht übergroßen Preußens, zumal im Preußenjahr 2001. Identitätsprobleme gebe es in Deutschland Ost und West genug. Die Palette mit brandenburgischen Spezifika anzureichern, mache keinen Sinn. Und zudem: „Kleine“ Identitäten wie diejenigen des Uckermärkers oder des Spreewälders gebe es durchaus. Kaum jemand sei der Auffassung, zwischen diesen und der deutschen Identität, einschließlich ihrer östlichen Untervariante, öffne sich eine schmerzliche Lücke. Wo das historische Brandenburg anfange – etwa in der Altmark, die heute zu Sachsen-Anhalt gehört? – oder aufhöre – in der jetzt polnischen Neumark? – , sei schon unter territorialen Gesichtspunkten eine offene

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Klaus Faber

Frage. Die Existenz eines deutschen Gliedstaates mit dem Namen Brandenburg begründe für sich allein genommen noch keinen Bedarf, eine besondere brandenburgische Identität zu konstruieren. Die Liste der Einwände ließe sich verlängern. Die umgekehrte Argumentations-linie führt übrigens ebenso auf ein weites Feld: Die Wiederbelebung der Preußentradition fördere die Bereitschaft der Brandenburger, einer Fusion mit Berlin zuzustimmen, war vor kurzem zu hören. Falls das – kühne – Argument tragen sollte, wohin würde es führen – zur weiteren Vereinigung mit SachsenAnhalt, weil, abgesehen von Anhalt, dort die meisten Gebiete zu Preußen und zuvor zu Brandenburg gehörten? Wo – und wie – wären die neupreußischen Identitätsgrenzen zu ziehen? Auch andere stellten die ostdeutsche Territorialneugliederung nach 1990 in Frage. In der letzten Zeit wird häufig ein früherer sowjetischer Funktionsträger zitiert, den die Wiedererrichtung der Länder in Ostdeutschland nicht überzeugt hatte; Preußen sei, so sein Kommentar, eine außerhalb Deutschlands bekannte Größe, abgesehen etwa von Sachsen viele der neuen ostdeutschen Länder dagegen nicht.

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Zentrum und Regionen Mitterand hat in der ersten Hälfte der achtziger Jahre die Befugnisse der in Frankreich neugegründeten Regionen in beachtlichem Umfang gestärkt. In ersten Zwischenbilanzen zu dieser für französische Verhältnisse sehr weit gehenden Strukturreform waren die beträchtlichen Unterschiede in der Identifizierung mit den neuen Gebietseinheiten ein wichtiges Thema der internen Kritik. Die Bretagne, die Provence, das Elsaß, Lothringen (zu dem nicht nur der im 19. und 20. Jahrhundert vorübergehend deutsche Teil gehört) oder Aquitanien waren nach ziemlich kurzer Zeit anerkannte und akzeptierte territoriale Einheiten geworden. In der Mitte Frankreichs blieb die Identifikation mit den neuen Regionen jedoch häufig blaß. Die räumliche Nähe und, damit verbunden, eine lange, unbestrittene Zugehörigkeit zu einem älteren politischen Zentrum schwächen offenbar die Identifikationslinien und behindern ihre Neubildung. Die politisch-räumliche Peripherie hat es in dieser Beziehung einfacher. Dem Zentrum selbst, in Frankreich Paris und die Ile de France, mangelt es in aller Regel nicht an Identitätsstärke. Das Land Brandenburg in seinen heutigen Grenzen gehört in diesem Sinne aber wohl nicht zum engeren deutschen Zentrum,jedenfalls nicht mit allen seinen Tei-


Wer sind die Brandenburger?

len. Cottbus oder Frankfurt/Oder sind, was die historische Nähe und Distanz anbelangt, von Berlin ungefähr genauso weit entfernt wie etwa Halle oder Magdeburg. Die regionale Identitätsbildung steht in einer derartigen Konstellation vor einer Orientierungsfrage: Man ist dem nationalen Zentrum und damit dem territorialem Symbol für die größere räumliche Einheit nahe,was die regionale Sonderidentität schwächt, aber doch nicht so nahe,daß man mit dem Zentrum selbst identifiziert werden kann. Der zitierte sowjetische Kommentar hat, mit einer etwas groben Sonde, ein territoriales Identitätsproblem „entdeckt“.

DDR-Prägungen Dabei spielen, was den Fall komplizierter macht, auch DDR-Prägungen eine Rolle. Walter Ulbricht hat den Kritikern und Feinden, die ihm vorwarfen, er wolle Deutschland spalten, in den fünfziger Jahren entgegengehalten, das 20. Jahrhundert sei nicht mehr die Zeit, in der man, wie früher unter dynastischen Verhältnissen, Länder beliebig aufteilen oder vereinen könne; Deutschland sei deshalb nicht zu teilen. Vielleicht hat er dies damals, selbstverständlich unter der Prämisse einer gesamtdeutschen DDR-Mission, auch wirklich geglaubt, im Gegensatz zur Situation bei seiner späteren Behauptung, niemand habe die Absicht, in Berlin eine Mauer zu bauen. Die

tatsächlich, mit preußisch-deutscher Konsequenz und technischer Tüchtigkeit vollzogene Teilung hatte zwar, zum Erstaunen vieler deutscher Beobachter, auch und gerade der westdeutschen, historisch keinen Bestand. In vielem hatte die DDR, was die politischen und sonstigen Mentalitätsprägungen anbelangt, jedoch Erfolg, was wiederum nicht erstaunen kann oder sollte, wenn man ähnliche, frühere und aktuelle Situationen in Deutschland oder in anderen Ländern zum Vergleich heranzieht. Zum DDR-Erfolgsbestand gehört wohl auch die Gewöhnung an den zentralisierten Staat. Für die Zeit vor 1945 kann die Gewöhnung bis 1933 und für die ehemals preußischen DDR-Gebiete in gewisser Hinsicht noch viel weiter zurückgeführt werden. Dem steht nicht etwa die „Reichsreform“ der späten NS-Zeit entgegen, die eine Zergliederung Preußens unter Einbeziehung nicht-preußischer Gebietsteile und eine entsprechende Aufteilung anderer deutscher Teilstaaten vorsah. Neben den durch militärische Eroberung neugewonnenen, dann bald wieder verlorenen Gebieten im Osten und im Westen erhielten in diesem Kontext z. B. Thüringen mit Erfurt und Sachsen-Anhalt, ungefähr, ihre Gestalt – und selbstverständlich war auch Brandenburg, die „Mark Brandenburg“, als Territorialgröße in die Überlegungen einbezo-

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Klaus Faber

gen worden. Eine Aufwertung der kleineren neuen Gebietseinheiten des NS-Staates, die in vielen Fallen, nicht immer, den NSDAP-Gauen entsprachen, im Sinne einer weitergehenden administrativen Verselbständigung oder gar der Entwicklung einer starken regionalen Individualität war aber nicht unbedingt beabsichtigt. Im Vordergrund stand die Schwächung oder Auflösung der größeren Zwischeneinheiten, der ehemaligen Staaten im Deutschen Reich. Daß Preußen als größter deutscher Teilstaat mit verblassender rechtlicher und sozialer Gestalt davon negativ betroffen war, macht Hitler-Deutschland übrigens nicht automatisch zum Feind Preußens oder Preußen zum Hort eines verbreiteten Widerstands gegen das NS-System. Die in dieser Frage angelegte, heute von vielen beschriebene Ambivalenz wird 1933 am Tag von Potsdam und 1944 in dem hohen Anteil von Militärangehörigen aus preußischen Offiziersfamilien an der Aufstandbewegung des 20. Juli sichtbar – an der aber nicht nur Preußen teilnahmen; Stauffenberg war z.B. kein Preuße. Nach 1945 wurden in der damaligen sowjetischen Besatzungszone, zum Teil, wie geschildert, in Anlehnung an die „Reichsreform“, neue Länder gegründet, auch das „Land Brandenburg“ – anstelle der „Mark Brandenburg“. 1952 schaffte die inzwischen gegründete DDR die Län-

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der wieder ab und errichtete dafür 15 kleinere Bezirke. Die DDR-Zentralisierung und ihre Begründung – die Überwindung der Folgen der „feudalen“ Epoche – lassen nicht nur äußerlich mit der NS-Planung verwandte Züge erkennen. Die DDRBezirke waren kleiner als die Reichsgaue in der NS-Planung und -Realität. Die Proportionen der Bezirke entsprachen der Gesamtgröße der DDR und den sich daraus, unter Zentralisierungsprämissen, ergebenden Bedürfnissen für die Untergliederung. Die DDR benötigte die Zentralisierung, um als kleinerer deutscher Teilstaat gegenüber dem größeren Westdeutschland bestehen zu können. Die identitätsbildenden Energien sollten nicht auf Regionen aufgeteilt werden, die, im schlimmsten Fall, über eine ältere, stabile Tradition und im Vergleich zur DDR über eine beachtliche Größe verfügten; die Energien waren vielmehr im DDR-Patriotismus zu konzentrieren.

Neugliederung und Berlin-Brandenburg-Fusion 1990 gab es verschiedene Optionen zur Gliederung des DDR-Gebiets im wie-dervereinigten Deutschland. Zwei Varianten waren – nicht in der Diskussion, aber im praktischen Ergebnis – auszuschließen: die Beibehaltung der alten Bezirke als neue Länder und, mit oder ohne Berlin, die Errichtung der DDR als neues Bundesland. Die DDR-Bezirke paßten nicht zur


Wer sind die Brandenburger?

Föderalismus-Struktur des Westens; die Bezirksstruktur des Ostens im Westen einzuführen, hätte in der Konsequenz Zentralisierung bedeutet – und, ihre verfassungsrechtliche Zulässigkeit einmal unterstellt, niemals die Zustimmung von zwei Dritteln der Stimmen im Bundestag und im Bundesrat erhalten. Die DDR als Bundesland hätte ebensowenig zur übrigen Länderstruktur gepaßt und im übrigen eine institutionelle Zementierung der ost- und westdeutschen Sonderidentitäten zur Folge haben können. Andere Optionen als die tatsächlich gewählte waren vielleicht denkbar – und wurden, als Minderheitspositionen, auch diskutiert. Dazu gehörten die Überlegungen, größere Gebietseinheiten zu schaffen, etwa Berlin und Brandenburg sofort zu vereinen, oder „gemischte“ Länder, nicht nur in Berlin und künftig mit Berlin-Brandenburg, zu bilden, z.B. zwischen Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern. Vor derartigen Varianten standen jedoch deutlich höhere politische Hürden als vor der realisierten Option mit fünf „neuen“ Ländern und dem vereinigten Berlin, die außerdem den Vorzug aufwies, auf schon einmal, wenn auch nur für kurze Zeit Bestehendes zurückzugreifen. Abgesehen von der Fusion zwischen Berlin und Brandenburg werden künftig

Neuordnungsakte in Ostdeutschland politisch nur schwer zu verwirklichen sein. Es ist nicht erkennbar, was die neue politische Klasse und in der Folge die Bevölkerung etwa von Mecklenburg-Vorpommern jetzt noch dazu bewegen sollte, eine Verbindung mit Berlin und Brandenburg einzugehen. Die stärkere Finanz- und Wirtschaftskraft eines größeren Landes? Im föderativen Finanzausgleichs- und Fördersystem Deutschlands kann auch ein kleineres Land mit andauerndem Zuschußbedarf gut leben, wenn es, wie etwa Bremen, geschickt operiert – vielleicht besser als mit dem Status eines Randgebiets in einem Flächenstaat, der den wachsenden Bedürfnissen einer großen Metropole gerecht werden muß. Für das Verhältnis von Brandenburg und Berlin gilt dies nicht in gleicher Weise. Die Situation eines Flächenstaates mit einem Loch in der Mitte und einem darum herum angesiedelten Speckgürtel wird durch besondere Problemkonstellationen geprägt. Zwar gibt es auch anderswo, z.B. im Verhältnis der österreichischen Bundesländer Wien und Niederösterreich, vergleichbare Territorialgliederungen für große Hauptstädte und ihre Umgebung. Eine nähere Betrachtung der Folgen einer derartigen Grenzgestaltung muß aber selbstverständlich die Kompetenzen der betroffenen Gliedstaaten in den Vergleich einbeziehen.

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Sind diese Kompetenzen, wie in Deutschland, stark, hat die Grenze größere Bedeutung. Fazit: Für die Vereinigung von Berlin und Brandenburg spricht mehr als für den manchmal diskutierten zusätzlichen Bund mit Mecklenburg-Vorpommern. Man mag es bedauern oder nicht, über die Fusion mit Berlin hinaus wird das Land Brandenburg in der absehbaren Zeit wohl keine territoriale Neugliederung erwarten dürfen. Eine Neugliederung ist nach dem deutschen Entscheidungssystem jetzt nur noch als gesamtdeutsches und nicht mehr als begrenztes ostdeutsches Unternehmen vorstellbar. Voraussetzung dafür wäre politisch die Bildung einer Großen Koalition auf der Bundesebene.

Fusion und Identität; Werbeformeln Kann oder sollte nach alledem Brandenburg mit Leitbildkonzeptionen und – weitergehend – mit der Identitätsprägung auf die Vereinigung mit Berlin warten? Und welche Rolle spielt bei beiden Aspekten die preußische Tradition? Die kollektive Identität wird nur zum Teil durch staatliche oder sonstige politische Aktivitäten geprägt, aber staatliche und politische Interventionen können durchaus die Identitätsbildung beeinflussen. Das gilt auch für die regionale Identität. „Leitbilder“ für deutsche Länder zu schaffen, bedeutet in der politischen Pra-

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xis meist,bereits vorhandene oder zu entwickelnde Elemente einer regionalen Identität mit einigen Grundzügen der staatlich-politischen Entwicklungsplanung zu verbinden. Manchmal werden in diesem Zusammenhang mehr oder weniger gelungene Formeln und Werbeslogans geprägt. Dazu zählen etwa das schlichte „Wir in Nordrhein-Westfalen“ oder auch „Wir können alles, nur nicht hochdeutsch“ (Baden-Württemberg) oder ebenso Schlagworte und Kurzbeschreibungen, die häufig die Verbindung von regionalen – personalen, landschaftlichen oder sonstigen – Besonderheiten („Das grüne Herz Deutschlands“) mit dem technischen Fortschritt thematisieren. Auch die bekannte Kombination von Lederhosen und Computern ist in diesem Zusammenhang zu nennen. Die Absicht derartiger Aussagen wird meistens hinreichend deutlich. In der Sache ist, wie der Vergleich zeigt, bei diesen Versuchen Originalität weniger gefragt als in der Form. Wissenschaftlich-technische Kompetenz und die daraus abzuleitende Attraktivität für die Wirtschaft sind zentrale Botschaften.

Preußische „Last“ Bei realistischer Einschätzung der Ausgangsbedingungen für das Land Brandenburg im Identitäts- und Leitbildwettbewerb kommt man wohl nicht umhin, zunächst die Prägung durch das


Wer sind die Brandenburger?

Preußenthema aufzugreifen – was übrigens zum Teil das in diesem Zusammenhang verbreitete Unbehagen gegenüber brandenburgischen Identitätsdebatten erklärt. Der brandenburgische Staat, vor langer Zeit aus der früheren AltmarkGrenzregion gegründet, hat viel später, als Folge und in Verbindung mit der Reformation, die Ordensstaatsreste in Ostpreußen durch Erbschaft erworben. Der brandenburgische Kurfürst Friedrich III. hat, wie wir jetzt täglich hören, vor dreihundert Jahren diesen Besitz dazu benutzt, sich selbst, außerhalb der Grenzen des Heiligen Römischen Reichs, wo dies nicht möglich gewesen wäre, eigenmächtig zum König zu krönen. Dadurch wurde er König Friedrich I. (zunächst nur) „in“ Preußen. Die Hauptstadt des „preußischen“ Staates blieb dabei die gleiche wie diejenige Brandenburgs. Es handelte sich im Kern um eine Umbenennung des brandenburgischen Staates, die notwendig war, um die neue Königswürde zu nutzen. Im 19. Jahrhundert, nach dem Sieg über die Mehrheit der anderen deutschen Staaten unter Führung Österreichs, gab dieser umbenannte und beträchtlich erweiterte brandenburgische Staat als „Preußen“, auf dem Weg zur Verwirklichung seiner inzwischen gefundenen deutschen Mission, wesentliche Teile seiner Zuständigkeiten zugunsten des

„Norddeutschen Bundes“ auf. Dessen „Bundeskanzler“ wurde der preußische Kanzler Bismarck. Nach dem Sieg über Frankreich wurde aus dem Norddeutschen Bund unter Einbeziehung der süddeutschen Staaten, wiederum mit dem „Bundeskanzler“ Bismarck, ein „Deutscher Bund“, namensgleich, aber nicht identisch mit der völkerrechtlichen Konföderation „Deutscher Bund“ des Wiener Kongresses von 1815. Dieser neue „Deutsche Bund“ erhielt den Namen „Deutsches Reich“, der Bundeskanzler Bismarck wurde „Reichskanzler“. Preußen war im neuen deutschen Reich ein Teilstaat, wie schon im Norddeutschen Bund. Eine staatliche Identitätslinie führt danach von der Markgrafschaft Brandenburg über das brandenburgische Kurfürstentum, den brandenburgisch-preußischen Staat zum Norddeutschen Bund und zu seiner Erweiterung im Deutschen Reich. Der Name des Gründerstaates „Brandenburg“ sank dabei immer tiefer. 1871 bezeichnete er nur noch eine Provinz des Teilstaates Preußen im Deutschen Reich. Die Hauptstadt Berlin stieg dagegen immer höher bis zur Stufe der „Reichshauptstadt“, zur Hauptstadt des neugegründeten, ausgeprägt monarchisch-föderativ gegliederten Deutschen Reiches. Erst 1866 wurde übrigens – in Königgrätz – entschieden, daß Berlin die deutsche Hauptstadt und die „norddeut-

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sche“ Sprachvariante Berlins, nicht diejenige von Frankfurt am Main, einer Art Hauptstadt des 1815 gegründeten Deutschen Bundes, oder von Wien, das „Hochdeutsche“ (ursprünglich das Pendant zum „Niederdeutschen“) werden sollte. Erst zu diesem Zeitpunkt wurde klar, daß, wie die Österreicher es formulierten und manchmal heute noch die Münchener, die „Piefkes“ aus Berlin den Ton angeben und alle anderen Sprachvarianten als „Dialekt“ bezeichnen können. Jede brandenburgische Identität, auch die jetzt neu zu definierende, muß, ob sie es will oder nicht, diese Berlin- als Teil der allgemeinen Preußen-„Last“ mittragen.

res waren schon früher in die selbstverständlich am "Positiven" orientierte DDRAhnen- und Traditionsgalerie eingegliedert worden. Bismarck, sagen einige, wäre wahrscheinlich, mit Einschränkungen, ebenfalls aufgenommen worden, falls es die DDR noch für eine längere Zeit gegeben hätte. In der Darstellung der DDR-Archäologie war übrigens eine Schwerpunktbildung bei den westslawischen Stämmen und beim Reich der Thüringer zu erkennen, eine letztlich konsequente Konzentration angesichts der unerfreulichen Tatsache, daß andere denkbare Anknüpfungspunkte noch weniger zur DDR-Grenzziehung paßten.

Ein unter verschiedenen Aspekten denkbarer Versuch, das „Brandenburgische“ vom „Berlinischen“ und darüber hinaus vom „Preußischen“ abzusondern, wird nämlich nicht zum Erfolg führen können. Auch die DDR-Identitätsbildung hat sich am Ende den territorialen und historischen Gegebenheiten angenähert und gefügt. „Sachsens Glanz“ und „Preußens Gloria“ waren Filmtitel-Stichworte für eine Vereinnahmung durch die DDR, die Friedrich II. von Preußen, den „Großen“, bereits einschloß. Goethe und Schiller (abgesehen von Weimar- und Jena-Bezügen der Herkunft und der Prägung nach sonst nicht mit dem späteren DDR-Territorium verbunden), Luther und die Reformation sowie andere und ande-

Geschichtspolitik und ambivalente Geschichte

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Eine Einbeziehung preußischer Traditionslinien in Leitbild- und Identitätskonzeptionen ist für demokratisch gewählte und verantwortliche Akteure, also etwa für Parlament und Regierung Brandenburgs, schwieriger als für die frühere DDR-Geschichtspolitik. Muß sich der demokratische Staat oder insgesamt die Politik nicht jeder geschichtspolitischen Tätigkeit enthalten? Nicht nur staatliche Gedenktage oder die aktuelle Debatte über die „68er“-Bewegung (die in Deutschland am 2. Juni 1967 begonnen hat) zeigen, daß dem nicht so ist. Es geht nicht um die Frage, ob es Geschichtspolitik gibt oder nicht, sondern darum, wer


Wer sind die Brandenburger?

an der geschichtspolitischen Gestaltung teilnimmt. Wertepositionen und Werte, auch diejenigen des Grundgesetzes, sind immer mit historischen Erfahrungen und Entwicklungen verbunden. Geschichtspolitische Enthaltsamkeit oder Neutralität der Politik und des Staates sind daher weder durchsetzbar noch wünschenswert, wohl aber Zurückhaltung in denjenigen Bereichen, in denen die Politik und noch deutlicher der Staat verschiedene Wertungs-und Interpretationseinstellungen zu akzeptieren und zu respektieren haben. Auch der Staat sollte unter bestimmten Umständen geschichtspolitisch wertende Positionen jedenfalls dort beziehen, wo dies der Wertekonsens der Verfassung und die historische Erfahrung erlauben oder verlangen. Relevanz erhält diese Forderung z.B. bei der Gestaltung der öffentlichen Gedenkkultur. Niemand käme wohl auf die Idee, das Gedenken an die beiden großen Revolutionen der Aufklärungszeit in denjenigen Ländern, in denen sie stattgefunden haben, in den USA und in Frankreich, deshalb einzuschränken oder nur noch in kritischer Form zuzulassen, weil im Namen der siegreichen Revolutionen auch zweifelhafte Maßnahmen durchgeführt oder Verbrechen begangen wurden – in Frankreich sollen dafür als Beipiele die TerreurPhase oder die Unterdrückung der Aufstände in Lyon und in der Vendée, in den

USA die Behandlung und Vertreibung der Loyalists angeführt werden. Was für die Gedenktradition in diesen Fällen gilt, hat auch für historische Ereignisse Bedeutung, für die eine vielleicht weniger positive Gesamtbilanz zu ziehen ist. Innerhalb bestimmter Grenzen haben die politisch konstituierten Gemeinschaften durchaus das Recht – das sie in der Praxis häufig wahrnehmen – , in der Interpretation oder Vermittlung der eigenen Vergangenheit die positiven Züge und Vorbilder besonders hervorzuheben. Dies ist vor allem dann unbedenklich, wenn dabei die ins Gewicht fallenden negativen Seiten nicht unterschlagen oder weginterpretiert werden. Frankreichs Würdigung der Résistance ist in diesem Zusammenhang zu nennen, wenn und soweit, wie dies heute in Frankreich geschieht, auch die anfangs vorhandene breite Unterstützung für die Vichy-Regierung in die historische Schilderung einbezogen wird – übrigens keinesfalls mit negativen Folgen für das populäre Bild der Résistance. Ähnliches könnte für den 20. Juli in Deutschland gelten, wenn es denn, was nicht der Fall ist, eine mit der französischen Résistance-Erinnerung annähernd vergleichbare öffentliche Wahrnehmung und Bewertung des Aufstandsversuchs gäbe ( – wie überhaupt unsere Erinnerungskultur einige Merkwürdigkeiten aufweist;

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man denke nur an die zögernde Anerkennung des Holocausts, der seit Hitler die deutsche Identität mitprägt, als Thema eines öffentlichen Gedenktages). Der 20. Juli gehört, wie erwähnt, unter bestimmten Aspekten auch zur preußischen Geschichte, vielleicht als letzter bedeutender Akt. Die Ambivalenz des Vorgangs wird u.a. darin sichtbar, daß einige der führenden Akteure, auch Stauffenberg, 1933 zunächst das HitlerRegime begrüßt hatten und die Aufständischen, wie sie wußten, mit ihren Auffassungen keinesfalls die Mehrheit des Volkes repräsentierten. Eine ambivalente Bilanz ist im übrigen für das gesamte historisch-politische Erbe Preußens zu ziehen ( – was wiederum für die Brandenburgtradition Bedeutung hat). Für die oft zitierten preußischen Sekundärtugenden muß dies vor dem Hintergrund der NS-Zeit nicht im einzelnen belegt werden. Auch die preußische Toleranz kannte ihre nicht immer akzeptablen Grenzen. Die Juden wurden zwar in der Regel nicht unmittelbar verfolgt; Friedrich II. sah in ihrer Existenz den einzigen Ansatzpunkt für einen Gottesbeweis. Als Einwanderer oder Untertanen wurden ihnen aber Protestanten, möglichst der gleichen Orientierung wie derjenigen der Hohenzollern-Dynastie, oder, in der zweiten Wahl, Katholiken (z. B. als Solda-

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ten) vorgezogen. Antisemitische Positionen konnten auch am Hof vertreten werden. Treitschke bezeichnete in seinen Schriften die Juden als „unser Unglück“ Nach der Reichsgründung erhielt der Antisemitismus weiten Zulauf. Wilhelm II. empfahl, in allen Schulbibliotheken Preußens das offen antisemitisch-rassistische Buch „Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts“ zu führen. Der Autor war Richard Wagners Schwiegersohn Houston Stewart Chamberlain, ein antisemitischer Brite, der den deutschen Nationalismus förderte und nach dem I. Weltkrieg Hitler unterstützte. In diesen Zusammenhang paßt auch die antipolnische Politik Preußens im 19. und im frühen 2o. Jahrhundert vor allem in den Provinzen Posen und Westpreußen. Die „Peuplierung“ der dünn besiedelten Gebiete von Brandenburg/Preußen mit vornehmlich protestantischen Einwanderern aus Frankreich, Holland, Salzburg oder Böhmen war zwar eine in ihrer Zeit „moderne“ und gewiß nicht fremden-feindliche Tat.Vergleichbares geschah aber auch anderswo, z.B. in den von den Türken wiedergewonnenen Gebieten, die durch Österreichs Heer und die Reichstruppen erobert worden waren, zu denen übrigens bis zur Zeit des „Soldatenkönigs“ auch brandenburgisch/preußische Regimenter gehörten. Erwünschte Einwanderer waren aus österreichischer Sicht aller-


Wer sind die Brandenburger?

dings in erster Linie Katholiken, im Notfall auch orthodoxe Christen, darunter vor allem Serben. Und dennoch: Das Toleranz-Edikt Brandenburgs war eine Gegenerklärung zum Edikt von Nantes. Der Name Moses Mendelssohns – und vieler anderer in der Traditionslinie der Aufklärung und Toleranz – hat nicht nur im Berlin-BrandenburgKontext Bedeutung, aber dort eben auch. Der älteste Sohn Maria Theresias bewunderte Friedrich den Großen als Modernisierer und Aufklärer (jedenfalls vor den Konfliktphasen, in die er später als Kaiser einbezogen war). Preußen, immer noch deutlich rückständiger als Frankreich, zog nach seiner Niederlage gegen Napoleon viele der deutschen Reformer an.Wilhelm von Humboldts Universitätsreform prägte für lange Zeit die deutschen Hochschulen. In der Weimarer Republik wurde Preußen als nach Bevölkerungszahl und Fläche weitaus größter deutscher Teilstaat von einer Regierung (unter Leitung des Sozialdemokraten Otto Braun) geführt, die bis zum Preußenschlag die demokratische Ordnung der Republik unterstützte – um einige Beispiele aus der preußischen Geschichte herauszugreifen, denen wir auch heute noch positiv gegenüberstehen.

Argumente der Gegenbilanz wurden bereits skizziert; sie könnten ergänzt werden: Dem Staat Preußen wurde im Auflösungsdekret der Alliierten vorgeworfen, ein Hort des Militarismus gewesen zu sein. Das kann zwar als einseitige Verkürzung, vor dem Hintergrund der Gesellschaftsentwicklung in Preußen/Deutschland vor allem zur Bismarckzeit und bis zum Ende des I. Weltkrieges aber wohl kaum als völlig unbegreifliche, haltlose Beschuldigung bezeichnet werden.

Föderale Balance und Preußen Für die Auflösung durch die Alliierten gab es auch andere, nicht genannte Gründe. Die zunächst von allen Seiten gewünschte Schwächung einer künftigen deutschen Zentralmacht wäre durch ein Weiterleben Preußens als deutscher Teilstaat gefährdet worden. Auch nach den Gebietsverlusten im Osten hätte Preußen unter den deutschen Ländern dem territorialen Umfang nach eine herausragende Position eingenommen. Jede föderale Balance wäre dadurch, wie im Kaiserreich und in der Weimarer Republik, gestört worden. Zu Preußen hätten nämlich Berlin, Brandenburg, Schleswig-Holstein sowie Nordrhein-Westfalen und das Saarland (abgesehen von kleinen Ausnahmen in den zwei zuletzt genannten Ländern), jeweils der größere Teil von Niedersach-

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sen, Sachsen-Anhalt und Rheinland-Pfalz sowie schließlich Teile der heutigen Länder Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, Thüringen, Baden-Württemberg und Sachsen gehört. Ein derartiger, übergroßer Flächenstaat wäre übrigens auch schlecht mit der Aufteilung in Besatzungszonen zu vereinbaren gewesen.

nung des Gehorsams, des Militärischen und eines Überlegenheitsanspruchs, gehören ebenso zum historischen Bild wie an und für sich „neutrale“ Aspekte, z.B., für die Zeit nach der Reichsgründung, die schiere Größe Preußens, die nicht zu einer ausgewogenen föderativen Konstruktion paßte.

Das Land Brandenburg und Preußen Was macht man, im Falle Brandenburgs, mit einem derartigen Erbe? Ausschlagen oder verschweigen kann man es, um es noch einmal zu unterstreichen, wie andere wichtige Geschichtsphasen mit negativen Teilen oder mit negativer Gesamtbilanz nicht. Für die regionale Identitätsbestimmung Baden-Württembergs oder Sachsens mag dies, was Preußen anbelangt, anders zu sehen und zu handhaben sein. Eine Präsentation des Landes Brandenburg ohne Preußen wäre demgegenüber kaum vorstellbar.

Für die historische Forschung wird die Durchdringung derartiger Ambivalenzen nicht abzuschließen sein. Für die politische Debatte und vor allem die politische Entscheidung, u.a. über die Gedenkkultur und das brandenburgische Leitbild, kommt eine grundsätzlich-deutsche, niemals aufhörende Auseinandersetzung aber wohl nicht in Frage. Brandenburg und andere müssen mit einem gemischten Preußenbild leben und sich (soweit wie möglich) überzeugend die positiven Seiten seiner Traditionen für die Selbstdarstellung aneignen.

Der Gestaltungsspielraum ist dabei für Brandenburg nicht sehr groß. Die akzeptablen preußischen Wertepositionen der Toleranz, der Offenheit für Einwanderung und Fremde sowie der Staatsloyalität, Sparsamkeit oder Tüchtigkeit (in neuerem Deutsch: Effizienz) sind Orientierungspunkte, auf die sich Werbung und Selbstdarstellung konzentrieren könnten. Die negativen Seiten, u.a. der mangelnde Bürgersinn oder die Beto-

Die im Lande vorhandenen fremdenfeindlichen und antisemitischen Tendenzen sowie die zu erwartende Einwanderung aus Ostmittel- und Osteuropa geben, um aktuelle Beispiele anzuführen, genügend Anlaß, sich auf die preußische Toleranz- und Einwanderungsgeschichte, auf die Traditionen des Rechtsstaats und der Humanität zu berufen. Da sich an den historischen Ausgangsvoraussetzungen durch eine Vereinigung von Brandenburg

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Wer sind die Brandenburger?

und Berlin oder durch die Verhinderung einer derartigen Fusion nichts ändern kann, macht es auch keinen Sinn, auf den – noch unbestimmten – Zeitpunkt zu warten, zu dem klar sein wird, was in der Fusionsfrage geschieht.

Elemente des Brandenburgbildes Nicht ganz so eindeutig ist die entsprechende Frage für die übrigen Leitbildund Identitätselemente zu beantworten. Auf diesem Gebiet ist eine Differenzierung notwendig. Die Berufung auf das Vorhandene in der Landschaft, im Kulturerbe oder in der Wirtschaft, einschließlich Landwirtschaft und Tourismus, ist nicht originell, aber naheliegend. Hier stellt sich auch keine ernsthafte Zeitpunktfrage. Für die Schwerpunkte in den Entwicklungsperspektiven des Landes und zumal für visionäre Ausbaupläne im vereinigten Land Berlin-Brandenburg könnte dies anders gesehen werden. Es gibt ohnedies kein Mittel, das ein künftiges Parlament und eine künftige Regierung für das vereinigte Land daran hindern könnte, dazu eigene Akzente zu setzen. Dennoch sprechen auf diesem Gebiet deutlich mehr Argumente gegen Abstinenz und für ein eigenes Votum, das jetzt und nicht erst nach der Fusion abzugeben ist. Nicht nur unter taktischen Gesichtspunkten ist zu überlegen, ob die Bürge-

rinnen und Bürger einen Anspruch darauf haben, vor der Fusionsabstimmung Konzeptionen zur künftigen Entwicklung kennenzulernen. Viele Einzelakte der Regierungs- und Legislativtätigkeit setzen im übrigen eine Einbettung in eine längerfristige Planung voraus, die nicht erst nach der Fusion erfolgen und im übrigen auch vor der Fusion zwischen Berlin und Brandenburg abgestimmt werden kann – und wird. Falls und soweit es richtig sein sollte, wie manche meinen, daß Brandenburg mit dem ersten Jahrzehnt nach der Wende eine Phase des Übergangs abgeschlossen habe, sich von der Bewahrung der Verhältnisse oder der Milderung des Wandels zunehmend abwende und deshalb neue Ziele zu definieren seien, könnte dies ein zusätzliches Argument dafür sein, nicht zu warten. „Übergangsphasen“ werden allerdings häufig unterschätzt, was ihre Gestaltungsfunktionen, ihre Bedeutung für die langfristige Weichenstellung oder ihre Dauer anbelangt Die Entwicklungsplanung in Brandenburg steht keinesfalls bei Null. Die bereits beschlossene Leitbildbestimmung enthält Ansätze, die den Zusammenhang mit Berlin unterstreichen, u.a. unter Tourismus- und Dienstleistungsaspekten sowie in bestimmten Komplementärfunktionen z.B. in der Landwirtschaft, im Ener-

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Klaus Faber

giebereich, bei der Entsorgung oder auf anderen Gebieten. Die Entwicklungsbeschreibung für die „Fläche“, für das Land Brandenburg vor und nach der Fusion, muß wie die entsprechende Planung in nahezu allen anderen Ländern ebenso die Bereiche von Kultur,Wissenschaft und Technik einbeziehen; dazu gehören, wie bereits erwähnt, Tourismus- oder Energieversorgungsfragen, die Entwicklung der Autoindustrie oder der Ausbau von Zukunftstechnologien, z.B. auf dem Gebiet der Halbleiterphysik, und vor allem der Wissenschaftseinrichtungen. In dem zuletzt genannten Bereich sind im Vergleich zu den anderen ost- und westdeutschen Flächenstaaten Rückstände aufzuholen.

Kultur, Wissenschaft und Technologie – unverzichtbare Bildfacetten Die 1991 beschlossenen Neugründungen von Hochschulen und Forschungsinstituten geben Brandenburg ein Potential, das in jeder Hinsicht ausbaufähig ist. Es ist ein Pfund, mit dem gewuchert werden sollte. Das gilt in gleicher Weise für die bedeutenden brandenburgischen Kulturdenkmale. Alle wichtigen Ausbauvorhaben im Wissenschaftssektor in Berlin zu konzentrieren, was nach 1990 vielleicht einige erwartet hatten, wäre übrigens eine in jeder Hinsicht falsche Entscheidung gewesen, wie etwa eine Gegenüberstellung zur bayerischen

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Flächenentwicklung im Verhältnis zu München zeigt. Der brandenburgische Wissenschaftsaufbau lag letztlich auch im wohlverstandenen Interesse Berlins. Der Bau von Festungen, Garnisonen, Gefängnissen, Schlössern, Gärten und Straßen oder die Trockenlegung von Sumpfgebieten waren einige der sichtbaren Zeichen der Inbesitznahme und des Landausbaus in brandenburgisch-preußischer Zeit. Eine Gründung von Universitäten und anderen Wissenschaftseinrichtungen erfolgte nur in Einzelfällen – was auch etwas mit der zunächst nur langsam wachsenden Größe des Landes zu tun hatte. In späteren Phasen wurden derartige Institutionen in größerer Anzahl errichtet. Ihre Gründung hatte kaum zu überschätzende positive Fernwirkungen, z. B. für die Integration der verschiedenen Landesteile sowie die politische, kulturelle und wissenschaftlich-technologische Entwicklung. Die Identitätsvorstellungen der Bürgerinnen und Bürger, die Identität und das Leitbild des Landes sind selbstverständlich nicht auf einen Teilbereich, wie bedeutend er auch immer sein mag, einzugrenzen. Sie umfassen alle wichtigen Prägungsaspekte. Für die kurzen Werbebotschaften ist allerdings eine – schwierige – Auswahl zu treffen. Kultur, Wissenschaft und Technologie, Offen-heit für das Neue


Wer sind die Brandenburger?

und für die Begegnung sind Bildfacetten in der Darstellung eines vereinigten Landes Berlin-Brandenburg, für die in Werbetexten noch geeignete Formulierungen

zu finden wären, auf die in der Sache, von der Fläche wie von der Stadt her gesehen, aber nicht verzichtet werden kann.

Klaus Faber ist Geschäftsführender Vorsitzender des Wissenschaftsforums der Sozialdemokratie in Berlin, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern. Er war von 1994 bis 1999 Staatssekretär des Kultusministeriums von Sachsen-Anhalt und von 1990 bis 1994 als Abteilungsleiter des zuständigen Landesministeriums in Brandenburg für Wissenschaft und Forschung verantwortlich. Er ist Mitgründer und Kuratoriumsmitglied des MosesMendelssohn-Zentrums für europäisch-jüdische Studien an der Universität Potsdam und des Berlin-Brandenburgischen Instituts für Deutsch-Französische Zusammenarbeit in Europa, Genshagen

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Kämpfen für den Traum vom Tüffelland* Gedanken über Identität und Sozialdemokratie in Brandenburg von Christian Maaß, unter Mitarbeit von Madeleine Jakob**

1. Einleitung Wir in Brandenburg. SPD – so warb die brandenburgische Sozialdemokratie um die Gunst der Wähler. Sie tat dies fast immer mit dem Willen, Wahlen zu gewinnen, oft mit passablen Kandidaten, manchmal mit guten Ideen, aber selten mit einer festen Gewissheit darüber, was das Wir in Brandenburg in seinem Inneren ausmacht. Dieses Wir in Brandenburg soll hier hinterfragt werden. Für Fontane und seine Zeit schien diese Frage einfach zu beantworten. Im Stechlin schildert er in einer kurzen, aber eindrucksvollen Passage die Begegnung des Grafen und des alten Tuxen. Dubslav trifft Tuxen, den alten Süffel von DietrichsOfen, auf der Heimfahrt am Ende des Wahltags. Tuxen liegt angetrunken am Wegesrand. Dubslav hilft ihm und nimmt ihn ein Stück des Weges mit. Während

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der Fahrt will nun der alte Stechlin wissen, wen denn Tuxen gewählt habe. Dieser berichtet, dass er für den Sozialdemokraten Torgelow gestimmt habe. Daraufhin lacht Dubslav: „Für Torgelow, den euch die Berliner hergeschickt haben. Hat der denn schon was für euch getan?“ Tuxen: „Nei, noch nich.“ Dubslav: „Na, warum denn?“ Tuxen:„Joa, se saggen joa, he will wat för uns duhn un is so sihr för de armen Lüd. Un denn kriegen wi joa’n Stück Tüffelland.“ Also fragen wir: Was ist denn nun das „Tüffelland“ der modernen brandenburgischen SPD? Ist die brandenburgische SPD überhaupt noch in der Lage, einer ausreichenden Anzahl von Menschen glaubhaft zu versichern, dass sie ihnen hilft, ihr Stück „Tüffelland“ zu bekommen? Es ist ein durchaus lohendes und notwendiges Unterfangen, in unserer

Der Titel wurde von einem Artikel des Autors aus dem „Roten Broiler“, dem ehemaligen Rundbrief der Jusos Brandenburg, übernommen (Jg. 3 – Nr. 2 – April 1997, S. 6). Die Anregung dazu gab Robert Leicht mit seinem Beitrag „Ein See spiegelt die Welt“ im ZEIT-Magazin Nr. 14 auf den Seiten 14 ff am 28. März 1997. Für die intensive Unterstützung bei der Endredaktion danken wir Frau Claudia Radünzel.

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Zeit erneut Antworten auf diese Frage zu suchen1. Neben vielen Gründen sei an dieser Stelle darauf verwiesen, dass sich „mangelndes Profil nicht dauerhaft durch populäre Spitzenkandidaten ersetzen“ lässt, die „eher einen Glücksfall“ (Stöss 2001, S. 31) denn einen Dauerzustand darstellen. Somit stellt sich die Frage, was denn nun Wir in Brandenburg bedeutet und wie es die SPD den Wählerinnen und Wählern erfolgreich vermitteln kann, trotz Matthias Platzeck für die Zeit nach Hildebrandt und Stolpe um so intensiver. In dem folgenden Beitrag wird die Frage jedoch nicht aus der Sicht der Wählers, sondern aus der der Partei behandelt. Was denkt die SPD, dem Land und seinen Menschen geben zu können und zu wollen? Hat sie eine Gewissheit darüber, für wen sie sich einsetzt? Nachfolgend wird davon ausgegangen, dass es

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hierfür keine hinreichenden Antworten gibt.2 Der Artikel beschäftigt sich dabei ganz ausdrücklich nicht mit materieller Politik3, sondern mit der Vermittlung von Werten, Sinnstiftungen und Gefühlen, letztendlich einer Identität. Somit soll er einen Beitrag zur Suche nach einem Halt in der unruhigen See einer gehetzten und von Undurchschaubarkeit geprägten Zeit leisten. Postman spricht in diesem Zusammenhang von Erzählungen, die „Ideale aufstellen, Verhaltensregeln vorgeben, die Quellen von Autorität benennen und durch all dies eine Dimension von Kontinuität und Sinnhaftigkeit erzeugen.“ (Postman 1999,S. 127).Von dieser Identität wird angenommen, dass sie eine doppelte Bindungswirkung entfalten soll, sowohl innerhalb der Partei als

Damit knüpft der Beitrag an eine Diskussion an, die bereits im letzten Heft der perspektive 21 sowohl in den Beiträgen von Stöss als auch von Dittberner angestoßen wurde. Stöss 2001, S. 17: „Eine langfristig aussichtsreiche Position im Parteienwettbewerb setzt mithin vor allem ein klares (und beständiges) politisches Profil voraus, …, das die Integrationskraft der Parteien stärkt…“ Dies bestätigen eher die Aussagen, die sich im Landtagswahlprogramm „Es geht um Brandenburg“ aus dem Jahr 1999 finden.„Brandenburg ist ein traditionsreiches Kulturland. … Brandenburg ist geprägt durch den Geist von Sanssouci:Toleranz und Achtung vor der Würde des Menschen prägen unser Handeln.“ (SPD-Landesverband Brandenburg 1999, S. 95). Trotz des Wissens um die begrenzte Qualität von Wahlprogrammen ist die sprachliche Nähe zum „Geist von Potsdam“ zu beachten, und rein vom Ablauf der Geschichte bleibt unklar, inwieweit die spezielle preußische Toleranz, die sich insbesondere nicht mit dem Geist, sondern Edikt von Potsdam (1685) verbindet, einem „Geist von Sanssouci“ (1745 errichtet) zugeordnet werden kann. Obwohl angesichts einiger Kriterien der Erfolg der materiellen Politik in Brandenburg durchaus in Frage zu stellen ist. Hier sei u. a. auf die sehr hohe Zahl rechtsextremer Straftaten und das geringe Wirtschaftswachstum im Land hingewiesen.


Kämpfen für den Traum vom Tüffelland

auch nach außen. Nach innen vor allem deshalb, weil auch im nun zweiten Jahrzehnt nach Wiedergründung die in hohem Maße Verantwortung tragende SPD in Brandenburg mitunter eher disparat als homogen wirkt. Klare Grundwerte und ein tragfähiges Grundverständnis über politische Herkunft, Ziel usw. sind nur in Umrissen zu erkennen. Eine eindeutige sozialdemokratische Verortung einiger verantwortlicher Akteure in der SPD scheint schon angesichts ihrer Entwicklungs- und Karrierewege fraglich. Ein Grund hierfür ist der in der Zeit bis ca. 1993/1994 in vielen Fällen mögliche schnelle Aufstieg in Spitzenpositionen in Partei, Landtag und Landesregierung bei oft gleichzeitigem Fehlen sinnvoller und funktionierender Auswahlverfahren. Dass eine Wirkung nach außen erforderlich ist, zeigte insbesondere die Fusionsabstimmung und das Ergebnis der letzten Landtagswahlen. Beide offenbarten eine begrenzte Bindungskraft der Partei in die Bevölkerung hinein, trotz der äußerst populären Spitzenpolitiker Hildebrandt und Stolpe.4

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Erschwerend kommt die Lage im Land hinzu. Sie ist gekennzeichnet durch große Herausforderungen in Form einer Komplexität und Fülle wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Probleme, die immer wieder die begrenzte Problemlösungskompetenz des politisch-administrativen Systems aufzeigen. Darüber hinaus ist auch für Brandenburg von einem Wertewandel bzw. dem Verlust alter Werte und i. F. der Suche nach neuen und zeitgemäßen Werten auszugehen. Dies ist u. a. Teil des generellen Prozesses des Wertewandels und Werteverlustes, der in westlichen Staaten zu verzeichnen und Ergebnis des Transformationsprozesses ist. Diese Suche endet in Brandenburg nicht nur für junge Menschen des öfteren in der Sackgasse von Desorientierung und/oder rechter Gesinnung. Die sich hieraus ergebenden Probleme für die Entwicklung einer Identität mit hoher Bindungswirkung stellen zugleich eine große Herausforderung dar und verdeutlichen die Notwendigkeit eines solchen Unterfangens. Gelingt es den demokratischen Kräften nicht, ausreichend Bindungswirkung zu entfalten, droht ein

Vielleicht erübrigt sich diese Debatte, wenn über Manfred Stolpe hinaus gedacht wird. Wer ist dann in der Lage, sich aktiv und glaubwürdig in diese Identitätsarbeit einzubringen und wer könnte die notwendige gesellschaftliche Bindungswirkung entfalten? Wo sind die bestimmenden Kräfte in der SPD Brandenburgs (Landräte, Landtagsabgeordnete, Minister usw.), die dazu in der Lage sind? Überwiegen die Gründungsväter – wie so oft in der Politik gibt es auch hier wenige Mütter – mit ihrem religiös bestimmten Hintergrund oder die bald nachgerückte eher technisch orientierte Intelligenz, die in der DDR zumeist in der zweiten Reihe stand und nur wenig an historischem Kontext mitbringt. Wie kann die SPD nach Stolpe binden?

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noch größerer Einfluss rassistischer und sonstiger antidemokratischer Strömungen. Angesichts der Beschaffenheit der Thematik versteht sich der Beitrag ganz bewusst als Versuch, auch um methodische und inhaltliche Mängel von vornherein einzugestehen,5 zudem findet die Objektivität bei diesem Thema ihre Grenzen in sicher vorhandenen Geschichtspolitischen Prädispositionen des Autors. Dieses Bild ist darüber hinaus zutreffend, da aufgrund der Fülle des Materials6 lediglich ein Bruchteil, zudem subjektiven Auswahlkriterien unterliegend, herangezogen werden kann. Folgende „Versuchsanordnung“ ist vorgesehen: Nach der Klärung der Grundlagen (Begriffe) und möglichen Quellen von Identität7 erfolgt eine Auseinandersetzung mit diesen Quellen, um abschließend darauf aufbauend die Konturen einer Identität8 der Brandenburgischen Sozialdemokratie zu umreißen.

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2. Grundlagen – Begriffe, Rahmen- und Randbedingungen 2.1 Begriffe: Identität, Werte, Wertewandel Für eine weitergehende und intensive Beschäftigung mit dem Begriff Identität – da in diesem Text gesellschaftliche Prozesse im Vordergrund stehen, richtet sich das Augenmerk auf kollektive Identität in Abgrenzung zu persönlicher Identität – wird auf die entsprechende soziologische, psychologische und politikwissenschaftliche Literatur verwiesen. Hier erfolgt nur eine kurze Annäherung an die zentrale Begrifflichkeit des Textes: Brauchbar „erscheint ein politikwissenschaftliches Verständnis von kollektiver Identität als Konstanz von Institutionen und Symbolen staatlicher verfasster Großgesellschaften, deren prekäre Vermittlung mit den Chancen personeller Identität jeweils historisch zu analysieren ist.“ (Gerdes 1989, S. 348). Dieses Konzept bietet sich insofern an, als aufgrund der Neugründung des Landes Brandenburg nach „Preußenschlag“, Gleichschaltung

Dies ist um so notwendiger, da den Autoren die ansonsten angebrachte Distanz zum Forschungsobjekt fehlt und somit immer eine diffizile Balance zwischen empirischen Befunden und präskriptiven Aussagen herzustellen ist. Dies gilt sowohl für die kaum mehr zu überschauende Literatur zum Thema Preußen als auch das zunehmend umfangreiche Material zur (ostdeutschen) Identität. Nicht aufgriffen wird im Rahmen dieses Beitrags die speziell über ostdeutsche Identität geführte Debatte. vgl. dazu u.a. Woderich 1999 und Reißig 1999. Vgl. zum Zusammenhang zwischen beiden Identitäten u.a. Wolff-Poweska 1998, S. 27 f.


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im Nationalsozialismus und demokratischem Zentralismus in der DDR Institutionen zahlreichen Brüchen und Veränderungen unterlagen, an Symbolen jedoch mehr als reichlich vorhanden ist. Für Hettlage sind kollektive Identitäten u.a. Antworten auf historisch wechselnde Umstände, in ihrem Konstruktionsvorgang werden bestimmte gemeinsame Merkmale ausgewählt (vgl. Hettlage 1998, S. 15). Er spricht in diesem Zusammenhang auch von einem Selbstkonzept, vom kollektiven Selbst. „Kollektive Identitäten sind daher ‚imaginierte Gesellschaften’ und verweisen als solche auf einen politisch-gesellschaftlichen Diskurs zugunsten einer räumlich oder kulturell definierten Gruppe und deren soziale Handlungsbedingungen.“ (ebenda). Für Identität und die Herausbildung von Identität wird weiterhin davon ausgegangen, dass es sich hierbei um einen Prozess und nicht um etwas Statisches handelt. Veränderungen im Sinne von Neugestaltung/Gewinnung von Identitäten – „generationsweise neu erfinden“ (Hettlage 1998, S. 15) – auf der einen und auch ein Verlust derselben auf der anderen Seite sind möglich. „Das kollektive Selbst ist kein automatisches Ergebnis objektiver Lagen und Bedingungen …, sondern wird erst durch einen Artikulationsprozess zur Wirklichkeit. Es ist ein Konstruktionsvorgang insofern, als Grup-

pendarstellungen der Formulierung durch bestimmte (kollektive) Akteure bedürfen, diese Selbstdefinitionen eine Gruppenakzeptanz finden müssen (Verinnerlichungsprozess) …“ (ebenda). Hier werden also Chancen und Potentiale für die Gestaltung von Identitäten gesehen. Die Brandenburgische Sozialdemokratie soll unter Beachtung bestimmter Grenzen eine aktive Rolle im Formulierungsprozess einer Identität übernehmen. Diese Grenzen ergeben sich zum einen aufgrund der realen Möglichkeiten der Beeinflussung durch eine Partei in unserer Mediendemokratie. Zum anderen sind u.a. mit Hinweis auf die Praxis in der DDR in einem demokratischen Staat solcher „Beeinflussung“ enge Grenzen gesetzt. In welchem Umfang steht einer politischen Partei in einem demokratischen Staat eine solche Geschichts- und Identitätsarbeit zu? Wo liegen vor allem die Grenzen zur Manipulation? Nun erreichte die DDR nicht die von Orwell so düster beschriebene Qualität in der Umdeutung von Geschichte, wie sie in totalitären Systeme anzutreffen ist und in der Sowjetunion Stalins in der wiederholten Bearbeitung von Fotos und Umbenennung u.a. von Städten eine groteske Intensität annahm. Insbesondere der Versuch der Vereinnahmung von Luther und Preußen durch die DDR nach vorheriger Ablehnung – für Preußen galt sicher auch

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Bekämpfung – zeigt, welche Beweglichkeit im Umgang mit der Vergangenheit erreicht wurde, wenn es nur in das Machtkalkül der SED passte bzw. von ihr als wichtig und notwendig zur Herrschaftssicherung angesehen wurde.9 10 Es kann hier also nicht darum gehen, ein soziales Konstrukt ausschließlich zur Herrschaftssicherung einer Partei zu schaffen. Dabei sind die Übergänge zwischen unzulässiger parteipolitischer Aktivität und aus normativ-demokratischer Sicht (noch) erlaubter „Bindungsarbeit“ durchaus fließend, zudem bspw. Hettlage davon ausgeht, dass „erfolgreich gerahmte Identitätsarbeit“ darin besteht, „den Konstruktcharakter in den Zustand einer Naturgegebenheit zu verwandeln und damit zu verhüllen.“ (ebenda). Im Zusammenhang mit dem Begriff Identität ist der Begriff Wert(e) kurz zu beleuchten, zumal „für verbindlich gehaltene Werte“ zu den Baumaterialien kollektiver Identitäten gehören (vgl. Hettlage 1998, S. 15). Dies vor allem hinsichtlich der daran anknüpfenden Beobachtung von Wertewandel bzw. Wertever-

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lust.11 Wert, darunter versteht man „insbesondere dauerhafte Orientierungen des Individuums in bezug auf das sozial Wünschenswerte; in diesem Sinne besitzen Werte verhaltenssteuernde, aus Verhaltensalternativen auswählende Funktion.“ (Kaase 1989, S. 1142). Anders formuliert heißt das: „Wert ist vor allem dann ein Grundbegriff sozialwissenschaftlicher Forschung, wenn angenommen wird, dass die dauerfähige Koordination und Integration gesellschaftlichen Handelns auf der festen Geltung und breiten Anerkennung generalisierter Präferenzkriterien beruhe und dass insbesondere der Zusammenhalt ganzer Gesellschaften von einem stabilen Konsens über die dominanten Werte bzw. das dominante Wertsystem abhänge.“ (Weiß 1989, S. 1139). Nach Inglehart vollzieht sich in den westlichen Industriegesellschaften ein Wertewandel weg von materialistischen hin zu postmaterialistischen Werten. Klages geht von einem Wandel von Pflichtund Akzeptanz- zu Selbstentfaltungsund Engagementwerten aus. Dabei steht hier nicht zur Debatte, ob sich diese Trends so auch in Gänze in der DDR voll-

Vgl. dazu insbesondere Zimmering 2000, S. 301 ff. Stolpe verweist in diesem Zusammenhang u.a. auf die Serie „Sachsens Glanz und Preußens Gloria“ des Fernsehens, die nicht die erhofften Wirkungen zeigte (Stolpe 1997, S. 88).Wenn auch an dieser Stelle etwas abseitig, doch nicht ohne gewisse Ironie lässt sich nach dem programmatischen Auftrag des Ostdeutschen Rundfunk Brandenburg (ORB) fragen, der insbesondere im Feiertagsprogramm wieder gern auf diese Produktion zurückgreift. Siehe dazu u.a. die einschlägigen Schriften von Inglehart und Klages.


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zogen. Für diesen Beitrag ist insbesondere die verhaltenssteuernde Wirkung der Werte von Bedeutung. Wenn für Teile der Bevölkerung Brandenburgs von einer Desorientierung, von einem Wertverlust ausgegangen wird, besteht ein normativ betrachtet gefährliches Vakuum. In dieses Vakuum scheinen in Brandenburg rechte Kräfte durchaus „erfolgreich“ vorzudringen. Insofern ergibt sich für die SPD der Auftrag zur Werte- und Identitätsarbeit, um möglichst viele Brandenburger in eine demokratisch definierte Identität einzubinden.

2.2 Rahmen- und Randbedingungen Zum einen stellt sich die Frage, ob angesichts der durchaus wahrscheinlichen Fusion mit Berlin überhaupt eine eigene/eigenständige brandenburgische Identität notwendig ist. Inzwischen gibt es Prognosen, die davon ausgehen, dass der Anteil der ehemaligen Berliner an der Umland-Bevölkerung bis 2015 auf 40 bis 50% ansteigen wird, die Grenzen verwischen sich. Nicht nur aus eher subjektiver Sicht erscheint ein vorsichtiges Ja angebracht. Im Anschluss an eine Fusion brauchen die ehemaligen brandenburgischen 12

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Teile des neuen Bundeslandes ein ausreichendes Selbstbewusstsein, eine starke Identität, um eine aktive Rolle spielen zu können, die über die des Versorgungshinter-, Erholungs- und Wohnumlands der Metropole hinausgeht. Die hier skizzierten Quellen einer brandenburgischen Identität bieten zudem vielfältige Anknüpfungspunkte für eine gemeinsame Identität in einem neuen, gemeinsamen Bundesland Brandenburg-Berlin. Bevor im einzelnen auf die zumindest ambivalente Vergangenheit Preußens eingegangen wird, im Vorfeld eine allgemeine, eher landsmannschaftlich begründete Bemerkung: In Bayern würde es niemand verstehen und hinnehmen, wenn sich ein der politischen Klasse angehörender Akteur intensiv von der bayerischen Geschichte absetzen und diese als Wurzel für die eigene Identitätsfindung und -bildung ausschließen würde.12 Das mag ebenso gelten für die Baden und Schwaben und die vom Hause Hannover bestimmten Gebiete im heutigen Niedersachsen. In den neuen Bundesländern ist eine Rückbesinnung auf die Geschichte vor allem in Sachsen13 und

Weder die aus gesamtdeutscher Sicht problematische Zusammenarbeit mit dem Frankreich Napoleons stellt hierfür aus bayerischer Sicht einen Grund dar noch die – und diese wiegt wohl geschichtlich deutlich schwerer – antidemokratische Haltung während der Weimarer Republik, die in der Duldung, wenn nicht Unterstützung der NSDAP und Hitlers gipfelte. An dieser Stelle sei der mehr oder weniger ironisch gemeinte Hinweis gestattet, dass insbesondere die sächsische Mundart spätestens seit Walter Ulbricht ganz eindeutig diskreditiert ist.

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in Thüringen zu erkennen. Warum darf dann nicht Brandenburg zurückgreifen, auch auf den Teil seiner preußischen Geschichte?

3.1 Brandenburgisch-preußische Geschichte als Quell der Identität der SPD Brandenburg Brandenburg und Preußen

3. Quellen einer Identität der SPD Brandenburg In diesem Artikel wird von drei wesentlichen Quellen14 der Erzählung der brandenburgischen SPD ausgegangen, die jedoch auf eine vielfältige Art und Weise miteinander verwoben sind. Zum einen ist das die brandenburgisch-preußische Geschichte allgemein. Zum zweiten ist es das sozialdemokratisch geprägte Preußen der Weimarer Republik und drittens der sozialdemokratische Widerstand in Brandenburg/Preußen, hier exemplarisch in der Gestalt von Hermann Maaß. Dass sich ein sozialdemokratischer Widerstandskämpfer gegen das NSRegime als Quell einer Identität anbietet, ist auf den ersten Blick einsichtig, inwieweit dies auch für die beiden erstgenannten gilt, wird im nächsten Abschnitt herauszuarbeiten sein.

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Es gibt kein Preußen mehr. Mit Brandenburg und Berlin gibt es (noch?) zwei Bundesländer auf dem Territorium der Mark Brandenburg.15 Mit welcher Berechtigung kann sich Brandenburg auf Preußen beziehen, sich brandenburgische aus einer preußischen Tugend speisen? In welchem Verhältnis stehen Brandenburg und Preußen? Welcher Anteil an Preußen und an der Erinnerung an Preußen bleibt für Brandenburg? Bei Siedler heißt es schlicht:„Brandenburg ist alles, was von Preußen übrig geblieben ist“ (Siedler 2000, S. 25). Die Mark, das Land Brandenburg sind preußisches Kernland. Siedler schreibt dazu: „… das Land Brandenburg mit seiner neuen Hauptstadt Potsdam … ist also sehr alt und, wenn man es genau betrachtet, viel älter als das glanzvolle Preußen …“ (Siedler 2000, S. 26). Am Beginn von Preußen, einer Entwicklung, die Brandenburg/ Preußen bis ins 19. Jahrhundert hinein zur

Als Untergliederung der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands ist ein allgemeiner wesentlicher Bezugspunkt für eine Identität der brandenburgischen SPD die Identität, die Erzählung, die Werte und Symbole der gesamten Sozialdemokratie. Hierzu sei u. a. auf das Grundsatzprogramm der SPD verwiesen. In diesem Beitrag geht es jedoch um eine spezielle Identität der SPD in Brandenburg. Mit der Altmark gehört ein weiterer Teil dieses preußischen Kernlandes heute zum Bundesland Sachsen-Anhalt.


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europäischen Großmacht aufsteigen ließ, stehen die Aufbauleistungen nach dem gerade für Brandenburg verheerenden Dreißigjährigen Krieg. Der Große Kurfürst erließ das Edikt von Potsdam und besiegte die Schweden bei Fehrbellin. Sein Sohn krönte sich als Friedrich III. Kurfürst von Brandenburg zu Friedrich I., König in Preußen. Das Sanssouci Friedrichs des Großen steht in Potsdam, Fontane setzte der Mark in seinen Wanderungen ein literarisches Denkmal. Brandenburg hat neben Berlin als einzig übriggebliebenes und zusammenhängendes territoriales Gebilde aus dem preußisches Restbestand legitimen Anspruch auf die Fortführung der preußischen Traditionslinien. Anders als die Rheinprovinzen oder ehemals welfischen Territorien wurde die Mark nicht im Krieg erobert oder Preußen als Ergebnis diplomatischer Händel zugesprochen. Hier gab es keine widerstreitenden eigenständigen Identitäten und keine Abwehrreaktionen gegen preußische Identität. Insofern stehen für Brandenburg auch keine alternativen Traditionslinien zur Verfügung. Das bedeutet letztendlich nicht,

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dass sich eine brandenburgische Identität nur auf Preußen bezieht. Wenn jedoch davon ausgegangen wird, dass Symbole eine zentrale Bedeutung für die kollektive Identität besitzen, ist für Brandenburg wohl zuerst an die von Preußen übernommenen Symbole zu denken. Trotz aller schuldhaften Verstrickungen und vielleicht als Wiedergutmachung für die durch Preußen ertragenen Verluste sollte Brandenburg selbstbewusst genug sein, dieses Erbe in einer aufgeklärten Art und Weise zu tragen und zu nutzen. „Die Mark hat alles hervorgebracht … Es ist, als ob sie sich dabei verzehrt habe. Nun ist alles von ihr abgefallen, was ihr Bedeutung, Glanz und wohl auch Unheimlichkeit gab. Nun ist die Mark wieder auf sich selber zurückgeworfen; Brandenburg ist alles, was von Preußen geblieben ist.“ (Siedler 2000, S. 31). Somit kann davon ausgegangen werden, dass eine Betrachtung brandenburgischer Geschichte und Identität untrennbar mit der Preußens verbunden ist.

Was kann, darf und soll von Preußen bleiben? 16 Was bleibt nun von Preußen und was

Ein gutes Spiegelbild für die Ambivalenz ist sicher die Entwicklung Fontanes – obwohl er die furchtbaren Auswüchse in der NS-Zeit nicht mehr erleben musste –, der ohne Zweifel Preußen in großer Zuneigung und Verehrung verbunden war und dennoch oder vielleicht gerade deshalb die Entwicklung Preußens zum Ende des 19. Jh. intensiv kritisierte.

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darf aus sozialdemokratischer17 Sicht angesichts der Sozialistenverfolgung unter Bismarck, des Imperialismus der Wilhelminischen Ära, des Tages von Potsdam18, der langwierigen Unterstützung des Nationalsozialismuses durch alte preußische Eliten von und aus Preußen in eine brandenburgische Identität mitgenommen werden? Es wird und kann auf diese Frage keine einfache und undifferenzierte Antwort geben: „Schicksal und Schuld, Glanz und Versagen, helles Licht und dunkle Schatten liegen in der Geschichte dieses Staates näher beieinander, als wohl sonst bei historischen Entwicklungen zu beobachten ist.“ (Schoeps 1997, S. 265). Dies gilt u. a. auch für die Widerstandskämpfer des 20. Juli, sofern sie aus preußisch-adligen Familien stammten, von denen nach einem letzten Aufbäumen des alten Preußen „ganze Geschlechter des preußischen Adels, die bekannte Träger des alten Staates waren, 17

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nahezu ausgerottet wurden. Aber auch ihr Opfer ist wie vieles in der Geschichte Preußens zu spät gekommen.“ (ebenda). Insofern kann für die Debatte über Identität von einer „Doppelgesichtigkeit“ (Schoeps 2000, S. 8) ausgegangen werden. Große Teile der konservativen Elite waren Feinde eines demokratischen Deutschland und haben vor Hitlers Machtergreifung mehr oder weniger intensiv gegen die Weimarer Republik gearbeitet. Dies war der negative Höhepunkt einer Entwicklung, deren Beginn schon viel früher begann.19 Insofern ist bei der Frage nach der Verwendung von preußischer Geschichte und Symbolen immer die Ambivalenz der Entwicklung zu beachten, die eine allzu einfache Übernahme des Überkommenen ausschließt. Dennoch ist Brandenburg/Preußen zumindest eine ambivalente Entwicklung zuzu-

Wenn hier der Sichtweise August Bebels („Preußen als Todfeind aller Demokratie“), Wilhelm Liebknechts (er betrachtete die Auflösung dieses Staates als erstrangige historische Aufgabe) – vgl. Craig 2001, S. 96 – und Franz Mehrings gefolgt würde, wäre die Frage wohl kurz und bündig mit einem "Nichts" zu beantworten. "Das Hauptanliegen der historischen Darstellung Preußens durch Mehring bestand zum einen darin, den reaktionären und fortschrittshemmenden Charakter des preußischen Staates … nachzuweisen …" (Zimmering 2000, S. 310 f). Vgl. dazu u. a. die Tagebucheintragung von Joseph Goebbels (verfertigt am 22.03.1933): „Der große Tag von Potsdam wird unvergeßlich sein, in seiner historischen Bedeutsamkeit. … Die Fahrt nach Potsdam geht von Berlin aus durch ewig jubelnde Menschenmassen. … und Gottes Hand steht unsichtbar segnend über der grauen Stadt preußischer Größe und Pflicht.“ Vgl. hierzu die Diskussion über das Ende Preußens, u.a. bei Kroll, der die Jahreszahlen 1867/71, 1918/19 oder 1932 mit gewisser Berechtigung als „Sterbedaten“ Preußens stehen lässt. Ebenso lesenswert wie nachvollziehbar ist die Argumentation Craigs, der hinsichtlich des Endes von Preußen von einem Prozess spricht (vgl. Craig 2001, S. 10) und somit die Debatte um ein konkretes Datum auflöst.


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billigen – Marion Gräfin Dönhoff spricht in diesem Zusammenhang von Preußen: Maß und Maßlosigkeit –, so dass sich hier positive Elemente finden, die aufgegriffen werden können.

Tugenden 20 Ist die Orientierung an Preußen insgesamt kritisch zu hinterfragen, so gilt dies ebenfalls für die preußischen Tugenden, die nachfolgend jedoch als ein positives Element verstanden werden, an die angeknüpft werden kann und soll. Teilweise wird die Einschätzung vertreten, dass alle „Versuche zur Übertragung „preußischer Tugenden“ auf das nach gänzlich anderen – eben massendemokratischen – Prinzipien rechnende politische System der Bundesrepublik Deutschland“ (Kroll 2000, S. 223 f) zum Scheitern verurteilt seien. Wohingegen – im Gegensatz zu Zimmering – für die DDR von einem stabilisierenden Moment ausgegangen wird. Als Begründung dafür wird auf die Ausrichtung der Tugenden auf ein überpersönliches, „die Einzelinteressen bündelndes Gan20

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zes, auf den Staat und auf die Gemeinschaft“ (Kroll 2000, S. 223) im Gegensatz zur individuellen Selbstverwirklichung im gesellschaftlichen Pluralismus moderner Massendemokratien verwiesen. In diesem Zusammenhang soll auf die Ausführungen von Manfred Stolpe Bezug genommen werden, der sich dezidiert mit dem Verhältnis von individueller Freiheit und Selbstverwirklichung und solidarischer Gesellschaft und Chancengleichheit äußert und fordert, sie auszubalancieren. So zitiert er zwar Roman Herzog, der die Freiheit als Schwungrad für Dynamik und Veränderung bezeichnet, führt aber fort: „Die Kunst wird darin bestehen, das Schwungrad in Bewegung zu bringen und sich von ihm nicht überrollen zu lassen.“ (Stolpe 1997, S. 191). Hier deutet sich durchaus an, dass für Brandenburg so etwas wie eine Symbiose zwischen dem Ganzen, dem Staat, Werten wie Solidarität usw. auf der einen und individueller Freiheit auf der anderen Seite gefunden werden kann und soll.21

Vgl. dazu u.a. von Dönhoff und Hirsch (vgl. S. 10): „Freiheit und Ordnung sind die Grundpfeiler, auf denen sich das neue Preußen aufzubauen hat. Aus dem alten Preußen, das für alle Zeit dahin ist, wollen wir in die Zukunft das hinübernehmen, was gut an ihm war: den schlichten Geist ernster Pflichterfüllung und den Geist nüchterner Sachlichkeit. Durch eine schwere Zeit muß unser Land hindurch. Das neue Preußen wird sich genau wie das alte wieder großhungern müssen.“ (zit. nach Schoeps 1997, S. 256 f) vgl. dazu auch von Dönhoff (1998, S. 50): „Sie alle, die großen Reformer, beschäftigte das Verhältnis von Staat und Individuum. Es ging ihnen darum, den Staat, der bisher die erste Rolle gespielt hatte, mit dem Individuum zu versöhnen … Sich der Individualität bewusst zu werden, aber stets eingedenk zu sein, dass man auch Staatsbürger ist, war ihre Devise …“

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Dabei schlägt das Pendel nicht derartig weit in Richtung individueller Freiheit, so dass ein Rückgriff auf preußische Tugenden anders als von Kroll angenommen als möglich erscheint. Gegen den Rückgriff spricht jedoch, dass preußische Tugenden nicht nur im Dritten Reich pervertiert worden sind – schon Fontane setzt sich bspw. in Schach von Wuthenow kritisch mit der Verwendung des Ehrbegriffs auseinander –, dennoch soll an dieser Stelle über sie nachgedacht werden. Entscheidend für den Bezug auf preußische Tugenden ist ihre Einbettung in einen Gesamtrahmen von Werten und Normen. Bietet nicht der große Wertekanon der deutschen und auch der internationalen Sozialdemokratie als sicherer Halt der brandenburgischen Sozialdemokratie die Gewähr für einen aufgeklärten und abgeklärten Umgang mit preußischen Tugenden? Aus dieser Verankerung sollte die Gewissheit erwachsen, dass ein Rückgriff auf preußische Tugenden durch die SPD nicht in einer unreflektierten Überhöhung der Tugenden endet oder gar umschlägt in eine Pervertierung und Ausnutzung für aggressive und demokratiefeindliche Zwecke.

Sachkunde, Strenge, Sparsamkeit, Pflichtethos Um aus der armen und rückständigen Mark einen aufstrebenden Staat zu for-

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men, gründete sich Brandenburg/ Preußen auf Sachkunde, Strenge und Sparsamkeit. Vor allem die Strenge konnte leicht in Grausamkeit umschlagen, so im Fall der Hinrichtung des Freundes des Kronprinzen Friedrich, doch stellen sie an sich betrachtet nicht Maximen dar, an denen auch heute eine Orientierung möglich ist? Sind hierin nicht Anforderungen zu sehen, die an die Partei und die Landesregierung noch stärker als bisher gestellt werden sollten? Strenge und Sparsamkeit sind nachgerade unabdingbare Wertmaßstäbe für politisches Handeln in Brandenburg: Strenge in erster Linie gegenüber den Feinden von Demokratie und Menschlichkeit, Strenge verbunden mit Konsequenz und einem klaren Blick, der nicht durch politisches Kalkül und falsch verstandenen Konservativismus verstellt diese Feinde links wie rechts gleichermaßen sucht, um alte Vorurteile zu pflegen. Große Sachkunde könnte ganz vorzüglich mit der Reformfreudigkeit verbunden werden, die Preußen u.a. in der Zeit des großen Kurfürsten, Friedrich Wilhelms I. und Friedrichs II. auszeichnete und eine Stärke Preußens auch in Krisenzeiten darstellte. So wurden neue Wege gesucht und gegangen, statt ängstlich den Status quo zu verteidigen. Beides wäre ein Gewinn für die brandenburgische Sozialdemokratie und ihr Wirken in Landesregierung und Landtag. Eine Rückbesinnung ließe


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hier vielleicht an den Schwung anknüpfen, der die SPD in Brandenburg in den sehr frühen 90er Jahren durchaus kennzeichnete. Konnte das preußische Pflichtethos allzu leicht in übergroßen Gehorsam umschlagen und fand in der Willfährigkeit von Kriegsverbrechern einen negativen Höhepunkt, so untergräbt das Fehlen eines Pflichtethos das Funktionieren von Politik und Verwaltung. Politische Verantwortung, politische Ämter verlangen mehr an Einsatz als an Rücksicht auf die eigene Person. Wird diese Sicht geteilt, erweist sich der Fall von fehlender Sachkunde in Verbindung mit ebenfalls nur unzureichend ausgeprägtem Pflichtethos als besonders problematisch. In der politischen Praxis findet dies seine konkrete Ausprägung im Besetzthalten von Ämtern, für die persönliche Eignung und Anspruch nicht ausreichend vorhanden sind.

Toleranz Ein weiter positiver Ansatzpunkt könnte die ausländischen Siedlern und Religionsflüchtlingen gegenüber gezeigte Toleranz sein. Krockow setzt sich intensiver mit dieser Toleranz auseinander. „Das preußische Problem war wohl gleich von Anfang an, dass die Toleranz „von oben“ auferlegt statt „von unten“ erstritten worden ist. Sie kam für die

Menschen von außen statt von innen, als Sache nicht der Bürger, sondern der Obrigkeit, der Kurfürsten und Könige; sie wurde den Untertanen als ein »harter, beinahe unbegreiflicher Zwang« auferlegt, sozusagen zur Probe ihres Gehorsams.“ (Krockow 1993, S. 49).Trotz der Verordnung, der Vernunft und Rationalität, die ohne Zweifel (mit) konstituierend für diese Toleranz waren, ist sie deshalb abzulehnen? Wo gibt es heute so vernünftige und weitsichtige politische Entscheidungen? Wie steht denn die deutsche Politik heute zu dieser Frage? Verlief die Integration nicht erfolgreich? War nicht die Toleranz doch mehr als eine „bloße“ Frage von Vernunft und dem Willen, das eigene Land zu entwickeln? Kroll spricht in diesem Zusammenhang von der oft übersehenen Tatsache, „dass sich Preußen niemals als Nationalstaat, sondern stets als ein die Ethnien übergreifendes, ja sie unter einer »höheren« Idee zielbewusst aufhebendes bzw. integrierendes Staatswesen verstanden hat.“ Hieran kann und sollte angeknüpft werden.

3.2 Sozialdemokratie im Preußen der Weimarer Republik Zur Beantwortung der Frage, ob und in welchem Umfang Preußen ein Ausgangspunkt für eine sozialdemokratisch mitbestimmte Identitätsarbeit sein kann, bietet sich ein Rückblick auf die Weimarer

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Republik an. Ist die Erinnerung an das Kaiserreich nach 1871 mit der Bekämpfung der Sozialdemokratie durch Bismarck verbunden – am augenscheinlichsten durch das Sozialistengesetz, das Gesetz „wider die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie“ –, spielt die SPD in der Weimarer Republik in Preußen eine entscheidende Rolle. Der Wandel hin zur Staatspartei zeichnete sich bereits in den letzten Monaten des ersten Weltkrieges und im Übergang zur Weimarer Republik ab. Schoeps spricht in diesem Zusammenhang von den sozialdemokratischen Arbeitern, die „an die Stelle der alten Führungsschicht getreten waren und wegen der in ihr lebenden preußischen Disziplin dieses Staatserbe weiterzuführen vermochten.“ (Schoeps 1997, S. 255). Gegen die Rückbesinnung auf die (preußische) SPD in der Weimarer Repu-

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blik könnte die insbesondere von politisch (sehr weit) links stehenden Autoren geäußerte Kritik sprechen.22 Der SPD wird u. a. der Verrat an der Novemberrevolution, eine (völlige) Fehleinschätzung der politische Lage und Untätigkeit – u. a. im Zusammenhang mit dem Preußenschlag –vorgeworfen.23 Diese Debatte kann an dieser Stelle nicht weiter nachvollzogen werden. Für den Rückgriff auf diesen Abschnitt preußisch-deutscher Geschichte und vor allem das Wirken der SPD und ihrer zentralen Akteure spricht trotz aller Fehler ihr Wirken in dieser Zeit.„Die Sozialdemokratische Partei übernahm am Ende des ersten Weltkrieges erstmals nationale Regierungsverantwortung und begann mit dem Aufbau des demokratischen Sozialstaats.“ (SPD, S. 6). Letztendlich rieb sie sich seit 1918 im Kampf für die Demokratie auf und blieb am Ende die einzige

Dabei setzt die Kritik zumeist bereits bei der Haltung der SPD am Beginn des Ersten Weltkrieges an. Im Grundsatzprogramm der SPD heißt es dazu: „Im ersten Weltkrieg enttäuschte die sozialdemokratische Arbeiterbewegung Europas viele in der Hoffnung, sie könne den Frieden erzwingen. Sie entzweite sich über das Verhältnis von nationalen und internationalen Aufgaben der Arbeiterklasse.“ (SPD, S. 6) Besonders pointiert wurde diese Kritik von Leo Trotzki vorgetragen. Seine Äußerungen aus dem Jahr 1932 (Leo Trotzki „Der einzige Weg“) werden u. a. deshalb aufgegriffen, da er sich auch deutlich von der unter starkem Einfluss Stalins stehenden KPD Thälmanns absetzt und die Argumentation trotz der sehr eindeutigen Sprache differenzierter und weitsichtiger war als u. a. die in der DDR gegen die SPD vorgebrachte.Trotzki:„Die Sozialdemokraten gaben das passive Zurückweichen vor dem Faschismus als Kampf gegen den Faschismus aus.Z,„“… sozialdemokratische Minister erledigt man mit einem Nasenstüber“,„ … ein beträchtlicher Teil [sozialdemokratischer Funktionäre, d.Verf.] wird sich in der Stunde der Gefahr unters Bett verkriechen.“


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demokratische Kraft der Weimarer Republik.24 Es war Otto Wels für die SPD, der als einziger Redner die Stimme gegen das Ermächtigungsgesetz erhob.25 Die SPD hatte sich dem Faschismus nicht erfolgreich in den Weg stellen können, die Schuld für den Faschismus tragen jedoch andere. Waren Bebel und Wilhelm Liebknecht noch dezidiert antipreußisch (vgl. Fn. 17), so zeichnete sich eine deutliche Hinwendung zu Preußen bereits beim ersten von der SPD gestellten Ministerpräsidenten in Preußen, Paul Hirsch, ab. Er eröffnete die Sitzung des preußischen Parlaments am 13. März 1919 u.a. mit folgenden Äußerungen: „Preußens Aufgaben sind noch nicht erfüllt. Auf den Geist von Freiheit, der Arbeit und der Ordnung gestützt, soll es noch einmal der deutschen Nation und ihrer künftigen friedlichen Größe dienen. Preußens beste Eigenschaften, Arbeitsamkeit und Pflichttreue, braucht das neue deutsche Reich zum Wiederaufbau. Das alte Preußen ist tot, es lebe das neue Preußen.“ (zit. nach Schoeps 1997, S. 256). 24

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Im Jahr 1920 wurde Otto Braun preußischer Ministerpräsident und blieb es bis 1932.„Er wurde der stärkste Exponent des neu erwachten, freilich auch stark mit parteipolitischen Interessen verbundenen preußischen Selbstbewusstseins traditionellen Stils. … Der Musterstaat Preußen war in dieser Zeit die feste Bastion der demokratischen Republik …“ (Schoeps 1997, S. 257 f). Gegen eine einseitige parteipolitische Ausrichtung zugunsten der SPD spricht jedoch schon die Zusammensetzung der Koalitionsregierung in Preußen (zumeist SPD, Zentrum und Deutsche Demokratische Partei [DDP]). Eine Figur wie Otto Braun eignet sich aufgrund ihrer Persönlichkeit besonders als Identifikationsfigur. Craig beschreibt ihn u.a. als einen Preußen „reinsten Wassers“ (Craig 2001, S. 98), gradlinig und mit der Fähigkeit ausgestattet, sich über „dogmatisches Parteidenken zu erheben“ (a. a. O., S.112). Eine weitere interessante Persönlichkeit der SPD der Weimarer Republik war der preußische Innenminister und langjährige Berliner

Die SPD stand an der Spitze der demokratischen Kräfte, die – die Einschätzung der besonderen Ambivalenz Preußens aufgreifend – auf der lichten Seite Preußens standen. Sie kämpften ebenso konsequent für den Erhalt Preußen, wie sie sich gegen die reaktionären Kräfte – die dunkle Seite Preußens – wandten. Letztendlich scheiterte das Projekt „demokratisches Preußen“ unter den permanenten Angriffen reaktionärer und später nationalsozialistischer Kräfte, in Teilen aber auch an der mangelnden Stärke der SPD, in krisenhaften Situationen schnell und konsequent auf politische und gesellschaftliche Herausforderungen zu reagieren. u.a.:„Wir deutschen Sozialdemokraten bekennen uns in dieser geschichtlichen Stunde feierlich zu den Grundsätzen der Menschlichkeit und der Gerechtigkeit, der Freiheit und des Sozialismus.“

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Polizeipräsident Albert Grzesinski, der ebenfalls zu den mutigen Verteidigern der Republik zählte.26 Insbesondere seine Entschlossenheit und sein politischer Durchsetzungswille ließen ihn zu einem der wichtigsten sozialdemokratischen Politiker dieser Zeit werden. Braun, Grzesinski und andere verantwortliche sozialdemokratische Politiker stellten sich gegen das Zusammenspiel republikferner konservativer Eliten mit völkischen Massen, gegen das Bündnis von Papen und dem konservativen Bürgertum mit der zutiefst menschenverachtenden NSBewegung (Albrecht 1999, S. 357, 359). Die Sozialdemokratie in Preußen hat die Verantwortung dafür übernommen, die demokratische Republik gegen alle Widerstände zu gestalten und zu verteidigen. Sie trat dabei an die Stelle eines nicht mehr existenten parteipolitisch organisierten fortschrittlich-liberalen Bürgertums (Albrecht 1999, S. 358). Braun, Grzesinski und ihre Mitstreiter bieten sich in besonderer Weise als Vorbilder für die heutige SPD an. Hierfür scheint der SPD in Brandenburg jedoch zweierlei zu 26

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fehlen: zum einen das Wissen um die eigene Geschichte und zum anderen das notwendige sozialdemokratische Selbstbewusstsein oder der Wille, diese sozialdemokratisch-preußischen Figuren ausreichend zu würdigen. Dazu wäre es erforderlich, sich innerhalb der SPD viel stärker mit der Sozialdemokratie und ihrer Geschichte auseinanderzusetzen. Hierzu scheint in Teilen jedoch Kraft und/oder Wille zu fehlen. Überhaupt lässt sich in Teilen der SPD-Brandenburg eine merkwürdige Distanziertheit zu den Wurzeln und der Geschichte der Sozialdemokratie feststellen. Ein Rückgriff auf solche Vorbilder verdeutlicht zudem, dass Preußen weit mehr war als nur die Hohenzollern und die – um die dunkle der beiden preußischen Seiten zu nehmen – reaktionären ostelbischen Junker, die mit ihrem „Egoismus und Materialismus und ihrem leichtfertigen Taktieren“ (Craig 2001, S. 119) entscheidend zum Untergang Preußens beitrugen.

Vgl. grundlegend zu Grzesinski: Albrecht, Thomas (1999): Für eine wehrhafte Demokratie. Albrecht Grzesinski und die preußische Politik in der Weimarer Republik. Bonn. Neben seiner Bedeutung für die uns im Rahmen dieses Artikels vor allem interessierende Frage des „sozialdemokratischen“ Preußen als Ausgangs- und Ansatzpunkt für eine Identitätsbildung innerhalb der brandenburgischen SPD ist Grzesinski deshalb wichtig, da er um die besondere Bedeutung der öffentlichen Verwaltung für den Erfolg sozialdemokratischer Politik nicht nur wusste, sondern auch dafür kämpfte. Dieses Wissen und Handeln Grzesinskis bietet ein bisher nur unzureichend erreichtes Vorbild für eine Vielzahl heute in Landtagsfraktion und Landesregierung Verantwortung tragender Akteure.


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3.3 Hermann Maaß – Beispiel eines Widerstandskämpfers gegen den Nationalsozialismus Vor allem in den schweren Stunden der deutschen Geschichte war es die SPD, die sich zu (ihren) Grundwerten, zu ihren Erzählungen bekannte. Exemplarisch dafür steht u. a. die bereits erwähnte Rede von Otto Wels zur Ablehnung des Ermächtigungsgesetzes. Nicht minder interessant und vor allem wegen des direkten geographischen Bezugs von Bedeutung sind das Wirken und die Äußerungen des Widerstandskämpfers Hermann Maaß,27 28 der seit 1928 in Babelsberg wohnte und an den zumindest noch der Straßenname erinnert.29 Dieser eher formale Grund stellt jedoch eher den Anlass als den Grund für den exemplarischen Rückgriff auf einige zentrale Ideale 27

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Hermann Maaß’ als weitere Quelle einer sozialdemokratischen und darüber hinaus brandenburgischen Identität dar. Für diese Ideale stand er ganz, mit seinem Leben ein. Aus dieser letzten Konsequenz seines Kampfes gegen nationalsozialistische Gewaltherrschaft, für Demokratie und Sozialismus wird er zum Vorbild für die brandenburgische Sozialdemokratie, gewinnen seine Ansichten eine besondere Bedeutung. Hermann Maaß stand für eine politische Haltung, die nicht die eigene Verwirklichung bzw. den persönlichen Machtzuwachs in den Mittelpunkt stellte: „Ich habe zuweilen gezweifelt, ob das Politische oder Staatsmännische ganz das treffen könnte, was ich als Erfüllung meines Wesens suchte. Das Machtmäßige hat nie magnetisch auf mich gewirkt, denn ich wusste um seine Vergänglich-

Hermann Maaß (23.10.1897 – 20.10.1944), bis 1933 Geschäftsführer im Reichsausschuss der deutschen Jugendverbände, Sozialdemokrat und Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus, ermordet in Plötzensee unmittelbar nach seiner Verurteilung durch den Volksgerichtshof aufgrund seiner Einbindung in den Kreis der Attentäter des 20. Juli. vgl. Grabner/Röder (Hrsg.) 1997. Die Konzentration auf eine Person des Widerstands gegen den Nationalsozialismus stellt eine völlig unzulässige Verkürzung dar, sie ist jedoch aufgrund des Umfangs des Beitrages und der Bedeutung, die den Anschauungen von Hermann Maaß zugemessen werden nicht zu vermeiden. Hermann Maaß steht zudem exemplarisch für das Leben preußischer Tugenden. Er blieb an seinem Platz, ging trotz zweier Angebote – eines von der Harvard University und eines aus der Schweiz – nicht ins Ausland, sondern wählte den Weg des Widerstandes in Deutschland. Zu seinem Wesen gehörte, alles Unwesentliche, Unwahre und Unechte abzulehnen und konsequent seinen Weg zu gehen (vgl. Grabner/Röder (Hrsg.) 1997, S. 20). Es scheint, dass es viel mehr an Erinnerung nicht mehr zu geben scheint. Die geringe Resonanz der Potsdamer Gedenkveranstaltung zum 100. Geburtstag von Hermann Maaß passte sich wohl gut in das Gesamtbild ein. So berichtete seine älteste Tochter von der Tatsache, dass die SPD die Erinnerung an Hermann Maaß „so gut wie gar nicht“ wachhalten würde.

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keit.“ (zit. nach Grabner/Röder 1997, S. 12). Insofern eignet er sich durchaus als Vorbild für die politische Klasse Brandenburgs. Ohne die Bedeutung persönlichen Ehrgeizes als Quell für die politische Arbeit zu verkennen, werden hier doch Relationen zurechtgerückt: hin zu einem Mehr an Pflichterfüllung30 – dies bezieht sich sowohl auf die persönlichen Voraussetzungen, d.h. die Qualifikation des Einzelnen für das Amt, das er/sie anstrebt oder ausfüllt, als auch die Ausübung des Amtes. Seine Werthaltungen verdeutlicht Hermann Maaß auch in den folgenden Zeilen: „Seit meiner Jugend waren für mich allgemein gültige menschliche Liebe, Gerechtigkeit und Einsatz für die wohlgeordnete Gesellschaft, die auch vor Gott bestehen könne, die treibenden Kräfte, die mich über Familie und Beruf hinaus zu Einsatz für Volk, Staat und Gesellschaft drängten. Die Funktion, die Leistung auf Grund seiner Gaben zugunsten Dritter war mir dabei mehr wert als irgendein Eigennutz. Nie war ich um des Amtes und Stellung wegen bereit, es zu übernehmen, sondern um der Leistung wegen.“

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(zit. nach Grabner/Röder (Hrsg.) 1997, S. 104 f). Er brachte sich ein und opferte sich letztendlich auf für die Gesellschaft, für die Allgemeinheit. Er stand für den konsequenten Kampf für Demokratie und Gerechtigkeit. Seine Wurzeln hatte er im Christentum und in praktizierter Nächstenliebe. Diese Werte mündeten für ihn in das übergreifende politische Ziel, die Wendung zum Sozialismus. Zur Erreichung seiner Ziele spricht er sich durchaus für einen aktiven Eingriff in die Gesellschaft aus, spricht von einem umfassenden Ethos, das menschliche Unzulänglichkeiten kennt und „gruppenmäßige Egoismen zurückdrängt und überwindet“ (zit. nach Grabner/Röder 1997, S. 12). Die Entwicklung des neuen Ethos sollte u.a. durch die Stärkung der Verantwortung des einzelnen erreicht werden, u.a. deshalb sein Engagement für die politische Bildungsarbeit und Jugendarbeit. Insbesondere dieser Ansatz der Stärkung lässt sein Anliegen für uns an Bedeutung gewinnen. Geht es doch um mehr als eine bloße Beeinflussung der Gesellschaft, die zudem in Ansätzen auch autoritäre Züge aufweisen könnte.

In einer Zeit der Mediendemokratie, in der die Kraft der Bilder die Inhalte in den Hintergrund zu drängen scheint, der Schein bestimmt und Politik zuweilen nicht durch Problemlösungskompetenz, sondern durch Spin doctors gekennzeichnet ist, gewinnt der Wert „Wesentlichkeit“ besondere Bedeutung. Auch hierfür spricht sich Hermann Maaß aus: „Alles Unwesentliche, Eitle, Unwahre, Unechte muß abfallen …“ (zit. nach Grabner/Röder 1997, S. 20).


Kämpfen für den Traum vom Tüffelland

Er setzt hier auf Partizipation und Emanzipation. Insofern lassen sich hier Anknüpfungspunkte für unsere Zeit finden, die zumindest partiell ebenfalls von einer Orientierungslosigkeit gekennzeichnet ist.

4. Identität für Brandenburg Nachdem nun einige zentrale Quellen einer Identität der Sozialdemokratie in Brandenburg näher ausgeleuchtet wurden, versucht der letzte Abschnitt eine thesenartige Zusammenfassung. 1. Identitätsarbeit/Identitätsmanagement ist möglich und notwendig. Ein solches Identitätsmanagement ist eine zentrale strategische Aufgabe der SPD in Brandenburg. Eine in wesentlichen Teilen von der Sozialdemokratie mitbestimmte brandenburgische Identität könnte zur Herausbildung einer strukturellen Mehrheitsfähigkeit der SPD beitragen. So könnten Bindungen entstehen, die sich auch in problematischen Situationen als tragfähig erweisen. Neben parteipolitischen Erwägungen ergibt sich die Notwendigkeit einer demokratischen Identitätsvermittlung aus einer in Teilen der brandenburgischen Gesellschaft vorzufindenden Orientierungslosigkeit, die bei einem bestimmten Anteil der Bevölkerung den Boden für eine stärkere Affinität

zu rechten und menschenverachtenden Werthaltungen bereitet. 2. Ein langfristig erfolgreiches Identitätsmanagement ist langfristig ausgelegt und beruht auf Glaubwürdigkeit. Bloße Sonntagsreden mit Bezug auf preußische Tugenden oder andere Traditionslinien sind eher kontraproduktiv. Für die SPD Brandenburg setzt sie ein stärkere Reflexion u.a. von Geschichte und sozialdemokratischen Werten, u.a. aufgrund der heterogenen personellen Struktur und programmatischer Defizite, als Grundlage der Schärfung des eigen Profils voraus. 3. Die brandenburgische SPD verfügt u.a. mit den sozialdemokratischen Werten insgesamt, der preußischen Geschichte allgemein und dem Wirken der Sozialdemokratie im Preußen der Weimarer Republik speziell sowie mit dem sozialdemokratischen Widerstand gegen den Nationalsozialismus über ausreichende Quellen einer gut abgrenzbaren und unverwechselbaren Identität, die, da sie auf in allgemein bekannte und wirksame Symbole zurückgreifen kann, eine hohe Anschlussfähigkeit zur Bevölkerung aufweist. 4. Die SPD ist in der Lage, auch geschichtlich belastete bzw. ambiva-

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lente Quellen und Traditionslinien – wie preußische Traditionen und Tugenden – aufzugreifen, da sie diese von negativen Assoziationen befreien und in einen demokratischen Rahmen einbinden kann. Damit erfüllt sie zugleich das Bedürfnis nach Heimat und Geschichte und entzieht der Vereinnahmung bestimmter Traditionslinien in antidemokratische Bestrebungen den Boden. 5. Zentraler Bestandteil einer eigenständigen sozialdemokratischen Identität in Brandenburg und damit einer brandenburgischen Identität insgesamt ist das besondere Spannungsverhältnis zwischen Freiheit und Ordnung oder Selbstentfaltung und Einordnung in die Gesellschaft. Dieses

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Spannungsverhältnis ist für die drei hier beschriebenen Identitätsquellen ebenso von Bedeutung wie für die gegenwärtige aktive Politik, insbesondere in Person des Ministerpräsidenten Manfred Stolpe. Die Begegnung von Dubslav und Tuxen endet mit leicht ironischen Bemerkungen des alten Grafen hinsichtlich der Rationalität der Wahlentscheidung für die Sozialdemokratie, keineswegs jedoch in der Form, die von einem typischen preußischen Landadligen dieser Tage zu erwarten gewesen wäre. Er endet mit: „Und nun macht, dass Ihr zu Bett kommt und träumt von „Tüffelland“. Es liegt in der Hand der brandenburgischen SPD, ob es ein sozialdemokratisches „Tüffelland“ geben wird.


Kämpfen für den Traum vom Tüffelland

Literatur Wird der Text insgesamt als Versuch betrachtet, so folgt das Literaturverzeichnis diesem Verständnis. Es wird nicht nur die im Text verwendete Literatur angeführt, sondern darüber hinausgehende Quellen angegeben, die eine Vertiefung des Thema, quasi im Sinne eines Selbstversuchs, ermöglichen.

Albrecht, Thomas (1999): Für eine wehrhafte Demokratie. Albrecht Grzesinski und die preußische Politik in der Weimarer Republik, Bonn. Bethge, Werner (1993): Widerstand von links. Antifaschismus und Widerstand von Kommunisten und Sozialdemokraten 1933/34. In: Eichholtz, Dietrich (Hrsg.): Brandenburg in der NS-Zeit. Studien und Dokumente, Berlin, S. 355 ff. Craig, Gordon A. (1997): Über Fontane, München. Craig, Gordon, A. (2001): Das Ende Preußens. Acht Portraits. München. Dittberner, Jürgen (2001): Brandenburg neu erfinden, in: perspektive 21, Heft 13, Februar 2001. S. 5 ff. Dönhoff, Marion Gräfin (1998): Preußen. Maß und Maßlosigkeit, Berlin. De Bruyn, Günter (1993): Mein Brandenburg, Frankfurt am Main. De Bruyn, Günter (2001) : Preußens Luise. Vom Entstehen einer Legende, Berlin. Ehni, Hans-Peter (1975): Bollwerk Preußen? Preußen-Regierung, Reich-LänderProblem und Sozialdemokratie 1928 – 1932, Bonn-Bad Godesberg. Eichholtz, Dietrich (Hrsg.) (1993): Brandenburg in der NS-Zeit. Studien und Dokumente, Berlin. Fontane, Theodor (1883): Schach von Wuthenow. Berlin, hier in der Auflage von 1999 aus dem Verlag Philipp Reclam jun. Stuttgart. Fontane, Theodor (1897): Der Stechlin. Berlin, hier Insel Taschenbuch von 1997. – Besonders zu empfehlen ist auch folgende Hörbuch-Ausgabe: T. Fontane. Der Stechlin, ungekürzte Ausgabe, gelesen von Gert Westphal. 1993 Deutsche Grammophon. 43


Christian Maaß und Madeleine Jakob

Gass, Karl (2000): Zielt gut, Brüder: das kurze Leben des Maximilian Dortu, Wilhelmshorst. Gerdes, Dirk (1989): Identität. In: Nohlen, Dieter (Hrsg.): Pipers Wörterbuch zur Politik. Band I Politikwissenschaft. München, S. 348. Grabner, Sigrid/Röder, Hendrik (Hrsg.) (1997): Im Geist bleibe ich bei Euch.Texte und Dokumente zum 100. Geburtstag von Hermann Maaß, Potsdam. Hettlage, Robert (1998): Identitätsmanagement. Soziale Konstruktionsvorgänge zwischen Rahmung und Brechung. In: Koszel, Bogdan/Maretzki, Hans (Hrsg.): Länder Mittel- und Südosteuropas auf der Suche nach neuer Identität. Identität im erneuerten Nationalstaat, Potsdam, S. 11 ff. Identitäten in Europa. Wandel und Inszenierung kollektiver Zugehörigkeiten. Welttrends. Zeitschrift für internationale Politik und vergleichende Studien. Nummer 15, Sommer 1997. Kaase, Max (1989):Wertewandel. In: Nohlen, Dieter (Hrsg.): Pipers Wörterbuch zur Politik. Band I Politikwissenschaft, München. S. 1141 f. Koszel, Bogdan/Maretzki, Hans (Hrsg.) (1998): Länder Mittel- und Südosteuropas auf der Suche nach neuer Identität. Identität im erneuerten Nationalstaat, Potsdam. Krockow, Christian Graf von (1993): Fahrten durch die Mark Brandenburg. Wege in unsere Geschichte, München. Mehring, Franz (1986): Aufsätze zur preußischen und deutschen Geschichte.Verlag Philipp Reclam jun. Leipzig. Meyers, Peter (1983): Friedrich II. von Preußen im Geschichtsbild der SBZ/DDR. Ein Beitrag zur Geschichte der Geschichtswissenschaft und des Geschichtsunterrichts in der SBZ/DDR. Mit einer Methodik zur Analyse von Schulgeschichtsbüchern, Braunschweig. Nohlen, Dieter (Hrsg.) (1989): Pipers Wörterbuch zur Politik. Band I Politikwissenschaft, München.

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Postman, Neil (1999): Die zweite Aufklärung. Vom 18. ins 21. Jahrhundert, Berlin. Reißig, Rolf (1999): Die Ostdeutschen – zehn Jahre nach der Wende. Einstellungen, Wertemuster, Identitätsbildungen, Manuskript, Überarbeiteter Vortrag vor der Evangelischen Akademie Sachen-Anhalt (17.09.1999) und der Martin-Niemöller-Stiftung (02.10.1999). Reuth, Ralf Georg (Hrsg.): Joseph Goebbels. Tagebücher, München. Schoeps, Julius H. (Hrsg.) (2000): Preußen. Geschichte eines Mythos, Berlin. Schoeps, Hans-Joachim (1997): Preußen: Geschichte eines Staates, Neuausgabe, Berlin. Siedler, Wolf Jobst (2000): Abschied von Preußen, Berlin. SPD, Sozialdemokratische Partei Deutschlands: Grundsatzprogramm der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Beschlossen vom Programm-Parteitag der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands am 20. Dezember 1989 in Berlin. SPD-Landesverband Brandenburg (Hrsg.) (1999): Arbeit-Sicherheit-Gerechtigkeit …weil wir Brandenburg menschlich gestalten wollen. Landtagswahlprogramm 1999 bis 2004, Potsdam. SPD-Landesverband Brandenburg (Hrsg.) (o.J.): 10 Jahre SPD in Brandenburg. Eine Chronik des Wiederanfangs auf dem Brandenburger Weg, Potsdam. SPD-Landesverband Brandenburg (Hrsg.) (o.J.): 130 Jahre Sozialdemokratie in Brandenburg 1868-1998, Potsdam. Stolpe, Manfred (1997): Sieben Jahre, sieben Brücken. Ein Rückblick in die Zukunft, Berlin Stöss, Richard (2001): Wahlgeschichte und Wettbewerbssituation der SPD in Brandenburg, in: perspektive 21, Heft 13, Februar 2001. S. 15 ff. Theodor Fontane: Schach von Wuthenow. Erzählung aus der Zeit des Regiments Gendarmes. in der Ausgabe der Reclam Universal-Bibliothek Nr. 7688. Trotzki, Leo (1932): Der einzige Weg

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Weiß, Johannes (1989): Wert. In: Nohlen, Dieter (Hrsg.): Pipers Wörterbuch zur Politik. Band I Politikwissenschaft, München. S. 1137 ff. Woderich, Rudolf (1999): Ostdeutsche Identität zwischen symbolischer Konstruktion und lebensweltlichem Eigensinn. Manuskript, Schriftfassung des Referates auf der Konferenz "The German Road from Socialism to Capitalism" Centre for European Studies, June 18-20, 1999). Wolff-Poweska, Anna (1998): Identität in der Wendezeit. In: Koszel, Bogdan/Maretzki, Hans (Hrsg.): Länder Mittel- und Südosteuropas auf der Suche nach neuer Identität. Identität im erneuerten Nationalstaat, Potsdam, S. 27 ff. Zimmerring, Raina (2000): Mythen in der Politik der DDR. Ein Beitrag zur Erforschung politischer Mythen, Opladen.

Christian Maaß ist stellvertretender Vorsitzender der SPD im Havelland, Kreistagsmitglied und Vorsitzender der SPD-Fraktion in der Stadtverordnetenversammlung Premnitz. Der Diplom-Politologe arbeit an der WISO-Fakultät der Universität Potsdam. Der Autor ist nicht mit dem im Artikel erwähnten Hermann Maaß verwandt. Mail: cmaass@rz.uni-potsdam.de. Madeleine Jakob studiert Politikwissenschaft an der Universität Potsdam. Sie ist Mitglied im Vorstand des SPD-Ortsvereins Babelsberg.

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Zweckmäßigkeit und Staatsräson Die Herausbildung des Toleranzbegriffs in Brandenburg-Preussen von Julius H. Schoeps

Das Fußfassen der Toleranzidee in den modernen Staaten vollzog sich im 17. und 18. Jahrhundert in einem stufenweisen Prozeß. Erst in den Niederlanden, wo Katholiken und Lutheraner, aber auch Täufer, Sektierer, Spiritualisten und aus Spanien vertriebene Juden („Marrannen“) eine neue Heimat fanden. Dann in England, wo nach erbitterten konfessionellen Kämpfen 1689 als Krönung der Glorious Revolution die Toleranzakte zustande kam,die allen religiösen Dissenters außerhalb der Staatskirche volle Religionsfreiheit zusicherte, sofern sie dem englischen König Treue schworen und die päpstliche Gewalt ableugneten. Schließlich in den Vereinigten Staaten mit ihren „Bill of Rights“, die für Frankreich und seine in der Revolution 1789 propagierten „droits naturelles et inscriptibles“ zum Vorbild wurden. Das als Musterland religiöser Freiheit gefeierte Brandenburg-Preußen hat zwar tolerante Herrscher besessen wie den Großen Kurfürsten und den späteren König Friedrich I., die in das Land Arianer, Socinianer, Menoniten, Juden und Hugenotten aufnahmen. Andererseits war es

aber nicht nur der Geist religiöser Duldsamkeit, der Brandenburg-Preußen zum Asyl der Religionsverfolgten machte, sondern die Politik der Staatsklugheit, der handfesten Interessen, die diese Einwanderungspolitik bestimmte. Bevölkerungspolitische Ideen („Peuplierung“) spielten dabei ebenso eine Rolle wie Motive finanzieller Natur. Von den Fremden erhoffte sich der Kurfürst, sie würden nicht nur loyale Untertanen sein, sondern auch die notwendigen Gelder mitbringen, um den gewerblichen und wirtschaftlichen Aufschwung des Landes einzuleiten. In der Regel übersehen wird der Sachverhalt, daß die Juden im Unterschied zu anderen, die in das Land geholt wurden, mindere Rechte besessen haben. Das „Edikt wegen aufgenommenen 50 Familien Schutz-Juden“ vom 21. März 1671, mit dem der Kurfürst den Juden Niederlassungsrechte mit entsprechenden Auflagen gewährte, enthielt im zweiten Teil die einschränkende Formulierung „jedoch daß sie keine Synagogen halten“, die kenntlich machte, daß der Duldung der Juden dort Grenzen gesetzt waren, wo christlicher Glaube und christliche

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Julius H. Schoeps

Überzeugung tangiert wurde. Die Nachfolger des Kurfürsten, der Soldatenkönig und der Philosoph von Sanssouci, haben sich nicht anders verhalten. Auch sie orientierten ihre Judenpolitik nicht an der Toleranzidee und dem Prinzip der christlichen Nächstenliebe, sondern an den steuer- und wirtschaftspolitischen Notwendigkeiten des sich herausbildenden merkantilistischen Industriestaates. In patriotischen Erbauungsschriften und Schulgeschichtsbüchern ist über Jahrzehnte der Preußenkönig Friedrich II. als ein aufgeklärter Herrscher idealisiert worden. In Fragen der Religionspolitik, so heißt es immer wieder, hätte er Toleranz walten lassen. Dieses Friedrich-Bild, das bis heute liebevoll gepflegt und gehegt wird, bedarf auf Grund einer kritischeren Sicht, die wir uns inzwischen über den König und seine Epoche angewöhnt haben, einiger Korrekturen. So wird man nicht mehr die berühmten FriedrichZitate für sich allein nehmen, sondern wird bemüht sein, sie an der Politik des „Roi-Philosophe“ zu messen. Das Marginal auf einem Eingabeakt zum Beispiel „Die Religionen müssen alle toleriert werden, und muß der Fiskal nur das Auge darauf haben, daß keine der anderen Abbruch tue; denn hier muß ein jeder nach seiner Fasson selig werden“ oder die bekannte Replik anläßlich einer

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Anfrage des Generaldirektoriums „Alle Religionen sind gleich gut, wenn nur die Leute, wo sie professieren, ehrliche Leute sind“ waren Sätze und Äusserungen, die dem Aufklärungszeitgeist entsprachen, aber mit der Realität des preußischen Staates und seiner Bewohner nur wenig zu tun hatten. Toleranz war für Friedrich II. keine Frage der Gesinnung, sondern der Zweckmäßigkeit und der Staatsräson. Letztlich waren für ihn alle Religionen „un systeme fabuleux plus ou moins absurde“, was wohl auch der Grund war, daß er sich nicht zu einem Toleranzedikt hat durchringen können – anders als der katholische Kaiser Joseph II., der für die Österreichischen Kronlanden ein solches am 2. Januar 1782 erließ, das gemäß der Diktion der Zeit mit der Formel begann: „Wir, Joseph der Zweite, von Gottes Gnaden erwählter röm. Kaiser, zu allen Zeiten Mehrer des Reiches, König in Germanien, Ungarn, Böhmen usw...“ Mit Toleranz im heutigen Sinne hatte das alles nicht viel zu tun. Selbst viele Aufgeklärte waren nur bedingt bereit, den Gegenüber zu akzeptieren, und zwar so wie sich dieser selbst verstand oder definierte. Typisch ist zum Beispiel die Debatte um die Staatsbürgerrechte der Juden. Man war zwar im Prinzip bereit, Juden individuelle Staatsbürgerrechte zu


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gewähren, aber mit der Auflage, daß sie aufhörten, Juden zu sein. In diesem Zusammenhang wird meist die berühmte Formulierung zitiert, die Graf Clermont-Tonnerre in der Emanzipationsdebatte der französischen Nationalversammlung im Dezember 1789 äußerte und die dann zum unumstößlichen Credo der Gegner der Emanzipation der Juden europaweit werden sollte: „Den Juden als Individuen alles, den Juden als Nation nichts“. Trotz aller Widerstände begann die Toleranzidee zunehmend Anhänger zu finden. Das geschah insbesondere unter dem Eindruck des Bildes vom „guten Juden“, das im 18. Jahrhundert zunehmend von Schriftstellern wie Johann Gottfried Schnabel, Christian Gellert und dem berühmten Gotthold Ephraim Lessing gezeichnet worden ist. Zahlreich sind die Abhandlungen, Zeitschriftenaufsätze, Romane und Dramen, die Toleranz predigten und bemüht waren, wohltätige und edelmütige Juden darzustellen. Der „gute Jude“ war nicht nur eine literarische Kunstfigur, sondern galt geradezu als Symbol für das eigene aufgeklärte Verhalten und ist als ein Gleichnis begriffen worden, und zwar für den Kampf des der Vernunft sich verpflichtet fühlenden Bürgertums gegen alle Ausdrucksformen von Aberglauben, Vorurteil und Intoleranz. Noch heute ist dieses Bild

in den Köpfen. Lessings „Nathan der Weise“ hat für das sich formierende deutsche Judentum eine nicht zu unterschätzende Rolle gespielt. Das Schauspiel diente der Selbstdefinition, war gewissermaßen ein Orientierungspunkt, an dem nicht nur der Toleranzbegriff festgemacht, sondern auch die Formel für das Miteinanderumgehen von Juden und Christen definiert werden konnte. Die Parabel von den drei vom Vater den Söhnen ausgehändigten Ringen lehrte, daß Gott-Vater dem Juden, dem Christen und dem Muselman in ihrer geschichtlichen Religion jeweils den echten Ring gegeben habe und jede der drei monotheistischen Religionen Gottes Offenbarung gegenwärtig und zu respektieren sei. Das wurde zu einer Botschaft, die von einer Generation auf die nächste weitergegeben wurde. Die Verehrung gegenüber dem Autor des „Nathan“ führte dazu, daß es im deutsch-jüdischem Bürgertum zu einem Lessing-Kult kam, der manche seltsame Blüte hervorgebracht hat. Fatalerweise haben die Zeitgenossen jedoch nicht bemerkt oder es vielleicht auch nicht bemerken wollen, daß Lessings Konzeption in sich brüchig war, denn letztlich relativierte sie die Wahrheit. „Oh so seid ihr alle drei betrogene Betrüger!“, äußert bekanntlich in Les-

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sings „Nathan“ der Richter. „Eure Ringe“, so verkündete er weiter, „sind alle drei nicht echt. Der echte Ring ging vermutlich verloren. Den Verlust zu ersetzen, ließ der Vater diese drei für einen machen“. So weit, so gut. Den Juden mit und nach Lessing ging es aber nicht um die Doppelbödigkeit in der Lessingschen Ringparabel, die Generationen von Literaturwissenschaftlern beschäftigt und manche von ihnen zu gewagten Interpretationen angeregt hat. Wichtiger war ihnen die uns Heutigen vielleicht etwas vordergründig erscheinende, aber seit dieser Zeit mit dem Namen Lessings verbundenen Botschaft, daß der moderne Mensch vor der Frage gestellt ist,„ob er den Raum der geistigen Freiheit festhalten will, den ihm die Generation von 1800 erkämpft hat, als sie den Weg vom Dogmenstreit zum Glaubensgespräch bahnte und damit eine neue Einschätzung auch des religiösen und weltanschaulichen Gegners durchsetzte“ (Hans-Joachim Schoeps). An dieser Stelle sei dem tiefverwurzelten Irrglauben entgegengetreten, die Aufklärung sei per se aufgeklärt gewesen. Davon kann überhaupt keine Rede gewesen sein. Zahlreiche Aufklärer waren ausgemachte Judengegner. Männer wie Montesquieu, Rousseau, Diderot und vor allem Voltaire sahen in den Juden zwar

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nicht mehr die Christusmörder und Feinde des Menschengeschlechts, wie das jahrhundertelang geschehen war, aber dafür waren sie der Ansicht, die Juden seien gefährliche Vertreter des Aberglaubens, des mittelalterlichen Denkens, das es zu überwinden gelte. Auch der vielgerühmte Kant, der eine Reihe jüdischer Schüler hatte, und zugegebenermaßen große Stücke auf den Berliner Philosophen Moses Mendelssohn hielt, war nicht frei von antijüdischen Vorurteilen. Kam er auf Juden und Judentum zu sprechen, dann sprach er wie ein Kirchenmann des Mittelalters, der den Juden jede Daseinsberechtigung absprach. An verschiedenen Stellen seines opus empfiehlt Kant sogar eine „Euthanasie des Judentums“, dessen einzige Chance es sei, sterbend im Christentum aufzugehen. In seiner „Anthropologie“, in der Kant die Juden „Palästiner“ nennt, unterstellt er ihnen „Wuchergeist“ und bezeichnet sie als eine "Nation von Betrügern". Es ist sicher nicht der antisemitischste Text der Weltliteratur, wie das der Wiener Philosoph Otto Weininger meinte, aber er läßt doch erkennen, daß Kant und andere Aufklärer an die Grenzen ihrer Bemühungen dort stießen, wenn von ihnen gefordert oder verlangt war, sich von überkommenen Bildern und Vorurteilen zu befreien.


Zweckmäßigkeit und Staatsräson

Dazu waren die meisten nicht in der Lage. An der Einstellung gegenüber den Juden und gegenüber Judentum läßt sich im übrigen feststellen, ob diejenigen, die sich Ende des 18. Jahrhunderts für aufgeklärt hielten, tatsächlich aufgeklärt waren oder nicht. Diejenigen, die es waren, und Aufklärung nicht nur als Lippenbekenntnis begriffen, schlossen in ihre Bemühungen alle Menschen ein, gleichgültig ob es sich um Christen, Moslems, Heiden oder Juden handelte. Sie kämpften nicht nur gegen die Fesseln des Dogmatismus, sondern gegen alle Formen mittelalterlichen Aberglaubens. Weder Staat noch Kirche, meinten sie, hätten das Recht, den einzelnen auf irgendwelche religiöse, weltanschauliche oder moralische Überzeugungen festzulegen. Es dürfte eines der bleibenden Verdienste des Berliner „Weltweisen“ Moses Mendelssohn gewesen sein, gerade diesen Sachverhalt in seinem Buch „Jerusalem oder über religiöse Macht und Judentum“ problematisiert zu haben. Bei seinem Ersterscheinen 1783 erregte das Buch Aufmerksamkeit und wurde sogleich zum Tagesgespräch in den Berliner Salons. Daß ein rechtloser Jude das Recht in Anspruch nahm, sich für seine unterdrückten Glaubensbrüder einzusetzen, war schon ein ungewöhnliches Ereignis. Staunen und Bewunderung

aber erregte es, daß ausgerechnet ein rechtloser Jude es wagte, freimütig das Verhältnis von Staat und Kirche zu erörtern sowie für die Prinzipien Gewissensfreiheit, Gerechtigkeit und Toleranz einzutreten. Dem Staat gestand Mendelssohn zwar das Recht zu, in bestimmten Fällen einzuschreiten, aber nur dann, wenn die ethischen und sozialen Grundlagen des Staates gefährdet, die Staatsautorität durch Atheismus, Epikureismus oder Fanatismus in Frage gestellt sein sollte. Grundsätzlich war er der Ansicht, der Staat habe in Fragen der Religion eine Haltung der Neutralität einzunehmen. Auch die Kirche dürfe sich nicht der Staatsgewalt bedienen, meinte Mendelssohn. Gesinnungen, Meinungen und Überzeugungen sollten weder durch den Staat noch durch die Kirche irgendwelche Einschränkungen erfahren: „Grundsätze sind frei, Gesinnungen leiden ihrer Natur nach keinen Zwang, keine Bestechung. Weder Kirche noch Staat haben also das Recht, Grundsätze und Gesinnungen der Menschen irgend einem Zwang zu unterwerfen“. Wenn Mendelssohn für religiöse Duldung und gegenseitige Toleranz warb, dann hatte er die Lage seiner Glaubensbrüder im Blick und deren Forderung nach politischer Emanzipation und ge-

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sellschaftlicher Anerkennung. Dem Staat wollte er bei der Durchsetzung dieser Forderung keine besondere Rolle zugewiesen wissen. Das ist insofern verständlich, als der Staat zur Zeit Mendelssohns der Gegner war, der die geforderten Rechte verweigerte. Drei Generation später sah das anders aus. Die rechtliche Gleichberechtigung war jetzt erreicht und seitens des deutschen Judentums wurde im

Staat nicht mehr der Gegner, sondern der Beschützer gesehen. Ihm wies man die Funktion zu, als Garant für Gewissensfreiheit, Gerechtigkeit und Toleranz aufzutreten. Hitler und die Nazis haben diese Idee ad absurdum geführt und das Vertrauen der deutschen Juden in den deutschen Staat auf das Gröblichste mißbraucht.

Julius H. Schoeps ist seit 1992 Professor für Neuere Geschichte (Schwerpunkt: deutschjüdische Geschichte) und Direktor des MMZ an der Universität Potsdam

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Chancen des Zusammenwachsens in Europa: Übergang zu einer Europäischen Identität? von Pavel Karolewski Was ist europäische Identität? Die Entstehung von kollektiven Identitäten ist ein langwieriger Prozeß, der gewöhnlich durch soziale Praxis und soziale Beeinflussung (Ideologie) zustande kommt. Im Fall Europas ist dieser Prozeß besonders kompliziert, wofür sich drei Gründe anführen lassen. Einerseits spielen nationale Identitäten in Europa weiterhin eine wichtige Rolle, was den Nationalstaat zur primären Solidaritätssphäre macht. Zweitens fallen die identitätsschaffenden Ressourcen der EU, die auf Solidarität basieren, bescheiden aus. Diese Bescheidenheit betrifft dabei weniger den Umfang der Solidaritätsleistung als ihre Form. In der EU dominiert nämlich eine instrumentelle Solidarität der Ausgleichszahlungen und Paketgeschäfte. Drittens erzeugt die EU (vor allem auf der supranationalen Ebene) Diskriminierungseffekte, welche die asymmetrische Machtverteilung zwischen den jetzigen Mitgliedern und den Beitrittskandidaten noch verstärken. Der Nationalstaat bleibt der primäre Solidaritätsrahmen der Gesellschaft, weil

die nationalen Verpflichtungen vor allem politischer Natur sind. Sie ergeben sich dabei nicht nur aus dem wie auch immer psychologisch definierten Zusammengehörigkeitsgefühl, sondern vor allem daraus, daß demokratisch organisierte Nationalstaaten eine nationale Solidarität auf eine legitime Art und Weise erzwingen können. Die ‘Produktion’ der kollektiven (politischen) Identität hat somit viel mit demokratischer Kontrolle der politischen Entscheidungen zu tun. Natürlich basiert eine kollektive Identität auch auf einer Gerechtigkeitsvorstellung, welche die Form der Solidarität konkretisiert. Die anspruchsvollen Ideale der „Erfahrungs-, Erinnerungs-, und Kommunikationsgemeinschaft scheinen sich in der EU kaum erfüllen zu lassen. Der Erinnerungssgemeinschaft EU fehlt heute die raison d’être der 50er Jahre, sie war damals mentale Folge des Zweiten Weltkrieges. Die EU von heute ist kein exklusives Instrument der Friedenssicherung. Als friedensfördernd gilt mittlerweile

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Pavel Karolewski

jedes System von Demokratien, dies aufgrund der empirisch gestützten These, daß Demokratien keinen Krieg gegeneinander führen. Auch die Erfahrungsgemeinschaft EU, bezogen auf Wohlfahrt und niedrige Arbeitslosigkeit, steht bereits seit länger als zehn Jahren unter Druck. Am weitesten ist die Kommunikationsgemeinschaft EU entwickelt, angesichts der Tatsache, daß die Institutionen der EU regelmäßigen und extensiven Kommunikationsaustausch zwischen europäischen Akteuren (hauptsächlich allerdings Eliten) erlauben. Die Kommunikationsgemeinschaft reicht jedoch für die Herausbildung einer europäischen Identität nicht aus. Dieses Konzept unterstellt nämlich, daß Individuen ‘identisch’ werden, wenn sie intensiv miteinander kommunizieren, was eine wirklichkeitsfremde Annahme ist . Darauf hat kürzlich auch Michael Zürn („Regieren jenseits des Nationalstaates“) aufmerksam gemacht. (Ist damit nicht aber die Ausbildung eines Gruppenbewußtseins gemeint? Ist das so unrealistisch?)

Osterweiterung und europäische Identität In Anbetracht der schwachen Gemeinschaft in der EU sowie angesichts des demokratischen Defizits der EU bleibt die Beachtung bzw. Übernahme des acquis communautaire durch die EU-Mitglieder

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und Kandidaten als einzige identitätsstiftende Grundlage der EU übrig. In bezug auf die Kandidatenländer wird die Übernahme des acquis viel strenger beachtet. Das ergibt sich daraus, daß die Anwendung der europäischen Regelungen in den Mitgliedstaaten nur stockend vorankommt. Die Mitgliedstaaten erfüllen ihren Verpflichtungen in bezug auf den Binnenmarkt nicht nur unzureichend, beispielsweise wurden die Verpflichtungen von Lissabon 2000 bislang nur teilweise realisiert. Bis Ende Juni 2001 werden es die EU-Mitglieder allenfalls schaffen, 20 der 36 für diesen Termin vereinbarten Entscheidungen umzusetzen. Der größte Nachzügler ist Frankreich, dasselbe EG-Gründungsmitglied, das so gerne seine Funktion als Integrationsmotor hervorhebt. Ungefähr 12% der europäischen Regelungen werden durch ein oder mehrere Mitgliedsländer nicht in Kraft gesetzt. Dieses Defizit wird nun sogar als Argument für eine bedingungslose Übernahme des acquis durch die Kandidatenländer verwendet. Einerseits werde nämlich damit die Symbolik des europäischen Besitzstandes entsprechend gefördert und andererseits die Durchsetzung des Europarechts in den alten Mitgliedstaaten motiviert. Die damit einhergehende Ungleichbehandlung der Mitglieder und der Kandidaten erscheint, vorsichtig ausgedrückt, problematisch.


Chancen des Zusammenwachsens

Identität beinhalte nicht nur gemeinsame Werte und das Gefühl der Zugehörigkeit (passive Identität), sondern auch die Fähigkeit zur nicht-instrumentellen Solidarität (aktive Identität?), das gilt vor allem für Krisen. Instrumentelle Solidarität, welche in der EU vorherrscht, basiert auf dem Prinzip des Austausches von Ressourcen und Leistungen. Einzelne Integrationsschritte in der EU werden meist mit dem Mechanismus der Ausgleichszahlung erreicht, hierfür war Nizza der Gipfel im Wortsinne. Die europäische Verteilungssolidarität hat also einen instrumentellen Charakter, weswegen die heutige EU stark der Durkheimschen mechanischen Gemeinschaft ähnelt, die auf Riten (bedingungslose Übernahme des acquis communautaire) sowie einer kostspieligen Initiation (z.B. Leistungsbilanzdefizite der Kandidaten zugunsten der alten Mitglieder) begründet ist. Durch die den Kandidaten zusätzlich entstehenden Kosten sollte bei diesen Loyalität erzeugt werden (Hirschman), nicht zuletzt im Hinblick darauf, daß machtpolitisch benachteiligte Akteure an einem Projekt mit asymmetrischer Machtverteilung teilnehmen sollen. Die europäische Union ist ein funktionales Gebilde, durch welches Länder wie Frankreich und Deutschland ihre nationalen Interessen besser durchsetzen können als durch unilaterales Handeln. Die EU als Zweckverband bietet

somit keine Grundlage für eine aktive Identität. Ähnlich verhält es sich bezüglich der Übernahme des Besitzstandes der EU. Dahinter versteckt sich das Projekt der sozial und ökologisch verträglichen Erweiterung, welches vor allem die Entstehung und Konsolidierung einer neuen Peripherie innerhalb der EU fördern wird. Dies läuft gegen die Idee einer auf Solidarität basierenden EU, welche als Grundlage einer europäischen Identität dienen könnte, und ist vielmehr aufs engste mit dem Projekt des Kerneuropa verbunden, welches für die Herausbildung einer europäischen Identität kaum förderlich ist. Das Konzept des Kerneuropa von Joschka Fischer läßt sich nur vor dem Hintergrund des Konzeptes der Peripherie verstehen. Länder, die nicht zum Kern gehören, sind zwangsläufig Teil der Peripherie. Wenn aber betont wird, daß der Unterschied zwischen Kern und Peripherie nicht groß sein darf, dann stellt sich automatisch die Frage: Wozu überhaupt ein Kern? Das Konzept des Kerneuropas stellt automatisch, ohne daß dies beabsichtigt sein muß, eine Bedrohung für die europäische Identität dar, weil es die Spaltung zwischen dem wohlhabenden Kern und der pauperisierten Peripherie fortsetzt oder gar vertieft. Ein Kerneuropa kann sehr leicht zum Ausschluß Osteuropas führen, was den Sinn und Zweck der Osterweiterung in Frage stellt.

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Ähnliche Ausschlußvorschläge wurden Anfang der 90er Jahre unterbreitet. Vor dem Hintergrund der Hoffnung integrationsfreudiger westeuropäischer Staaten, daß die Integration im Club der am weitesten fortgeschrittenen Mitglieder vertieft wird, wurden Osteuropa wenig ambitionierte Angebote europäischer Integration unterbreitet, unter anderem die damalige KSZE und die europäische Konföderation von François Mitterrand. Das Inkrafttreten der Regelungen der EU im Bereich des Arbeits- und Umweltschutzes wird zu einer Belastung für die Unternehmen der Kandidatenländer werden. Die Durchsetzung der Umweltstandards wird die Beitrittsländer mit ungefähr 150 Milliarden DM belasten, welche von der EU nur im Bruchteil getragen werden. Dies betrifft vor allem kleine und mittlere Unternehmen, ihnen werden zusätzliche Ausgaben aufgebürdet, die ihre Konkurrenzfähigkeit kaum erhöhen. Bestenfalls wird dies Entlassungen der Arbeitnehmer, schlimmstenfalls den Bankrott dieser Unternehmen zur Folge haben. Dies wird vor allem für Polen zu einem ernsten Problem, wo die Arbeitslosigkeit heute bereits fast 16% beträgt, und was die Frage der Konkurrenzfähigkeit der polnischen Unternehmen nicht nur akademisch erscheinen läßt.

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Von den neuen Regelungen für Osteuropa werden vor allem westeuropäische Unternehmen profitieren, die entsprechende Technik für den Umweltschutz herstellen. Demzufolge ist angesichts der gewachsenen Importe eine Verschlechterung des Leistungsbilanzdefizites dieser Länder, insbesondere Polens, zu erwarten. Dies könnte zu einer Destablisierung führen, weil die Einnahmen aus der Privatisierung der Staatsbetriebe bald zu Ende sind. Selbst die Europäische Kommission konzediert, daß die größte Bedrohung für die Stabilität der polnischen Volkswirtschaft in dem hohen Leistungsbilanzdefizit liegt. 94% des Defizits wurden im letzten Jahr durch die privatisierungsbedingten ausländischen Transfers, darunter 43% durch die Privatisierung der polnischen Telekom, gedeckt. Mit den sinkenden Privatisierungseinnahmen wird es für Polen allerdings immer schwieriger, das finanzielle Gleichgewicht des Staates zu halten. Dies zeigt die Widersprüchlichkeit (und die Kontraproduktivität - weglassen) der europäischen Erweiterungsstrategie. Einerseits wurde die Fähigkeit der Kandidaten, den Wettbewerbskräften standzuhalten, vorausgesetzt. Andererseits wird gerade durch die Übernahme vieler Regelungen des acquis communautaire diese Fähigkeit unterminiert.


Chancen des Zusammenwachsens

Welche Identität nach der EUOsterweiterung? Für eine europäische Identität, die nichtinstrumentelle Solidarität impliziert, gibt es heute in der EU keine Anzeichen. Die Diskussion über die Übergangsfristen zeigt dies deutlich. Die Weigerung Deutschlands und Österreichs in dieser Frage, trotz eindeutiger Negativgutachten über Massenmigration, relativiert bis zu einem gefährlich Grad den grundlegenden Wert der Integrationsidee (Niederlassungsfreiheit). Abgesehen davon wird hier die fehlende Bereitschaft zur Solidarität signalisiert. Die Aufnahme mittelosteuropäischer Arbeitssuchender wäre dabei ein deutliches Zeiches der Solidarität. Eine solche Forderung klingt jedoch im heutigen europäischen Kontext fast höhnisch. Insbesondere die Drohungen Österreichs (bei einer sehr niedrigen Arbeitslosenquote) mit einer Blockade der Osterweiterung zeigen unmißverständlich,daß die nichtinstrumentelle Vorstellung einer europäischen Solidarität bis auf weiteres utopisch bleibt. In einer solidarischen EU, von der allzu oft gesprochen und geschrieben wird, hätte die Hilfe für Regionen und Staaten in Krisen Priorität. Die 16%-ige Arbeitslosigkeit ist eine immense Belastung für den beitrittswilligen Transformationsstaat Polen. Die Aufnahme polnischer Arbeitnehmer durch Deutschland und Österreich

würde die sozialen Verpflichtungen des polnischen Staates etwas verringern sowie möglicherweise auch die Kosten für die Umschulung reduzieren. Diese Frage betrifft die Sphären der Gerechtigkeit und Solidarität. Wenn man davon ausgeht, daß Europa (und nicht Amerika oder Asien oder Afrika) die primäre Solidaritätssphäre der EU sein soll (und gerade dies versteckt sich in dem Postulat der europäischen Identität), dann müßte dies auch praktische Konsequenzen haben. Die gleichzeitige Öffnung Deutschlands und Österreichs bezüglich der High-Tech-Fachleute wird zur Drainage der Humanressourcen aus den Kandidatenländern führen, was die periphäre Lage dieser Länder noch vertiefen wird. Dabei wird das Prinzip der Fairneß verletzt, da die hochqualifizierten Arbeitnehmer aus Kandidatenländern unter Nutzung nationalstaatlicher Ressourcen ausgebildet wurden. Demnach erinnert die europäische Politik der Übergangsfristen an eine Form der ‘beggar-thyneighbour’-Taktik, durch welche die Kandidatenstaaten immer weiter in eine periphäre Lage gedrängt werden. Die heutige EU erinnert trotz eines bestimmten Grades an Supranationalität in vielerlei Hinsicht an ein System atomisierter Akteure (im Sinne von Hannah Arendt), in dem Solidarität instrumentali-

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siert wird. So spricht sich zwar Spanien gegen die Übergangsfristen für Kandidatenstaaten aus, aber nur, weil es sich dadurch die Weiterzahlung der Strukturfondgelder sichern möchte. Auch Deutschland gelingt es, die Europäische Kommission aus wahlpolitischen Überlegungen zu instrumentalisieren. Es erscheint kaum zufällig, daß die Kommission die deutschen Forderungen nach Übergangsfristen für die Freizügigkeit widerspruchslos übernommen hatte. Weil atomisierte Staaten aufeinanderprallen, wird eine Abwehrpolitik der Nationalstaaten gegen konfligierende Interessen anderer Staaten wahrscheinlicher. In solcher Situation bleibt die Vorstellung einer europäischen Identität nur Wunschdenken. Wie wenig über die Werte der europäischen Integration reflektiert wird, zeigt die Argumentation des Erweiterungskommissars bezüglich der Kapitalbewegungsfreiheit. Diese bilde eine Grundlage der EU und dürfe mit allzu langen Übergangsfristen nicht eingeschränkt werden. Diese Sicht ist nicht nur problematisch, sondern auch gefährlich, da sie den Eindruck des kapitalistischen Elitismus verstärkt (das Kapital im Gegensatz zur Arbeit mußte man nie für die Idee der EU begeistern). Die Kapitalbewegungsfreiheit wird überbetont, die Niederlassungsfreiheit ignoriert. Wie bedeutsam

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jedoch eine ‘bevölkerungsorientierte` Europapolitik ist, zeigen die Proteste in Seattle, Zürich und Quebec. Dies sind keine Zufälle, sondern Anzeichen des Phänomens eines sich formierenden Widerstandes gegen die als ungerecht begriffene Internationalisierung. Diese Proteste illustrieren deutlich, daß der Ort der Demokratie und Verantwortlichkeit in integrierten und globalisierten Räumen unterbestimmt bleibt. Die Antiglobalisierungsbewegung ist möglicherweise der Anfang einer ähnlichen Entwicklung in Europa. Die Grundlage dafür stellen atomisierte, ignorierte und verärgerte Individuen dar, die auf der Suche nach Sicherheit (welche in der sogenannten Postmoderne ein Knappgut ist) sind. Die Tatsache, daß die Sinnhaftigkeit der EU heute noch nicht ernsthaft in Frage gestellt wird, ist auf die Nachwirkung des permissive consensus aus der Zeit des Kalten Krieges zurückzuführen. Dazu kommt noch die beschränkte Möglichkeit der Artikulation der Unionsbürger. Nur in wenigen Staaten wurden die Bürger über europäische Projekte um Akzeptanz gebeten. Mit der Osterweiterung wird sich das verändern. Im Augenblick verfügt die EU über keine belastbare europäische Identität, die Diskriminierungseffekte erlauben würde. Die Frage, ob die EU die Osterweiterung überdauern wird, und zwar nicht


Chancen des Zusammenwachsens

wegen der institutionellen Ineffizienzen, sondern vor allem wegen der fehlenden europäischen Solidarität, ist keinesfalls nur akademisch.

Pavel Karolwski studierte an der Universität Potsdam, promovierte bei Prof. Dr. Heinz Kleger zum Thema „Funktionalismus oder Föderalismus“ und ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für politische Theorie.

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Wissenschaftliche technische Entwicklung und Leitbild für die Infrastrukturpolitik Prof. Dr. rer. nat. habil. Dr. h. c. Ernst Sigmund Lässt man sich eine Aufstellung über die wichtigsten Industriestandorte zu DDR-Zeiten im heutigen Brandenburg geben, dann kommen einem unmittelbar die Worte Fontanes in den Sinn: „Ich bin die Mark durchzogen und habe sie reicher gefunden als ich zu hoffen gewagt habe.“ Es gab die petrochemische Industrie in Schwedt, die Braunkohle in der Lausitz und die Textilindustrie in Cottbus, Forst oder Spremberg, die auf eine schon lange Tradition zurückblicken konnte. In ähnlicher Tradition standen die Glaskombinate in Döbern. Schwermaschinenbau gab es in Lauchhammer, die Stahlindustrie hatte ihre Standorte in Eisenhüttenstadt aber auch in Brandenburg an der Havel und die Halbleiterindustrie in Frankfurt/Oder. Es ließen sich noch eine ganze Reihe weiterer Beispiele aufzählen. So wenig war dies gar nicht, das meiste ist jedoch während der Wende weggebrochen und nur wenig überlebte in stark reduzierter Form.

Es gab schon früher Beispiele des Zerfalls einer Region, denkt man an das Ruhrgebiet oder an das Saarland und den Wegbruch der Kohle- und Stahlindustrie. Dort wurde der Umbruch durch den Aufbau einer neuen Industrie, einer besseren und innovativen Wirtschaft geschafft. Als Initialzündung für diese Entwicklung wurde eine große Zahl von Hochschulen gegründet, die High-Tech-Firmen mit aufbauten bzw. erst in die Region zogen. Ähnliches plante – und ich denke damals sehr gut beraten – nach der Wende die Brandenburger Regierung. Es wurde eine Hochschullandschaft mit neuen Hochschulen, davon 3 Universitäten, dezentral verteilt über das Land geschaffen, die als Motor für die Region und deren Entwicklung wirken sollen. 34.400 flächenbezogene Studienplätze wurden geplant, gerade für soviel Studenten, wie an einer mäßig großen Universität studieren. Bezogen auf die Bevölkerungszahlen ist dies zwar die geringste Studienplatzdichte in ganz Deutschland, aber die Idee war gut und die Lehr- und Forschungsschwerpunkte

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wurden auf die Charakteristika der verschiedenen Regionen abgestimmt. Positive Anschauungsbeispiele gibt es weltweit zu genüge, das Ruhrgebiet wurde schon erwähnt, das bekannteste Beispiel, das in aller Munde ist, ist Kalifornien und das viel gepriesene Silicon Valley, aber genauso muss Holland z. B. mit der Region Eindhoven und seiner technischen Universität erwähnt werden. Die Brandenburger Hochschulen haben ihren Auftrag angenommen und mit viel Pioniergeist und Enthusiasmus den Aufbau begonnen. Von der ersten Minute an wurden Studenten immatrikuliert, es wurde gelehrt, geforscht und es wurde die partnerschaftliche Zusammenarbeit mit der Wirtschaft gesucht. Es gab keine mehrjährige Schonfrist wie es sonst bei Hochschulgründungen üblich ist. Jeder, der die klassische Hochschullandschaft und deren Zeitskalen kennt, und der weiß, dass von der Idee eines Studienganges bis hin zum ersten Absolventen etwa 7 Jahre vergehen, der weiß auch, dass in den 10 Jahren der Existenz der Brandenburger Hochschulen eine Erfolgsstory geschrieben wurde. Das Land Brandenburg ist jedoch nicht konsequent. Die Hochschulen sind wie in keinem anderen Bundesland unterfinanziert und die positive Aufwärtsentwick-

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lung stagniert in vielen Bereichen. Etwa 20.000 der geplanten Studienplätze sind erst gebaut und es gibt Stimmen von Personen, die sogar Wert darauf legen, dass man sie ernst nimmt, wenn sie sagen, das Land hätte sich mit seinen Hochschulen übernommen. Untersucht man die Wirkung der Hochschulen in den Regionen, so kommt man zu ganz beeindruckenden Resultaten, für die man jedoch erst den Blick des Betrachters öffnen muss. Es sind drei Bereiche, in denen sich die Wirkung des Regionaleinflusses der Hochschulen verdeutlicht. Dies sind:

• der direkte Kaufkraftzufluss durch die Mitarbeiter der Hochschule, durch die Studenten, die vielen Gäste, die Aktivitäten in und um die Hochschule herum • der Wertzuwachs an Humankapital durch die Arbeit der Hochschule und damit die Zunahme der Attraktivität der Region • die Sicherung und der Aufbau von innovativen Arbeitsplätzen durch Beratung und Weitergabe von Wissen und Erfahrung an Partner in der Wirtschaft, durch Unterstützung von Firmengründungen und Firmenansiedlung. Die Hochschulen haben sich in der Zwischenzeit durch ihre Aktivitäten ein Netzwerk von Zusammenarbeit und Partner-


Wissenschaftliche technische Entwicklung und Leitbild für die Infrastrukturpolitik

schaften aufgebaut, wie es keine andere Institution besitzt bzw. besitzen kann. Unter den 9 Hochschulen des Landes ist die Brandenburgische Technische Universität in Cottbus (BTU) die einzige technische Universität in Brandenburg. Sie ist eine Neugründung und konnte völlig neu strukturiert aufgebaut werden. So etwas ist nur bei Neugründungen möglich und von großem Vorteil, wenn man sieht, wie schwer und kaum machbar sich die Hochschulen – und dies sowohl im Osten als auch im Westen – verändern lassen. Die BTU hat naturwissenschaftliche und technische Ausrichtungen mit Lehrund Forschungsschwerpunkten, die einen Bezug zur Region besitzen. In der Forschung werden zur Zeit etwa 300 Projekte bearbeitet, die von außerhalb finanziert bzw. mitfinanziert werden und die ein Gesamtvolumen von über 90 Mio. DM haben. In den letzten Jahren flossen durch diese Projekte immer zwischen 20 und 25 Mio. DM pro Jahr in den Hochschulhaushalt ein. Dies entspricht etwa einem Viertel des Haushaltes, der bei etwas über 90 Mio.DM liegt.Eine Relation,die die Universität in die Gruppe der erfolgreichen Einrichtungen in Deutschland bringt. Und dies nach nur 10 Jahren der Existenz. Etwa ein Drittel der Forschungsprojekte kommen aus der freien Wirtschaft.

Repräsentativ für alle Brandenburger Hochschulen sollen hier ein paar Beispiele aufgezeigt werden. Das EnergieRessourcen-Institut (ERI) arbeitet mit der Unterstützung der großen Energieunternehmen wie der VEAG, der LAUBAG und anderer im Bereich der Energietechnik. Es werden Verbrennungsverfahren entwickelt bzw. weiterentwickelt wie z. B. das druckaufgeladene Wirbelschichtverfahren, es werden Filtersysteme untersucht, die Biogasproduktion aus nachwachsenden Rohstoffen wird genauso studiert wie die Solartechnik oder der Einsatz von Brennstoffzellen. Auf dem Gebiet der Materialforschung haben sich in Cottbus zwei Schwerpunkte etabliert, nämlich einerseits die Halbleitersysteme und andererseits die Leichtbauwerkstoffe. Bei den Halbleitersystemen wird sehr eng und erfolgreich mit dem IHP, der Innovations for High Performance/Microelectronics GmbH in Frankfurt/Oder, mit der gemeinsam ein Joint Lab gegründet wurde, aber auch mit anderen außeruniversitären Forschungseinrichtungen und Firmen zusammengearbeitet.

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In diesem Bereich wurde ein sehr attraktiver Studiengang über Halbleitertechnologie entwickelt, um sicher zu sein, dass für die Industrie die nötigen Nachwuchskräfte ausgebildet werden. Bei den Leichtbauwerkstoffen wird die Herstellung und Bearbeitung neuer Materialien, wie z. B. metallische Werkstoffe Magnesium und Titanlegierungen erforscht, aber auch Verbundwerkstoffe und Kunststoffe, Polymere werden untersucht. Es bestehen hier ganz enge Kooperationen mit der Industrie, praktisch der gesamten Automobilindustrie aber auch mit Firmen wie Thyssen, Eko-Stahl oder Rolls Royce bzw. der Firma BASF und anderen Firmen auf dem Kunststoffsektor. Diese Aktivitäten werden über die gemeinnützige GmbH Panta Rhei koordiniert und erarbeitet. Die erarbeiteten Projekte und Entwicklungsschwerpunkte müssen sehr genau mit den neuesten technologischen Entwicklungen der Wirtschaft aber auch auf die Möglichkeit und Bedürfnisse der Region abgestimmt sein. Es ist ganz wichtig für eine Hochschule, aber auch für ein Land, Alleinstellungsmerkmale zu erhalten. Nur dies gibt langfristig Sicherheit und Stabilität. Für die Region Cottbus ist es jetzt schon abzusehen, dass dies Konsequenzen bei der Ansiedlungsentscheidung großer Firmen haben wird.

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Nimmt man an, dass die BTU Cottbus durch ihre Projekte und Aktivitäten etwa 800 High-Tech-Arbeitsplätze initiiert, und diese Zahl ist sehr realistisch, dann fließen durch diese und die Sekundärarbeitsplätze dem Staat jährlich Steuern in der Größenordnung des BTU Haushaltes zu. Rechnen wir hierzu auch noch die durch unsere Studenten und Mitarbeiter in die Region gebrachte Kaufkraft, dann ist dies mindestens noch einmal das 1 1/2 –fache des BTU Haushaltes. Diese Beispiele ließen sich für die Hochschule noch beliebig fortsetzen. Was ist notwendig, was können wir noch mehr tun? Für ein Land und seine positiven Standortfaktoren ist einer der wichtigsten Punkte die Ausbildung des Nachwuchses, der Arbeitskräfte. Es müssen attraktive, zukunftsorientierte Studiengänge und ein breitgefächertes Weiterbildungsangebot in Absprache mit der Wirtschaft angeboten werden. Um die Zukunft bestehen zu können, ist ein wichtiges Ziel die Internationalisierung der Hochschulen. Internationale Studiengänge mit Englisch als Unterrichtssprache müssen verstärkt eingerichtet und die Zahl der ausländischen Studierenden muss weiter


Wissenschaftliche technische Entwicklung und Leitbild für die Infrastrukturpolitik

gesteigert werden, was im übrigen neben einem faszinierenden, multikulturellen Klima unter anderem auch zu einer Qualitätssteigerung in den Studiengängen führt. Unsere Gesellschaft geht in raschen Schritten von der klassischen Industriegesellschaft in eine Kommunikationsund Wissensgesellschaft über. Für das Wissen wird es im Internet-Zeitalter keine Ländergrenzen mehr geben und ausländische Partner müssen verstärkt in die tägliche Arbeit integriert werden. Dem eigenen Nachwuchs, den Landes-

kindern muss das notwendige Wissen zur Bewältigung der neuen Herausforderungen der Zukunft vermittelt werden und das Land muss den übergroßen Schritt von einer nicht mehr leistungsfähig gewesenen Industriekultur in das neue Zeitalter von Internet und HighTech schaffen. Dies kann nur in enger Kooperation aller Partner, der Wissenschaft, der Wirtschaft und der Politik geschehen. Die wissenschaftliche technische Entwicklung des Landes muss zum Leitbild auch für die Infrastrukturpolitik werden.

Prof. Dr. Ernst Siegmund ist Präsident der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus.

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Demographischer Wandel und Infrastrukturaufbau in BerlinBrandenburg bis 2010/15: Herausforderungen für eine strategische Allianz der Länder Berlin und Brandenburg Zusammenfassung der zentralen empirischen Befunde und der wichtigsten Schlussfolgerungen der im Auftrag des Unternehmerverbandes Brandenburg erstellten Studie Vorgelegt im März 2001. von Prof. Dr. Helmut Seitz Die Studie thematisiert drei zentrale Fragestellungen, die für die künftige Entwicklung in Berlin-Brandenburg von besonderer Bedeutung sind: Die Konsequenzen aus dem starken Geburteneinbruch in der Nachwendezeit in Ostdeutschland, die aus den Migrationsströmen in der Region Berlin-Brandenburg resultierenden demographischen und ökonomischen Effekte sowie den Stand der Anpassungsprozesse beim Aufbau der Infrastruktur.

Ökonomische Entwicklung/Arbeitsmarkt • Das Land Brandenburg ist durch extreme sozio-ökonomische Disparitäten zwischen den berlinfernen und berlinnahen Räumen gekennzeichnet. Diese Disparitäten haben in den letzten Jahren

in der Tendenz eher zugenommen. Während in den peripheren Räumen von 1995 bis 1999 nahezu 14% der Arbeitsplätze abgebaut wurden, blieb die Beschäftigung im Berliner Umland weitgehend stabil und die wachstumsstärksten Regionen im Berliner Umland konnten sogar Beschäftigungsgewinne von über 20% verzeichnen. • Insgesamt gingen in Berlin im Zeitraum von 1995 bis 1999 ca. 10,4% und in Brandenburg ca. 9,3% der Arbeitsplätze verloren. Während in Brandenburg der Arbeitsplatzabbau nahezu ausschließlich auf die Bauwirtschaft und den Bereich der Gebietskörperschaften begrenzt war, haben in Berlin alle industriellen Bereiche Jobs abgebaut. Die aus der Wiedervereinigung und dem Zusammenbruch der

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Prof. Dr. Helmut Seitz

Ostwirtschaft in Berlin resultierenden sektoralen Änderungen mit erheblichem Beschäftigungsabbau sind aber inzwischen weitgehend abgeschlossen. • Die sektoralen Entwicklungstendenzen in Berlin und im Berliner Umland zeigen, dass sich innerhalb der Region bereits deutliche Tendenzen zu einer ressourcenorientierten interregionalen Arbeitsteilung abzeichnen. Während sich im Umland insbesondere flächen- und logistikintensive Industrie- und Handelsbetriebe ansiedeln, entwickeln sich in Berlin die höherwertigen Dienstleistungen,aber auch zukunftsorientierte Unternehmen im Technologie- und hightechBereich des Verarbeitenden Gewerbes. • Bereits jetzt pendeln mehr als 120.000 Brandenburger zur Arbeit nach Berlin und mehr als 53.000 Berliner in das benachbarte Brandenburg. Vergleiche mit Stadtregionen in Westdeutschland lassen erwarten, dass diese Pendlerverflechtungen mit zunehmender Integration des Wirtschaftsraumes in der Zukunft noch erheblich an Intensität gewinnen werden.

Bevölkerung/Migration • Während die anderen neuen Länder in den nächsten 10 Jahren mit einem Bevölkerungsverlust von ca. 7% rechnen müssen, wird die Bevölkerungszahl in Berlin-Brandenburg in diesem Zeitraum

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weitgehend auf dem derzeitigen Niveau stabil bleiben. • Allerdings wird die weitgehend stabile Gesamtbevölkerungsentwicklung in der Region von erheblichen regionalen Verschiebungen der Bevölkerungsverteilung und der Altersstruktur, insbes. im Land Brandenburg, begleitet. So werden die berlinfernen Regionen im Land Brandenburg bis zum Jahr 2015 weitere ca. 11% ihrer Bevölkerung verlieren, während die berlinnahen Regionen durch Zuwanderungen aus Berlin ein Bevölkerungswachstum von über 20% erreichen werden. • Die intensiven Migrationsbewegungen zwischen Berlin und Brandenburg führen zu einer zunehmenden sozio-ökonomischen Integration der Region. Die auch in Zukunft zu erwartenden Wanderungsbewegungen von Berlin in das Brandenburger Umland werden dazu führen, dass in den nächsten 10 bis 15 Jahren der Anteil ehemaliger Berliner an der Bevölkerung im Umland auf 40% bis 50% ansteigen wird. Dies wird zu einer starken Zunahme von Berufs-, Ausbildungs- und Schulpendlern führen, was es erforderlich macht, gerade in den Berührungsräumen der beiden Länder die Kapazitäten der Verkehrssysteme anzupassen. • In Brandenburg wird besonders der starke Einbruch der Geburten in den


Demografischer Wandel und Infrastruktur in Berlin-Brandenburg bis 2010/15

Nachwendejahren und in etwas schwächerer Form auch in Berlin in den nächsten Jahren zu einem dramatischen Rückgang der Bevölkerungsanteile und der absoluten Anzahl junger Menschen führen. Dieser Rückgang wird sich wellenförmig durch das gesamte Ausbildungssystem, angefangen von den allgemeinbildenden Schulen über die berufliche Ausbildung bis hin in die Hochschulen ziehen.

Schulbereich • In Berlin-Brandenburg wird der Rückgang der Schulabsolventenzahlen, und damit auch der Ausbildungs- und Studienplatzbewerberzahlen, deutlich geringer ausfallen als in den anderen neuen Ländern. So werden in Brandenburg die Absolventenzahlen allgemeinbildender Schulen um ca. 40% und in Berlin um ca. 18% zurückgehen, während in den anderen Ländern ein Rückgang von ca. 50% zu erwarten ist. Allerdings wird es in Brandenburg zu einer erheblich differenzierten Entwicklung zwischen den berlinfernen Regionen und dem Umland kommen. Während im berlinnahen Raum die Schülerzahlen nur um ca. 20% sinken werden, ist in den peripheren Regionen von einem Rückgang von mehr als 60% auszugehen. • Der Rückgang der Schülerzahlen und der Umstand, dass sich diese auch bei

einer Normalisierung der Geburtenraten nicht wieder auf das hohe Niveau der Vorwendezeit bewegen werden, stellt insbesondere das Land Brandenburg vor große Herausforderungen im Bereich der Schulinfrastruktur. • Die intensiven Migrationsbewegungen zwischen Berlin und dem stadtnahen Umland machen eine zukünftig noch engere Planung und Abstimmung im Schulbereich, insbesondere in den Berührungsräumen der beiden Länder, erforderlich, die auch zu Kosteneinsparungen genutzt werden kann.

Ausbildungsmarkt • Der erhebliche Nachwendegeburtenknick in Brandenburg sowie im Ostteil Berlins wird in ca. 5 Jahren als Rückgang von Hauptschulabsolventen und damit auch Berufsausbildungsbewerbern erstmals auf dem Arbeitsmarkt spürbar sein und sich bis zum Jahr 2010 beschleunigt fortsetzen. • Sowohl in Berlin als auch in Brandenburg ist der Ausbildungsmarkt in erheblichem Umfang durch arbeitsmarktpolitische Maßnahmen beeinflusst, wobei davon auszugehen ist, dass nahezu jeder zweite neu besetzte Ausbildungsplatz direkt oder indirekt staatlich gefördert ist.

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• Die demographisch bedingte deutliche Entspannung auf dem Ausbildungsmarkt wird angebots- und nachfrageseitig zu Anpassungen führen, die in erheblichem Umfang den absehbaren Rückgang bei der Ausbildungsplatzbewerberzahl kompensieren werden. Zu erwarten ist eine Rückführung der aktiven Arbeitsmarktpolitik am Ausbildungsmarkt sowie ein verändertes Ausbildungsverhalten der Schulabgänger. Auch der Abwanderungsdruck junger Menschen aus den neuen Ländern wird nachlassen. • Allerdings ist davon auszugehen, dass die zu erwartenden Anpassungen der Marktteilnehmer auf dem Ausbildungsmarkt nicht ausreichen werden, den demographisch bedingten Nachfrageeinbruch vollständig auszugleichen. Daher besteht durchaus die Gefahr – insbesondere bei anziehender Konjunktur –, dass es in der Region nach den Jahren 2008/2010 in einigen Bereichen einen Mangel an Nachwuchskräften mit beruflicher Ausbildung geben wird, wovon besonders weniger attraktive Berufsfelder und mittelständische Betriebe in der Region betroffen sein werden.

Hochschulbereich/Jungakademikerarbeitsmarkt • Mit noch größerer zeitlicher Verzögerung als auf dem Ausbildungsmarkt werden sich auch spürbare Rückgänge bei

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den Einschreibungen an den Fachhochschulen und Universitäten und mit weiterer Verzögerung bei den Fachhochschul- und Universitätsabsolventen einstellen. So ist in Ostdeutschland nach dem Jahr 2007 mit einem erheblichen Rückgang der Anzahl der Studienanfänger zu rechnen, der sich in den Folgejahren bis auf 50% des gegenwärtigen Niveaus belaufen wird. Auf dem Jungakademikerarbeitsmarkt werden diese Effekte aber erst gegen Ende des hier betrachteten Zeitraums, also ab den Jahren 2013 - 2015 spürbar sein. • In Brandenburg wird der Rückgang der Studentenzahl aber deutlich geringer sein als in den anderen Ostflächenländern. In Berlin, dessen Studienplätze zu ca. 50% von Studenten aus anderen Bundesländern und dem Ausland besetzt sind, wird die Hochschulabsolventenzahl weniger von der demographischen Entwicklung in der Stadt, sondern mehr von der Studienplatzkapazität und damit der Finanzierung der Berliner Hochschulen determiniert. Insgesamt gesehen ist somit zu erwarten, dass der starke Geburtenknick in den neuen Ländern auf dem Ausbildungsmarkt mit großer Wahrscheinlichkeit nur in wenigen Bereichen zu einer spürbaren Verknappung des Arbeitsangebots führen wird. Effekte auf den Jungakademi-


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kerarbeitsmarkt werden erst mit noch größerer zeitlicher Verschiebung wirksam, wobei in Berlin durchaus die Befürchtung besteht, dass ein mangelhaftes Angebot von Hochschulabsolventen mehr durch die Finanzlage der Hochschulen, als durch demographische Entwicklungen bestimmt wird.

kommen zum Ergebnis, dass Brandenburg bis zum Ende des Jahres 1999 ein Infrastrukturanlagevermögen hatte, das bei lediglich ca. 60% des westdeutschen Vergleichswertes lag. In Berlin ist der Angleichungsprozess bzgl. der in der Finanzierungsverantwortung des Landes liegenden Infrastruktur sogar nahezu gänzlich zum Stillstand gekommen.

Infrastruktur • Im Hinblick auf die Verbesserung der Anbindung der Region an das nationale und internationale Verkehrsnetz (Autobahnen, Schienenfernverkehr) wurden in den vergangenen 10 Jahren große Verbesserungen erreicht. • Immer noch große Defizite sowohl in Berlin als auch Brandenburg gibt es noch in den Infrastrukturbereichen die in der unmittelbaren Verantwortung der beiden Länder liegen. Schätzungen nach der Wende gingen davon aus, dass das Infrastrukturanlagevermögen der Ostflächenländer nur bei ca. 40% des Westdurchschnitts lag, während für Gesamtberlin mit einer Ausstattung von ca. 60% des westdeutschen Vergleichswertes (Durchschnitt von Bremen und Hamburg) gerechnet wurde. •Wie in allen anderen neuen Ländern ist auch in Brandenburg der Infrastrukturaufbauprozess bereits erheblich abgeschwächt. Untersuchungen des DIW

• Es gibt aber nicht nur im Hinblick auf das Niveau der Infrastrukturausstattung, sondern auch bei der Struktur des Infrastrukturanlagevermögens Defizite, da gerade in Bereichen, die für die Fortentwicklung der Wirtschaft von zentraler Bedeutung sind, wie z.B. im Verkehrsbereich, nur unterdurchschnittliche Anpassungserfolge zu verzeichnen sind. • Das erheblich gestiegene und auch in Zukunft weiterhin ansteigende Fluggastaufkommen ist mit den vorhandenen Kapazitäten nicht mehr zu bewältigen, so dass dem Ausbau des Flughafens BerlinSchönefeld zum Flughafen Berlin-Brandenburg International eine hohe Priorität einzuräumen ist und der Fertigstellungszeitpunkt 2007 eingehalten werden muss.

Strategische Ausrichtung der Politik in Berlin-Brandenburg • Die größten Herausforderungen, die aus dem Nachwendegeburtenknick und

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auch aus der regionalen Umverteilung von Bevölkerung und Jobs in der Region Berlin-Brandenburg resultieren, sind die notwendigen Anpassungen infrastruktureller und personeller Art in den betroffenen öffentlichen Aufgabenbereichen, wie allgemeinbildende Schulen, berufliche Schulen und Hochschulen. • Die erheblichen regionalen Disparitäten im Land Brandenburg und der weiterhin von Berlin ausgehende Siedlungsdruck auf das Umland werden insbesondere in den Berührungsräumen der beiden Länder längerfristige Wirkungen hinterlassen, die beide Länder vor schwierige Aufgaben stellen. Die Langfristigkeit der Wirkungen und die Konzentration der Effekte auf die Berührungsräume erfordern eine intensivere länderübergreifende Koordination und Planung im Bereich der allgemeinbildenden und beruflichen Schulen. Dies ist auch vor dem Hintergrund knapper öffentlicher Kassen eine Notwendigkeit, da sich durch gemeinsame Aufgabenwahrnehmung Kosten sparen lassen. • Die regionalen Disparitäten in der demographischen und ökonomischen Entwicklung im Land Brandenburg stellen die Gesamtregion vor große Herausforderungen. Eine langfristige und insbesondere nachhaltige Verbesserung der Standortgunst und damit der Entwick-

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lungschancen der peripheren Regionen ist nur erreichbar, wenn sie durch eine massive Offensive im Bereich der Verkehrsinfrastruktur aus den Schattenräumen des Verkehrs herausgeführt und besser an das überregionale und nationale Verkehrsnetz angebunden werden. • Berlin und sein Umland stehen weniger in einer Konkurrenzsituation zueinander sondern vielmehr in einer Komplementaritätsbeziehung, die es erforderlich macht, die Politik in beiden Ländern noch intensiver als bisher miteinander abzustimmen und zu verzahnen. • Völlig losgelöst von der geplanten Fusion der beiden Länder müssen sich Berlin und Brandenburg als einen gemeinsamen Wirtschaftsraum begreifen, der in seiner Gesamtheit mit anderen deutschen und west- aber auch osteuropäischen Regionen konkurriert. Die ökonomische Integration der beiden Teilräume setzt Synergieeffekte frei, die dazu führen, dass die Region insgesamt stärker und wettbewerbsfähiger als die Summe der Stärke und Wettbewerbsfähigkeit der beiden isoliert betrachteten Teilregionen ist. Um diese Effekte zum Vorteil der Menschen in der Region zu entwickeln und zu stärken, müssen die beiden Länder eine strategische Allianz eingehen und die Gesamtregion im Standortwettbewerb bestmöglichst positionieren.


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• Die zunehmende Bedeutung von Wissen und Humankapital als Standortund Wettbewerbsfaktor und die Entwicklungsdefizite im Bereich der Infrastruktur müssen von der Politik zum Anlass genommen werden, Qualifikation und Infrastruktur als die zentralen strategischen Einflussvariablen der Zukunftsentwicklung der Region zu betrachten. Dies macht es erforderlich, im Bereich der Schulen und Hochschulen ein ausreichendes Angebot zu sichern und zu finanzieren und die öffentlichen Haushalte stärker in Richtung investiver Mittelverwendung umzustrukturieren. • Im Hinblick auf die noch immer großen Defizite beim Infrastrukturaufbau muss die Region weitere Hilfe des

Bundes (in Sachen Soli II) und der finanzstarken Westländer (in Sachen Länderfinanzausgleich) einfordern, um den Infrastrukturaufbauprozess auch in Zukunft fortsetzen und die Infrastrukturdefizite abbauen zu können. Weder Berlin noch Brandenburg oder ein anderes der neuen Länder kann die hierzu notwendigen Mittel aus eigener Kraft aufbringen

Die Studie kann gegen Kostenerstattung (25,- DM) bei Prof. Dr. Helmut Seitz angefordert werden unter: Tel.: 0335-5534 611 Fax: 0335-5534 610

Prof. Dr. Helmut Seitz ist Inhaber des Lehrstuhls für Volkswirtschaftslehre, insbesondere Wirtschaftstheorie (Makroökonomie) an der Europauniversität Viadrina Frankfurt/Oder

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Wohnungswirtschaftlicher Strukturwandel in Ostdeutschland von Benjamin Ehlers Unter der Leitung des ehemaligen Leipziger Oberbürgermeisters Hinrich Lehmann-Grube hat eine vom Bundesbauminister eingesetzte Kommission einen Bericht erarbeitet, der zu den wohnungswirtschaftlichen Strukturproblemen in Ostdeutschland analystisch Stellung nimmt und Vorschläge zur Lösung derselben unterbreitet. Die Analyse ist interessant, da sie von einigen Vorurteilen Abschied nehmen muß. Der Leerstand von gegenwärtig 1 Million Wohnungen in Ostdeutschland wurde im wesentlichen nicht durch den Wegzug von Menschen von Ost- nach Westdeutschland verursacht. Vielmehr ist eine Ursache der Wegzug aus den Kernstädten in die Umlandgemeinden. Die großen brandenburgischen Städte kennen den Zustand. Hier wird ein Erbe der DDR sichtbar, da innerhalb von zehn Jahren ein Aufholprozeß der Ostdeutschen stattgefunden hat, für den sich die Westdeutschen vierzig Jahre Zeit lassen mußten. So ist zu erklären, der z. B. die Altstadt von Brandenburg a. d. Havel immer noch massiv mit Leerstand zu kämpfen

hat, während in den Gemeinden um Brandenburg herum die Siedlungen mit Einfamilienhäusern gewachsen sind. Ein weitere Feststellung ist, daß ein Drittel des Wohnungsleerstandes in der Altbausubstanz, die in der Zeit bis 1918 gebaut wurden, zu finden ist. Diese Häuser wiesen schon zu DDR-Zeiten einen mangelhaften Zustand auf. Weitere zehn Jahre sind nunmehr vergangen, ohne daß an ihnen werterhaltende Maßnahmen vorgenommen wurden. Insofern ist es zwangsläufig so, daß der Zustand sich derart verschlechtert hat, daß ein Großteil dieser Wohnungen nicht am Wohnungsmarkt angeboten werden kann. Im Gegensatz dazu steht die Feststellung, daß die zwischen 1949 und 1990 gebauten Wohnungen einen Leerstand von 8 %, der in diesem Zusammenhang als moderat einzustufen ist, aufweisen. Exemplarisch für den wohnungswirtschaftlichen Strukturwandel in Ostdeutschland ist die „Platte“. Der Leerstand in industriell gefertigten Wohnungen kann regional bis zu 30 % liegen,

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Benjamin Ehlers

weist aber im Gegensatz zu den Altbausubstanzen, die vor 1918 errichtet wurden, erhebliche regionale Unterschiede auf. Während der Abriß von industriell gefertigten Wohnungen in Schwedt bundesweit die Nachrichtensendungen füllte, verfügt das im Nachbarkreis gelegte Eberswalde über ein Neubaugebiet, das von den Bewohnern angenommen wird. Das Vorurteil, daß die „Platte“ flächendeckend Leerstandsprobleme mit sich bringt, ist somit – im Gegensatz zur bis 1918 geschaffenen Altbausubstanz – nicht mehr aufrechtzuerhalten. Das Ergebnis der Analyse stellt sich für die Kommission wie folgt dar: „Viele Städte drohen (…) auseinander zu brechen. Sie zerfallen in Fragmente aus leeren Altbaugebieten, konsolidierten, in neuer Pracht wieder erstandenen Kernbereichen, halbleeren durch Abriß schrumpfenden Plattenbausiedlungen – vor allem dort, wo die DDR-Industrien zusammengebrochen sind – und in große, neue Einfamilienhaussiedlungen. Ein Ende ist nicht abzusehen, denn er aus DDR-Zeit überkommene Wohnungsbestand ist zu einseitig zusammengesetzt.“ Für die Zukunft heißt dies, daß die Politik auf drei Vorgänge reagieren muß. Die Altbausubstanz wird sich bei der gegenwärtigen Lage eher verschlechern. Dies insbesondere deshalb, da der Wohnungs-

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leerstand innerhalb der nächsten 15 Jahre auf schätzungsweise 2 Millionen Wohnungen ansteigen wird. Bauwerke, die schon über zehn Jahre leerstehen, werden dem Konkurrenzdruck von Neubauten, die weniger Bau- und damit Finanzierungsrisiken aufweisen, kaum standhalten. Neben dem Kostennachteil der über Jahre leerstehenden Altbausubstanz, der sich nur auf die Baukosten bezieht, kommt noch verschärfend hinzu, daß der Bau des Eigenheims auf der „grünen Wiese“ durch die öffentliche Hand bevorzugt gefördert wird. Die Kommission schlägt deshalb vor, die staatliche Förderung für den Neubau zu vermindern und für die Investition in vorhandene Bausubstanz zu erhöhen. Somit könnten durchaus noch Häuser mit Altbausubstanz zur Wohnungsnutzung herangezogen werden. Dies wird allein aber nicht das Leerstandsproblem lösen. Die Kommission spricht für alle Wohnungstypen – also nicht vorrangig für industriell gefertigte Wohnungen – den Vorschlag aus, daß Abrißprogramme aufgestellt werden müssen. Diese Programme müssen staatlich gefördert werden, da die Wohnungsbaugesellschaften sie finanziell nicht tragen werden können. Der Abriß ist durchaus im öffentlichen Interesse, da Wohngebiete mit gehäuft leerstehenden Wohnungen weitere soziale Probleme an sich


Wohnungswirtschaftlicher Strukturwandel in Ostdeutschland

ziehen. Zudem stellt sich auch die Frage nach der baulichen Sicherheit der zerfallenden Häuser. Die Kommission redet nicht einem planlosen Abriß das Wort. Vielmehr regt die Kommission dazu an, die Abrißprogramme mit städtebaulichen Zielstellungen zu verbinden, um der Stadtentwicklung neue Impulse zu geben. Letzteres ist insbesondere für brandenburgisch Städte wie Schwedt und Eisenhüttenstadt von Belang, da sie durch die industriell gefertigten Wohnungsbau stark geprägt sind. Abschließend bleibt festzuhalten, daß die Kommission unter ihrem Vorsitzenden Lehmann-Grube eine wichtige Arbeit geleistet hat. Insbesondere die Analyse ist lesenswert, da sie den politischen Handlungsbedarf für die nächsten zehn Jahre festlegt. Die Vorschläge bedürfen

einer intensiven Prüfung. Sie konnten auch nicht alle hier dargestellt werden. Teilweise greifen sie in detaillierte gesetzliche Regelungen ein. Diskutiert werden muß die politische Frage, wie dem Wohnungsleerstand begegnet werden kann. In diesem Zusammenhang muß sich die Politik eine Meinung zu der Abrißproblematik und der Änderung der Förderprogramme zur Erlangung von Wohnungseigentum bilden, da beide Fragenkomplexe die Möglichkeit zur politischen Steuerung geben. Den Bericht der Kommission „Wohnungswirtschaftlicher Strukturwandel in den neuen Bundesländern“ gibt es in einer Kurz- und einer Langfassung. Sie können jeweils über das Bundesministerium für Wohnen und Verkehr abgerufen werden.

Benjamin Ehlers ist Rechtsanwalt und Mitglied im Beirat des Forum Ostdeutschland.

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Zeitgeschichte

Gabriele Schnell Ende und Anfang Chronik der Potsdamer Sozialdemokratie 1945/46 – 1989/90 200 Seiten, Paperback, 19,80 DM ISBN 3-933909-05-8 Gabriele Schnell schreibt die spannungsvolle Geschichte der Potsdamer Sozialdemokratie in den Jahren des Umbruchs: Der Kampf gegen die Zwangsvereinigung 1945/46 und der mutige Neubeginn 1989/90. Eine umfangreiche Material- und Dokumentensammlung ergänzt ihre Darstellung.

Benjamin Ehlers Wer, wenn nicht wir! 10 Jahre Junge Sozialdemokraten in der DDR mit einem Vorwort von Manfred Stolpe 208 Seiten, Paperback, 19,80 DM ISBN 3-933909-07-4

BENJAMIN EHLERS

Wer, wenn nicht wir!

10 JAHRE JUNGE SOZIALDEMOKRATEN IN DER DDR

»Die ostdeutsche SPD kann es sich langfristig nicht erlauben, junge Menschen ausschließlich für Handlangerdienste zu verwenden. Sie müssen Freiräume für ihre eigenen politischen Themen erhalten. Nicht zuletzt muß ihnen auch institutionell eine Chance eingeräumt werden. ... Insofern können es sich junge Menschen erlauben, etliche Jahre auf ihre Chance in der Politik zu warten; ob sich die SPD dieses Abwarten leisten kann, ist mehr als fraglich.« mit einem Vorwort von Manfred Stolpe

kai weber medienproduktionen schlaatzstrasse 6 · 14473 potsdam f o n 0 3 31 - 2 8 0 0 5 0 9 · f a x 2 8 0 0 5 1 7 e-mail: info@weber-medien.de



SPD-Landesverband Brandenburg, Friedrich-Ebert-Straße 61, 14469 Potsdam PVSt, DPAG, Entgelt bezahlt, A47550

Bislang erschienen: 1.

Zukunft der brandenburgischen Hochschulpolitik*

2.

Sozialer Rechtsstaat*

3.

Informationsgesellschaft*

4.

Verwaltungsreform*

5.

Arbeit und Wirtschaft*

6.

Rechtsextremismus*

7.

Brandenburg – die neue Mitte Europas

8.

Was ist soziale Gerechtigkeit?

9.

Bildungs- und Wissensoffensive

10.

Zukunftsregion Brandenburg

11.

Wirtschaft und Umwelt

12.

Frauenbilder

13.

Kräfteverhältnisse – brandenburgisches Parteiensystem * leider vergriffen


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