perspektive21 - Heft 16

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Brandenburgische Hefte für Wissenschaft & Politik

perspektive 21 Heft 16 • Juni 2002

Bilanz 4 Jahre sozialdemokratischbündnisgrünes Reformprojekt

Mit Beiträgen von Norbert Seitz und Tobias Dürr


hochschulschriften

Harald L. Sempf

Harald L. Sempf

Regionale Wirtschaftspolitik vor dem Hintergrund des regionalen Standortwettbewerbs

Eine Untersuchung am Beispiel des Landes Brandenburg

weber • brandenburgische hochschulschriften

Regionale Wirtschaftspolitik vor dem Hintergrund des regionalen Standortwettbewerbs Eine Untersuchung am Beispiel des Landes Brandenburg 352 Seiten, Paperback, 29,80 € ISBN 3-936130-03-5

Die in der Bundesrepublik praktizierte Regionale Wirtschaftspolitik gerät hinsichtlich ihrer Wirksamkeit und Effizienz insbesondere in den neuen Bundesländern zunehmend in die wissenschaftliche Kritik. In dem Buch werden der Nachweis bestehender regionaler Disparitäten auf unterschiedlichen Ebenen innerhalb der EU geführt, regionalökonomisch relevante Begrifflichkeiten diskutiert und die theoretischen Grundlagen der Regionalen Wirtschaftspolitik verdichtet dargestellt. Am Beispiel des Landes Brandenburg untersucht der Autor, ob eine Neuorientierung der bisherigen Regionalen Wirtschaftspolitik vor dem Hintergrund des zunehmenden Wettbewerbs der Regionen geboten scheint. Raumordnung, Regionalentwicklung und Regionale Wirtschaftspolitik werden dabei ins Spannungsfeld zueinander gesetzt. Die brandenburgische Strategie, Raumordnung und Regionale Wirtschaftspolitik zum Leitbild der Dezentralen Konzentration zu vernetzen, wird dabei einer kritischen Untersuchung unterzogen. Anhand von ausgewählten Indikatoren werden die wirtschaftlichen Ergebnisse in Brandenburg denen in den anderen Neuen Bundesländern gegenübergestellt, die wirtschaftliche Entwicklung Brandenburgs nach regionalen Gesichtspunkten analysiert und das Erreichen der Ziele nach Leitbildkriterien überprüft und bewertet. Die Untersuchung formuliert Anforderungen an eine langfristig erfolgversprechende Regionale Wirtschaftspolitik in Brandenburg, die sowohl "leitbildgerechte, bzw. -ergänzende" als auch "nicht leitbildkonforme" Aspekte enthalten, die jedoch auch eine Neuorientierung nicht ausschließen, die mit einer vollständigen Abkehr vom Leitbild verbunden wäre. Damit richtet sich das Buch gleichermaßen an Praktiker in Politik und Verwaltung sowie Wissenschaftler aus den Bereichen Regionale Wirtschaftspolitik, Regionalwissenschaft und Landesplanung.

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Inhalt

Bilanz 4 Jahre sozialdemokratischbündnisgrünes Reformprojekt Vorwort

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THEMA Norbert Seitz

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Ist Rot-Grün ein unvollendetes Projekt? Versuch einer Zwischenbilanz

Tobias Dürr

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Abschied von der rotgrünen Mentalität Klaus Faber Rot-grüne Zwischenbilanz für Bildung und Forschung

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Eugen Meckel Die Grünen und der deutsche Osten

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Lars Krumrey Die rot-grüne Regierungsbilanz in Stichworten

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MAGAZIN Heiner Bielefeld Muslimische Minderheiten im säkularen Rechtsstaat

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Impressum

Herausgeber SPD-Landesverband Brandenburg Redaktion Klaus Ness (ViSdP) Benjamin Ehlers Klaus Faber Klara Geywitz Madeleine Jakob Lars Krumrey Christian Maaß Manja Orlowski Silke Pamme Harald L. Sempf Anschrift Friedrich-Ebert-Straße 61 14469 Potsdam Telefon 0331 - 200 93 – 0 Telefax 0331 - 270 85 35 Mail Perspektive-21@spd.de Internet http://www.perspektive21.de Bezug Bestellen Sie Ihr kostenloses Abonnement direkt beim Herausgeber. Senden Sie uns eine Mail.

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Vorwort

Liebe Leserinnen und Leser der „Perspektive 21“, am 22. September 2002 werden die Deutschen eine Bilanz der Politik der Rotgrünen Regierung unter Gerhard Schröder ziehen. Mit dieser Ausgabe der Perspektive 21 wollen wir ein wenig Entscheidungshilfe geben. Erinnern wir uns: Die Bildung dieser Regierung nach den Wahlen am 27. September 1998 war in gewisser Hinsicht ein „Zufallsprodukt“. Sie kam zustande, weil die Bevölkerung mehrheitlich Helmut Kohl abwählen wollte und die SPD insbesondere im Osten Deutschlands so viele Überhangmandate produziert hatte, dass Gerhard Schröder – trotz einiger unsicherer Kantonisten in der grünen Fraktion – damit rechnen konnte, eine verlässliche Mehrheit über vier Jahre zu haben. Die Regierungsbildung 1998 löste große Erwartungen auf der einen Seite und wildeste Befürchtungen vor einem „Rot-grünen Chaos“ auf der anderen Seite aus. Das von konservativer Seite an die Wand gemalte Chaos blieb aus. Aber was ist aus den Erwartungen geworden? Wir freuen uns, dass mit Dr. Norbert Seitz (leitender Redakteur der „Neuen Gesellschaft“) und Dr. Tobias Dürr (Chefredakteur der „Berliner Republik“) zwei bekannte und (vor allem!) interessante Publizisten ihre Bilanzen und Ausblicke des Rotgrünen Regierungsprojektes in

unserer Zeitschrift veröffentlichen. Zwei Zitate sollen Sie hier auf diese Beiträge neugierig machen. Seitz: „Das, was grüne Ideologen und linke Sozialdemokraten etwas verquast visionär unter ‘rot-grüner Reformpolitik’ stets verstanden, war indes nie mit dem identisch, was Gerhard Schröder als Modernisierungspolitik für notwendig gehalten hat.“ Dürr: „Natürlich wählen die habituell Rotgrünen weiterhin die Grünen oder die angejährten Repräsentanten der angegrünten Achtziger-Jahre-SPD. Nur tun sie es freudlos, nörgelnd und nur noch aus Gewohnheit. Man ist gemeinsam ‘angekommen’ man ist gemeinsam gealtert. Wer endlich selbst im Zentrum sitzt, hat keine Ziele mehr.“ Insbesondere der streitbare Beitrag von Dürr, der messerscharf und sprachlich elegant der Sozialdemokratie – um ihrer Zukunft willen – rät, das Lebensgefühl der 80er Jahre endgültig zu verabschieden, wird sicherlich noch viele Diskussionen auslösen und befördern. Auf die Reaktionen bin ich schon jetzt sehr gespannt. Die Regierung hat vier Jahre gehalten und ihre Reformbilanz, wie der Beitrag von Lars Krumrey in diesem Heft zeigt, ist umfangreich; ein großer Teil des von Kohl hinterlassenen Reformstaus konnte auf-

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Vorwort

gelöst werden. Perspektive 21 als Zeitschrift für Wissenschaft und Politik interessiert sich natürlich besonders für die Bilanz der Regierung in diesem Bereich. Unser ständiger Mitarbeiter Klaus Faber legt dazu eine umfangreiche Analyse vor. Eugen Meckel, Leiter des Brandenburger Büros der Friedrich-Ebert-Stiftung, beschließt den thematischen Schwerpunkt dieser Ausgabe mit einer Antwort auf die Frage, warum der Osten mit den Grünen nicht so richtig warm wird. Im Magazin-Teil veröffentlichen wir zusätzlich einen Text von Dr. Heiner Bielefeld, der noch einmal den Schwerpunkt des vergangenen Heftes „Der Islam und der Westen" aufnimmt. Am 22. September 2002 wird die wichtigste Bundestagswahl der vergangenen zehn Jahre entschieden. Die Alternative heißt Schröder/Fischer oder Stoiber/ Westerwelle/Möllemann. Also: Fortsetzung der Reformpolik oder Rückkehr zu

den Rezepten von gestern und dem Personal aus der zweiten Reihe hinter Helmut Kohl. Unabhängig von allen auch sehr kritischen Gedanken zu der Reformbilanz der Regierung in diesem Heft, ist die Wahlempfehlung der Redaktion eindeutig: Gerhard Schröder. Ich wünsche eine spannende Lektüre. Ihr Klaus Ness

P. S. Endlich haben wir unser Internetangebot renoviert. Unter www.perspektive21.de können Sie ältere Hefte als pdfDatei herunterladen, per mail ein kostenloses Abo oder ältere Hefte bestellen und uns natürlich auch ihre Kritik zum aktuellen Heft mitteilen.

perspektive 21 im Internet Die Hefte 10-15 sind im Internet unter www.perspektive21.de als pdf-Datei zum Download verfügbar.

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Ist Rot-Grün ein unvollendetes Projekt? Versuch einer Zwischenbilanz von Norbert Seitz

I. Kein historisches Bündnis Gebrannte Koalitionsschmiede scheuen das visionäre Feuer. Denn noch jede sozialdemokratische Bündnisformation seit ´45 war vor eifriger historischer Überhöhung nicht gefeit. Zum Teil mit tragischen Konsequenzen, wie bei der „Zwangsvereinigung“ mit der KPD zur SED, die zum Gründungsschrecken einer neuen Diktatur geriet. Aber auch demokratisch vollzogene Verbindungen sind ohne überanstrengtes Aussöhnungspathos nicht ausgekommen. Sogar die wenig geliebte Große Koalition hatte man Ende der 60er Jahre zum symbolischen „Ende der Nachkriegszeit“ (Johannes Gross) stilisiert, weil sie von einem früheren Nazi (Kiesinger) und ehemaligen Kommunisten (Wehner) geschlossen worden war. Das sozialliberale Bündnis mit der fortschrittlich gewendeten FDP in den 70er Jahren wurde von Beratern Willy Brandts, assistiert von linksliberalen Denkern wie Karl-Hermann Flach und Werner Maiho-

fer, als historisches Bündnis zwischen dem demokratischen Teil der Arbeiterbewegung und einem aufgeklärten Bürgertum überzeichnet. Der erste SPD-Kanzler fand dafür nach seinem strahlenden Wahlsieg vom November 1972 den Begriff der „Neuen Mitte“, den die Berater Gerhard Schröders im Wahljahr 1998 ebenfalls verwendeten, um Wechselwähler begrifflich willkommen zu heißen. Diesem angeblich geschichtsmächtigen sozialliberalen Schulterschluss stellte der nüchterne Verfassungsrechtler Theodor Eschenburg den Totenschein aus, als er im Oktober 1982 nach den Verratslegenden auf Helmut Schmidts Kanzlersturz Koalitionen schlicht zu weitgehend emotionsfrei zu bildenden „Zweckbündnissen“ verdonnerte, deren Geschäftsgrundlage sich in der Politik täglich ändern könne. Eheliche Begriffe wie „Treue“ und „Versprechen“ taugten für Koalitionen nicht. Jene bis heute gültige Entromantisierung von Koalitionen überstand auch die

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Norbert Seitz

freilich nur noch zaghaft zu beobachtenden Versuche rot-grüner Bündnismacher, im September 1998 einen neuen historischen Modellversuch zu verkünden – auch wenn die Neigung verständlich erscheint, rare sozialdemokratische

Wahlsiege auf Bundesebene mit historischen Zäsuren gleich zu setzen, um hinterher dem Eindruck einer Episode zu entgehen. Gerhard Schröders unterkühlte Antrittsbotschaft bremste jeden visionären Schaum.

II. Große Hoffnungen Immerhin schaffte Rot-Grün mit nicht einmal 48 Prozent der Wählerstimmen (SPD: 40,9 %; Bündnis 90/Die Grünen: 6,9 % = 47,8 %) im September 1998 eine Bundestagsmehrheit, dank etlicher Überhangmandate, aber mit deutlichem Vorsprung vor den Parteien des bisherigen Kohl-Bündnisses (CDU: 35,1 %; FDP: 6,2 % = 41,3 %). Wer viele Jahre mehr deskriptiv als analytisch über eine „strukturellen Mehrheit“ der Konservativen in Deutschland lamentierte, wurde damit eines Besseren belehrt. Willy Brandts „Mehrheit diesseits der Union“, 1982 nach einer Hessen-Wahl erstmals angedeutet, war auch von Zweiflern in der SPD nicht zu umgehen, die lieber ein Große Koalition gebildet hätten. Vom „Sieg der 68er“ oder gar „Kulturbruch, von links“ (Die Zeit) war die Rede, während nüchtern urteilende konservative Kritiker hinter den rot-grünen Siegern keine epochalen Projektleiter,

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sondern nur Profiteure eines Anti-KohlPlebiszites vermuteten. Ob „Berliner Republik“, „Neue Mitte“ oder „Dritter Weg“ – die Spur eines Modellcharakters war für rot-grüne Euphoriker, die auf den Beginn einer neuen politischen Kultur gehofft hatten, nur schwer zu erkennen. Nach Kohls Neo-Biedermeier habe es an einer „klaren Begrifflichkeit“ gemangelt, da Schröder auf jedes säkulare Pathos verzichtet und die eigentliche Zäsur auf einen „Generationswechsel im Leben unserer Nation“ reduziert hat. Doch Berufungen auf die eigene Generation erinnern zumeist an dekorierte Kriegsteilnehmer oder kampferprobte Alt-68er. Kein Zweifel: Die rot-grüne Formation galt schon ´98 als verspätet oder überständig. Schröder hat mit seinem pragmatischen Wahlkampfversprechen „nicht alles besser, aber vieles anders“ zu machen, nicht nur die Bürgerängste vor


Ist Rot-Grün ein unvollendetes Projekt?

Rot-Grün, sondern auch überschießende Zukunftserwartungen im eigenen Lager vorzeitig zu dämpfen versucht. Außerdem schreckten ihn die Negativerfahrungen mit leicht enttäuschbaren Säkularbotschaften in Regierungserklärungen

– wie zum Beispiel Willy Brandts „mehr Demokratie zu wagen“ anno ´69 oder Helmut Kohls „geistig-moralischer Wende“ von 1982, die sich in beiden Fällen zu fordernden Kampfparolen eines minoritären Parteiflügels entwickelten.

III. Zyklischer Verlauf Der Verlauf der ersten vier Jahre einer rot-grünen Bundesregierung vollzog sich in quasi zyklischen Schwüngen: Ein schwacher Start im ersten Regierungsjahr 1999, in dessen Mittelpunkt der Durchsetzungsstreit um den „Doppelpass“, das auch von linken Medien bekämpfte 630-Mark-Gesetz, der erste Kriegseinsatz von Bundeswehrsoldaten im Kosovo, peinliche Selbstdarstellungsmängel („der Brioni-Kanzler“) und die innerparteilich weitreichende Affäre um Oskar Lafontaines Totalausstieg aus der Politik standen. Danach konsolidierte sich das Regierungsbündnis – vom Frühjahr 2000 an, gewiss auch von der schweren Spendenkrise der CDU begünstigt. Jene Phase war gekennzeichnet von Erfolgen des „responsiven“ Regierungsstils Gerhard Schröders, Hans Eichels mehrheitlich befürworteten Sparkurs und der Steuerreform, die die Koalition, machtpolitisch bedeutsam, im Bundesrat gegen erhebli-

che Widerstände durchsetzen konnte. Am jenem 14. Juli 2000 standen Kanzler und Koalition im Zenit ihres Ansehens. Nach einer Serie von Ministerrücktritten behauptete sich die Regierung seit dem Frühjahr 2001 von der couragiert betriebenen Agrarwende im Zuge der BSE-Krise bis zur düsteren Konjunkturaussicht im August 2001. Löste dabei das missverständliche Stichwort von der „ruhigen Hand“ auch erheblichen Verdruss und Erinnerungen an den „aussitzenden“ Schröder-Vorgänger Kohl aus, so konnte die Regierung über das Meistern der Krisenwochen nach dem epochalen 11. September 2001 neuerlich Pluspunkte sammeln. Das zweite Tief der rot-grünen Regierung dauerte von der Vertrauensabstimmung im Bundestag (November 2001) bis zu einer zunächst nicht enden wollenden Serie von Missgeschicken und Pannen im Frühjahr 2002 (NPD-V-Leute Affäre, „blauer Brief“ aus Brüssel?, Mani-

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pulationsverdacht bei der Arbeitslosenstatistik, die Jagoda-Affäre in Nürnberg), vom regionalen Kölner Spendenskandal und dem von den Bürgern nur kopfschüttelnd quittierten Bundesratsdrama um das Zuwanderungsgesetz nicht zu reden. In einer Zeit des täglich verabreichten Alarmismus zwischen Konjunkturdaten und Umfragewerten läuft die rot-grüne Regierung seither Gefahr, Opfer ihrer eigenen Medienlogik zu werden. Tops und Flops wechseln nahezu täglich, simultan und sukzessiv. Der zunächst propagierte „Mut zur Reform“ ist inzwischen zunehmend einer „Angst vor der eigenen Courage“ gewichen, wie die „Frankfurter Rundschau“ jüngst treffend kommentierte. Im November 2001 war nach der Vertrauensfrage des Kanzlers ein Grad an Verdruss auf Seiten der Bürger eingetreten, den Christoph Schwennicke von der

„Süddeutschen Zeitung“ mit den Worten beschrieb: „Eine Regierung, die ständig gegen den inneren Zerfall ankämpft, verschleißt zu viele Kräfte an der falschen Stelle. Ja, es ermüdet die Zuschauer, eine Regierung im ständigen Ringen mit sich selbst zu erleben“. Deshalb durfte es auch nicht verwundern, dass im Januar 2002 mit der Lösung der K-Frage in einer dahindümpelnden Union durch einen starken und erfolgreichen Politiker von außen ein Stimmungsumschwung im Lande sich abzeichnete. Stoibers Berufung wirkte auf viele frustrierte Unionsanhänger wie der lang ersehnte Befreiungsschlag aus dem Tal der Tränen und löste bei enttäuschten SPD-Wählern nicht den zunächst vermuteten Abschreckungsaffekt aus, den man sich im rot-grünen Lager als ersten Mobilisierungsschub erhofft hatte.

IV. Fazit „War da was?“, titelte „Der Spiegel“ seine gesellschaftspolitische Bilanz von Rot-Grün. Von Enttäuschung auf ganzer Linie kann indes keine Rede sein. Im sozialen (Lohnfortzahlung, novellierte Betriebsverfassung), im ökologischen (Atomausstieg, Klimaschutz) und im gesellschaftspolitischen Bereich (doppelte Staatsbürgerschaft) sind die Erwartungen eines aufgeklärt-sozialliberalen

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Publikums befriedigt worden. Mögen solche Reformen nicht immer von der Mehrheit der Bevölkerung getragen worden sein, so waren sie zumindest „klimabildend“. Nicht zu vergessen die positive außenpolitische Bilanz, wie sie von Reinhard Mohr im „Spiegel“ veranschaulicht wurde: „Deutsche Geschäftsleute im Ausland, durchaus kritisch gegenüber


Ist Rot-Grün ein unvollendetes Projekt?

Rot-Grün, konstatieren eine klare Stärkung der internationalen Rolle in den letzten Jahre“. Auch die amerikanische Journalistin Melinda Crane schrieb in den „Frankfurter Heften:“Die transatlantische Politik der rot-grünen Regierung widerspiegelt ein neues Rollenverständnis, das noch nicht beim deutschen Volk angekommen ist.“ Ist also Rot-grün ein unvollendetes Projekt, wie Gunter Hofmann („Die Zeit“) meint? Von der Aufbruchstimmung sei rasch nichts mehr zu spüren gewesen.„Es weht leider kein wirklich kritisches Lüftchen von Seiten der Linken“. Die wahre Aufgabe habe Rot-Grün noch gar nicht richtig angepackt. „Die Linke, das ist meine Kritik“, so Hofmann, „hat die ‘Globalisierung’ zum Gegner erklärt und überall nur Neoliberalismus entdeckt, dabei aber versäumt, den kleinen großen Unterschied zum Neoliberalismus klar zu machen.“ Dennoch geben auch viele Sozialdemokraten Rot-Grün – nicht nur aus nahe liegenden demoskopischen Gründen –, sondern auch als langfristige politische Alternative für verloren. Spätestens seit der ärgerlichen Vertrauensfrage im November 2001, zu der sich der Kanzler gezwungen sah, tickt in Berlin die Koalitionsuhr bis zum September wohl auch aus Gründen eines latenten Koalitionsverdrusses.

Thomas E. Schmidt schrieb dazu in der „Zeit“: „Reformpolitik“ hing immer etwas von abgestandenem Utopismus an, von lustloser Abarbeitung eines Unternehmens, das ans Mangel- und Enttäuschungssyndrom der Ära Helmut Schmidt erinnerte und den Appeal der Achtziger nie loswurde.“ Auch wenn man der gängigen Auffassung nicht zustimmen mag, Rot-Grün sei das Projekt maximalistisch gestimmter 68er und Post-68er gewesen, dem es mehr um Stilfragen gegangen sei-, richtig bleibt dennoch die Feststellung, dass der sogenannte „identitätsverbürgende“ und reformverheißende Forderungskatalog von Rot-Grün für die Bewältigung klassischer, an Bevölkerungsmehrheiten orientierten Themen wie Arbeit und Wohlstand, innere und äußere Sicherheit eigentümlich wenig zu bieten hat. Selbst dort, wo etwa Joschka Fischer vom Kosovokrieg bis nach dem 11. September ein klassisches Feld mit löblichen Initiativen zu besetzen suchte, bildete sich in der Partei kein neues gouvernementales Selbstbewusstsein heraus. Kräfte zehrende Zerreißproben waren die Folge. Alle internen Querelen um die Kriegseinsätze im Kosovo, in Mazedonien und Afghanistan haben die beträchtlichen Regierungserfolge des sozialdemokratischen Bündnispartners in den Hintergrund treten lassen. Atomausstieg,

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Agrarwende, Ökosteuer, Dosenpfand oder der Tierschutz als Staatsziel gehören ebenso zum gängigen Forderungskatalog der Ökopartei wie die doppelte Staatsbürgerschaft oder die gleichgeschlechtliche Ehe. Dazu der Popularitätsfaktor Joschka Fischer als weltweit angesehener Mittler im Nahen Osten und Brückenbauer nach Russland während des Kosovo-Krieges. Die ehemalige Alternativpartei scheint sich dieser Bilanz – gemessen an eigenen Maßstäben – nicht ganz bewusst zu sein, weil sie mental den Sprung zur Regierungspartei noch immer nicht geschafft zu haben scheint. Stattdessen lässt sie sich im Kampf um Platz 3 des hiesigen Parteienspektrums von einer Partei wie der FDP ins Bockshorn jagen, die mit lauter sattsam bekannten Gesichtern aus der Kohl-Ära eine politische Erneuerung in Deutschland anstrebt.

Wer sich von der Regierung Schröder/Fischer den Anhub einer politischen Kultur erhoffte, ist gewiss enttäuscht worden. Im Gegenteil: Die Grünen haben in der Zeit vor ihrer Regierungsbeteiligung die Mentalität der Deutschen mehr beeinflusst als während ihrer Ministerzeit. Doch das, was grüne Ideologen und linke Sozialdemokraten etwas verquast visionär unter „rot-grüner Reformpolitik“ stets verstanden, war indes nie mit dem identisch, was Gerhard Schröder als Modernisierungspolitik für notwendig gehalten hat. Am Ende der Legislaturperiode 2002 lässt sich nüchtern feststellen, dass das beliebte multioptionale Spiel des medienbewährten Kanzlers mit mehreren Koalitionsmöglichkeiten zwar rasch entzaubert, aber damit auch pragmatisch entschieden wurde.

Norbert Seitz ist verantwortlicher Redakteur der monatlich erscheinenden Kulturzeitschrift „Die Neue Gesellschaft / Frankfurter Hefte“ in Berlin.

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Abschied von der rotgrünen Mentalität Wie die Bundestagswahl auch ausgeht: Die deutsche Sozialdemokratie muss sich ihrer eigenen Ziele und Werte vergewissern von Tobias Dürr

1. Rot-Grün muss bleiben, damit Rot-Grün bleibt Jetzt plakatieren sie wieder.* Im Frühsommer 2002 biegen die Parteien in die Zielgerade ein. Nun muss dringend auf Touren kommen, was professionelle Wahlkämpfer in den Parteizentralen gern die Mobilisierungsphase ihrer Kampagnen nennen. Und tatsächlich: Schon beschwören ein paar frühe Poster, aufgehängt von Aktivisten des kleineren Koalitionspartners, die Passanten in Berliner Stadtteilen wie Kreuzberg und Schöneberg. Jetzt erst recht komme es darauf an, Grün zu wählen. Warum? Weil es auch nach dem 22. September bei RotGrün bleiben müsse, lautet die Botschaft. Formulierung, Ort, Zeitpunkt: Alles ist hier aufschlussreich. Da ist der eindringliche Ton des „Jetzt erst recht”.Während des *

gesamten Frühjahrs 2002 haben die addierten Umfragewerte von SPD und Grünen stets deutlich niedriger gelegen als jene von Union und FDP zusammengenommen. Nun wird die Zeit knapp, und zumal die Lage der Grünen ist bitter ernst. Denn einen anderen möglichen Koalitionspartner als die SPD besitzen sie nun einmal nicht. Sollten sich die bisherigen Zahlen der Demoskopen am Wahltag bestätigen, wäre es um die Grünen als Regierungspartei auf jeden Fall geschehen. Dass es diesmal ums Ganze gehe, dass es deshalb auf jeden einzelnen Wähler und jede einzelne Wählerin ganz dringend ankomme – genau das soll jener dramatische Ton des „Jetzt erst recht” nahe legen: Wer nicht die Grünen wählt, ist selber schuld! Der darf sich hinterher

In diesem Essay werden die Kategorien „Rot-Grün” und „rotgrün” verwendet. Das ist kein Versehen. „Rot-Grün” beschreibt das politische Bündnis von Sozialdemokratie und Grünen, „rotgrün” verweist auf die mentalen und kulturellen Prägungen, die dieses Bündnis möglich machten und weiterhin tragen.

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Tobias Dürr

auch nicht beschweren, wenn ... – ja, wenn was eigentlich? Was steht überhaupt auf dem Spiel? Gewiss ist es schon so, wie jene Plakate behaupten: Rot-Grün muss bleiben, damit die gouvernementalen Grünen überleben können. Aber reicht das schon aus? Was eigentlich wäre damit gewonnen? Und für wen? Natürlich, für Plakattexte ist bei den Grünen wie überall sonst die Abteilung Agitation und Propaganda zuständig; wer den differenzierten politischen Diskurs bevorzugt, sollte sich andere Lektüre suchen. Aber bemerkenswert ist dennoch, wie vollständig die Texter jener grünen Werbetafeln auf jede inhaltliche Unterfütterung verzichten. Nicht etwa, auf dass der Himmel über Berlin noch blauer werde, die Gesellschaft in Deutschland noch multikultureller oder das Essen noch gesünder, sollen die Bürger diesmal die Grünen wählen – sondern ganz einfach damit es bei der gegenwärtigen rot-grünen Regierungskonstellation bleibt. Genau genommen also wird hier das Einverständnis des Passanten kurzerhand vorausgesetzt. Das Ansinnen der Grünen erfordert keine weiteren Erklärungen, es versteht sich von selbst, es ist gewissermaßen zu seiner eigenen Letztbegründung geronnen. Rot-Grün muss bleiben, damit Rot-Grün bleibt. Selbstverständlich gibt es in dieser Republik auch heute noch Menschen,

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denen diese Forderung auf Anhieb einleuchtet. Die Erwartung grüner Wahlkämpfer, dass Zirkelschlüsse nach dem Muster Rot-Grün-muss-bleiben bereits genügen könnten, um die eigenen Leute auch diesmal wieder zum Wahlgang zu aktivieren, muss insofern nicht völlig irregeleitet sein. Zugleich aber ist sie ein sehr präziser Indikator des inneren Zustandes dessen, was einmal euphorisch als „rot-grünes Projekt” oder gar noch überbordender als „rot-grünes Gesellschaftsprojekt” gefeiert wurde. Denn überhaupt nur noch dort, wo dieses „Projekt” in politischer, sozialer und kultureller Hinsicht in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre besonders hoch im Kurs stand, versteht sich Rot-Grün hier und da auch heute noch von selbst. Überhaupt nur noch in einem ganz bestimmten generationellen Traditionsmilieu der deutschen Gesellschaft existieren Restbestände jener enttäuschungsresistenten Selbstverständlichkeit von Rot-Grün, überhaupt nur in diesen sozialkulturellen Nischen kann RotGrün noch die Projektionsfläche irgendwelcher Erwartungen bilden. Überall sonst in der Republik, unter den Jüngeren sowieso und im Osten erst recht, ist Rot-Grün längst nur noch „irgendeine Koalition” (Joachim Raschke), so gut oder schlecht, so wichtig oder egal wie andere auch.


Abschied von der rotgrünen Mentalität

2. Als Rot-Grün die Sozialdemokratie eroberte Wer jene urbanen Quartiere von Kreuzberg und Schöneberg kennt, in denen Rot-Grün bei Wahlen auch heute noch schöne Erfolge erzielt, der bekommt eine Ahnung von der wachsenden historischen Überständigkeit der generationellen Milieus und Mentalitäten, für die RotGrün unverändert die erste politische Option bedeutet. Es mag diese Inseln sentimentaler rotgrüner Wohligkeit hier und da auch noch anderswo im Westen der Republik geben, in Hamburg-Eimsbüttel vielleicht, in der Kölner Südstadt oder in Freiburg im Breisgau. Wo die Orientierung an Rot-Grün als sozialkulturellen Normalfall noch existiert, da sind es zwar auf ihre Art durchaus moderne Menschen aus einem beträchtlichen Teilsegment der gesellschaftlichen Mitte, von denen sie getragen wird. Denn bei den Trägern dieser rotgrünen Gesamtmentalität handelt es sich heute um überdurchschnittlich gebildete Bürgerinnen und Bürger in der Erwerbs- und Familienphase ihres Lebens, typischerweise um Angehörige der Geburtsjahrgänge 1950 bis etwa 1970. Das sind genau jene Alterskohorten, die bei allen Wahlen seit den frühen achtziger Jahren konstant und mit großen Mehrheiten die eine oder die andere der heutigen Regierungsparteien gewählt haben.

Diese Jahrgänge besitzen zutiefst westdeutsche Biografien – aber sie haben durchaus einiges erlebt. Sie sind überdurchschnittlich stark geprägt vom Zeitgeist, der Unruhe und den Konflikten der siebziger und der frühen achtziger Jahre, von der „Willy-Wahl” 1972 bis zu den Protesten von Mutlangen und Brokdorf gegen Nachrüstung und Kernenergie. Diese Kohorten haben die Entstehung der so genannten Neuen Sozialen Bewegungen erlebt, als diese tatsächlich noch neu waren und in Bewegung. Sie haben den Aufstieg der Grünen ermöglicht, als die junge „Anti-Parteien-Partei” (Petra Kelly) noch der politische und – wenig später – parlamentarische Arm einer machtvoll anschwellenden Strömung innerhalb der westdeutschen Gesellschaft war. Auch der Umstand, dass nunmehr postmaterialistische Orientierungen subkutan in die zuvor zutiefst arbeitnehmerisch gesinnte Sozialdemokratie eindrangen, war das Werk von Angehörigen dieser Jahrgänge. Sie vor allem waren es, die für die Überlagerung der zentralen Konfliktlinie der Politik durch neuere wertbezogene, „postmaterialistische”Themen der Auseinandersetzung sorgten. Statt um Kapital und Arbeit ging es nun um Kategorien wie Ökologie und Frieden, um Frauen und Emanzipa-

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Tobias Dürr

tion, um Selbstverwirklichung, um Autonomie und um die Dritte Welt. Bekanntlich hatte sich die regierende SPD in der Ära Schmidt der postmaterialistischen Welle zunächst strikt verweigert. Dafür gab es Gründe, aber es machte den Aufstieg der Grünen als authentische politische Repräsentanten der neuen gesellschaftlichen Konfliktlinie und des neuen Lebensgefühls geradezu unvermeidlich. Als die Sozialdemokraten in ihren Jahren der Opposition seit 1982 damit begannen, die Impulse der Friedens-, Frauen- und Umweltbewegungen umso begieriger aufzusaugen, war es längst zu spät. Den Grünen war auf diese Weise das Wasser nicht mehr abzugraben. Stattdessen führte die eifrige, oft ziemlich unkritische Übernahme von postmaterialistischen Gedanken und Mentalitäten durch die Sozialdemokratie zum zweiten großen Veränderungsschub der westdeutschen SPD nach 1945. Wie schon beim Eindringen der akademisierten APO-Generation in die alte Arbeiterpartei ging auch dieser Umbruch nicht ohne harte Kulturkämpfe, ohne tiefe Verletzung und stille Entfremdung traditional gesinnter Mitglieder- und Wählergruppen vonstatten. Die SPD der achtziger Jahre öffnete sich nachholend für neue Gruppen. Zugleich aber begann in jenen Jahren zum einen die Abwendung proletarischer und postproletarischer

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Milieus von der SPD, zum anderen schuf die Durchsetzung der rotgrünen Mentalität innerhalb der deutschen Sozialdemokratie auch die Vorausetzungen dafür, dass junge und moderne Angehörige der ständig wachsenden postindustriellen Arbeitnehmermilieus den Sozialdemokraten heute habituell distanziert gegenüberstehen. Beides zusammen macht der SPD heute schwer zu schaffen – und beides wird mit rotgrünen Mitteln niemals umzukehren sein. Gewiss, eine Volksausgabe der Grünen ist die westdeutsche Sozialdemokratie niemals geworden. Viel von den Veränderungen der achtziger Jahre blieb ohnehin bloß Masche und Dekor. Im Grunde war völlig unklar, worin die postmaterialistische Wende der Sozialdemokratie im Kern bestehen sollte. Im entschlossenen Kampf für den Weltfrieden und gegen den Atomtod? Oder bei Licht besehen doch eher in exaltiertem Hang zu violetten Seidenhemden, zur Toskana und zu Grauburgunder, den avancierte Sozialdemokraten nun kennerisch Pinot Grigio nannten und am liebsten eiskalt genossen? Etliches an der Wende der SPD zum Postmateriellen blieb, so gesehen, in Gestus und Pose stecken, war beliebig und unausgegoren, vorläufig und irgendwie unernst. Nur „links” war man auf jeden Fall,und „links”waren auch die Grünen. Und so jubelten sie alle zusammen


Abschied von der rotgrünen Mentalität

begeistert, als Willy Brandt im Herbst 1982 die Existenz einer neuen „Mehrheit diesseits der Union” verkündete. In jenen Jahren, in der westdeutschen ersten Halbzeit der Ära Kohl, wuchs heran, was heute noch als übrig gebliebenes und erstarrtes Restphänomen existiert: die rotgrüne Gesamtgesinnung über die gerade erst gezogene Parteigrenze zwischen SPD und Grünen hinweg. Schon versanken die Ursachen der

Abwendung einer ganzen Alterskohorte von der SPD im Nebel der Vergangenheit. Es war eine spezifische politische Generation, die sich angesichts ganz spezifischer Bedingungen unter dem Banner RotGrün wiedervereinigte. So wie nach 1969 das Zusammengehen von SPD und FDP als finale Erfüllung des historischen Versprechens von 1848 gefeiert worden war, so wurde nun Rot-Grün zuweilen geradezu erlösungskulthaft verklärt.

3. Wie die Völker Mitteleuropas 1989 Rot-Grün überholten Die rot-grüne Erlösung sollte in der Wahl Oskar Lafontaines zum Kanzler der westdeutschen Republik bestehen, die man zuversichtlich für das Jahr 1990 vorgesehen hatte. Doch dann kam alles doch ganz anders. Mit ihren Revolutionen von 1989 beseitigten die Bürger Mittel- und Osteuropas die totalitäre Nachkriegsordnung, unter der nicht nur ihre Hälfte des Kontinents, sondern indirekt auch der Westen Europas – wenn auch unvergleichlich weniger – jahrzehntelang gelitten hatte. „Ein Jahrhundert wird abgewählt”, schrieb Timothy Garton Ash in jenen atemberaubenden Monaten. Und in der Tat, genau das und kein bisschen weniger bedeuteten die Revolutionen von 1989. Dass danach nichts mehr sein konnte wie bisher, begriff als einer der ersten

Willy Brandt, der eben noch Säulenheiliger des rotgrünen Gesamtsentiments in der Bonner Republik gewesen war. Die westdeutsche Sozialdemokratie insgesamt hingegen war nicht imstande, der historischen Dimension der Ereignisse gerecht zu werden, die von Warschau und Prag bis nach Leipzig, Lübben oder Liebenwerda die Koordinaten aller europäischen und deutschen Politik so grundstürzend veränderten. So war das Berliner Programm der Sozialdemokraten, verabschiedet Ende 1989 inmitten der über Europa hinwegjagenden revolutionären Stürme Makulatur – im Grunde bereits an dem Tag, da es beschlossen wurde. Als sich alles veränderte, fasste es noch einmal in epischer Breite das eben zu Ende Gegangene zusammen: „Dieses Programm”, schrieb Erhard Eppler 1991

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Tobias Dürr

mit nostalgischem Bedauern, „sollte die traditionelle Arbeiterbewegung zusammenführen mit den neuen sozialen Bewegungen, mit der Ökologie-, der Frauen-, Friedens- und der Dritte-WeltBewegung. Ökologisches Denken, die neue Rollenverteilung der Geschlechter, die Suche nach Frieden und die Rücksicht auf die ärmeren Völker sind, von der ersten bis zur letzten Seite, Dimensionen des Gesamtprogramms.” Tempi passati, die Völker Europas hielten sich nicht an das rotgrüne Drehbuch. Zwar ist nichts von alledem seither ganz und gar verdammenswert geworden. Nur spiegelt dieser Kanon eben nicht viel mehr wider als den gesamtrotgrünen Bewusstseinstand in Westdeutschland, der mit dem Epochenjahr 1989 historisch überholt war – und der seither dennoch, gleichsam als schmerzvolle Sehnsucht nach der guten alten Zeit, die rotgrünen Herzen erfüllt. Gewiss, in ihrer alltäglichen Politik hat sich die Sozialdemokratie längst meilenweit vom hohen Ton ihres Berliner Programms entfernt, das nicht von ungefähr sofort vollständig in Vergessenheit geriet. Heute jedenfalls belegen die Existenz großer und sozial-liberaler Koalitionen auf der Ebene der Länder sowie, mehr noch, der um jeden Preis auf Pragmatismus setzende Kurs des sozialdemokratischen Bundeskanzlers sehr anschaulich, wie entbehrlich Rot-Grün im

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Grunde längst geworden ist – als Regierungskonstellation sowieso, aber eben auch als emphatisch begriffenes Gesellschaftsprojekt. Das hat neue Probleme geschaffen. Es mag ja sein, dass die Grünen Gerhard Schröder in den vergangenen vier Jahre beim pragmatischen Regieren nicht nennenswert gestört haben. Doch das reicht – für beide Partner – nicht aus, um RotGrün insgesamt neue Attraktivität zu verschaffen. Mehr als jede andere Koalitionskonstellation müsste sich ein – obendrein ja eher zufällig an die Macht gekommenes – rot-grünes Bündnis schon sehr genau über seinen gemeinsamen gesellschaftlichen Auftrag, ja über seine Mission im Klaren sein, um überhaupt einen bleibenden Eindruck zu hinterlassen. Andere Koalitionen mögen sich als Instanzen der pragmatischen Problemlösung verstehen – und werden sogar genau dafür gewählt. Für rot-grüne Regierungen gilt das so nicht. Ihr Dilemma kommt gleich im Doppelpack: Würde sie heute tatsächlich noch mit Inbrunst jenes „Projekt”verfolgen, für das westdeutsche Sozialdemokraten und Grüne sich vor 1989 so sehr begeisterten, wäre Rot-Grün bei gesamtdeutschen Wahlen heute völlig chancenlos – die Bonner Republik mit ihren spezifischen Konfliktlagen existiert nicht mehr. Wo eine rot-grüne Regierung jedoch umge-


Abschied von der rotgrünen Mentalität

kehrt ihr spezifisches gesellschaftspolitisches Reformprogramm aus den Augen verliert, da ist überhaupt nicht mehr erkennbar, in welcher Weise und warum gerade Rot-Grün für die Republik besser

oder wichtiger sein sollte als irgendeine andere Koalition. Mit Rot-Grün ist die SPD in eine kulturelle und damit, mittelfristig gesehen, auch in eine strategische Sackgasse geraten.

4. Ankunft in der betulichen Mitte Sogar den Grünen selbst gelingt es heute kaum noch, in einer ihnen eigenen, unverwechselbaren Sprache und Semantik zu begründen, wofür sie eigentlich stehen. Ihre einstige Selbstgewissheit ist verflogen, die gesellschaftlichen Wurzeln, aus denen sie einst hervorgingen, sind abgestorben – oder wurden von den Staat gewordenen Anführern der Grünen mutwillig gekappt. Vor vier Jahren unvermittelt an die Macht gelangt, kann die ehemalige Bewegungspartei nicht mehr überzeugend benennen, was sie eigentlich ist oder will. Defensiv und wolkig fällt ihr Versuch aus, den eigenen gesellschaftlichen Ort zu markieren. Was sie waren, sind sie nicht mehr – und wollen sie offensichtlich auch gar nicht mehr sein. Aber was um Himmels willen sind sie dann? „Man steigt nicht zweimal in denselben Fluss”, heißt es schwermütig im neuen Grundsatzprogramm der Partei. „Inzwischen sind wir nicht mehr die ‚Anti-Parteien-Partei’, sondern die Alternative im Parteiensystem. Die entscheidende Veränderung war, dass wir uns zu

einer Reformpartei entwickeln wollten und mussten, um erfolgreich zu bleiben. Unsere Visionen und Ziele wollen wir heute durch eine langfristig angelegte Reformstrategie erreichen.” Das klingt ein bisschen jämmerlich. Die Grünen sind sich ihrer Sache erkennbar nicht mehr sicher. Einleuchtende Erklärungen dafür haben sie durchaus zur Hand: „Themen, mit denen wir zu Beginn als Außenseiter auftraten, sind heute im Zentrum der Gesellschaft angekommen.”Genau das war gewiss das Ziel der Grünen – unter dem Gesichtspunkt der Unterscheidbarkeit ist es heute zugleich ihr Problem:„Fast alles, was einmal die Grünen als links, sektiererisch, versponnen, kurz: als politisch nicht wirklichkeitstauglich auszeichnete, scheint beseitigt zu sein”, bemerkt der langjährige Grünen-Beobachter Eckart Lohse, „zu starke Zugeständnisse an den neoliberalen Zeitgeist” wiederum wirft Frank Bsirske, Vorsitzender der Gewerkschaft Verdi, seiner eigenen Partei vor. Doch auf der Klaviatur von forcierter

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Wirklichkeitstauglichkeit und Neoliberalismus spielen in Deutschland längst andere – und im Zweifel virtuoser. Dass die Grünen in dieser Republik ausgerechnet dafür ganz dringend gebraucht werden, darf als ziemlich unwahrscheinlich gelten. Es stimmt ja, all die einst von den westdeutschen Grünen auf die Agenda gesetzten und von den Sozialdemokraten eifrig übernommenen Themen sind inzwischen „im Zentrum der Gesellschaft angekommen”. So sehr sind sie zum politischen Allgemeingut geworden, dass im Grunde kein Mensch mehr glaubt, zur Verteidigung grüner Errungenschaften müsse unbedingt weiterhin die grüne Partei regieren. Nicht einmal die ihrer-

seits oft genug in der Mitte der Gesellschaft Angekommenen in den rotgrünen heartlands von Kreuzberg, Schöneberg oder Freiburg im Breisgau befürchten heute im Ernst einen gesellschaftlichen und kulturellen Rückschlag für den Fall, dass Joseph Fischer den Job des Außenministers verliert oder Renate Künast nicht mehr die Agrarkrise beaufsichtigen darf. Natürlich wählen die habituell Rotgrünen weiterhin die Grünen oder die angejährten Repräsentanten der angegrünten Achtziger-Jahre-SPD. Nur tun sie es freudlos, nörgelnd und nur noch aus Gewohnheit. Man ist gemeinsam „angekommen”, man ist gemeinsam gealtert. Wer endlich selbst im Zentrum sitzt, hat keine Ziele mehr.

5. Rot-Grün als geronnene Gesellschaftsgeschichte Dass die SPD im Wahlkampf für die Fortsetzung der 1998 eingegangenen Koalition mit den Grünen wirbt, ist eine pure Selbstverständlichkeit. Alles andere wäre das Dementi des eigenen Regierungshandelns in den nun ablaufenden vier Jahren. So weit, so nachvollziehbar. Und, wer weiß, womöglich reicht es für das Gespann Schröder/Fischer am 22. September ja tatsächlich noch einmal. Doch gerade Sozialdemokraten sollten sich keine Illusionen machen: Irgendeine Faszination des Aufbruchs und Anfangs

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wird von Rot-Grün nie wieder ausgehen, irgendeine Strahlkraft in die Gesellschaft hinein kann dieses in der untergegangenen westdeutschen Welt der achtziger Jahre ersonnene „Projekt” nicht mehr entfalten. Rot-Grün ist gegenwärtige Wirklichkeit – und bedeutet doch zugleich nur noch zur Regierung geronnene Gesellschaftsgeschichte der Bonner Republik. Für die etablierten Grünen ist das kein Drama. Sie rechnen im Grunde nicht ernsthaft damit, dass ihr eigenes


Abschied von der rotgrünen Mentalität

Projekt sie und ihre Generation überdauern werde. Damit haben sie sich innerlich abgefunden. Das vielfältige Universum der Selbsthilfegruppen, Ökoläden und Stadtteilinitiativen in den besseren Quartieren der westdeutschen Städte wird auch ohne die Grünen über die Runden kommen; das – ohnehin nur winzige – Fähnlein der nachwachsenden Berningers oder Özdemirs wiederum wird notfalls geschmeidig anderswo unterzuschlüpfen wissen. Für Sozialdemokraten mit Selbstachtung und einem Minimum an Geschichtsbewusstsein kann das keine Perspektive sein. Den eigenen politischen Laden, wenn es denn sein muss, kurzerhand zu schließen ist eine Option, die ihnen schlechterdings nicht offen steht. Die SPD ist eine alte Partei – alt geworden, weil sie sich immer wieder rechtzeitig gewandelt hat. Noch älter werden und dabei stark bleiben wird die Sozialdemokratie deshalb auch in Zukunft nur dann, wenn es ihr auch weiterhin gelingt, eng am Pulsschlag der Gesellschaft zu bleiben, die zu gestalten sie beansprucht. „Kraftvolle Parteien sind das Ergebnis kraftvoller

Anstöße, die sich aus historischen Lagen ergeben”, hat der Politologe Wilhelm Hennis sehr zu Recht aufgeschrieben. Die fortgesetzte, nur noch mentalitätsgeleitete Orientierung am schal gewordenen rot-grünen „Projekt” schadet, so gesehen, der dringend nötigen Selbstvergewisserung der Sozialdemokratie über ihre Ziele und strategischen Optionen im 21. Jahrhundert. Neues Nachdenken ist deshalb dringend notwendig. Nirgendwo steht geschrieben, dass eine Partei, deren Wurzeln tief im 19. Jahrhundert liegen, noch im 21. Jahrhundert zum selbstverständlichen Inventar demokratischer Politik gehören müsste. Das Gegenteil ist viel wahrscheinlicher. Hervorgegangen aus den Großkonflikten des Industriezeitalters, sind gerade sozialdemokratische Parteien existentiell darauf angewiesen, den Wandel der Voraussetzungen des eigenen Erfolgs haargenau im Blick zu behalten. Weil der Industrialismus mit seinen Einstellungen und Mentalitäten Geschichte ist und auch der rot-grüne Postmaterialismus an sein Ende kommt, gilt das heute mehr denn je.

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6. Soziale Demokratie nach den Zeiten von Rot-Grün Wird es deshalb bald um die soziale Demokratie geschehen sein? Nicht unbedingt. Das Streben nach mehr gesellschaftlicher Gleichheit angereichert um die Zuversicht, dieses größere Maß an sozialer Egalität mit den Mitteln freiheitlicher und demokratischer Politik tatsächlich verwirklichen zu können – so könnte man das Anliegen sozialdemokratischer Politik in maximaler Verknappung womöglich zusammenfassen. Dass für so verstandene Politik kein Anlass mehr bestünde, werden angesichts der unbestreitbaren Realität von Globalisierung, von flexiblem und digitalem Kapitalismus im Ernst nur die wenigsten behaupten. Aber es kommt darauf an, intensiv zu erfassen, was eigentlich geschieht. Dramatische Umbrüche der sozialen und kulturellen Voraussetzungen demokratischer Politik sind längst in vollem Gange. „Es herrscht ein starkes, tief verwurzeltes und weit verbreitetes Gefühl, dass es so nicht weitergeht”, schreibt der liberale Soziologe Ralf Dahrendorf. Künftig werde der aufsteigenden „globalen Klasse” ein Heer der dauerhaft Überflüssigen und Ausgeschlossenen, Verlorenen und Hoffnungslosen gegenüberstehen, sagt er voraus. Den einen geht es grenzenlos glänzend, die anderen werden in der neuen Ökonomie – anders als in der

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untergehenden Ära des Industrialismus – schlechterdings nicht gebraucht.Von den „verbleibenden 40 Prozent, wenn es nicht mehr sind”, spricht der liberale Soziologe: „Sie vereinigen nämlich alle Nachteile auf sich: niedrigere Einkommen, höhere Arbeitslosigkeit, einen schlechten Gesundheitszustand, größere Gefährdung durch Unfälle, weniger Engagement in öffentlichen Dingen und nicht zuletzt mehr Bildungsprobleme mit ihren Kindern.” Es leuchtet auf Anhieb ein, dass diese historisch beispiellose Konstellation gerade Parteien wie die SPD ins Mark treffen muss. Als historische Schrittmacher von Gleichheit und Fortschritt, für die sie noch immer gehalten werden,sind sie bei Strafe ihres Abstiegs darauf verwiesen, weiterhin glaubwürdige „Zuversicht in die Gestaltbarkeit der Zukunft”zu vermitteln – gerade der gesellschaftlichen Mitte gegenüber, die sich vor ungesteuertem Wandel und relativem Abstieg fürchtet. Gleichzeitig aber belegen Wahlergebnisse überall in Europa nur zu deutlich, dass sozialdemokratische Tradition und Programmatik derzeit keine wirklich überzeugenden Antworten auf die Phänomene neuer Ungleichheit, Exklusion und Entfremdung im postindustriellen Kapitalismus bieten. In diesem Dilemma


Abschied von der rotgrünen Mentalität

behilft man sich im Wahljahr 2002 noch einmal mit Bordmitteln und dem technokratischen Jargon der Neuen Mitte – auf die Dauer aber wird das nicht mehr genügen. „Die Globalisierung gestalten” wollen heute alle Parteien, auch die SPD. Nichts anderes müssen sie tun, um erfolgreich zu bleiben. Aber niemand vermag so richtig zu sagen, was so ein Satz bedeuten soll, und viel spricht dafür, dass es nicht zuletzt Leerformeln wie diese sind, die das Vertrauen der Menschen in die Gestaltungskraft demokratischer Politik so gründlich untergraben – und sie in die

Arme der neuen Parteien der Angst treiben. Doch wo man für die eigenen Prinzipien und Ziele keine eigenen Worte mehr findet, da geht das Eigene irgendwann ganz verloren.Was sozialdemokratisch ist in Deutschland und wie ein unverwechselbar sozialdemokratischer Kurs sozialer und ökonomischer Modernisierung aussehen könnte, das wird nach dem 22. September sehr gründlich neu vermessen werden müssen. Mit Koalitionsoptionen wird das nicht viel zu tun haben, mit dem Abschied von der schal gewordenen rotgrünen Mentalität eine ganze Menge.

Literatur Dahrendorf, Ralf, Globale Klasse und neue Ungleichheit, in: Merkur, 54 (2000) 11, S. 1057-1068 Dahrendorf, Ralf, Die Krisen der Demokratie, München 2002 Dürr, Tobias, Die Linke nach dem Sog der Mitte: Zu den Programmdebatten von SPD, Grünen und PDS in der Ära Schröder, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 21/2002, S. 5-12 Garton Ash, Timothy, Ein Jahrhundert wird abgewählt: Aus den Zentren Mitteleuropas 1980-1990, München und Wien 1990 Hennis, Wilhelm, Überdehnt und abgekoppelt: An den Grenzen des Parteienstaates, in: ders., Auf dem Weg in den Parteienstaat: Aufsätze aus vier Jahrzehnten, Stuttgart 1998, S. 69-92

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Tobias Dürr

Judis, John B. und Ruy Texeira, The Emerging Democratic Majority, New York 2002 (erscheint im Herbst) Lösche, Peter und Franz Walter, Die SPD: Klassenpartei – Volkspartei – Quotenpartei, Darmstadt 1993 Mair, Peter, Party System Change: Approaches and Interpretations, Oxford und New York 1997 Raschke, Joachim, Die Zukunft der Grünen, Frankfurt/Main und New York 2001 Thumfart, Alexander, Die politische Integration Ostdeutschlands, Frankfurt/Main 2002 Walter, Franz, Die SPD: Vom Proletariat zur Neuen Mitte, Berlin 2002 Walter, Franz und Tobias Dürr, Die Heimatlosigkeit der Macht: Wie die Politik in Deutschland ihren Boden verlor, Berlin 2000

Tobias Dürr, Dr. disc. Pol., geb. 1965, Politikwissenschaftler und Publizist, arbeitet als Chefredakteur der Zeitschrift „Berliner Republik“ in Berlin. Buchveröffentlichungen u.a.: Die CDU nach Kohl (Hrsg. mit Rüdiger Soldt), Frankfurt/Main 1998; Die Heimatlosigkeit der Macht. Wie die Politik in Deutschland ihren Boden verlor (mit Franz Walter), Berlin 2000. Anschrift: Redaktion „Berliner Republik”, Stresemannstraße 30, 10963 Berlin. E-Mail: duerr@b-republik.de

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Rot-grüne Zwischenbilanz für Bildung und Forschung Modernisierung und Erneuerung unter den Bedingungen der föderativen Politikverflechtung von Klaus Faber

I. Rahmenbedingungen für die Willensbildung 1. Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern: Voraussetzungen für die politische Veränderung Ein Rückblick am Ende einer Legislaturperiode des Bundestages auf Aufgabenfelder wie etwa die Sozial-, Wirtschafts-, Rechts-,Verteidigungs- oder Außenpolitik wird sich auf die Schwerpunkte in der politischen Auseinandersetzung und die erfolgreichen oder gescheiterten Projekte konzentrieren können. Auf allen diesen Gebieten verfügt der Bund über vergleichsweise solide Zuständigkeiten in der Gesetzgebung, teilweise auch in der Finanzierung oder Administration. Die Steuerungsinstrumente geben ihm dabei in jedem Fall ein wesentliches Übergewicht gegenüber den entsprechenden Landeskompetenzen, soweit es in den fünf erwähnten Politiksektoren überhaupt Landeszuständigkeiten gibt – was für die Verteidigungspolitik nicht zutrifft. Der Bundesrat wirkt nicht nur in Angelegenheiten, in denen ausgedehnte Län-

derzuständigkeiten bestehen, sondern allgemein an der Bundesgesetzgebung mit. Der Bundesrat ist ein Bundesorgan. Seine Mitwirkungsstellung ist bei Bundesgesetzen besonders stark, die seiner Zustimmung bedürfen. Im letzten Jahr der 1998 begonnenen Legislaturperiode ist dies z.B. bei der Gesetzgebung zur Zuwanderung politisch sichtbar geworden. Noch deutlicher spürbar ist das Ländergewicht selbstverständlich dort, wo es nicht nur um die Mitwirkung an der Bundesgesetzgebung geht, sondern den Ländern große Zuständigkeitsbereiche zur eigenen Gestaltung vorbehalten sind. Das ist in unterschiedlichem Umfang z. B. in Fragen der Schule, der Berufsbildung und der Wissenschaft der Fall. Gesetzgebungszuständigkeiten des Bundes gibt es nach dem Grundgesetz, das sich insoweit deutlich von der Wei-

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Klaus Faber

marer Verfassung unterscheidet, auf diesen Gebieten im wesentlichen nurfür die außerschulische Berufsbildung (unter Inanspruchnahme der Zuständigkeiten für das Recht der Wirtschaft und für das Arbeitsrecht), für die Förderung der wissenschaftlichen Forschung, von denen u.a. mit den Bestimmungen über die Drittmittelforschung im Hochschulrahmengesetz nur sehr zurückhaltend Gebrauch gemacht worden ist, für die Ausbildungsbeihilfen, auf denen das Bundesausbildungsförderungsgesetz beruht, für Rahmenvorschriften über die allgemeinen Grundsätze des Hochschulwesens, welche die Hauptgrundlage für das Hochschulrahmengesetz bilden, und für Besoldungsregelungen, die vor allem für die Besoldung des beamteten Hochschulpersonals Bedeutung haben. Von den 1969 eingeführten Gemeinschaftsaufgaben von Bund und Ländern sind in dem hier interessierenden Zusammenhang die Gemeinschaftsaufgaben Hochschulbau, Bildungsplanung und Forschungsförderung relevant. Die Ausführung von Bundesgesetzen oder die Umsetzung von Planungsbeschlüssen durch die Länder bei den Gemeinschaftsaufgaben ist, soweit nicht das Grundgesetz im Einzelfall etwas anderen bestimmt, Sache der Länder, ebenso die Wahrnehmung aller übrigenAufgaben, für die das Grundgesetz dem Bund keine

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Kompetenzen zugewiesen hat. Das gilt insbesondere für den Schulbereich, für den, abgesehen von unbedeutenden Ausnahmen, die Länder allein zuständig sind (vgl. zur Kompetenzverteilung Glotz/Faber, S.1393 ff.). Auch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu den Grundrechten des Grundgesetzes leistet wesentliche Beiträge zum bildungs- und wissenschaftspolitischen Entscheidungsprozeß, vor allem im Hochschulwesen, z.B. für die Hochschulzulassung oder die Hochschulorganisation. Eine große Rolle spielt darüber hinaus die Selbstkoordination der Länder insbesonderein der Kultusministerkonferenz, die zwar keine die Landesregierungen oder gar die Länderparlamente bindenden Entscheidungen treffen kann, durch ihre zahlreichen oft sehr detaillierten Beschlüsse aber de facto in weiten Bereichen die Landespolitik vorformt (zu beiden Aspekten – Vereinheitlichung durch Grundrechte und durch Länderselbstkoordination – vgl. Glotz/Faber, S. 1396 ff.). Der starke Ausbau einer dritten Ebene zwischen dem Bund und den einzelnen Ländern ist ein besonderes, international auffälliges Merkmal im deutschen föderativen System. Es ist historisch auf den Exekutiv- und Bürokratieföderalismus der Bismarckzeit – zum Teil auf noch ältere Wurzeln – zurückzuführen. Koordinations- und


Rot-grüne Zwischenbilanz für Bildung und Forschung

Verflechtungsinstanzen kennen auch andere föderativ organisierte Staaten. Ausmaß und Dichte des Verflechtungsnetzes übersteigen jedoch in Deutschland das für ältere Bundesstaaten mit einer ausgeprägt demokratisch-parlamentarischen Tradition übliche Maß (Glotz/Faber, S. 1415 ff.). Die im Vergleich zu anderen Bundesstaaten sehr weit gehende Mitwirkung der Gliedstaaten an der Willensbildung des Bundes auf dem Gebiet der Gesetzgebung verstärkt die Exekutiv- und Bürokratieorientierung, die in der dritten Ebene angelegt ist. Dies wird vor allem dann deutlich, wenn, wie dies in Deutschland häufig der Fall ist, die politischen Mehrheiten im Bundestag und im Bundesrat nicht übereinstimmen. Der in derartigen Konstellationen angelegte Zwang zur Bildung von Allparteienkoalitionen schaltet den Parteienwettbewerb und damit einen unverzichtbaren Innovationsmotor weigehend aus. Er begünstigt die Neigung, Zustimmungsakte durch politisch fragwürdige Gegenleistungen zu erkaufen – wie einst etwa bei der früheren deutschen Königs- und Kaiserwahl. Der Exekutiv- und Verflechtungscharakter in der deutschen föderativen Bildungs- und Wissenschaftpolitik prägt den Willensbildungsprozeß im Verfahren und im Ergebnis, wie auch eine Bilanz zum Erreichten und Nicht-Erreichten in der Legislaturperiode des Bundestages von 1998 bis 2002 zeigen wird.

Politikverflechtung im deutschen Bundesstaat hat nicht nur im engeren Bereich von Bildung und Forschung Auswirkungen. Sie erklärt zumindest zum Teil Neigungen in der deutschen politischen Klasse zur Konsensbetonung und Konfliktvermeidung, zur Medienorientierung, zur Beharrung und zur langsamen Reaktion auf Veränderungsbedürfnisse, denen man nicht allzu selten erst sehr spät und im geringst möglichen Umfang nachkommt. Es geht bei der Kritik an diesen Orientierungstendenzen, um mögliche Mißverständnisse auszuschließen, nicht darum, die durchaus legitime Abwägung zwischen einer auch in den Zeitphasen kontrollierten Veränderung („Sicherheit im Wandel”, vgl. Müntefering, S. 5 ff.) und einem eher schnell durchgeführten, radikalen Umstellungskurs in Frage zu stellen. Für die gemeinten problematischen Orientierungsaspekte und ihre Ergebnisse können als Einzelbeispiele – mit unterschiedlichem Gewicht – etwa die langanhaltende, bis vor kurzem überwiegend folgenlose Diskussion über die Tätigkeit von Koranschulen oder über das seit vielen Jahren bekannte Defizit Deutschlands bei den öffentlichen Ausgaben für die Wissenschaft angeführt werden. Die Debatte über die PISA-Studie der OECD (vgl. Lernen für das Leben; zur Bewertung der großen Vergleichsstudie s. Klemm) zeigt genügend Ansätze für die Befürch-

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Klaus Faber

tung, daß unter den Bedingungen der föderativen Konsensfindung künftig auch dieser Fall in dieselbe Erfahrungsreihe eingeordnet werden muß. Die Eingrenzung und Beschreibung der Bilanzbereiche „Bildung und Forschung” – richtet sich an der 1998 eingeführten Namensgebung für das neu zugeschnit-

tene Bundesministerium aus, das schon in der Regierungszeit von Helmut Kohl aus zwei verschiedenen Ministerien gebildet worden war. Bildung umfaßt dabei im eher ungewöhnlichen Sinn u.a. die Bereiche Schule, Berufsbildung, Hochschule und Weiterbildung, Forschung demgegenüber die außerhochschulische Forschung.

2. Bundespolitisches Gesamtkonzept für Bildung und Forschung: Spannungsverhältnis zwischen Modernisierungsziel und föderativer Willensbildung Vor dem Hintergrund der Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern ist eine annähernd flächendeckend angelegte Bildungs- und Forschungspolitik des Bundes kaum vorstellbar. Der euphorische Aufbruchsduktus der frühen siebziger Jahre ist längst passé, in denen die Bundesregierung der Bildungs- und Wissenschaftspolitik höchste Priorität einräumte und den Anspruch erhob, das gesamte Bildungswesen mitzugestalten. Einen gemeinsamen Bildungsgesamtplan von Bund und Ländern zu erarbeiten, beabsichtigt heute, anders als in den siebziger Jahren, niemand mehr. Die erste Reaktion auf die PISA-Studie der OECD hat zwar zu Vorschlägen aus dem Bundestag an die Bundesregierung geführt, regelmäßig einen nationalen Bildungsbericht zu veröffentlichen – eine Idee, die an den ersten Bildungsbericht der Bundesregierung aus

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dem Jahre 1970 anknüpft (zu einigen damit verbundenen institutionellen und inhaltlichen Aspekten vgl. Schlegel). Die Antworten auf der Länderseite waren jedoch zunächst überwiegend negativ. Bildungspolitik, hier wiederum eher im Sinne von Schulpolitik verstanden, sei Ländersache; die Zusammenfassung der bildungspolitischen Darstellungen aus 16 Ländern ergebe den nationalen Bildungsbericht, so die von manchen Ländervertretern zu hörende Kommentierung. Das aktuelle Beispiel macht das Dilemma deutlich, vor dem jede Bundesregierung steht und dem gegenüber vor allem jede neugebildete Bundesregierung eine Verhaltensstrategie entwickeln muß. Wie Umfragen und Medienreaktionen immer wieder zeigen, wird der Bund weit über das tatsächlich vorhandene Maß an eigenen Kompetenzen hinaus für den


Rot-grüne Zwischenbilanz für Bildung und Forschung

Stand und vor allem für die Defiziteim Schul- und Hochschulbereich verantwortlich gemacht. Gegenüber diesem Sachverhalt sind, von den Extremen her gesehen, zwei unterschiedliche Reaktionsmuster denkbar: einerseits die Thematisierung von Schwerpunktproblemen und Lösungsansätzen durch die Bundespolitik auch bei schwacher Kompetenzausstattung des Bundes, etwa unter Berufung auf eine gesamtstaatliche Aufgabe, andererseits die Konzentration auf einige Gebiete mit wichtigen Bundeskompetenzen, verbunden mit der Abwehr einer weitergehenden Erwartung durch den wiederholten Hinweis auf die Landeszuständigkeit. In den letzten Jahrzehnten hat sich die Bundespolitik für „Bildung und Forschung” in der Regel zwischen den damit beschriebenen Flügelpositionen bewegt. Gebiete mit umfassenden Bundeskompetenzen, etwa in der außerhochschulischen Forschung, bildeten in diesem Rahmen einen Aufgabenschwerpunkt der politischen und administrativen Arbeit. Vor allem im Schulbereich, dem Zentrum starker Landeszuständigkeiten, war demgegenüber der Bund politisch weniger präsent. Der Hochschulsektor nimmt im Vergleich zu den beiden genannten Bereichen der außerhochschulischen Forschung und der Schulpolitik bei der BundLänder-Kompetenzverteilung eher eine Mittellage ein. Der Bund verfügt dort

sowohl über Finanzierungsmöglichkeiten, etwa im Hochschulbau oder über die ebenfalls zu den Gemeinschaftsaufgaben zu rechnenden Hochschulsonderprogramme, als auch über die Befugnis, Rahmenvorschriften für die allgemeinen Grundsätze des Hochschulwesens zu erlassen (vgl. I. 1., S. 1 f.). Die Hauptfinanzierungslast tragen insbesondere im Personalbereich aber nach wie vor die Länder. Sie sind auch für die unmittelbar geltende, ins Einzelne gehende Hochschulgesetzgebung zuständig. Die Landeshochschulgesetzgebung hat vor allem durch die 4. HRG-Novelle von 1998 an Bedeutung gewonnen, die noch von der CDU/CSU-geführten Bundesregierung konzipiert und durchgesetzt worden war. Die Novelle von 1998 hat fast alle Vorschriften zur inneren Hochschulorganisation und zur Hochschulmitwirkung aus dem Hochschulrahmengesetz gestrichen und damit den Ländern Freiräume für eigene Regelungen eröffnet. Durch die Novelle wurden, sozusagen als Ausgleich, Orientierungsmaßstäbe, etwa für die Leistungsorientierung bei der Hochschulfinanzierung oder die Evaluation von Forschung und Lehre, festgelegt, die auch auf die Hochschulorganisation Auswirkungen haben können. Die in diesem Punkt von der Mehrheit der SPD-geführten Länder mitgetragene 4. HRG-Novelle ist von der rot-grünen Bundesregierung nach 1998

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nicht korrigiert worden. Eine ins Gewicht fallende bundespolitische Einflußnahme auf die aktuelle Hochschulorganisationsdebatte hat es, abgesehen von der 2002 eingebrachten Initiative zur bundesrechtlichen Absicherung der verfaßten Studierendenschaft (vgl. II. 2., S. 10), seit 1998 nicht gegeben. Es geht bei der zur Zeit von den Ländern umgesetzten Neuordnung der Hochschulorganisation vor allem darum, die Position der Hochschulleitung und die Hochschulautonomie zu stärken sowie die Effizienz der Hochschulverwaltung zu verbessern (vgl. Faber, Dezember 2000). Die Abgrenzung zwischen der Hochschulselbstverwaltung und außerhochschulischen Einflüssen, etwa über einen vom Staat eingesetzten Hochschulrat, sowie das Binnenverhältnis zwischen Kollegialorganen und Exekutivspitze der Hochschule stehen im Mittelpunkt einer Verfassungsbeschwerde gegen das Hochschulgesetz des Landes Brandenburg. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über die Verfassungsbeschwerde kann eine wichtige Grundatzorientierung für die künftige Hochschulorganisation geben. Die Abstinenz der Bundespolitik auf diesem Gebiet ist ein Indiz für die Absicht, in der Hochschulpolitik insgesamt ein zurückgenommenes Profil zu zeigen und sich dort mehr auf konkrete Gesetzgebungs-, Finanzierungs- sowie andere Ein-

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zelschritte zu konzentrieren. Dazu paßt die nach der Kompetenzlage und der Bundesratsstellung nachvollziehbare, zum Teil notwendige Position, für wichtige Vorhaben vor allem in der Gesetzgebung Kompromisse mit den von der CDU/CSU geführten Ländern, z.B. durch eine vorbereitende Abstimmung im Rahmen der Kultusministerkonferenz oder von Sachverständigenkommissionen, zu suchen. Eine alle wesentlichen Hochschulfragen umfassende Gesamtkonzeption des Bundes zur Hochschulpolitik war demgegenüber weniger deutlich zu erkennen. Noch klarer als im Hochschulwesen bestimmten im Schulbereich und in weiteren Bildungssektoren zumindest in den ersten drei Jahren seit 1998 zurückhaltende Äußerungen das bundespolitische Bild. Bildungspolitische Grundsatzpositionen wurden auch auf diesem Gebiet unter Berufung auf Eckwerte der sozialdemokratischen Orientierung (u. a.: Chancengleichheit beim Bildungszugang, Vermeidung von Benachteiligung einerseits und Begabtenförderung andererseits, Wertentscheidung für Demokratie und Toleranz, Überwindung des überholten Rollenschemas von Frauen und Männern, Förderung der Integration von Migranten, Prinzip des lebenslangen Lernens, vgl. Bulmahn, 2001, S. 223 ff.) durchaus vertreten. Die Debatte wurde allerdings eher konsensorientiert und weniger durch die Aus-


Rot-grüne Zwischenbilanz für Bildung und Forschung

einandersetzung mit abweichenden Politikkonzepten geführt. Das „Forum Bildung”, eine gemeinsame Bund-LänderEinrichtung im Rahmen der Bund-LänderKommisssion für Bildungsplanung und Forschungsförderung, hat in diesem Bereich eine Plattform für Diskussionsprozesse und die Konsensfindung geschaffen. Es weist in seiner Konstruktion und Präsentation auf die Zuständigkeitsverteilung des Grundgesetzes – insbesondere auf das deutliche Übergewicht der Länderzuständigkeiten im Schulbereich – hin und wehrt damit in gewisser Weise allzu weit gespannte Erneuerungs- und Reformerwartungen ab, die sich unmittelbar an den Bund richten. Auf den ersten Blick enthält das damit skizzierte Politikszenario mit einer Schwerpunktsetzung in konkreten Einzelschritten auf Gebieten mit ausreichenden Bundeskompetenzen überzeugende Elemente, die auch die Konfliktpotentiale im Bund-Länder-Verhältnis berücksichtigen. Es enthält aber ebenso Risiken. Als verbindendes Thema rot-grüner und insbesondere sozialdemokratischer Bundespolitik dient aus verschiedenen, hier nicht im einzelnen auszuführenden Gründen die Orientierung am Ziel der „Modernisierung”, des Ausgleichs von „Innovation und Gerechtigkeit” oder der Vermittlung von „Sicherheit im Wandel” (vgl. I. 1., S. 3). Dies

setzt in den einzelnen Politikfeldern eine dem Leitthema entsprechende, überzeugende und geschlossene Konzeption voraus, die bei geeigneter Gelegenheit – und, mit Blick auf Wahlen, rechtzeitig – offensiv und profilbildend gegenüber anderen Positionen im Parteienwettbewerb dargestellt werden muß. Eine derartige Zielsetzung steht jedoch in einem deutlichen Spannungsverhältnis zu den Regeln für die politische Willensbildung, die unter den Bedingungen der föderativen Politikverflechtung im Bildungssystem– mit einer Tendenz zum Einstimmigkeitsprinzip – gelten. Sichtbar werden das Spannungsverhältnis und dabei ebenso die Risiken der geschilderten Bundespolitikorientierung u.a. dann, wenn die öffentliche Debatte die föderative Grenzziehung der Zuständigkeiten überschreitet und, zu Recht oder zu Unrecht, gesamtstaatliche Entscheidungen über die Kompetenzgrenzen hinweg verlangt. Derartige Tendenzen zeigt z.B. die Diskussion um die PISA-Studie (vgl. II. 2., S. 11 f.; III., S. 16 f.). Im folgenden sollen die damit beschriebenen Konfliktlagen, exemplarisch und in der Gesamtbilanz von Modernisierungserfolgen oder -defiziten sowie in denHandlungsperspektiven, für die Bereiche Bildung und Forschung geschildert und bewertet werden.

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II. Erfolge und Mißerfolge der Bundespolitik 1.

Finanzpolitischer Kurswechsel

Der Ausgabenansatz des Bundesministeriums für Bildung und Forschung im Bundeshaushalt beträgt im Jahr 2002 rund 8,8 Mrd Euro. Im Vergleich zu 1998, dem letzten Jahr der von der CDU/CSU und FDP gebildeten Bundesregierung, ist das eine Steigerung um etwa 15,5%. Der Bildungs- und Forschungshaushalt des Bundes hat damit in der Bundesrepublik Deutschland seinen bislang höchsten Stand erreicht (vgl. Tabelle, in:Versprochen und Wort gehalten, S.167). Die beachtliche, von der zuständigen Bundesministerin Edelgard Bulmahn mit Geschick und Fortune durchgesetzte Erhöhung des Etatvolumens belegt nicht nur, daß eine wesentliche Zielsetzung in den programmatischen Aussagen vor der Wahl und im rot-grünen Koalitionsvertrag von 1998 (vgl. Aufbruch und Erneuerung) erreicht wurde. Sie macht über die im engeren Sinne finanzpolitische Dimension hinaus Qualität und Tragweite des Kurswechsels nach 1998 deutlich. Die Ausgaben des Bundes für Bildung und Forschung wurden von 1993 bis 1998 um rund 700 Mio DM gekürzt. Der Anteil der Ausgaben für Forschung und Entwicklung am Bruttoinlandsprodukt betrug 19872,9 %, 1997 nur noch 2,3 %, was auch

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der Wissenschaftsrat unter Hinweis auf die langfristig wirkenden, problematischen Folgen kritisiert hat (Wissenschaftsrat, S. 51 f.). Deutschland liegt beim Anteil der Studierenden an der Gesamtbevölkerung weit hinter vielen europäischen Staaten; der entsprechende Anteil am jeweiligen Altersjahrgang ist nach OECD-Studien auch jetzt noch deutlich niedriger als in einer ganzen Reihe vergleichbarer Länder, darunter den USA, Japan, Südkorea, Finnland oder Schweden (vgl. OECD: Bildung auf einen Blick; Zukunft der Wissenschaft, S. 7 f., S. 38 f.; Teichler). Bei den Anteilen des Wissenschaftsbereichs am Bruttoinlandsprodukt befindet sich Deutschland ebenso am unteren Ende der OECD-Plazierung. Das deutsche Defizit bei den Studierendenanteilen wird durch die traditionell hohe Qualität der Berufsbildung in Teilbereichen zur Zeit vielleicht noch ausgeglichen oder zumindest reduziert. Wie in anderen Ländern wird sich allerdings auch in Deutschland der tertiäre Bereich aus verschiedenen Gründen zu Lasten der Berufsbildung ausdehnen (vgl. Zukunft der Wissenschaft, S. 7 f.). Zu der Zielsetzung, die Studierendenanteile zu erhöhen, gibt es also keine auf Dauer tragfähige Alternative.


Rot-grüne Zwischenbilanz für Bildung und Forschung

Der 1998 vollzogene Kurswechsel in der Haushaltspolitik des Bundes war vor allem notwendig, um den Rückstand Deutschlands in der Qualifikationsstruktur der Bevölkerung aufzuholen und damit die internationale Wettbewerbsfähigkeit zu sichern. Der Bundeshaushalt kann zu dieser Zielsetzung allerdings nur einen Beitrag leisten. Ohne diesen Beitrag ist jedoch eine Änderung auf Ebene der Landeshaushaltspolitik für die Gebiete von Bildung und Forschung kaum zu erwarten. Vergleichende internationale Untersuchungen belegen immer wieder, daß sich die Investitionen eines Landes in Bildung, Wissenschaft und Forschung auf den Weltmärkten auszahlen. Der internationale Trend zur Erhöhung des Studenten- und Akademikeranteils – als Teil der allgemeinen Verbesserung des Qualifikationsniveaus – hat sich deshalb in vielen entwickelten Ländern durchgesetzt. Es geht bei dieser Frage seit langem nicht mehr um das „Ob”, sondern nur um das „Wann”. Der rasche Übergang in die „Wissensgesellschaft” ist eine zentrale Modernisierungsvoraussetzung für die Gesamtgesellschaft. Länder, welche die neue Entwicklung später als andere aufnehmen, also, wie Deutschland jedenfalls bis 1998, zu wenig oder zu spät in Bildung und Forschung investieren, werden die negativen Folgen auf den internationalen Märkten und auch auf anderen Gebieten zu tragen haben.

Die Defizite Deutschlands bei den Bildungs- und Forschungshaushalten sind vor 1998 auf der Bundesebene auch in den einzelnen Gestaltungsinstrumenten sichtbar geworden, soweit diese einen Finanzierungsbeitrag leisten. Die Finanzierung des Hochschulbaus, gefördert im Rahmen der Bund-Länder-Gemeinschaftsaufgabe für den Hochschulbau, war vor 1998 reduziert und dabei auch die Ausstattung mit neuen Geräten vernachlässigt worden. Vergleichbares gilt u.a. für die Ausbildungsförderung, die 1998 einen Tiefstand erreicht hatte. Auf den beiden genannten Gebieten sind seit 1998 erhebliche Steigerungen in den Mittelansätzen erfolgt. Wichtige Zukunftsinvestitionen werden mit den Zinsersparnissen finanziert, die sich daraus ergeben, daß die Erlöse aus der Versteigerung der UMTS-Lizenzenfür den Abbau von Bundesschulden verwandt werden. Ein Schwerpunkt liegt dabei in Investitionen für Forschung und Bildung. Zu nennen sind im Rahmen des dreijährigen Zukunftsinvestitionsprogramms (2001 bis 2003) u.a. die Ansätze im Bundeshaushalt 2002 für die Genomforschung (etwa 56 Mio Euro), für die Zukunftsinitiative Hochschule (über 180 Mio Euro), mit der attraktive Arbeitsbedingungen in der Forschung insbesondere für den Wettbewerb um Spitzenkräfte geschaffen werden sollen, und die Zukunftsinitiative für Berufliche Schulen (etwa 40 Mio Euro).

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2. Bildung (Hochschule, Berufsbildung, Schule) Im Vordergrund der hochschulpolitischen Aktivitäten stand in der neuen, 1998 begonnenen Legislaturperiode des Bundestages die Reform des „Dienstrechts” an den Hochschulen. Gemeint ist mit dieser Bezeichnung – gegen die Vermutung, die der Begriff selbst nahelegt – vor allem die Reform der Hochschulpersonalstruktur, dabei insbesondere die Neuregelung des Qualifikationsweges zur Professur, und der Hochschullehrerbesoldung (vgl. Bulmahn, 2000). Eine Sachverständigenkommission hatte, unter nicht-stimmberechtigter Beteiligung der Länder und von Verbänden, bis zur Mitte der Legislaturperiode Neuordnungsvorschläge vorbereitet. Diese waren die Grundlage für Abstimmungsgespräche mit den Ländern in der Kultusministerkonferenz und, insbesondere für das Besoldungsrecht, auch in anderen Zusammenhängen. Federführend war für denjenigen Teil der Gesetzesinitiativen, der die Hochschulpersonalstruktur betrifft und durch eine Änderung des Hochschulrahmengesetzes umgesetzt werden mußte, das Bundesministerium für Bildung und Forschung, für die Besoldungsregelungen demgegenüber das Bundesinnenministerium. Von Anfang an war es das Ziel der Bundesregierung, auch mit Rücksicht auf den

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Bundesrat, in dem seit den Niederlagen in einigen Landtagswahlen zu Beginn der Legislaturperiode die sozialdemokratisch geführten Länder keine Mehrheit mehr hatten, eine Einigung mit den von der CDU/CSU regierten Ländern herbeizuführen. Für die Besoldungsregelung, die im Rahmen der Reform des „Hochschuldienstrechts” angestrebt wurde und durch eine Änderung des Bundesbesoldungsgesetzes vollzogen werden sollte, war in jedem Fall die Zustimmung des Bundesrates erforderlich. Die vorgesehene Änderung des Hochschulrahmengesetzes war dann zustimmungspflichtig, wenn in ihr das Verfahren oder die Behördeneinrichtung im Landesbereich geregelt werden sollten; sie konnte zur Not, mit Auswirkungen auf den Inhalt, der bei dieser Variante keine Verfahrensregelungen enthalten durfte, auch ohne Zustimmung des Bundesrates erfolgen. Die Bundesregierung ist in der Tat der Auffassung, daß die vom Bundestag 2001 beschlossene Änderung des Hochschulrahmengesetzes – die 5. HRG-Novelle – nicht zustimmungspflichtig sei. Dies ist allerdings eine Position, die von denjenigen Ländern nicht geteilt wird, die von der CDU/CSU geführt werden.Der darin liegende Dissens kann nach den Bundestagswahlen unter Umständen zu einer


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Auseinandersetzung vor dem Bundesverfassungsgericht führen, da der Bundesrat der 5. HRG-Novelle nicht zugestimmt hat. Die Änderung des Bundesbesoldungsgesetzes zur Neuordnung der Professorenbesoldung hat auf der anderen Seite die Zustimmung des Bundesrates erhalten. Darin wird deutlich, daß wesentliche Grundpositionen der beiden Novellen zur Reform des „Hochschuldienstrechts” auf einem in langwierigen Verhandlungen ausgehandelten Kompromiß beruhen, trotz einiger Vorbehalte der CDU/CSUregierten Länderzur 5. HRG-Novelle insbesondere zur Abschaffung der Habilitation. Vom Konsens getragen sind dementsprechend die Hauptelemente der beiden Novellen: eine neue Besoldungsregelung für Professoren mit erweiterten leistungsbezogenen Elementen und die Einführung der neuen Personalfigur einer Juniorprofessur für die Qualifizierung des wissenschaftlichen Nachwuchses. Der neue Qualifikationsweg wird, so die Vorstellung der Bundesregierung, nach einer längeren Übergangsphase das Habilitationsverfahren ersetzen – der weiterbestehende politische Dissens bezieht sich in diesem Punkt auf die Frage, ob neben dem neuen Amt in einigen Bereichen die Habilitiation erhalten bleiben soll. Die Neuordnung des Qualifikationsweges zur Professur war bereits vor 1998 von

verschiedenen Teilnehmern an der öffentlichen Debatte gefordert worden, auch in Stellungnahmen des Wissenschaftsrats oder von der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Die Reform auf den Weg gebracht und umgesetzt zu haben, wird im Rück- und Ausblick neben dem finanzpolitischen Kurswechsel, der allerdings nicht nur den Hochschulbereich betrifft, der wichtigste hochschulpolitische Erfolg der Legislaturperiode von 1998 bis 2002 sein, trotz der Kritik aus verschiedenen Richtungen, etwa derjenigen der CDU/CSU-Länder oder von der Gewerkschaftsseite, die eine weitergehende Reform u.a. mit dem Ziel gefordert hatte, eine attraktive neue Position für den akademischen „Mittelbau” einzuführen. Der wissenschaftliche Nachwuchs wird im übrigen, soweit hier Initiativen außerhalb des Gesetzgebungsbereichs anzusprechen sind, auch durch besondere Bundesprogramme gefördert, die finanzielle Unterstützung gewähren ( Emmy-Noether-Programm der DFG; Programm „PHD – Promovieren in Deutschland”; vgl. auch Deutsche Nachwuchswissenschaftler in den USA). Nicht ganz so deutlich wird der Erfolg für die Reform der Professorenbesoldung festgestellt werden können. Problematische Zugeständnisse bei der Kompromißbildung, die wegen der Bundesratsmehrheiten notwendig war, werden z. B. in der im

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Bundesgesetz offen gelassenen Frage sichtbar, ob die Länder im Fachhochschulbereich nur ein neues Professorenamt oder, wie an den Universitäten, zwei Ämter einführen. Die nach der Neuordnung erforderliche Leistungsmessung für die Professorenbesoldung wird sich zudem in einigen Sektoren in der Länderund Hochschulpraxis bewähren müssen (wozu von der Bundesregierung Orientierungshilfen gegeben werden, vgl. Leistungsbegutachtungssysteme an staatlichen US-Universitäten). Für die politische Willensbildung, den Verlauf der öffentlichen Auseinandersetzung und die Umsetzung der gesetzlichen Neuregelungen hat sich der Zeitpunkt für die Verabschiedung der Gesetze am Ende der Legislaturperiode als ungünstig erwiesen. Dies gilt auch für die Diskussion über die neuen Vorschriften für Zeitverträge an Hochschulen und Forschungseinrichtungen in der 5. HRGNovelle. Die öffentliche, zum Teil überzogen formulierte Kritik betraf die im neuen Gesetz vorgesehene Obergrenze von 12 Jahren für Zeitverträge; diese Obergrenze schließe, so die Behauptung, in einigen Bereichen die nach altem Recht gegebenen, längeren Beschäftigungsmöglichkeiten in befristeten Arbeitsverhältnissen ohne praktikable Alternative aus. Eine gesetzliche „Klarstellung”, die im Rahmen der 6. HRG-Novelle erfolgen

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soll, wird nach den Vorschlägen des Bundesministeriums für Bildung und Forschung den Beschwerden abhelfen. Die in diesem Zusammenhang geäußerte Kritik (vgl. dazu etwa Kühne) richtet sich wohl weniger gegen die beanstandete Zeitvertragsregelung selbst, als gegen die Vermittlung der Neuregelung und der gesamten hochschul- und forschungspolitischen Politikkonzeption. Der Zeitpunkt der Debatte – einige Monate vor der Bundestagswahl – erklärt dabei zum Teil die Schärfe der Argumentation. Für die Schwerpunkte der von der Bundesregierung im Jahre 2002 eingebrachten 6. HRG-Novelle – die bundesrechtliche Festschreibung der verfaßten Studierendenschaft in allen Ländern und des Verbots von Studiengebühren für das erste berufsqualifizierende Studium – wird ein Kompromiß mit den von der CDU/CSU geführten Ländern nicht möglich sein. Die Bundesregierung hatte seit 1998 immer wieder – erfolglos – versucht, eine Staatsvertragsregelung mit den Ländern zu vereinbaren, nach der sich diese auf eine Gebührenverbotsvariante festlegen sollten. Bei einem Teil der Studierenden gibt es Vorbehalte zum Vorschlag der Bundesregierung für ein Studiengebührenverbot, weil es, so die Argumentation, nicht weit genug gehe, nur das Erststudium betreffe und – zum Beispiel – Regelungen über Studienkonten zulasse.


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Die Gesetzesinitiative ist von der Bundesregierung so angelegt, daß sie nicht der Zustimmung des Bundesrats bedarf. Auch auf diesem Gebiet sind verfassungsrechtliche Auseinandersetzungen nicht auszuschließen. Mit der von der Bundesregierung durchgesetzten Reform des Ausbildungsförderungsgesetzes ist die längst fällige Verbesserung der Studienförderung erreicht worden (vgl. Versprochen und Wort gehalten, S. 168 ff.). Das kommt vor allem Jugendlichen aus Familien mit geringerem Einkommen zu gute. Für die Ausbildungsförderung stehen jährlich 810 Mio Euro mehr als früher zur Verfügung. Etwa 81 000 Studierende sind dadurch zusätzlich in die Förderung aufgenommen worden. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung hatte sich ursprünglich mit allen Ländern in der Kultusministerkonferenz auf eine noch weiter gehende Neuordnung geeinigt, die auch Elemente einer elternunabhängigen Förderung enthielt (nach dem „Dreikörbemodell”). Ein derartiger, „großer” Wurf war jedoch innerhalb der Bundesregierung nicht durchzusetzen. Der Erfolg der in zwei Gesetzesnovellen 1999 und 2001 schließlich realisierten Reform des Bundesausbildungsförderungsgesetzes kann aber in der Bilanz nicht deshalb in Frage gestellt werden, weil ursprünglich eine noch bessere

Lösung angestrebt wurde. Das Problem lag in diesem Fall nicht im Bereich der föderativen Politikverflechtung, sondern betraf die Ressortkoordination innerhalb der Bundesregierung. Auf dem Gebiet der beruflichen Bildung sind ab 1998, in Anknüpfung an schon früher eingeleitete Schritte, neue Ausbildungsberufe geschaffen und damit, vor allem im Rahmen des Bündnisses für Arbeit, die Modernisierungsansätze intensiviert worden. Das bereits erwähnte Zukunftsinvestitionsprogramm der Bundesregierung wird eine Ausstattung von Berufsschulen auch im Bereich der neuen Medien verbessern. Das Sofortprogramm zum Abbau der Jugendarbeitslosigkeit hat sich bewährt. Seit 1999 haben etwa 377 000 Jugendliche an verschiedenen ausbildungs- und beschäftigungsfördernden Maßnahmen teilgenommen. Besondere Bedeutung hatten und haben die Bund-LänderInitiativen für Ostdeutschland. Die PISA-Studie hat, für die Medien eher unerwartet, die Schulpolitik wieder zu einem wichtigen Thema der öffentlichen Debatte gemacht. Die für den Sommer 2002 angekündigte Folgestudie zu den Ergebnissen in den einzelnen deutschen Ländern wird den Fragenkomplex, mitten im Wahlkampf, erneut in die Diskussion bringen. Im Vergleich zu den Bildungsystemen vieler anderer OECD-

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Staaten liegt Deutschland nach der PISAUntersuchung deutlich zurück. Das deutsche Schulsystem produziert unterdurchschnittliche Leistungen in allen Untersuchungsbereichen, also auf dem Gebiet der Lesekompetenz, in der Mathematik, in den Naturwissenschaften und bei der Anwendung des Erlernten im Alltag. Das deutsche Schulsystem ist nach dem internationalen Vergleich ungerechter als das Schulwesen in vielen anderen Ländern. Die soziale Herkunft entscheidet in Deutschland weitaus mehr als in den zum Vergleich herangezogenen anderen Staaten über den Bildungserfolg. Verzögerungen in der Bildungslaufbahn gibt es in Deutschland besonders häufig. Sowohl in den Spitzenleistungen als auch bei den schwächeren Schülern zeigt Deutschland unterdurchschnittliche Werte. Auffällig ist, daß Länder mit Spitzenergebnissen wie Finnland, Kanada, Neuseeland, Australien oder Irland über ein Schulwesen verfügen, in der die Schüler bis mindestens zur 9. Klasse gemeinsam in eine Schule gehen. Der in den einzelnen deutschen Ländern unterschiedlich ausgeprägte, aber insgesamt hochselektive Charakter des deutschen Bildungswesens hat sich also in der Bilanz nicht als leistungsfördernd erwiesen. Es überrascht in diesem Zusammenhang kaum, daß nach der PISA-Studie, wie bereits frühere OECD- und andere

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Untersuchungen bestätigt haben, Deutschland beim Anteil sowohl der Hochschulabsolventen als auch der Studenten am jeweiligen Altersjahrgang ein Defizit aufweist. Deutschland liegt nach dem internationalen Vergleich sowohl in qualitativer – bei den Einzelleistungen nach der PISA-Studie – als auch in quantitativer Hinsicht – nach dem jeweiligen Anteil derjenigen, die über bestimmte Bildungsabschlüsse verfügen – im durchschnittlichen Ausbildungsniveau der Bevölkerung im unteren Drittel der untersuchten Länder. Seine frühere Spitzenposition in Bildung und Wissenschaft etwa in den zwanziger oder zu Beginn der dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts, auf der Grundlage des Schulkompromisses in der Weimarer Verfassung und vor der Verfolgung der Juden, hat es inzwischen längst verloren (vgl. zu den kulturellen Aspekten Nida-Rümelin; zu der in diesem Zusammenhang aufschlußreichen Entwicklung des Spannungsverhältnisses zwischen der Erziehungswissenschaft und der Bildungspolitik in Deutschland s. Weiler). Die Bundesregierung setzt seit 1998 auf eine abgestimmte Politik der bildungspolitischen Veränderung im „Forum Bildung” (siehe I. 2., S. 5) und betont, vor allem nach der Veröffentlichung der PISAStudie, damit einen „Anstoß zu einer neuen Bildungsreform” gegeben zu


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haben. Prioritäre Handlungsfelder sind, so die Position der Bundesregierung auf der Grundlage der Empfehlungen des Forums Bildung, die frühe und individuelle Förderung, die bereits im Kindergarten einsetzen soll, eine Evaluation und Qualitätssicherung z.B. durch die Einführung von Bildungstests an Schulen oder in der Weiterbildung, die gezielte Unterstützung von Kindern mit Migrationshintergrund oder mit sozialer Benachteiligung sowie der flächendeckende Ausbau eines Angebots von Ganztagsschulen mit einem überzeugenden pädagogischen Konzept (Bulmahn, 2002). Bundeskanzler Gerhard Schröder hat für den Ausbau von Ganztagseinrichtungen auch im finanziellen Bereich eine Unterstützung durch den Bund in Aussicht gestellt (vgl. Schröder). Ergebnisse im engeren Sinne sind in der neuen schulpolitischen Debatte noch nicht zu verzeichnen, wenn man einmal

von dem – durchaus vorhandenen – Zusammenhang zwischen höheren Hochschul- und Ausbildungsinvestitionen des Bundes und der ebenso von den neueren KMK-Beschlüssen verfolgten Zielsetzung absieht, das Qualifikationsniveau, die Standardsicherung und den Bildungszugang auch im Schulwesen zu verbessern. Die öffentliche Diskussion hat aber auf jeden Fall den Bund – anders als in den ersten drei Jahren seit dem Regierungswechsel von 1998 – wieder deutlich in die Mitverantwortung für die Schulpolitik geführt – trotz der beschriebenen Kompetenzschwächen auf diesem Gebiet. Er wird künftig stärker an den dadurch begründeten Erwartungen gemessen werden, was voraussichtlich auch die letzte Wahlkampfphase vor der Bundestagswahl 2002 zeigen wird (vgl. dazu etwa PISA – Aufforderung zum Handeln).

3. Forschung und Innovation Eine deutliche Steigerung der Haushaltsansätze ist im Rahmen des finanzpolitischen Kurswechsels seit 1998 auch im Bereich der Forschungsförderung erfolgt. Die Förderung zentraler Schlüsseltechnologien spielt dabei eine besondere Rolle. Beispiele dafür sind die IT-Forschung, die Nanotechnologie, die Mate-

rialforschung oder die Biotechnologie. Die Genomforschung und die Life Sciences bilden ebenso Schwerpunktbereiche. Das Nationale Genomforschungsnetz verzahnt Grundlagenforschung und klinische Forschung. Molekularbiologen, Mediziner oder Chemiker arbeiten zusammen, um für verbreitete Krankhei-

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ten, wie etwa Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder Krebs, neue Verfahren in der Prävention und in der Therapie zu entwickeln. Auf dem Gebiet der Gentechnik kam in der öffentlichen Debatte ethischen und rechtlichen Fragen eine größere Bedeutung zu, wobei zunächst die Themen „Stammzellenforschung” und „Präimplantationsdiagnostik” im Vordergrund standen. Der „Nationale Ethikrat” hat in diesem Bereich besondere Beratungsaufgaben. Die Abstimmung zwischen den nationalen und den supranationalen EU-Instanzen wird auf diesem Gebiet, wie etwa die Diskussionum die EU-Biopatentrichtlinie zeigt, ein wachsendes Gewicht erhalten. Für die außerhochschulischen Forschungseinrichtungen gibt es sowohl in der Finanzierung als auch in der Gesetzgebung starke Bundeskompetenzen (vgl. I.1., S. 1 f.). In diesem Sektor besteht, im Gegensatz zum Hochschulwesen, zum Elementar- oder zum Grundschulbereich, nach dem internationalen Vergleich kein wesentliches Finanzierungsdefizit, intern und extern wohl aber ausgeprägte Kritik an der „Versäulung” in den verschiedenen Forschungsorganisationen von der Max-Planck- bis hin zur Fraunhofer-Gesellschaft. Die Kritik bezog und bezieht sich auch auf die bislang geltenden Finanzverteilungsregeln und

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die Ausrichtung der Forschungsschwerpunkte. Zu wenig sei, so ein in diesem Zusammenhang zu hörendes Beispiel, in der Vergangenheit für die Entwicklung der erneuerbaren Energien oder für die Beurteilung der Risiken in der Kernenergie getan worden. Die neue „programmorientierte Forschungsförderung”, eine Variante der Projektförderung, soll gegenüber der früheren institutionellen Förderung Veränderungen voranbringen, in der Programmsetzung, in der Finanzverteilung und in der Ausrichtung auf den Wettbewerb. Kontrovers diskutiert wurden und werden bei der vom Bundesministerium für Bildung und Forschung auf den Weg gebrachten Neuordnung insbesondere die dafür verwandten Operationswerkzeuge – die Verlagerung von Programmentscheidungsbefugnissen von unten nach oben, ihre Auswirkungen auf die Personalstruktur, die bislang, so einige Debattenteilnehmer, zu geringe Beteiligung von externem Sachverstand sowie das Verhältnis von Grundhaushalt und Programmmittelzuweisung. Unabhängigkeit für einzelne Forschungseinrichtungen durch einen ausreichenden Grundhaushalt sei, so etwa die Gewerkschaften, auch eine Garantie dafür, dass nicht nur main-stream-Trends Programmdefinition und Forschungsresultat bestimmten.


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Ob die programmorientierte Forschungsförderung und die dem entsprechende Reform der Helmholtz-Zentren (der Großforschungseinrichtungen) die erwarteten, wettbewerbsgeprägten Ergebnisse erzielen, kann erst zu einem späteren Zeitpunkt abschließend beurteilt werden. Auffällig ist, ein Punkt, der in der Debatte bislang praktisch keine Rolle gespielt hat, daß kaum ein Zusammenhang in der Zielsetzung der Veränderungen für die Hochschulen einerseits – Verlagerung von Haushalts- und Sachverantwortung vom Land auf die Hochschule – und für die Forschungseinrichtungen andererseits – Verlagerung von Zuständigkeiten auf die nationale Ebene der Forschungseinrichtungen – zu erkennen ist, wenn man einmal von der allgemeinen Forderung nach Effizienz und Leistung absieht. Eher das Gegenteil scheint der Fall zu sein: ein Ausbau der Versäulung auf einer höheren Ebene, nämlich zwischen Hochschulen und Forschungsinstituten, mit allen damit verbundenen problematischen Folgen. Vielleicht wirkt sich auf diesem Gebiet, zumindest in der Diskussionsführung, auch die Tatsache aus, daß sich der Bund in der politischen Praxis weitgehend aus der Debatte über die Hochschulorganisation zurückgezogen hat.

Falls und soweit diese Annahme zutreffen sollte, wäre in dem Rückzug des Bundes ein negatives Entwicklungselement zu erkennen, das vor dem Hintergrund der historisch gewachsenen Finanzierungs- und Organisationsverhältnisse trotz der inzwischen auf anderen Gebieten erzielten Auflockerungserfolge die „Versäulung” eher fördert, als ihr entgegenwirkt. Besondere Innovationsbedeutung hat die Nutzung und Verbreitung moderner Informations- und Kommunikationstechnologien in Wirtschaft und Gesellschaft. Im Hochschulwesen, aber auch in anderen Bildungsbereichen, etwa in der Weiterbildung, stellt sie eine wesentliche Voraussetzung z. B. dafür dar, im entstehenden internationalen Bildungsmarkt mit Studien- und anderen Angeboten überhaupt wettbewerbsfähig zu sein. Die Bundesregierung hat auf diesem Gebiet seit 1998 neue Initiativen und Förderprogramme auf den Weg gebracht. Dazu gehört u.a. das Programm „Neue Medien in der Bildung” zur Förderung der Lehr- und Lernsoftware in den Schulen, Hochschulen und in der Berufsbildung. Von der Bundesregierung mitgetragene Initiativen haben dazu geführt, daß Ende 2001 nahezu alle Schulen an das Internet angebunden sind.

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4. Aufbau in Ostdeutschland; Strukturverzerrungen zwischen den Ländern Auch für die ostdeutschen Länder sind seit 1998 die Ansätze im Bildungs- und Forschungsteil des Bundeshaushalts erhöht worden. Im Jahre 2001 waren dies ungefähr 3,4 Mrd DM, was gegenüber 1998 einen Zuwachs von über 600 Mio DM bedeutet (vgl. Versprochen und Wort gehalten, S. 85). Die größten Anteile entfallen dabei auf den Hochschulbau und die Förderung der außerhochschulischen Forschung. Nach wie vor studieren im Vergleich zu den westdeutschen Ländern in Ostdeutschland noch zu wenig Jugendliche – wobei, wie bereits geschildert, Deutschland insgesamt bei den Studentenanteilen im internationalen Vergleich ein Defizit aufweist. Die ostdeutschen Potentiale in der Industrieforschung liegen in vielen Regionen hinter den entsprechenden Kapazitäten im Westen weit zurück. Gemessen an den Hochschulausgaben pro Kopf der Bevölkerung oder an den Haushaltsanteilen für die Hochschulen belegen einige ostdeutsche Flächenstaaten einen Platz am Ende der deutschen Leistungsskala. Sachsen nimmt dort die erste, Mecklenburg-Vorpommern, das Land mit der kleinsten Bevölkerungszahl in Ostdeutschland, die zweite Position ein.

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Trotz der Auswirkungen des dramatischen Geburtenrückgangs nach 1990, des „Wendeknicks”, gibt es – infrastrukturpolitisch gesehen – keine sinnvolle Alternative zum Ausbau von Wissenschaft und Forschung in Ostdeutschland. Der umgekehrte Ansatz ist vielmehr richtig: Die demographische Perspektive zwingt dazu, die Begabungsreserven ganz auszuschöpfen – was in Ostdeutschland bislang noch weniger als im Westen gelungen ist. Der Anteil der gesamtdeutschen Studierendenquote muß in jedem Fall erhöht werden, um die internationale Wettbewerbsfähigkeit zu erhalten. Daß über die Landesgrenzen hinaus mit attraktiven Angeboten Bewerber für ein Studium an ostdeutschen Hochschulen motiviert werden können, zeigt besonders deutlich die 1991 gegründete Europa-Universität in Frankfurt/Oder. Dort sind etwa 40% der Studierenden Ausländer, mehr als an jeder anderen deutschen Hochschule. Es gibt viel mehr Bewerber aus dem Ausland, vor allem aus Polen, als Studienplätze an der Europa-Universität. Auf diesem Gebiet, im Bereich der Pflege der internationalen Beziehungen, verfügt übrigens auch der Bund über


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eigene Fördermöglichkeiten, die z.B. in einem darauf zugeschnittenen Hochschulsonderprogramm eingesetzt werden könnten. Vergleichbares gilt aber auch für andere Zielsetzungen derartiger Sonderprogramme, etwa für die Einrichtung besonderer Kompetenzzentren z.B. in Greifswald, Wittenberg oder in Frankfurt/Oder, die mit der Erprobung neuer Finanzierungsmodelle und Organisationsstrukturen verbunden sein könnten. Ein Teil der ostdeutschen Länder wird den finanzpolitischen Anforderungen an

den notwendigen Infrastrukturausbau im Hochschulwesen und bei den Forschungsinstituten nicht gerecht (vgl. Faber, Januar 2000). Alle ostdeutschen Länder haben – im historischen Rückblick auf die negativen Folgen der deutschen Teilung für die ostdeutsche Wirtschaft und aus gesamtstaatlicher, aktueller Sicht – einen Anspruch darauf, daß sich der Bund an den erforderlichen Maßnahmen eines Lastenausgleichs beteiligt – wie dies im Ansatz, aber sicherlich nicht der Höhe nach auch unbestritten ist (vgl. Thierse, S. 83 ff.; Faber, 2002).

III. Zwischenbilanz und Perspektiven In diesem Punkt verbindet sich die ostdeutsche Problematik mit einem anderen, regional übergreifenden Defizitaspekt. Gemessen an den Ausgaben pro Kopf der Bevölkerung ist die Kluft in der Hochschulfinanzierung auch zwischen den westdeutschen Flächenstaaten zu groß geworden. Das Instrument der Gemeinschaftsaufgabe Hochschulbau hat nicht ausgereicht, um die Lücke – annähernd – zu schließen. Vor dem Hintergrund der Bildungs- und Wissenschaftsdefizite Deutschlands im OECDVergleich gibt dieser Tatbestand Anlaß, über eine neue Dimension des Bundesengagements nachzudenken, die den

Ausgleich von Strukturunterschieden in ost- und westdeutschen Regionen zum Ziel hat. Dies gilt verstärkt dann, wenn die einzelnen Länder auch auf anderen strukturpolitisch wichtigen Gebieten unterschiedliche Positionen einnehmen. Nach der 5. HRG- und der damit verbundenen Besoldungsnovelle ist eine derartige Entwicklung u. a. bei den Entscheidungen über die schnelle oder verzögerte Einführung der Juniorprofessur sowie über die Ausstattung der Fachhochschulen mit Professorenämtern möglich und in der Praxis in bestimmten Bereichen bereits jetzt abzusehen (vgl. II. 2., S. 8 f.).

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Die zuletzt angesprochene Überlegung führt zu dem ersten Ansatz für eine Zwischenbilanz: Der finanzpolitische Kurswechsel von 1998 zugunsten deutlich höherer Ansätze für die Bildung und Forschung im Bundeshaushalt enthält eine in der Öffentlichkeit viel zu wenig beachtete und gewürdigte positive Weichenstellung. Die Modernisierung in Bildung und Forschung konnte und kann nur erfolgreich sein, wenn sie einen wichtigen – nicht den einzigen – Aspekt im deutschen Rückstand, das finanzielle Defizit, erkennt und Änderungsmaßnahmen einleitet. Der Bund hat dazu finanzpolitisch seit 1998 einen entscheidenenden Beitrag geleistet. Für die Länder läßt sich dies nicht in gleicher Weise feststellen. Zu den wichtigen positiven Bilanzaspekten gehören ebenso die Neuordnung des Qualifikationsweges für den wissenschaftlichen Nachwuchs, die Reform der Ausbildungsförderung, die Förderprogramme sowie die Modernisierung in der dualen Berufsausbildung, die Weiterführung des hier nicht im einzelnen darzustellenden Internationalisierungsansatzes im Hochschulbereich etwa im Rahmen des Bologna-Prozesses oder auf dem Gebiet der neuen Studienabschlüsse (vgl. dazu Zukunft der Wissenschaft, S. 22 f.), Initiativen zur Herstellung der Chancengleichheit zwischen Frauen

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und Männern (vgl.Versprochen und Wort gehalten, S. 233 f., Zukunft der Wissenschaft, S. 15 ff.), die Förderung der neuen Medien, das starke, nicht nur im Finanzpolitischen sichtbare Engagement in der außerhochschulischen Forschung, oder, mit gewissen Einschränkungen (s. dazu I. 2., S. 5 f.), die Einrichtung eines Gremiums für übergreifende bildungspolitische Fragen, des Forums Bildung. Eine Legislaturperiode ist auch für wenigerehrgeizige Zielsetzungen zur politischen Veränderung eine kurze Zeit. Für die strukturellen Ansätze der 1998 eingeleiteten Erneuerung in Bildung und Forschung ist sie in jedem Fall zu kurz. Eine einigermaßen abgewogene, distanzierte Bewertung des Erreichten und des (noch) Nicht-Erreichten wird die von der Bundesregierung erzielten Erfolge nicht gering einschätzen können. Probleme und Schwierigkeiten, die auf dem Gebiet von Bildung und Forschung in besonderer Weise mit der föderativen Willensbildung verbunden sind, können nur in begrenztem Umfang der Verantwortung der bundespolitischen Akteure zugeordnet werden. An diesem Maßstab gemessen wird man eine im Ergebnis beeindruckende sachpolitische Zwischenbilanz zu ziehen haben. Zur Vermittlung und Darstellung der politischen Positionen sowie der Erfolge und der Mißerfolge stellen sich jedoch


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zum Teil Fragen. In einem wesentlichen Aspekt, bei der geschilderten Zurückhaltung des Bundes gegenüber einer bildungsund forschungspolitischen Gesamtkonzeption oder in Hochschulorganisations- und Schulfragen (vgl. I. 2., S. 4 ff.), spielen Konstellationen eine Rolle, die wiederum auf in langen Jahren gewonnenen Erfahrungen mit dem föderativen Bildungssystem beruhen. Die PISA-Studie hat die in der Bundeszurückhaltung angelegten Grenzen, wohl zur Überraschung der politisch Verantwortlichen, gesprengt. Die große bildungspolitische, nicht immer nur im Konsens zu führende Debatte ist, vielleicht nur für eine kurze (Wahlkampf-) Zeit, zurückgekehrt. Für Parteienformationen wie die SPD oder auch die Grünen liegen darin Risiken und Chancen. Chancen eröffnen sich vor allem dadurch, daß mit dem Debattenfeld „Übergang in die Wissensgesellschaft” ein zentraler Modernisierungsansatz für eine Politik angesprochen wird, die sich an der Zielsetzung „Innovation und Gerechtigkeit” orientieren will. Als Leitthema kann dieser Ansatz allerdings nur dann Erfolg haben, wenn er gegen traditionelle Vorbehalte gegenüber Wissenschaftseinrichtungen oder ihren Milieus und auch in der Finanzpolitik durchgesetzt wird. Sozialdemokratisch oder, allgemeiner, reform-orientierte Bildungs- und Wissenschaftspolitik wird

zudem, wie geschildert (vgl. I. 2., S. 6), mit dem Spannungsverhältnis zwischen weitergehenden Modernisierungszielen für und durch Bildung und Forschung sowie dem ausgeprägt dezentralisierten, föderativen System vor größere Herausforderungen gestellt als eine auf dem politischen Gegenpol angesiedelte strukturkonservative Position (zu den damit verbundenen Problemen der Politikverflechtung, der parlamentarisch-demokratischen Legitimation und der Parteienkonkurrenz im föderativen Bildungssystem vgl. Bericht der Bundesregierung vom 22. 2. 1978 sowie Glotz/Faber, S. 1415 ff.). Es könnte sein, daß dieses Spannungsverhältnis künftig auch in der öffentlichen Diskussion über die Frage, wie es zu dem deutschen Rückstand in Bildung und Wissenschaft kommen konnte, eine größere Rolle spielen wird. Eine reformorientierte Position wird sich in den Perspektivenfür die geplante Politik dem damit beschriebenen Problem in jedem Fall, nicht nur aus defensiv-abwehrenden Gründen, stellen müssen – vor allem wenn sie von einer sozialdemokratisch geführten Bundesregierung vertreten wird. Eine erste Konsequenz dieser Einsicht wird es sein, daß die Bundespolitik gesamtstaatliche Verantwortung für Bildung und Wissenschaft – als Einheit jenseits der föderalen Kompetenzgrenzen verstanden – übernehmen muß, z. B. mit

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einem eigenen Bildungsberichtund nicht nur durch Stellungnahmen für einstimmig/einvernehmlich beschließende Gremienoder ebenso mit der weiterhin notwendigen haushaltspolitischen Prioritätensetzung für Bildung und Forschung (vgl. Zukunft der Wissenschaft, S. 6 und 38; Bensel/Weiler, C. 3., S. 12 f.). Ein Ziel dieses Engagements sollte es u. a. sein, mit dem Instrument gemischt finanzierter Bund-Länder-Vereinbarungen nach dem Vorbild der Hochschulsonderprogramme

die Länder für Reformen in ihrem eigenen Zuständigkeitsbereich und für die entsprechenden finanzpolitischen Anstrengungen zu gewinnen

Überarbeitete Fassung eines Beitrags zu dem im Juni 2002 im VSA-Verlag erscheinenden Buch von Ulrich Heyder/Ulrich Menzel/Bernd Rebe (Hrsg.) „Das Land verändert? – Rot-grüne Politik zwischen Interessenbalancen und Modernisierungsdynamik“

Literatur Aufbruch und Erneuerung – Deutschlands Weg ins 21. Jahrhundert; Koalitionsvereinbarung zwischen der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands und Bündnis 90/Die Grünen, Broschüre, Bonn, 1998 Bensel, Norbert/Weiler, Hans N.: Hochschulen für das 21. Jahrhundert. Zwischen Staat, Markt und Eigenverantwortung. Ein hochschulpolitisches Memorandum im Rahmen der “Initiative D21” unter Federführung der DaimlerChrysler Services (debis) AG, Broschüre, Berlin, 2000 Bericht der Bundesregierung über die strukturellen Probleme des föderativen Bildungssystems vom 22.2.1978, BT- Drucks. 8/1551, S.15 ff. Bulmahn, Edelgard: Das neue Dienstrecht setzt auf Leistung und Engagement, in: Die Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte, Dezember 2000, S. 724 ff. Bulmahn, Edelgard: Bildungspolitik ist Strukturpolitik, in: Müntefering/Machnig (Hrsg.): Sicherheit im Wandel, Berlin, 2001, S. 223 ff. Bulmahn, Edelgard: Rede der Bundesministerin für Bildung und Forschung zum Thema „Programmforum Bildung und Forschung in Deutschland“ des SPD-Parteivorstandes am 19. 3. 2002 in Mainz

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Literaturnachweis

Deutsche Nachwuchswissenschaftler in den USA – Perspektiven der Hochschul- und Wissenschaftspolitik, Studie im Auftrag des Bundesministeriums für Bildung und Forschung, Bonn und Berlin, 2001 Faber, Klaus: Ostdeutsche Wissenschaftslandschaften und regionale Strukturdefizite, in: Perspektiven des demokratischen Sozialismus, Marburg, Januar 2000 Faber, Klaus: Zwischen Wirtschaftsbetrieb und Staatsanstalt, in: Die Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte, Dezember 2000, S.737 ff. Faber, Klaus: Verpaßt der Osten die Zukunft?, in: Erziehung und Wissenschaft, Frankfurt a. M., 2/2002, S. 28 ff. Glotz, Peter/Faber, Klaus: Grundgesetz und Bildungswesen, in: Benda/Maihofer/Vogel: Handbuch des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Berlin, New York, 2. Aufl., 1994, S. 1363 ff. Klemm, Klaus: Deutschlands Schulen in der Qualitätsfalle?, in: Frankfurter Rundschau, 6. 12. 2001 Kühne, Anja: Der Nachwuchs will sich nicht “verschrotten” lassen, in: Der Tagesspiegel, 15. 2. 2002, S. 30 Leistungsbegutachtungssysteme an staatlichen US-Universitäten – Survey of faculty performance review practices, Studie im Auftrag des Bundesministeriums für Bildung und Forschung, Bonn und Berlin, 2002 Lernen für das Leben, Erste Ergebnisse der internationalen Schulleistungsstudie PISA 2000, OECD, Paris 2001 Müntefering, Franz:Den Wandel mit Sicherheit verbinden, in:Müntefering/Machnig (Hrsg.): Sicherheit im Wandel, Berlin, 2001, S. 5 ff. Nida-Rümelin, Julian: Alles wandelt sich, der Humanismus bleibt, in: Die Welt, 27. 3. 2002, S. 28 OECD: Bildung auf einen Blick, OECD-Indikatoren, Paris, 2001 PISA – Aufforderung zum Handeln. Gemeisame Erklärung der Bildungsminister der SPD-geführten Länder vom 12. 3. 2002, in: zweiwochendienst, 15. 4. 2002, S. 2 f.

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Literaturnachweis

Schlegel, Jürgen: Noch’n Bericht?!, in: Deutsche Universitätszeitung, Heft 6, 2002, S.7 Schröder, Gerhard: Regierungserklärung des Bundeskanzlers zur Familienpolitik vom 18. 4. 2002, in: http://www.bundesregierung.de (Stand: 19. 4. 2002) Teichler, Ulrich: Studieren bald 50 % eines Geburtsjahrgangs?, in: Das Hochschulwesen, Heft 4, 1999 Thierse, Wolfgang: Zukunft Ost. Perspektiven für Ostdeutschland in der Mitte Europas, Berlin, 2001 Versprochen und Wort gehalten, Zwischenbilanz der rot-grünen Koalition, Herbst 2001, SPD-Bundestagsfraktion, Susanne Kastner, MdB, Berlin, 2001 Weiler, Hans N.: Die zwei Kulturen: Erziehungswissenschaft und Bildungsreform,Vortrag vor dem 18. Kongreß der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft, München, 26. 3. 2002 Wissenschaftsrat, Thesen zur künftigen Entwicklung des Wissenschaftssystems in Deutschland, Köln, 2000 Zukunft der Wissenschaft – Wissenschaftspolitik für die Zukunft, SPD-Parteivorstand, Projektgruppe Jugend der SPD, Vorsitzende: Dr. Christine Bergmann, Broschüre, Berlin, 2001

Klaus Faber, Rechtsanwalt in Potsdam. Klaus Faber ist Geschäftsführender Vorsitzender des Wissenschaftsforums der Sozialdemokratie in Berlin, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern e.V.. Er war von 1994 bis 1999 Staatssekretär des Kultusministeriums von SachsenAnhalt und von 1990 bis 1994 als Abteilungsleiter des zuständigen Landesministeriums in Brandenburg für Wissenschaft und Forschung verantwortlich.

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Die Grünen und der deutsche Osten von Eugen Meckel Die Frage, warum die Grünen im Osten nicht gewählt werden, ist schon als solche interessant. Es geht um die aus der Fusion ‚Bündnis 90’ und der Partei ‚Die Grünen’ hervorgegangene Partei ‚Bündnis 90/Die Grünen’. Auch wenn außer dem Namen nichts oder fast nichts vom Bündnis 90 übrig geblieben ist, die Verkürzung auf den Namen Grüne ist signifikant und – wie es mir scheint – auch richtig. Die inhaltliche Positionierung der heutigen Grünen fußt auf der Entwicklung der 1980 im Westen aus einem Zusammenschluss außerparlamentarischer Oppositionsgruppen gegründeten Partei. Die Vereinigung der Westpartei Die Grünen und der Ostpartei Bündnis 90 zu einer Partei erfolgte erst im Mai 1993. Zu diesem Zeitpunkt hatten sich alle anderen relevanten Parteien aus Ost und West längst zusammengeschlossen. Das gesellschaftliche Umfeld, das zur Gründung der einzelnen Gruppen des Bündnis 90 von ‚Demokratie Jetzt’ bis zur ‚Initiative Frieden und Menschenrechte’ oder dem ‚Neuen Forum’ reicht, gab es nicht mehr. Der Aufruf zum Neuen Forum stellte im September 1989 einen Aufruf zu einer

offenen und ehrlichen Diskussion über all die gesellschaftlichen Probleme in der DDR dar, nicht mehr, aber auch nicht weniger. Das erste Missverständnis war, die Unterschrift unter diesen Aufruf als Beitritt zu einer Organisation zu werten, wie es im Folgenden oft geschah. Eigentlich ging es mit dem Aufruf doch darum, den Deutungs- und Wahrheitsanspruch des SED-Staates zu durchbrechen. Die folgenden einschneidenden und umwälzenden Entwicklungen ab 1989/1990 und der folgende Zusammenbruch der Wirtschaft in Ostdeutschland sind bekannt und sollen hier nicht Thema sein. Für das Bündnis 90 zeigte sich schon bei den Wahlen zur frei gewählten Volkskammer 1990, dass sich die Wähler am Parteiensystem Westdeutschlands orientierten und nicht die kleinen, aber für die Beendigung des SED-Staates so wichtigen Parteien und Gruppierungen wählten. Die übergroße Mehrheit wollte nicht noch einmal einen wie auch immer gearteten gesellschaftlichen ‚Feldversuch’ in einem kleineren deutschen Teilstaat. Zum Zeitpunkt der Verei-

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Eugen Meckel

nigung der beiden Parteien Grüne und Bündnis 90 1993 (verstand sich Bündnis 90 als eine Partei?) hatten die anderen Parteien bereits die Erfahrung gemacht, dass die Ostverbände wie Regionalableger der Parteien ohne oder mit sehr geringem Einfluss auf die Gesamtparteien waren und blieben. Die Grünen (West) hatten bei den ersten gesamtdeutschen Bundestagswahlen im Dezember 1990 die 5-%-Hürde verfehlt und die Wahlliste Bündnis 90/Die Grünen wurde durch Vertreter des Bündnis 90, also ostdeutschen Abgeordneten, vertreten, die nur durch Sonderregelungen in den Bundestag gekommen waren. In diese Phase fällt die Vereinigung beider Parteien. Im Folgenden konnte schon an den Personen, die für das Bündnis 90 in den Landesparlamenten und im Bundestag saßen, die eigentlich logische, aber im Konkreten überraschende Entwicklung des Auseinanderdividierens beobachtet werden. Alle Gruppen waren sich zu DDR-Zeiten einig in dem, wogegen sie waren. Jetzt war die Situation eine gänzlich andere. Die nach dem 3. Oktober 1990 importierte Gesellschaftsordnung war eine in den Grundzügen durch die Alliierten und die ‚Väter des Grundgesetzes’ begründete und in 40 Jahren durch viele Entwicklungen und Auseinandersetzungen geformte, sehr differenzierte

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Gesellschaft. Alles schien geregelt, und von westlicher Seite erwartete man nur, dass jeder seinen Platz in dieser Gesellschaft findet und einnimmt. Alle Versuche, im Zuge der Vereinigung oder danach die gesamtdeutsche Gesellschaft mitzubestimmen, schlugen fehl. Warum sollten die über 60 Millionen Westdeutschen ihr Grundgesetz ändern, mit dem sie 40 Jahre gute Erfahrungen gemacht hatten? Die Ostdeutschen hatten die Freiheit aus der Betongesellschaft des SED-Staates selbst erkämpft, hatten aber nicht die Chance, diese Freiheit selbst auszugestalten. Durch die Vereinigung wurde eine sehr entwickelte demokratische Gesellschaft übernommen, die aber nicht die eigene war. Wer im Westen geboren wurde, hat – wenn er älter war – die Entwicklungen und Auseinandersetzungen selbst miterlebt, im besten Falle selbst mitbestimmt, oder er ist hineingeboren worden und war dort zu Hause. Für Ostdeutsche war erst einmal alles fremd. Bündnis 90 war Name und Programm. Das Bündnis bezog sich auf das Jahr 1990 und war da wichtig und sinnvoll. Später in der neuen Gesellschaft konnte sich nur das Profil der Grünen gesamtdeutsch behaupten. Die vielen verschiedenen Ideen innerhalb des Bündnis 90, aber auch die vielen verschiedenen Personen waren nicht mehr


Die Grünen und der deutsche Osten

zusammenzuhalten. Man ging getrennte Wege. Der brandenburgische Landesverband von Bündnis 90 stimmte im April 1993 über das Zusammengehen mit den Grünen ab. Von damals 693 Stimmberechtigten (heute hat Bündnis 90/Die Grünen noch 504 Mitglieder, Stand 31.12.2001) stimmten nicht einmal die Hälfte ab, und nur 171 waren für eine Fusion (146 dagegen). Zu diesem Zeitpunkt war die Partei aber Koalitionspartner der Ampelkoalition in Brandenburg und stellte zwei Minister. Dies erforderte einen Klärungsprozess in der Fraktion, um die Regierungsfähigkeit zu erhalten. Nur Bildungsministerin Marianne Birthler will von den drei Köpfen der Landespartei die Parteifusion. Umweltminister Matthias Platzeck wird nicht Mitglied der neu fusionierten Partei und auch Günter Nooke, der Fraktionsvorsitzende und dezidierte Gegner der Fusion, macht als Parteiloser weiter. Die Fraktion Bündnis 90 benennt sich um in Fraktion Bündnis und arbeitet abgekoppelt von der Partei als frei schwebendes Raumschiff frei gewählter Abgeordneter weiter. Am 3. Mai 1993 vereinbart die Fraktion:„Die Fraktion versteht sich als Interessenvertretung ihrer Wählerinnen und Wähler, nicht einer Partei oder politischen Organisation. Die Fraktion ist – mehr als zu Zeiten ihrer Gründung im Oktober 1990 – ein Zweckbündnis unab-

hängiger Bürgerinnen und Bürger auf Zeit. Die Fraktion arbeitet insofern auch unabhängig vom Neuen Forum, dem einzigen Rechtsträger aus der Zeit der Listenaufstellung, der neuen Partei Bündnis 90/Die Grünen und sich neu gründender Bürgerbündnisse.” Ohne Rückkopplung mit der Partei und mit zwei Spitzenpolitikern, die nicht für die neue Partei standen, ging die Wahl 1994 für die Bündnis/Grünen verloren. Marianne Birthler hatte schon vorher die Landesregierung verlassen. Es wurden nur noch 2,89 % erreicht. Im Folgenden führt der politische Lebensweg Günter Nooke für die CDU in den Bundestag und Matthias Platzeck ist heute Parteivorsitzender des SPD-Landesverbandes in Brandenburg. Nach 1994 gibt es nur noch in Sachsen-Anhalt eine ostdeutsche Landtagsfraktion der Bündnis/Grünen für eine Legislaturperiode. Die dortige rot-grüne Minderheitsregierung wurde von der PDS gestützt. Hier spielt noch einmal Hans-Jochen Tschiche als Vermittler zwischen den beiden Regierungsfraktionen und der PDS-Fraktion eine wichtige Rolle. Er hat aus Altersgründen 1998 nicht noch einmal für den Landtag kandidiert. Ab Mitte der 90-er Jahre hatten die ostdeutschen Vertreter von Bündnis 90/Die Grünen alle ihre auch in der Öffentlichkeit bekannten Spitzen verloren. Heute sitzt nur noch

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Eugen Meckel

Werner Schulz als Wirtschaftspolitischer Sprecher für die Grünen im Bundestag. Alle anderen sind entweder nicht wiedergewählt worden oder haben sich politisch und beruflich anders und neu orientiert. Wenn es also stimmt, dass Politik zu wesentlichen Teilen über Personen transportiert wird, gibt es niemanden, der diese Funktion erfüllen könnte. Und wenn Werner Schulz auf der Bundesdelegiertenkonferenz der Grünen in Rostock fordert, die Grünen müssten gegen kollektive Migräne und Selbstmitleid in Ostdeutschland streiten, aus Problemen müssten Projekte werden, klingt das in Problemregionen genau so wie Äußerungen anderer Politiker, die von außen auf ein Jammertal schauen. Im Osten werden die Grünen als Westpartei wahrgenommen. Der Bundesvorsitzende Fritz Kuhn stellte ebenfalls in Rostock für die Grünen drei Anliegen in den Vordergrund: die Partei soll sich profilieren als Partei der ökologischen Modernisierung, als Partei der sozialen Gerechtigkeit und als Partei der Bürgerrechte. Vor allem die ökologische Modernisierung ist als Botschaft im Osten angekommen. Für eine Partei der sozialen Gerechtigkeit stehen glaubwürdigere und größere Alternativen zur Verfügung. Viele halten im Osten eine Partei für Bürgerrechte kaum noch für

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nötig. Das Problem ist nicht mehr die fehlende Freiheit, dieses Problem ist (siehe oben) erledigt, sondern manchmal zuviel Freiheit. Es herrscht vielmehr eine große Unsicherheit zum Beispiel über den als lax empfundenen Umgang mit Kriminalität.„Kaum festgenommen, sind die doch schon wieder draußen.” Das größte Problem ist nach wie vor aber die fehlende Sicherheit in fast allen Bereichen, vor allem aber die Sicherheit des Arbeitsplatzes. Kompetent in Sachen Ökologie – dafür stehen die Grünen. Via Fernsehen schon in den 80-er Jahren sind die Atomkraftkämpfe genauso bekannt wie der Kampf gegen die Nachrüstung aus der Anfangszeit der Grünen, die Aktivitäten für eine biologische Landwirtschaft und der Kampf um saubere Energielösungen. Diese Problemfelder werden ja auch heute noch bearbeitet, aber wie kommt das an? Wenn die deutschen Verpflichtungen beim Umweltgipfel in Rio, den CO2-Ausstoß entscheidend zu senken, nur erfüllt werden, weil ostdeutsche Großbetriebe reihenweise ihre Arbeit einstellen, ist das kaum ein positives Signal. In Ostdeutschland verlieren die Menschen die Arbeit, damit die Umwelt in ganz Deutschland entlastet wird. Dieses Geschäft macht wohl kaum irgendwo ein Arbeitnehmer freiwillig. Südlich von Leipzig konnte man zu DDR-Zeiten als


Die Grünen und der deutsche Osten

Zugreisender die Fenster kaum noch öffnen (jedenfalls ging es mir so), weil sonst der beißende Gestank nach faulen Eiern eindrang. Eine ganze Stadt aus Chemieanlagen war aus dem Fenster zu sehen. Kilometerweit stank es entsetzlich, aber dort wohnten Menschen, hing Wäsche auf der Leine, spielten Kinder, ging man arbeiten. Die Chemiestadt bei Böhlen ist weg, es stinkt nicht mehr, aber immer noch wohnen dort Men schen, hängt Wäsche auf der Leine und spielen die Kinder. Aber in ein Chemiewerk geht keiner oder kaum noch einer arbeiten. Der Riesenschritt von der „Umweltpolitik der DDR”, als schon das Erfassen von Umweltdaten in Luft und Wasser ein Straftatbestand war, wir es nicht registrierten, wie es auf den Straßen nach Zweitaktbenzin stank, zu den Verhältnissen heute ist riesig. Weit verbreitet ist die Auffassung: weitere Verbesserungen muss man sich leisten können. Die sozialen und wirtschaftlichen Probleme sind wesentlich dringender. Bleibt noch die Tradition der Grünen als Oppositions- und Protestpartei, zumindest bis 1998. Für grundsätzliche Opposition gegen die heutige Gesellschaft taugen die Grünen im Osten auch nicht. Dafür waren und sind sie schon zu sehr Teil des aus dem Westen geerbten Gefüges. Die nach der Vereini-

gung zwangsläufig eintretenden einschneidenden Veränderungen wurden von vielen als Kolonialisierung empfunden, zumal sich dazu mitunter eine gehörige Portion Arroganz und Gedankenlosigkeit bei einer ganzen Reihe aus dem Westen kommender Entscheidungsträger gesellte. Aus dem Fokus der deutschen Vereinigung, Berlin, das als Bundesland aus Ost und West besteht, fallen mir sofort zwei eigentlich fast unpolitische Beispiele ein, die dies verdeutlichen. Aus nicht nachvollziehbaren Gründen wird in Berlin das Schauspielhaus von Karl Friedrich Schinkel umbenannt und bekommt den sperrigen Titel „Konzerthaus am Gendarmenmarkt”, weil es für den Entscheidungsträger nicht in die Westberliner Denke passt. Der Berliner Kulturtempel von gleichwertiger Bedeutung wie die Berliner Staatsoper verliert mal eben so seinen Namen. In Leipzig sollte man mal versuchen, das Gewandhaus umzubenennen, weil dort nicht mehr die Tuchmacherzunft residiert. Die U-Bahn-Station Frankfurter Tor, ein markanter Bau in der Karl-Marx-Allee, wird umbenannt in Rathaus Friedrichshain. Das Rathaus ist ein öder Plattenbau und noch nicht einmal direkt an der U-Bahn. Der Protest gegen dieses Konglomerat aus den absolut notwendigen Veränderungen und den aus Eigeninteresse oder Gedankenlosig-

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Eugen Meckel

keit und/oder Arroganz herbeigeführten Umgestaltungen kommt ausschließlich der PDS zugute. Sie versucht mit nicht geringem Erfolg, sich als die ostdeutsche Interessenvertretung zu profilieren und dabei gleichzeitig grundsätzlich Opposition zu sein. Nach dem Regierungseintritt 1998 haben die Grünen auch ihren Ruf als Antikriegspartei verloren. Für ihre Anhänger, auch wenn es im Osten wenige sind, ist

der Spagat zwischen der pazifistischen Tradition und den Bundeswehreinsätzen im ehemaligen Jugoslawien und in Afghanistan kaum vermittelbar. So bleibt festzustellen: die Grünen haben im Osten keine Personen, die integrierend nach innen und anziehend nach außen in der Öffentlichkeit stehen, und sie haben kein Thema, das in der Lage wäre, nennenswerte Wählergrößen an die Partei zu binden.

Eugen Meckel ist Leiter des Landesbüros Brandenburg der Friedrich-Ebert-Stiftung Kontakt: meckele@fes.de

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Die rot-grüne Regierungsbilanz in Stichworten von Lars Krumrey

Gerhard Schröder ist 1998 mit einer „Garantie-Karte”in den Wahlkampf gezogen. Auf dieser wurden den Wählerinnen und Wählern unter dem Stichwort „Innovation und Gerechtigkeit” 10 Versprechen gegeben. Der Politik-Wechsel war aber wesentlich tiefgreifender. Nicht immer sind diese Schritte so spektakulär und medienwirksam wie die Änderung des

Staatsangehörigkeitsrechts oder der Atomausstieg. Nichtsdestotrotz haben viele Änderungen nachhaltig Wirkung auf die Zukunft unsere Landes und die in ihm lebenden Menschen. Aus diesem Grunde dokumentieren wir an dieser Stelle wichtige Änderungen, die den Politik- und Mentalitätswechsel seit 1998 unterstreichen.

Arbeitsmarkt-Politik Die Beschäftigung hat im Vergleich zu 1998 um 1,38 Mio. Beschäftigte zugenommen. Gleichzeitig ist die Arbeitslosigkeit von 4,28 Mio auf 3,8 Mio. Erwerbslose gesunken. Lohn- und Sozialdumping werden durch das Arbeitnehmerentsendegesetz bekämpft. Es gibt jetzt verbindliche Mindestlöhne in zwei Qualifikationsebenen. Das Prinzip „gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort“ gilt auf Dauer.

Illegale Beschäftigung wird mehr und strenger kontrolliert. Erste Erfolge sind bereits sichtbar. Die Zahl der eingeleiteten Straf- und Ermittlungsverfahren ist stark angestiegen. Geldbußen in Höhe von 119 Mio. € wurden bisher verhängt. Zudem wird mehr Personal für Kontrollen bereitgestellt. Dem Missbrauch geringfügiger Beschäftigungsverhältnisse, den früheren sog. 630-DM-Jobs ist ein Riegel vorgeschoben worden.

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Die rechtlichen Rahmenbedingungen für Teilzeitarbeit sind verbessert. Die Mittel für aktive Arbeitsmarktpolitik sind um über 2,5 Mrd. € gestiegen. Der Anteil der aktiven Arbeitsmarktpolitik an den arbeitsmarktpolitischen Ausgaben ist von 29,1 % 1998 über 33,4 % im Jahr 2000 auf 35,6 %im Jahr 2001 gesteigert worden. Im Haushalt 2002 sind 22,5 Mrd. € vorgesehen. Mit dem Job-AQTIV-Gesetz wird die Arbeitsförderung grundlegend reformiert, die Arbeitsvermittlung modernisiert und die Qualifizierung gefördert. Das sog. Mainzer Kombilohnmodell wird bundesweit ausgedehnt. Damit soll Sozialhilfeempfängern ein Anreiz gegeben werden, auch geringer entlohnte Tätigkeiten anzunehmen. Hinzu kommt eine grundlegende Organisationsreform der Bundesanstalt für Arbeit zu einem modernen Dienstleister. Erste Schritte sind eingeleitet. Der neue Vorstand arbeitet nach privatwirtschaftlichen Methoden. Der Kündigungsschutz gilt auch wieder in kleinen Betrieben. Davon profitieren mehr als 2 Mio. Arbeitnehmerin-

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nen und Arbeitnehmer. Die volle Lohnfortzahlung im Krankheitsfall ist wiederhergestellt. Alle Arbeitnehmer erhalten im Krankheitsfall und bei notwendigen Kuren wieder 100 % ihres Arbeitsentgelts. Gleichzeitig entfällt die bisher mögliche alternative Anrechnung von Krankheitstagen auf den Urlaub. Schlechtwettergeld für Bauarbeiter gibt es wieder. Bauarbeiter werden bei kalter Witterung nicht mehr arbeitslos. Die Neuregelung ist am 1. November 1999 in Kraft getreten. Die Reform des Betriebsverfassungsgesetzes stellt eine zeitgemäße Antwort auf die Veränderungen in der Arbeitswelt dar. Sie wirkt dem langsamen Ausbluten der Betriebsverfassung entgegen und verbessert die Arbeitsmöglichkeiten der Betriebsräte. Auch in kleineren und in ausgelagerten Betrieben können wieder mehr Betriebsräte gewählt werden. Das Gesetz zur Regelung der Tariftreue, das die tariflich korrekte Bezahlung der Arbeitnehmer bei der Vergabe von öffentlichen Aufträgen regelt, ist vom Bundestag verabschiedet.


Die rot-grüne Regierungsbilanz in Stichworten

Ausbildung und Beschäftigung Das „Sofortprogramm zum Abbau der Jugendarbeitslosigkeit“ hat bisher über 400.000 Jugendlichen eine neue Chance verschafft und ihnen eine berufliche und damit auch eine neue Lebensperspektive eröffnet. Das Programm, das seit dem 1. Januar 1999 läuft, wird bis Ende 2003 fortgesetzt und ist mit rd.1 Mrd. € jährlich ausgestattet. Vom 1. Januar 1999 bis 31. Januar 2002 wurden rd. 406.000 junge Menschen unter 25 Jahren gefördert. Das Programm greift und wird angenommen. Gut 159.000 Jugendliche traten im letzten Jahr in eine Maßnahme ein,

das waren knapp 38 % mehr als noch im Jahr 2000. Mehr als 80 % der Teilnehmer waren vor dem Beginn der Maßnahmen arbeitslos, jeder Dritte länger als 6 Monate. Der Frauenanteil liegt bei 40 %. Die Ausbildungsbilanz ist seit zwei Jahren positiv. Zum ersten Mal seit 1995 war schon im Jahr 2000 die Zahl der offenen Stellen höher als die Zahl der Bewerber für eine Ausbildungsstelle. Ende September 2000 gab es 2.048 mehr offene Ausbildungsstellen im dualen System als Bewerber. Im Jahr 2001 ist die Zahl auf 4.073 gestiegen.

Aufbau Ost Der Aufbau Ost und die Verwirklichung der inneren Einheit Deutschlands gehören zu den wichtigsten Zielen der Koalition. Trotz strikter Haushaltsdisziplin und erheblicher Einsparungen in allen Bundesressorts wurden die Ausgaben für den Aufbau Ost auf hohem Niveau fortgeführt und in für den Aufbau Ost entscheidenden Bereichen erhöht und durch neue Programme ergänzt: Hilfen für Bildung und Forschung, Ausbau der wirtschaftsnahen Infrastruktur, Förderung von Investitionen und Innovationen.

Mit neuen Maßnahmen wurde für Arbeitslose die Brücke zum ersten Arbeitsmarkt verstärkt und ausgebaut, durch eine aktive Arbeitsmarktpolitik werden auch in Zukunft soziale Verwerfungen vermieden. Das von 1999 bis zum Jahr 2002 laufende Investitionsprogramm umfasst für die Verkehrsprojekte in den neuen Ländern bei den Bundesfernstraßen ein Volumen von knapp 10 Mrd. € und bei den Schienen-Investitionen ein Volumen von 6,5 Mrd. € . Damit fließt hier mehr als die

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Hälfte der bundesweiten Investitionen in die neuen Länder. Bund und Länder haben sich Ende Juni 2001 auf eine Neuordnung des Länderfinanzausgleichs und den Solidarpakt II geeinigt. Damit haben die neuen Länder und ihre Kommunen frühzeitig Klarheit und vor allem Planungssicherheit. Im Anschluss an den Solidarpakt I erhalten sie für den Zeitraum von 2005 bis Ende 2019 aus der Bundeskasse insgesamt 156,5 Mrd. €. Zusätzlich hat die Bundesregierung ein neues Programm „Stadtumbauprogramm Ost – für lebenswerte

Städte und attraktives Wohnen“ beschlossen. Das Programm umfasst Finanzhilfen für Wohnungswirtschaft und Städtebau im Umfang von jährlich 153 Mio. € bzw. über 450 Mio. € im Zeitraum 2002 bis 2004. Im Bundeshaushalt 2001 betrugen die Gesamtmittel des Bundes für den Aufbau Ost 16,12 Mrd. € . Darauf entfielen auf den Bereich Bildung und Forschung 667 Mio. €, den Bereich Wirtschaftsförderung 3,38 Mrd. €, die Infrastrukturförderung 2,73 Mrd. € und die Bundesergänzungszuweisungen 7,596 Mrd. €.

Haushaltskonsolidierung Die Regierungskoalition von SPD und Bündnis 90/ Die Grünen hat begonnen, die Staatsfinanzen zu konsolidieren: Das Zukunftsprogramm 2000 war ein tiefer Einschnitt mit einem Einsparvolumen von 30 Mrd. DM schon im ersten Jahr. Damit wurde die Trendwende bei der Verschuldung geschafft. Der Haushalt 2000 enthielt wichtige Konsolidierungsschritte, setzte aber auch die nötigen Schwerpunkte bei Investitionen in Bildung, aktiver Arbeitsmarktpolitik, Familienpolitik und Kindergeld, dem Sofortprogramm gegen Jugendarbeitslosigkeit und beim Aufbau Ost. Die Haushalte 2001 und 2002 setzen den Konsolidierungskurs fort. Gleichzeitig

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werden Mittel für Verbesserungen beim Wohngeld, Erziehungsgeld, BAföG und der inneren Sicherheit bereitgestellt. Mit dem Bundeshaushalt 2002 haben die Koalitionsfraktionen zum vierten Mal in Folge ein Budget beschlossen, dessen Neuverschuldung geringer ist als im Vorjahr. Ziel bleibt es, im Jahr 2006 einen ausgeglichenen Haushalt ohne einen einzigen Euro Kreditaufnahme zu präsentieren. Damit ist ein wichtiger Schritt hin zu einer zukunftsfähigen und nachhaltigen Haushaltspolitik gegangen worden. Die nachfolgenden Generationen werden nicht mehr die Schulden der Vergangenheit begleichen müssen.


Die rot-grüne Regierungsbilanz in Stichworten

Ökologische Steuerreform und Senkung der Lohnnebenkosten Die ökologische Steuerreform ist ein wichtiges Projekt der sozialen und ökologischen Modernisierung. Der Faktor Arbeit wird von Kosten entlastet und der Faktor Energieverbrauch wird belastet. Die Einnahmen werden an Arbeitnehmer und Unternehmen durch die Senkung der Rentenversicherungsbeiträge zurückgegeben. Am 1. April 1999 ist die erste Stufe der Ökosteuer in Kraft getreten, durch die der Rentenversicherungsbeitrag um 0,8 Prozentpunkte auf 19,5 % gesenkt werden konnte. Am 1. Januar 2000 folgte die zweite Stufe und am 1.Januar 2001 die dritte

Stufe. Der Rentenversicherungsbeitrag beträgt seitdem 19,1 %. Die vierte Stufe vom 1. Januar 2002 hat dazu beigetragen, den Beitragssatz weiter zu stabilisieren. Der Rentenversicherungsbeitrag ist damit in diesem Jahr um 1,5 Prozentpunkte geringer, als er ohne die Einnahmen aus der Ökosteuer wäre. Die Anhebung von Steuern auf umweltbelastenden Energieverbrauch ist moderat und kalkulierbar. Durch die Einnahmen aus der Ökosteuer werden zudem die Nutzung regenerativer Energiequellen und der rationelle Energieeinsatz in diesem Jahr mit 200 Mio. € gefördert.

Steuerliche Entlastung Die Erhöhung des steuerlichen Grundfreibetrages und die Absenkung des Eingangssteuersatzes haben die Arbeitnehmer deutlich entlastet. Durch die drei Stufen 2001, 2003 und 2005 der Steuerreform 2000 haben die privaten Haushalte rund 16,7 Mrd. € mehr zur Verfügung. Alle Steuerrechtsänderungen zusammen führen bis zum Jahr 2005 im Privatbereich zu Entlastungen von rd. 41,1 Mrd. €.

1998 betrugen der Eingangs- und der Spitzensteuersatz 25,9 % bzw. 53 %. Im Jahr 2005 werden sie nur noch 15 % bzw. 42 % betragen. Gleichzeitig wurde der Grundfreibetrag von 6.322 € auf 7.235 € in diesem Jahr angehoben. Zum 1. Januar 2005 steigt er auf 7.664 € . Eine Familie mit zwei Kindern und einem Jahreseinkommen von 30.000 Euro hat 2002 rd. 1.900 € mehr zur Verfügung (einschließlich Kindergeld) als 1998.

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BAföG-Reform Seit dem 1. April 2001 greift die BAföGReform, die die Bedarfssätze durchgängig heraufsetzt und den Höchstsatz auf 1.140 DM (582,88 € )steigen lässt. Das Kindergeld wird zukünftig nicht mehr bei der BAföG-Berechnung angerechnet und die Freibetragsgrenzen werden erheblich erhöht, so dass zwei Kinder in der Ausbildungsförderung die Vollförderung erhalten,wenn die Eltern bis 3.900 DM (1.994 €) brutto verdienen (bisherige Grenze: 2.900 DM). Die Förderbeträge zwischen Ost und West wurden vollständig vereinheitlicht und die Gesamtdarlehensbelastung für Studierende auf 10.000 € reduziert.

Durch diese Reform des BAföG werden in diesem Jahr rd. 500 Mio. € mehr für die Förderung bereitgestellt. Ca. 81.000 junge Menschen erhalten zusätzlich BAföG. Dies bedeutet eine deutliche Trendwende bei der Förderung von Studierenden. 1998 wurden unter der alten CDURegierung lediglich noch 341.000 Schüler und Studenten mit BAföG gefördert, bis 2002 werden es wieder 445.000 sein. Das reformierte Aufstiegsförderungsgesetz, das sogenannte Meister-BAföG, ist am 1. Januar 2002 in Kraft getreten.

Das Wohngeld steigt Damit wird die berufliche Bildung mit der Hochschulbildung gleich behandelt. Das Wohngeld ist von der alten Regierung 10 Jahre lang nicht an steigende Mieten und Preise angepasst worden. Rot-Grün hat ein Wahlversprechen eingelöst und im Zuge der Beratung des Zukunftsprogramms eine Erhöhung des Wohngeldes beschlossen. Die Wohngeldnovelle bringt seit dem 1. Januar 2001 Leistungsverbesse-

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rungen in Höhe von 700 Mio. € pro Jahr. Insbesondere Familien mit Kindern kommt die Erhöhung zugute. Etwa 420.000 Haushalte kommen zusätzlich zur Erhöhung in den Genuss von Wohngeld. Das durchschnittliche in den alten Ländern gezahlte Wohngeld wird sich von 283 DM pro Monat auf 368 DM (188 € )erhöhen. Die Wohngeldleistungen von Bund und Ländern werden sich in diesem Jahr auf 4,1 Mrd. € belaufen.


Die rot-grüne Regierungsbilanz in Stichworten

Familien- und Kinderpolitik Der Bundestag hat Ende Juni 2001 eine nochmalige Erhöhung des Kindergeldes für das erste und zweite Kind zum 1. Januar 2002 beschlossen.Es beträgt seit 1. Januar 2002 154 € (301,20 DM)pro Kind und Monat. Damit ist das Kindergeld jetzt rd. 42 € pro Monat höher als 1998. Es ist insgesamt dreimal in dieser Legislaturperiode erhöht worden. Die Kinderfreibeträge sind neu gestaltet. Das Gesetz lässt erstmalig im deutschen Steuerrecht den Abzug von Kinderbetreuungskosten zu, die wegen Erwerbstätigkeit der Eltern entstehen. Es wurde ein neuer Freibetrag für den Betreuungsund Erziehungs- oder Ausbildungsbedarf eingeführt. Insgesamt sind die steuerlichen Freibeträge für jedes Kind auf 5.808 € angestiegen. Die Familienleistungen sind in dieser Wahlperiode im Vergleich zur vorangegangenen von 148,1 Mrd. € auf 196,7 Mrd. € gestiegen. Die Rahmenbedingungen für die Vereinbarkeit von Erwerbstätigkeit und Kindererziehung sind neben der steuerlichen

Absetzbarkeit erwerbsbedingter Betreuungskosten auch durch die Novellierung des Bundeserziehungsgeldgesetzes deutlich verbessert worden. Neben der Anhebung der Einkommensgrenzen wurde die Wahlfreiheit für Mütter und Väter bei der Ausgestaltung und Aufteilung der Elternzeit (früher: Erziehungsurlaub)erheblich ausgebaut. Alternativ zum monatlichen Erziehungsgeld von 307 € (600 DM)über einen Zeitraum von 24 Monaten erhalten Eltern, die sich für eine verkürzte Bezugsdauer von 12 Monaten entscheiden, monatlich bis zu 460 € (900 DM). Die Wohngeldreform, die seit dem 1. Januar 2001 in Kraft ist,stellt insbesondere für Familien mit Kindern eine Verbesserung dar. Die Anhebung der Tabellenwerte und die Erhöhung der Abzugsbeträge für Unterhaltsleistungen bei der Einkommensermittlung sind hierbei die wichtigsten Änderungen. Durch eine Änderung des Bürgerlichen Gesetzbuches ist die gewaltfreie Erziehung zum Leitbild erhoben.

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Politik für die Frauen Das Bundeskabinett hat das Aktionsprogramm „Frau und Beruf“, das wesentliche Schritte zur Verwirklichung der Gleichstellung von Frau und Mann enthält,am 23. Juni 1999 beschlossen. Es wird Schritt für Schritt umgesetzt. Der Bundestag hat auf Initiative der Koalition das Gleichstellungsdurchsetzungsgesetz beschlossen, das Frauen und Männer in der Bundesverwaltung und den Gerichten des Bundes gleichstellt. Bundesregierung und Vertreter der Spitzenverbände der deutschen Wirtschaft haben eine Vereinbarung zur Förderung der Chancengleichheit von Frauen und Männern in den Unternehmen erarbeitet und unterzeichnet, in der sich die Wirtschaft verpflichtet, eine aktive Gleichstellungspolitik in den Unternehmen voranzubringen. Das Teilzeitgesetz trägt mit dazu bei, die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu verbessern und Chancengleichheit von Frauen und Männern zu ermöglichen. Mit dem Job-AQTIV-Gesetz kommt die Gleichstellung im Arbeitsförderungsge-

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setz einen großen Schritt voran. Frauen werden nicht nur entsprechend ihrem Anteil an den Arbeitslosen gefördert, sondern auch entsprechend ihrer Arbeitslosenquote. Die Rentenreform hat die Situation von Frauen und Müttern verbessert, weil Kindererziehungszeiten stärker als bisher berücksichtigt werden. Durch die Änderung des Arzneimittelgesetzes wird der kontrollierte Schwangerschaftsabbruch auch per Arzneimittel in Deutschland möglich. Mit dem Aktionsplan der Bundesregierung zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen ist ein umfassendes Gesamtkonzept vorgelegt worden. Das Gewaltschutzgesetz ermöglicht, dass der gewalttätige Partner zumindest zeitweise die Wohnung verlassen muss. Frauen und Kinder haben mehr Schutz. Das Gesetz zur Regelung der Rechtsverhältnisse von Prostituierten soll Diskriminierung beseitigen und den Zugang zu den Sozialversicherungssystemen ermöglichen.


Die rot-grüne Regierungsbilanz in Stichworten

Lebenspartnerschaften erhalten mehr Rechte Das Gesetz, das das Institut der „eingetragenen Lebenspartnerschaft“ einführt. ist am 1. August 2001 in Kraft getreten. Das Gesetz schafft Regeln für gleichgeschlechtliche Partnerschaften, die dauerhaft füreinander einstehen und Verantwortung übernehmen möchten. Es gibt rechtliche Anerkennung und Rechtssicherheit, ohne dass die Partnerschaft mit der Ehe gleichgestellt wird. Dies ist eine

Anerkennung und Akzeptanz des Wandels in der Gesellschaft.

Wichtige Passagen dieses Beitrages sind der Broschüre Zwischenbilanz der rot-grünen Koalition, Mai 2002, herausgegeben von der SPD-Bundestagsfraktion, entnommen.

Lars Krumrey ist Diplom-Politologe und beschäftigt sich mit der Transformation des ostdeutschen Parteisystems

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Muslimische Minderheiten im säkularen Rechtsstaat1 von Heiner Bielefeld

I. Säkularität – ein schwieriger Begriff Der säkulare Rechtsstaat bildet die politisch-institutionelle Rahmenordnung, in der Muslime in der Bundesrepublik Deutschland und anderen westeuropäischen Gesellschaften leben und ihren Glauben praktizieren. Diese Situation wirft Fragen auf: Wie stehen Muslime zum säkularen Rechtsstaat? Stellt er für gläubige Muslime nur ein „Übel“ dar, das sie aufgrund der zahlenmäßig massiven Überlegenheit der Nicht-Muslime nolens volens hinnehmen müssen? Oder bietet die Säkularität der politisch-rechtlichen Ordnung Chancen für die Erprobung neuer Formen islamischer Selbstorganisation – womöglich mit Auswirkungen über die „Diaspora“ hinaus auf die islamischen Herkunftsländer? Fragen stellen sich aber auch in umgekehrter Richtung: Ist es überhaupt legitim, Muslime auf die Säkularität des Rechtsstaats verpflichten zu wollen? Wäre es nicht ein Gebot interreligiöser und multikultureller Toleranz, Muslimen die Option offenzu1 2

halten, ihre gemeinschaftlichen Angelegenheiten nach islamischem Recht statt nach säkularem Recht zu ordnen? Stellt die Säkularität nicht ihrerseits eine Art von religiösem oder postreligiösem „Glauben“ dar, der für diejenigen verbindlich sein sollte, die sich zu diesem Glauben freiwillig bekennen? Eine Antwort auf diese und ähnliche Fragen hängt davon ab, was genau man unter Säkularität versteht. Mehr noch als andere politisch-rechtliche Leitbegriffe ruft der Begriff der Säkularität unterschiedliche, ja gegensätzliche Assoziationen hervor.2 Er wird als antireligiöse oder postreligiöse Ideologie, als spezifisch westlich-christliche Organisationsform des Verhältnisses von Staat und Religion, als Versuch staatlicher Kontrolle der Religionsgemeinschaften oder als Ausdruck des Respektes vor der religiösen Freiheit der Menschen verstanden. Hinzu kommt, dass sich schon innerhalb der westeuropäischen Verfassungsstaaten – zwi-

Der vorliegende Beitrag ist die leicht überarbeitete und aktualisierte Fassung eines Aufsatzes, der unter dem Titel „Muslime im säkularen Rechtsstaat. Vom Muslime zur Mitgestaltung der Gesellschaft“ als Heft 2 der Reihe „Der Interkulturelle Dialog“, herausgegeben von der Ausländerbeauftragten des Landes Bremen (Bremen 1999), erschienen ist. Vgl. Hermann Lübbe, Säkularisierung. Geschichte eines ideenpolitischen Begriffs (Freiburg i.Br./München: Alber, 1965).

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schen Frankreich, England, Holland, Deutschland und Italien – sehr verschiedene Traditionen des politisch-rechtlichen Umgangs mit der Religion herausgebildet haben, in deren Kontext auch die Säkularität je anders akzentuiert wird.3 Und vollends unübersichtlich droht die Debatte zu werden, wenn auch noch unterschiedliche wissenschaftliche Disziplinen – Rechtswissenschaft, Soziologie, Theologie, Philosophie – mit ihren Deutungen der Säkularität aufeinandertreffen.4 Das Ziel des vorliegenden Aufsatzes besteht nicht nur darin, den Begriff der Säkularität angesichts einer verwirrenden Vielzahl von Interpretationen theoretisch zu klären. Vielmehr verfolge ich damit zugleich und vorrangig ein praktisch-politisches Anliegen: Es geht mir darum, die Säkularität des Rechtsstaates als unerlässliche Voraussetzung für eine an den Menschenrechten orientierte politische Gestaltung des religiösen und

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weltanschaulichen Pluralismus zu verteidigen. Eine solche Verteidigung kann allerdings nur dann überzeugen, wenn sie die kritischen Anfragen an das Konzept der Säkularität ernst nimmt und aufgreift. Mein besonderes Interesse gilt der Möglichkeit, den säkularen Rechtsstaat auch von muslimischer Seite zu würdigen. Um einem möglichen Missverständnis vorzubeugen, sei klargestellt, dass ich selbst kein Muslim bin, wohl aber seit mehreren Jahren regelmäßig im Dialog mit Muslimen stehe. Vielen von ihnen fühle ich mich politisch und teilweise auch persönlich verbunden; andere betrachte ich eher als politische Gegner. Der vorliegende Aufsatz enthält Einschätzungen und Einsichten, die ich auch aus Gesprächen mit Muslimen gewonnen habe. Diese Gespräche sind für mich zum Anstoß geworden, über den Sinn der rechtsstaatlichen Säkularität grundsätzlich nachzudenken.

Vgl. Richard Potz, Die Religionsfreiheit in Staaten mit westlich-christlicher Tradition, in: Johannes Schwartländer (Hg.), Freiheit der Religion. Christentum und Islam unter dem Anspruch der Menschenrechte (Mainz: Grünewald, 1933), S. 119-134. Vgl. GerhardDilcher/Ilse Staff (Hg.), Christentum und modernes Recht. Beiträge zum Problem der Säkularisierung (Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1984)


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II. Zur Bestimmung der rechtsstaatlichen Säkularität 1. Die rechtsstaatliche Säkularität als Konsequenz für Religionsfreiheit Die rechtsstaatliche Säkularität, so der Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen, resultiert aus der Religionsfreiheit. DieSäkularität ist notwendiges Strukturprinzip einer Rechtsordnung, die unter dem Anspruch steht, die Religionsfreiheit als Menschenrecht systematisch zu verwirklichen. Um es zuzuspitzen: Es gibt keine volle Verwirklichung der Religionsfreiheit außerhalb einer säkularen rechtsstaatlichen Ordnung. Diese These wird vielleicht auf Anhieb einleuchten. Lässt sich die Religionsfreiheit nicht auch im Rahmen einer religiös begründeten Rechtsordnung realisieren? Kann nicht auch ein christlicher oder islamischer Staat die religiöse Freiheit respektieren? Gibt es nicht geschichtliche Beispiele für eine friedliche Koexistenz unterschiedlicher Religionsgemeinschaften zum Beispiel unter der Herrschaft muslimischer Sultane? Zugegeben: Religiöse Toleranz ist auch unter den Vorzeichen einer religiösen Rechtsordnung denkbar, und sie hat gerade im islamischen Kontext Tradition.5

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Religionsfreiheit als Menschenrecht meint aber etwas anderes als Toleranz und sollte auch nicht mit ihr gleichgesetzt oder verwechselt werden. Wie alle Menschenrechte verlangt die Religionsfreiheit Gleichberechtigung, während Toleranz durchaus mit Ungleichheit einhergehen kann. Der Anspruch des Menschenrechts auf Religionsfreiheit wäre deshalb mit einer staatlichen Toleranzpolitik gegenüber religiösen Minderheiten noch lange nicht eingelöst. Weiter: Als Anspruch auf Gleichberechtigung bleibt die Religionsfreiheit – wie andere Menschenrechte auch – keineswegs auf einen Katalog „vorstaatlicher“ und „vorpolitischer“ Grundrechte beschränkt. Vielmehr soll sie die politschrechtliche Ordnung im ganzen durchwirken.6 Menschenrechte markieren nicht nur eine Schranke der Staatsgewalt, sondern fungieren nach den Worten des Grundgesetzes darüber hinaus „als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft“ (Art. 1 Abs. 2 GG). Sie bilden nicht allein die unüberschreitbare Grenze legi-

Vgl. Adel Theodor Khoury, Toleranz im Islam (Mainz: Grünewald/München: Kaiser, 1980); Christian W. Troll, Der Blick des Koran auf die anderen Religionen, in: Walter Kerber (Hg.), Wie tolerant ist der Islam? (München: Kindt, 1991), S. 47-69. Vgl. Heiner Bielefeldt, Philosophie der Menschenrechte. Grundlagen eines weltweiten Freiheitsethos (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1998) S. 87ff.

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timer Staatsgewalt, sondern zugleich den tragenden Grund der Legitimität der staatlichen Rechtsform überhaupt. Das menschenrechtliche Prinzip gleicher Freiheit kann aber nur dann als „Grundlage“ der staatlichen Rechtsordnung zum Zuge kommen, wenn der politisch-rechtliche Status der Menschen von ihrer Religionszugehörigkeit unabhängig ist. Daher rührt die fundamentale Bedeutung der Religionsfreiheit für die Verwirklichung einer menschenrechtlichen und demokratischen Ordnung überhaupt. Sie verlangt, dass niemand wegen seines religiösen oder weltanschaulichen Bekenntnisses bevorzugt oder benachteiligt wird und dass die Mitwirkung an der politischrechtlichen Ordnung Menschen unterschiedlicher religiöser und weltanschaulicher Orientierung möglich ist, und zwar in voller Gleichberechtigung. Um der Gleichberechtigung aller Menschen willen und aus Respekt vor ihren unterschiedlichen Bekenntnissen ist es dem Rechtsstaat verwehrt, sich mit einer bestimmten Religion oder Weltanschauung zu identifizieren oder diese gar zur normativen Basis seiner eigenen Ordnung zu erheben. Der auf die Religionsfreiheit verpflichtete demokratische Rechtsstaat muss folglich religiös und weltanschaulich „neutral“ sein. Um dem verbreiteten Missverständnis entgegenzutreten, diese religiöse bzw. weltanschauliche Neutralität

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sei ein Ausdruck von Gleichgültigkeit, ethischer Indifferenz oder „Wertneutralität“, ziehe ich allerdings dem Begriff der „NichtIdentifikation“ vor. Weil diese Nicht-Identifikation ihren ethischen Grund im gebotenen Respekt vor der religiösen und weltanschaulichen Freiheit der Menschen hat, möchte ich genauer von dem Prinzip der respektvollen Nicht-Identifikation sprechen. Dieses Prinzip macht den normativen Kerngehalt der rechtsstaatlichen Säkularität aus. Um ein Beispiel zu geben: Das Grundgesetz bekennt sich zur unantastbaren Würde jedes Menschen, die zu achten und zu schützen Verpflichtung aller staatlichen Gewalt ist (Art. 1 Abs. 1 GG). Ob die Idee der Menschenwürde aus dem biblischen Motiv der Gottesebenbildlichkeit des Menschen gedeutet wird, ob man sie im Lichte des Korans als Berufung des Menschen zum Statthalter (khalifa) Gottes auf Erden versteht, oder ob man sie aus humanistischen Traditionen interpretiert werden soll, bleibt jedoch offen. Dies kann, ja darf der Staat nicht autoritativ entscheiden. Wenn er solche religiösen und weltanschaulichen Fragen offen lässt, so geschieht dies nicht aus Gleichgültigkeit, Skepsis oder Indifferenz, sondern aus Achtung vor der Freiheit der Menschen, die den Staat unbeschadet ihrer unterschiedlichen Bekenntnisse als ihr politisches Gemeinwesen verstehen können sollen.


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2. Keine „postreligiöse“ laizistische Staatsideologie Wenn der säkulare Rechtsstaat „weltanschaulich neutral“ sein will, so folgt daraus, dass die Säkularität nicht zu einer quasireligiösen oder postreligiösen Staatsideologie stilisiert werden darf. Die politische Loyalität, die der Rechtsstaat von seine Bürgerinnen und Bürgern einfordert, zielt nicht auf umfassende Gesinnungstreue. Und auch das Bekenntnis zur Säkularität, um das der Staat werben (das er letztlich nicht erzwingen) kann, bleibt als politisches Bekenntnis von einem umfassenden religiösen oder weltanschaulichen Glaubensbekenntnis weit entfernt. Kein Zweifel: Die Säkularität kann ideologisch zu einem weltanschaulichen Konzept aufgebauscht werden. Ein klassisches Beispiel bietet das positivistische Glaubensbekenntnis Auguste Comtes, eines der Gründungsväter der Soziologie. Comte formuliert seine Lehre als eine neue Form atheistischer Religion, die er „Religion der Menschheit“ (religion de l’humanité) nennt.7 Auf der Grundlage moderner Wissenschaft sollen die Soziologen nach Comte gleichsam einen säkularistischen Klerus mit weltweitem Autoritätsanspruch bilden. Ihre Aufgabe besteht darin, als moderne „Priester der 7

Menschheit“ die Gesellschaft ideologisch zu formieren und zu diesem Zweck die fortschrittliche Kräfte von Wirtschaft und Industriearbeiterschaft einzuspannen. Unter dem Banner von „Ordnung, Liebe und Fortschritt“ sollen nach Comte Staat und Weltanschauung, die in den Krisen der Moderne auseinander getreten waren, somit zu einer neuen „soziokratischen“ Synthese finden, die nicht weniger geschlossen ist als die alte theokratische Einheit von Staat und Religion. Wie in der christlichen Theokratie des Mittelalters andere Religionen bekämpft oder allenfalls am Rande der Gesellschaft geduldet wurden, so gilt analog auch für die Comtesche Soziokratie, dass sie ihren ideologischen Wahrheitsanspruch gegen alle Konkurrenten mit politischen Mitteln durchzusetzen sucht. Eine solche säkularistische Fortschrittsideologie hat mit der rechtsstaatlichen Säkularität nichts, aber auch gar nichts gemein. Wenn der weltanschauliche Säkularismus sich mit der Staatsmacht verbindet, führt er in letzter Konsequenz sogar zur Zerstörung der auf die Religionsfreiheit gegründeten rechtsstaatlichen Säkularität. Unter dem Anspruch der Religionsfreiheit muss der säkulare

Man könnte dies auch übersetzten als „Religion der Menschlichkeit „. Zum folgenden vgl. Auguste Comte, Systéme de Politique Positive ou Traité de Sociologie, Institutant la Religion de l‘ Humantité. Drei Bände (Nachdruck der Ausgabe von 1851, Osnabrück: Otto Zeller, 1967)

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Rechtsstaat deshalb darauf achten, dass er sich nicht für die Zwecke eines weltanschaulichen Säkularismus oder Laizismus einspannen lässt. Diese Gefahr besteht – trotz der Krise der modernen Fortschrittsideologien – auch heute noch. Dazu einige Beispiele: Etatistische Ordnungspolitiker, die sich auf die Komplexität der multireligiösen Gesellschaft inhaltlich nicht einlassen wollen, mögen versucht sein, die vielfältigen Forderungen der Religionsgemeinschaften – vom schulischen Religionsunterricht über den Bau von Gebetsstätten bis hin zum rituellen Schlachten – mit modernistischer Attitüde als Dunkelmännertum abzutun. Kopftuch tragende muslimische Frauen und Mädchen sehen sich nicht nur im laizistischen Frankreich, sondern auch in Deutschland dem Vorwurf ausgesetzt, rückständig zu sein und sich der Moderne zu verweigern. Zeitungsberichten zufolge hat der ehemalige Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Peter Frisch, türkische Eltern dazu aufgerufen, ihre Töchter ohne Kopftuch zur Schule zu schicken, weil das islamische Kopftuch ein Zeichen mangelnder Integrationsbereitschaft in die säkulare Verfassungsord-

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nung sei.8 Auch das „Projekt der Moderne“ kann, wenn es zum fortschrittsideologischen Zivilisationsmodell verdinglicht und „vormodernen Kulturen“ (gemeint ist damit meist der Islam) dichotomisch entgegengesetzt wird, zum Bestandteil politischer Ausgrenzungsrhetorik werden.9 Gegen die Verwechslung oder Verquickung mit einem fortschrittsideologischen Säkularismus oder Laizismus gilt es, den Sinn der rechtsstaatlichen Säkularität kritisch zu klären: Die Säkularität des Rechtsstaats zielt nicht etwa darauf ab, die Religionsgemeinschaften an den Rand der Gesellschaft abzudrängen, sondern gewährleistet ihnen vielmehr Möglichkeiten freiheitlicher Entfaltung. Es geht darum, den Pluralismus der religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen in der modernen Gesellschaft politisch-rechtlich so zu gestalten, dass Freiheit und Gleichberechtigung aller ermöglicht werden. Die im Menschenrecht auf Religionsfreiheit begründete Säkularität ist deshalb das genaue Gegenteil jeder vormundschaftlichen Staatsideologie, das Gegenteil auch eines ideologischen Laizismus.10

Vgl. z.B. Süddeutsche Zeitung vom 14. April 1997 Ein typisches Beispiel für solche Ausgrenzungsrhetorik biete Bassam Tibi, Im Schatten Allahs. Der Islam und die Menschenrechte ( München/Zürich 1994), S. 48: „Angesichts der Dominanz vormoderner Werte und Normen in der politischen Kultur des Islam ergibt sich der Gegensatz zwischen dem Islam und dem modernen Konzept der Menschenrechte und damit ein Konflikt zwischen islamischer und westlicher Zivilisation“. 10 Vgl. Martin Heckel, Das Säkularisierungsproblem in der Entwicklung des deutschen Staatskirchenrechts, in: Dilcher/Staff (Hg.), a.a.O., S. 35-95, hier S. 73.

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3. Keine Trennung von Religion und Politik Dass im säkularen Rechtsstaat Religion und Politik getrennt sein müssten, ist ein selten hinterfragter verfassungspolitischer Gemeinplatz. Die Formel der „Trennung von Religion und Politik“ erweist sich bei näherem Hinsehen jedoch als unpräzise und irreführend. Nimmt man sie wörtlich, dann geht der freiheitliche Sinn der Religionsfreiheit – und damit das normative Fundament der rechtsstaatlichen Säkularität – sogar verloren. Die Religionsfreiheit beschränkt sich nicht darauf, jedem einzelnen die Freiheit seines persönliche Glaubens und seines persönliches Bekenntnisses zu garantieren. Sie umfasst über diese unverzichtbare individualrechtliche Komponente hinaus auch das Recht der religiösen Gemeinschaften, sich frei von staatlicher Bevormundung selbst zu organisieren. Und sie eröffnet den Religionsgemeinschaften schließlich auch die Betätigung in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit. Dass die Religionsgemeinschaften sich zu politischen Fragen in der Öffentlichkeit äußern können, ist mit der rechtsstaatlichen Säkularität nicht nur vereinbar, sondern erweist sich als Konsequenz jener

anspruchsvollen Auffassung von Religionsfreiheit, die dem Rechtsstaat selbst zugrunde liegt. Religion ist nicht nur Privatangelegenheit, sondern hat ihren Ort auch in der Öffentlichkeit. Und da die Öffentlichkeit den Raum bildet, in dem Politik auch in der Demokratie vollzieht, können Religionsgemeinschaften auch an der Politik teilhaben. Nicht um die Trennung von Religion und Politik geht es demnach, sondern um die institutionelle Trennung von Religionsgemeinschaften und Staat. Diese Unterscheidung ist wichtig. Denn wer im Namen der Säkularität die Trennung von Religion und Politik fordert, plädiert womöglich für die Abdrängung aus der Öffentlichkeit und redet damit einer autoritär-laizistischen Kontrollpolitik das Wort, die mit der Religionsfreiheit als Menschenrecht unvereinbar ist.11 Die institutionelle Trennung von Religionsgemeinschaften und Staat soll die Religionsgemeinschaften vor staatlichen Eingriffen in ihre inneren Angelegenheiten schützen und gleichzeitig die Rechtsstellung der Bürgerinnen und Bürger im demokratischen Rechtsstaat von der Ver-

11 Vgl. Gerhard Luf, Die religiöse Freiheit und der Rechtscharakter der Menschenrechte, in: Schwartländer (Hg.), a.a.O., S. 72-92, S. 90: „Sofern es Aufgabe des Grundrechts der Religionsfreiheit ist, nicht bloß formale Grenzen zu ziehen, sondern Realbedingungen des religiösen Freiheitshandelns zu gewährleisten, würde die, Privatisierung des Religiösen in einen Neutralismus münden, der eine spezifische Form der Diskriminierung religiöser Lebensformen darstellte „.

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quickung mit religiöser Mitgliedschaft freihalten. Durch diese Trennung gewinnen daher beide an Freiheit: sowohl die Religionsgemeinschaften als auch der Staat.12 Auf der Grundlage wechselseitiger Unabhängigkeit können Religionsgemeinschaften und Staat durchaus miteinander kooperieren. Ihre institutionelle Trennung meint keine völlige Beziehungslosigkeit. Konkrete Kooperationsverhältnisse zwischen beiden Seiten sind mit der Religionsfreiheit allerdings nur unter der Voraussetzung vereinbar, dass die Zusammenarbeit nicht zur Privilegierung bzw. Diskriminierung bestimmter religiöser Gruppen führt. Das Prinzip der religiös-weltanschaulichen Neutralität des Staates muss also gewahrt bleiben. In der Bundesrepublik Deutschland haben sich Kooperationsverhältnisse zwischen Staat und Kirchen in vielen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens entwickelt –

angefangen von der staatlichen Subventionierung kirchlicher Krankenhäuser über theologische Lehrstühle an staatlichen Universitäten bis hin zur Anerkennung der Kirchen (aber auch einiger anderer Religionsgemeinschaften) als Körperschaften öffentlichen Rechts. Diese Kooperation hat sich in vieler Hinsicht bewährt. Angesichts der neuen multireligiösen Realität in Deutschland bedürfen die gewachsenen Strukturen des Zusammenwirkens von Staat und Kirchen sicherlich kritischer Überprüfung, weil sie sonst auf eine staatliche Privilegierung der christlichen gegenüber nicht-christlichen Religionsgemeinschaften hinauslaufen können. Die notwendige Überprüfung sollte allerdings nicht der Anlass für einen „Kahlschlag“ sein, sondern zu Überlegungen führen, wie staatliche Förderung in gerechter Weise auch nichtchristlichen Religionsgemeinschaften zugute kommen kann.

4. Kein exklusiv abendländisches Zivilisationsmodell Säkulare Verfassungsordnungen wurden historisch zunächst in Nordamerika und Westeuropa durchgesetzt. Dies lässt sich als Faktum schwerlich bestreiten. Es stellt sich allerdings die Frage, wie man dieses historische Faktum interpretiert.

Folgt daraus, dass die rechtsstaatliche Säkularität ein exklusives Erbe des Abendlandes darstellt? Ist die Säkularität das gleichsam organische Resultat einer spezifisch westlichen kulturellen Entwicklung, vorbereitet bereits im mittelal-

12 Vgl. José Casanova, Chancen und Gefahren öffentlicher Religion. Ost- und Westeuropa im Vergleich, in: Otto Kallscheuer (Hg.), Das Europa der Religionen. Ein Kontinent zwischen Säkularisierung und Fundamentalismus (Frankfurt a.M.: Fischer, 1996), S. 181-210, hier S. 189.

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terlichen Investiturstreit zwischen Imperium und Sacerdotium, wenn nicht gar schon im Jesuswort „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist“? Der derzeit prominenteste Vertreter einer solchen „kulturalistischen“ Vereinnahmung der Säkularität heißt Samuel Huntington, bekannt geworden durch seine umstrittenen These vom drohenden Zusammenstoß der Zivilisationen („clash of civilisations“). In seiner weltpolitischen Landkarte bildet die Trennung von Staat und Religionsgemeinschaften ein exklusives Merkmal der westlichen Zivilisation, durch das diese sich von allen anderen Zivilisationen, namentlich der Islam, dem Wesen nach unterscheidet.13 Wer wie Huntington die institutionelle Trennung von Staat und Religionsgemeinschaften zum Bestandteil des „kulturellen Codes“ der westlichen Zivilisation – und nur des Westens – stilisiert, begeht allerdings zwei fundamentale Fehler. Zunächst blendet er die geschichtlichen Kämpfe aus, die auch im Westen nötig waren, um den säkularen Rechtsstaat durchzusetzen. Die katholische Kirche hat die Religionsfreiheit nach langem internem Ringen erst auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1962-1965) offiziell anerkannt.14 Das Jesuswort „Gebt dem

Kaiser, was des Kaisers ist“, das Vertreter der christlichen Kirchen heute für eine theologische Würdigung des säkularen Rechtsstaates fruchtbar machen, bildet nicht etwa die religiös-kulturelle „Wurzel“, aus der im Laufe von fast zweitausend Jahren der säkulare Staat mehr oder minder organisch herausgewachsen ist. Vielmehr verhält es sich umgekehrt, dass erst auf dem Boden der Moderne rückblickend jene religiösen und kulturellen Motive ausgemacht werden können, die es erlauben, durch alle historischen Umbrüche hindurch auch Elemente der Kontinuität zu rekonstruieren.15 Die Vereinnahmung der Säkularität zum ausschließlichen Erbe des christlichen Abendlandes bedeutet außerdem – dies ist das zweite Problem –, dass man dadurch Menschen nicht-westlicher Herkunft und nicht-christlicher Orientierung (insbesondere Muslimen) von vornherein die Möglichkeit abspricht, die Säkularität auch im Blick auf ihre eigenen religiösen und kulturellen Traditionen zu verstehen und zu würdigen. Die Forderung, Muslime müssten dem säkularen Rechtsstaat anerkenne, wird somit unter der Hand zur Zumutung einer zumindest kulturellen Konversion zum Abendland und seinen „christlichen Werten“. Wenn Mus-

13 Vgl. Samuel P. Huntington, The Clash of Civilizations and the Remaking of World Order (New York: Simon & Schuster, 1996), S. 42ff. u.ö. 14 Vgl. Konrad Hilpert, Die Menschenrechte. Geschichte – Theologie – Aktualität (Düsseldorf: Patmos, 1991), S. 147. 15 Vgl. Bielefeldt, a.a.O., S. 124ff., 194.

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lime sich gegen eine solche Zumutung verwahren, kann dies nicht verwundern. Um der gleichen Freiheit und gleichberechtigten Partizipation aller in der multikulturellen und multireligiösen Gesellschaft willen muss der Rechtsstaat darauf verzichten, die tragenden Verfassungsprinzipien in der Manier Huntingtons als exklusives Erbe der westlich-christlichen Zivilisation zu propagieren. Die Tatsache, dass der säkulare Rechtsstaat in Nordamerika und Westeuropa historisch erstmals wirksam geworden ist, bleibt unbe-

stritten. Deshalb aber die Geltung des säkularen Verfassungsmodells auf die westliche Zivilisation oder Kultur zu beschränken, wäre politisch verhängnisvoll und rechtssystematisch ein Kurzschluss. Denn durch eine solche exklusive Identifizierung der rechtsstaatlichen Säkularität mit einer bestimmten religiösen oder kulturellen Tradition müsste gerade jenes Prinzip der respektvollen Nicht-Identifikationn, das dem säkularen Rechtsstaat normativ zugrunde liegt, aus dem Blick geraten.

III. Muslimische Kritik der Säkularität 1. Säkularität als Ausdruck des Unglaubens Es hat lange gedauert, bis die christlichen Kirchen gelernt haben, den säkularen Rechtsstaat als politisch-rechtliche Voraussetzung für die freiheitliche Entfaltung der Religionsgemeinschaften in der modernen Gesellschaft anzuerkennen und zu würdigen. Bis ins 20. Jahrhundert hinein herrschte in kirchlichen Kreisen die Tendenz vor, Säkularität, religiöse Gleichgültigkeit und Atheismus eng miteinander zu assoziieren, wenn nicht gar zu identifizieren. Mittlerweile verstehen sich die christlichen Kirchen als attraktive Anwälte der Religionsfreiheit und des säkularen Rechtsstaats. Dies

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ist zweifellos einer erfreuliche Entwicklung. Problematisch ist es allerdings, wenn die theologische Würdigung der rechtsstaatlichen Säkularität in ihre Vereinnahmung zu „christlichen Werten“ umschlägt, wie dies gelegentlich geschieht. Vieles deutet darauf hin, dass unter Muslimen Vorbehalte gegen den Begriff der Säkularität nach wie vor stark verbreitet sind. Sie treten gelegentlich selbst bei ausgesprochen liberalen Reformern zutage. Mohamed Talbi beispielsweise, seit Jahrzehnten einer der entschiedensten muslimischen Vorkämpfer der Religi-


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onsfreiheit, äußert sein Unbehagen gegenüber säkularen Rechtsvorstellungen, in denen, wie er meint,„unterschwellig eine Vergötzung des Menschen“ anklingt.16 Ähnlich ambivalent reagiert die islamische feministische Theologin Riffat Hassan. Sie glaubt, die Allgemeine Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen nur dadurch retten zu können, dass sie sie zu einem quasireligiösen Dokument ummünzt. Obwohl der Terminologie nach „säkular“, sei die Menschenrechtserklärung „ihrem Wesen nach ‚religiöser‘ als zahlreiche ‚Fatwas‘, die von vielen muslimischen oder anderen religiösen Autoritäten und Institutionen ausgestellt wurden“.17 Auch der liberale islamische Rechtstheoretiker Abdullahi An-Na’im, sowohl wissenschaftlich wie politisch seit langem für die Menschenrechte aktiv, versteht sein Plädoyer für eine Reform des islamischen Rechts als bewusste Alternative zum westlichen säkularen Reht.18 Selbst im liberal-islamischen Diskurs wird der Begriff der Säkularität also offenbar weithin als Ausdruck einer antireligiösen Ideologie wahrgenommen, gegen die Muslime geistigen Widerstand leisten sollten.

Von ganz anderer Qualität sind die Vorbehalte gegen die Säkularität bei islamischen Politikern und Intellektuellen, die das „islamische System“ (dessen Konturen allerdings zumeist sehr vage bleiben) als überlegene Alternative gegen den säkularen Rechtsstaat ausspielen. So plädiert der einflussreiche pakistanische Schriftsteller Abul A’la Mawdudi, zwanzig Jahre nach seinem Tod mittlerweile schon ein Klassiker des Islamismus, für eine islamische „Theo-Demokratie“, in der die Gemeinschaft der Gläubigen gleichsam als kollektiver Statthalter Gottes auf Erden die Weisungen der Scharia politisch zur Geltung bringen soll.19 Mawdudis Entwurf der TheoDemokratie versteht sich ausdrücklich als Alternative zu den säkularen Demokratien des Westens. Zwar soll auch die Theo-Demokratie eine demokratische Komponente haben. Sie bleibt jedoch eine Demokratie primär der Muslime. Zumindest die politischen Schlüsselfunktionen des Staates müssen nach Mawdudi den Muslimen vorbehalten bleiben, weil nur sie die religiös-normativen Grundlagen der Verfassung verstehen und konsequent verwirklichen können.20

16 Mohamed Talbi, Religionsfreiheit – Recht des Menschen oder Berufung des Menschen?, in: Schwartländer (Hg.), Freiheit der Religion, a.a.O., S. 242-260, hier S. 259. 17 Riffat Hassan, On Human Rights and the Qur’anic Perspective, in: Arlene Swidler (Hg.), Human Rights in Religious Traditions (New York: The Pilgrim Press, 1892), S. 51-65, hier S. 53. 18 Vgl. Abdullahi Ahmed An-Na’im,Toward an Islamic Reformation. Civil Liberties, Human Rights, and International Law (New York: Syracuse Univerisity Press, 1990), S. 10: „The aim of this book is to contributeto the process of changing Muslim perceptions, attitudes, and policies on Islamic and not secular grounds. „ 19 Abdul A’la Mawdudi, The Islamic Law and Constitution (Lahore: Islamic Publications, 3. Aufl. 1967), S. 147f. 20 Vgl. Mawdudi, a.a.O. , S. 295ff.

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Polemischer noch als Mawdudi ist Sayyid Qutb, der 1966 hingerichtete Märtyrer der ägyptischen Muslimbruderschaft. Sein politischer Kampf gilt der „jahiliyya“, d.h. jener heidnischen „Unwissenheit“, die im traditionellen Islam als Bezeichnung der vor-islamischen Zeit diente und die sich nach Qutb in allen nicht-islamistischen Vorstellungen manifestiert.21 Auch der säkulare Rechtsstaat, der nicht göttliches, sondern weltliches Recht zur Grundlage hat, ist nach Qutb Ausdruck der gottlosen jahiliyya, die die Muslime mit aller Entschiedenheit überwinden sollen. Die Schriften von Mawdudi und Sayyid Qutb sind in zahlreiche Sprachen übersetzt worden und liegen mittlerweile auf den Büchertischen islamischer Gruppen in aller Welt aus; sie sind auch unter den in Deutschland lebenden Muslimen verbreitet. Solche islamistischen Schriften tragen sicherlich dazu bei, Skepsis und Vorbehalte gegenüber der rechtsstaatlichen Säkularität zu verfestigen. Eine aktive Abwehrhaltung gegenüber dem säkularen Staat ist in Deutschland jedoch offenbar Sache einer radikalen Minderheit unter Muslimen. Die Mehr-

heit hingegen scheint sich mit den bestehenden Verhältnissen mehr oder weniger arrangiert zu haben (was Unsicherheiten und Ambivalenzen im Verständnis der Säkularität natürlich nicht ausschließt). Besonders deutlich fällt die Bejahung des säkularen Rechtsstaates auch bei den Aleviten aus, einer innerislamischen Minderheit, die aufgrund einer langen Diskriminierungsgeschichte weiß, was die institutionelle Differenz zwischen Staat und Religionsgemeinschaften wert ist.22 Bemerkenswert sind in diesem Zusammenhang einige Ergebnisse der Bielefelder „Fundamentalismus-Studie“ von 1997: Drei Viertel der befragten türkischstämmigen muslimischen Jugendlichen gaben an, dass sie mit den Möglichkeiten, in Deutschland ein religiöses Leben zu führen, zufrieden oder sogar voll zufrieden sind;23 zwei Drittel lehnten die Auffassung ab, dass die Religion die Politik einseitig dominieren solle, während zugleich eine Mehrheit von ca. 60 Prozent die öffentliche Wirksamkeit des Islams – vergleichbar dem Wirken anderer öffentlicher Institutionen – befürwortete.24

21 Yvonne Y. Haddad, Sayyid Qutb: Ideologue of the Islamic Revival, in: Joseph L. Esposito (Hg.), Voices of Resurgent Islam ( Oxford University Press, 1983), S. 67-98 22 Vgl. Dursun Tan, Aleviten in Deutschland. Zwischen Selbstethnisierung und Emanzipation, in: Gerdin Jonker (Hg.), Kern und Rand. Religiöse Minderheiten aus der Türkei in Deutschland (Berlin: Verlag Das Arabische Buch, 1999), S. 65-88 23 Wilhelm Heitmeyer/Joachim Müller/Helmut Schröder, Verlockender Fundamentalismus. Türkische Jugendliche in Deutschland (Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1997), S. 103f. 24 Vgl. Heitmeyer u.a., a.a.O., S. 123.

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2. Die Säkularität des Staates – eine spezifisch christliche Lösung? Islamische Vorbehalte gegen die Säkularität von Staat und Recht werden häufig auch mit dem Hinweis begründet, dass es sich dabei um eine spezifisch christliche Antwort auf ein spezifisch christliches Problem handle. Im Gegensatz zum Christentum habe der Islam (jedenfalls der sunnitische Islam) einen institutionalisierten Klerus niemals gekannt.25 Der Prozess der Befreiung des Staates vom Klammergriff einer klerikalen Hierarchie, der in Europa in der Neuzeit zur Säkularisierung des Staates und des staatlichen Rechts geführt habe, sei deshalb für den Islam niemals nötig gewesen. Da der Islam das christliche Problem der Priesterherrschaft nicht kenne, müsse er auch die christliche Lösung dieses Problems nicht übernehmen. Das Argument, dass der Islam eine klerusfreie Religion sei, mündet gelegentlich auch in den Anspruch, dass die Säkularität des Staates im Islam im Grunde immer schon anerkannt sei. Die pauschale Negation der Säkularität als eines vermeintlich exklusiv westlich-christlichen Modells kann so umschlagen in eine pauschale Anerkennung der Säkularität, die aller-

dings vordergründig bleibt, wenn sie die inhaltliche Auseinandersetzung mit dem freiheitlichen „Sinn“ des säkularen Rechtsstaates ausspart, ja geradezu unterläuft. Denn wenn der Begriff der Säkularität von vornherein ausschließlich auf spezifisch westlich-christliche Formen des politischen Klerikalismus bezogen ist, dann bleiben islamische Erfahrungen mit einem autoritären, oft auch politisch manipulierten Gottesrecht gänzlich aus dem Blick. Diese Sorge jedenfalls äußert Fuad Zakariya, der kritisch zu bedenken gibt:„Gewiss ist der Islam ohne Äquivalent zum Papsttum, aber es hat immer starke religiöse Machtorgane gegeben, deren Autorität gelegentlich weiter reichte als die des Staates“.26 Die innerislamische Auseinandersetzung mit religiöser und politischer Unfreiheit, die aus der Verquickung von Staatsgewalt und religiöser Autorität resultiert, steht für Zakariya weiterhin noch aus. Es wäre ein Fehler, wenn Muslime sich diese kritische und selbstkritische Auseinandersetzung mit dem lapidaren Hinweis ersparen würden, dass es einen Klerus im sunnitischen Islam nie gegeben habe.

25 Auch Mawdudi (a.a.O., S. 147) besteht darauf, dass die von ihm propagierte „Theo-Demokratie „ nicht mit der politischen Herrschaft eines Klerus verwechselt werden dürfte, wie sie für das christliche Mittelalter typisch gewesen sei. Vielmehr sei die islamische Theokratie vom Klerikalismus westlicher Prägung völlig verschieden: „…Islamic theocracy of which Europe has had bitter experience wherein a priestly class, sharply marked off from the rest of the population, exercises unchecked domination and enforces laws of ist own making in the name of God…“ 26 Fuad Zakariya, Säkularisierung – eine historische Notwendigkeit, in: Michael Lüders (Hg.), Der Islam im Aufbruch? Perspektiven der arabischen Welt (München/Zürich: Piper, 1992), S. 228-245, insbes. S. 236.

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IV. Das Erbe Ali Abdarraziqs Die ernsthafte innerislamische Auseinandersetzung um den säkularen Rechtsstaat, wie Fuad Zakariya sie anmahnt, ist auch im islamischen Kontext nichts völlig Neues. Schon im Jahre 1925 erschien ein Werk, in dem die Säkularität des Staates ausdrücklich gefordert wird, und zwar interessanterweise mit genuin islamischen Argumenten. Das Buch trägt den Titel „Der Islam und die Grundlagen der Macht“; sein Verfasser, damals Professor an der Kairoer Al-Azhar-Universität, heißt Ali Abdarraziq.27 Konkreter Anlass des Buches war die Abschaffung des Kalifats durch Mustafa Kemal Atatürk im Jahre 1924. Obwohl die Absetzung des letzten Kalifen ein machtpolitischer Akt und gewiss keine religiöse Reformmaßnahme war, sieht Abdarraziq in der Überwindung des Kalifats eine Chance für den Islam. Denn der Anspruch der Kalifen, ein göttlich begründetes Herrschaftsamt auszuüben oder gar als unmittelbare „Schatten Gottes auf Erden „ zu fungieren, bedeute nichts anderes als abergläubischen Bilderkult.28 Dieser aber sei unvereinbar mit dem strengen Mono-

theismus, wie ihn der Koran verkündet.29 Außerdem verweist Abdarraziq darauf, dass der Koran so gut wie keine detaillierten Anweisungen zur Staatsführung enthält.30 Die koranische Offenbarung als staatspolitisch maßgebendes Gesetzbuch zu lesen, sei daher nicht nur sinnlos, sondern stehe im Widerspruch zu Geist und Buchstaben des Korans, ja laufe zuletzt sogar auf die Leugnung des koranischen Anspruchs auf die Endgültigkeit und Abgeschlossenheit der Offenbarung hinaus.31 In der Tradition Abdarraziqs stehen heute beispielsweise seine ägyptischen Landsmänner Muhammad Said alAshmawy, Nasr Hamid Abu Zaid und Fuad Zakariya, die mit unterschiedlichen Akzenten die Säkularität von Recht und Staat aus islamischer Sicht vertreten. So wendet sich al-Ashmawy gegen jedwede Sakralisierung staatlicher Politik, die sowohl für die Politik als auch für die Religion verheerende Konsequenzen haben müsse.32 Denn, wie die Erfahrung lehrt, mündet die durch Sakralisierung gegen kritische Infragestellung immunisierte politische Herr-

27 Ich beziehe mich im folgenden auf die französische Übersetzung : Ali Abdarrazig, L’islam et les bases du pouvoir, in zwei Teilen erschienen in: Revué des Études Islamiques, Bd. VII (1933), S. 353-391 und Bd. VIII (1934), S. 163-222. 28 So Abdarrazig, a.a.O., Teil 1, S. 391. 29 Vgl. Abdarrazig, a.a.O., Teil 2, S. 220f. 30 Vgl. Abdarrazig, a.a.O., Teil 2, S. 198. 31 Vgl. Abdarrazig, a.a.O., Teil 2, S. 206f 32 Vgl. Muhammad Said al-Ashmawy, l’islamisme contre l’islam (Paris: La Découverte, 1989), S. 11, 34, 85 u.ö.

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Muslimische Minderheiten im säkularen Rechtsstaat

schaft nicht selten in Despotie. Gleichzeitig verkommt die Religion zum Instrument machtpolitischer Strategien und Intrigen. Über solche Miss-brauchserfahrungen hinaus widerstreitet nach al-Ashmawy theokratische Herrschaft bereits ihrem Anspruch nach der Zentralbotschaft des Korans, nämlich dem strengen Monotheismus, in dessen Licht Theokratie als eine Form der Gotteslästerung erscheinen muss, weil dadurch der Name Gottes auf die Ebene des politischen Machtkampfes herabgewürdigt wird. Abu Zaid weist in seiner Kritik des herrschenden religiösen Diskurses auf eine strategisch motivierte Vermischung zweier unterschiedlicher Ebenen hin: Die in der modernen Säkularität angelegte institutionelle Trennung von Staat und Kirch bzw. Religionsgemeinschaften werde von Konservativen und Islamisten fälschlich mit einer Abtrennung des Glaubens vom Leben und von der Gesellschaft gleichgesetzt.33 In der vom herrschenden religiösen Diskurs beeinflussten öffentlichen Meinung erscheine die Säkularität schließlich gar als Äquivalent für Atheismus.34 Dagegen stellt Abu Zaid ein Verständnis von Säkularität, das „nicht gegen die Religion, sondern gegen die Herrschaft der Religion über alle Bereiche „35 gerichtet 33 34 35 36

ist und konkret die politische Macht der Theologen beschränken soll. Mit der Forderung nach Säkularisierung des staatlichen Rechts will Abu Zaid die Religion nicht aus der Öffentlichkeit verdrängen, sondern den religiösen Diskurs aus dem Klammergriff politischer Institutionen und Ideologien befreien und damit überhaupt erst als einen freien Diskurs etablieren. Ein ähnliches Verständnis von Säkularität vertritt auch Fuad Zakariya. Er entlarvt die von manchen Islamisten beschworene Antithetisch von göttlichem und menschlichem Recht als eine ideologische Scheinalternative. Denn auch diejenigen, die göttliches Recht für sich und ihre Position in Anspruch nehmen, bleiben fehlbare Menschen, die sich allerdings weigern, ihre Fehlbarkeit offen einzugestehen und ihre politischen Vorschläge demokratischer Kritik zu unterwerfen. Dagegen versteht Zakariya die moderne Säkularität als politisches Ordnungsprinzip, das der Fehlbarkeit des Menschen gerecht wird und das Attribut der Unfehlbarkeit allein Gott überlässt:„Die Säkularisierung weigert sich,aus dem Menschen einen Gott zu machen oder ein unfehlbares Wesen. Gleichzeitig erkennt sie die Grenzen menschlicher Vernunft und weiß um die Unzulänglichkeit politischer und sozialer Systeme.“36

Vgl. Nasr Hamid Abu Zaid, Islam und Politik. Kritik des religiösen Dikurses (Frankfurt a.M.: dipa-Verlag, 1996), S. 26f. Vgl. Abu Zaid, a.a.O., S. 45. Abu Zaid, Die Befreiung des Korans (Interview-Gespräch mit Navid Kermani), in: Abu Zaid, a.a.O., hier S. 243. Zakariya, a.a.O., S. 243.

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Heiner Bielefeld

Obwohl die genannten Autoren von Abu Zaid bis Zakariya im islamischen Kontext sehr umstritten sind (welcher profilierte Denker wäre dies nicht!), zeigen sie, dass eine islamische Würdigung der rechtsstaatlichen Säkularität sinnvoll ist. Dadurch wird die Säkularität selbst nicht zum islamischen Prinzip stilisiert. Sowenig eine christliche Anerkennung der Säkularität dazu führen sollte, letztere in einen

Kanon „christlicher Werte“ zu vereinnahmen (wie dies oft genug geschieht), sowenig darf die islamische Würdigung der Säkularität in ihre einseitige „Islamisierung“ münden. Vielmehr bleibt die Säkularität des Rechtsstaats eine Konsequenz der Religionsfreiheit, die als allgemeines Menschenrecht für eine Würdigung von unterschiedlichen religiösen und weltanschaulichen Perspektiven offen steht.

V. Konsequenzen Die Säkularität des Rechtsstaates ist ein hohes, aber auch ein hochgradig gefährliches Gut. Sie kann nur dann als freiheitliches Prinzip der demokratischen Verfassung zur Geltung kommen, wenn man sie als politische Herausforderung ernst nimmt. Zunächst gilt es den freiheitlichen Anspruch des säkularen Rechtsstaats gegen ideologische und kulturalistische Verkürzungen kritisch zu klären. Es muss klargestellt werden, dass die Säkularität des Rechtsstaats weder Ausdruck einer laizistischen Fortschrittsideologie noch Bestandteil etatistischer Kontrollpolitik ist, noch auch ein exklusiv westlich-christliches Modell der Regelung des Verhältnisses von Staat und Religionsgemeinschaften darstellt. Vielmehr hat der säkulare Rechtsstaat seinen Sinn im Menschenrecht auf Religionsfreiheit. Auf der Grundlage einer solchen

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prinzipiellen Klarstellung kann ein produktives Gespräch mit Muslimen stattfinden, darunter auch mit Angehörigen islamistischer Gruppen. Die autoritären Implikationen islamistischer Ideologien nach Art Mawdudis oder Sayyid Qutbs müssen dabei offen und kritisch angesprochen werden. Die beste Verteidigung des säkularen Rechtsstaat besteht darin, die Religionsfreiheit als Auftrag ernst zu nehmen und möglichst konsequent zur Geltung zu bringen. Wie alle Menschenrechte zielt auch die Religionsfreiheit auf Gleichberechtigung. Es ist jedoch bekannt, dass für die muslimischen Minderheiten in Deutschland die rechtliche Gleichstellung mit den christlichen Kirchen noch aussteht. Hier hat die Mehrheitsgesellschaft gegenüber den Muslimen eine Bringschuld abzutragen. Gewiss: Die


Muslimische Minderheiten im säkularen Rechtsstaat

konkreten Probleme – von der Anerkennung islamischer Verbände als Körperschaften öffentlichen Rechts über die Organisation eines islamischen Religionsunterrichts bis hin zur Ausbildung islamischer Theologen und Religionslehrer(innen) an staatlichen Universitäten – lassen sich nicht leicht lösen. Immer noch bleibt unklar, welcher Verband in Deutschland welche Teile der muslimischen Bevölkerung repräsentiert. Es fehlt an Transparenz der innerislamischen Strukturen. Auch die Artikulationsfähigkeit der islamischen Verbände in der demokratischen Zivilgesellschaft kann sicherlich noch verbessert werden. Gelegentlich wird auf muslimischer Seite allerdings der Verdacht laut, dass Repräsentanten der deutschen Politik und Verwaltung die unbestreitbaren Defizite und Probleme zum willkommenen Vorwand

dafür nehmen, muslimische Forderungen auf unbestimmte Zeit zu verschieben. Wenn selbst die Befürworter eines islamischen Religionsunterrichts gern mit der Notwendigkeit argumentieren, auf diese Weise den nichtsstaatlichen Koranschulen das Wasser abgraben zu können, so ist dies eines freiheitlichen, auf die Religionsfreiheit gegründeten Rechtsstaates eigentlich unwürdig. Es ist an der Zeit, ein Zeichen zu setzen. Bei allen unleugbaren Schwierigkeiten und trotz vieler ungeklärter Fragen gibt es prinzipiell keine Alternative dazu, Mulsimen die Chance zur Mitgestaltung an dieser Gesellschaft zu geben, und zwar nach Maßgabe gleicher Freiheit. Wer darin eine Gefahr für die säkulare Rechtsordnung sieht, hat nicht verstanden, worin der Sinn der rechtsstaatlichen Säkularität besteht.

Dr. HD. Heiner Bielefeld unterrichtet an der Fakultät für Pädagogik der Universität Bielefeld.

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Notizen

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