perspektive21 - Heft 17

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Brandenburgische Hefte für Wissenschaft & Politik

perspektive 21 www.perspektive21.de

Heft 17 • Dezember 2002

Ende der Nachwendezeit. + 4,6 % PDS am Ende?

SPD PDS

-4,8 % Ostdeutschland Bundestagswahl 22. September 2002 Foto: Christian Fischer/ddp


Tobias Kaufmann/ Manja Orlowski (Hg.)

„Ich würde mich auch wehren...“ Antisemitismus und Israel-Kritik – Bestandsaufnahme nach Möllemann 160 Seiten, Paperback, ISBN 3-936130-04-3, 12,80 €

Die Bestandsaufnahme namhafter Autoren in diesem Buch wirft Schlaglichter auf die wichtigsten Teile der Möllemann-Debatte, sie erklärt Hintergründe und Zusammenhänge, ohne wissenschaftlich abstrakt zu werden und sie ist eine klare Meinungsäußerung gegen antisemitischen Populismus. Spätestens nach Möllemanns Ausspruch, Israels Ministerpräsident Scharon und der jüdische Journalist Michel Friedman selbst förderten Antisemitismus, werden sich viele Juden in diesem Land gewünscht haben, eine größere Zahl ihrer nicht-jüdischen Mitbürger hätte ihnen ermutigend zugerufen: „Ich würde mich auch wehren“. Dieses Buch soll nicht zuletzt so ein Zuruf sein. „Das Echo, das Möllemann mit seinen Anwürfen gegen Paul Spiegel und Michel Friedman erzeugt hat, ist nach wie vor enorm. Porzellan ist zerschlagen worden, und zwar mutwillig und vorsätzlich. Das Vertrauen wieder herzustellen, wird deshalb nicht einfach sein.“ Julius H. Schoeps

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Inhalt

Ende der Nachwendezeit. PDS am Ende? Vorwort

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Thema Manfred Güllner Die PDS ohne Zukunft?

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Albrecht von Lucke Das Verschwinden der PDS

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Thomas Falkner Sozialisten im Abseits?

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Gero Neugebauer Die Perspektiven der PDS nach der Bundestagswahl 2002

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Klaus Ness Verrückte Welt in Potsdam?

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Lars Krumrey „Wir sind das Bauvolk der kommenden Welt“

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Christian Maaß Zonenfunktionäre – Eine ostdeutsche Generation als Avantgarde oder ein egoistisches Manifest

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Magazin Mordechay Lewy Orient und Okzident: Zwischen Schuldzuweisung und Schuldbekenntnis Klaus Faber Vertreibung, Flucht und ethnische Säuberung – europäische und amerikanische Orientierungsprobleme gegenüber Nationalitätenkonflikten

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Impressum

Herausgeber SPD-Landesverband Brandenburg Redaktion Klaus Ness (ViSdP) Benjamin Ehlers Klaus Faber Klara Geywitz Lars Krumrey Christian Maaß Manja Orlowski Silke Pamme Anschrift Friedrich-Ebert-Straße 61 14469 Potsdam Telefon 0331 - 200 93 – 0 Telefax 0331 - 270 85 35 Mail Perspektive-21@spd.de Internet http://www.perspektive21.de Bezug Bestellen Sie Ihr kostenloses Abonnement direkt beim Herausgeber. Senden Sie uns eine Mail.

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Vorwort

Liebe Leserinnen und Leser der „Perspektive 21“! „Zwölf Jahre nach der Wiedergründung des Landes Brandenburg ist die Nachwendezeit abgelaufen. Die Zeit ist zu Ende, die gekennzeichnet war durch den dramatischen Umbruch des Jahres 1989 und seine Folgen.“ Ein Satz aus der ersten Regierungserklärung des brandenburgischen Ministerpräsidenten Matthias Platzeck aus dem November 2002, der – wenn er zutrifft – einen historischen Einschnitt markiert. Vieles spricht dafür. Wie zu seiner Illustration ist einen guten Monat vorher mit der PDS die Partei nicht wieder in den Bundestag eingezogen, die die Probleme der Nachwendezeit artikulierte und aus ihnen ihre Existenzberechtigung, ihren „Gebrauchswert“ für die Menschen in Ostdeutschland, zog. Profitiert vom Scheitern der PDS hat im Osten – und letztlich in Gesamtdeutschland – die SPD. Rotgrün unter Gerhard Schröder kann weiter regieren. Ein Ergebnis, das Beobachter noch gut zwei Monate vor dem Wahltag nicht für möglich gehalten haben. Im Schwerpunkt dieses Heftes beschäftigen wir uns deshalb mit der Frage, ob das Ergebnis des 22. September insbesondere im Osten Deutschlands auf der Linken eine Entscheidung im Parteienwettbewerb gebracht hat. Ist die PDS endgültig ein Aus-

laufmodell? Ist die SPD jetzt die einzige Partei, die im Osten strukturell mehrheitsfähig ist? Oder kommt doch wieder einmal alles ganz anders? Gleich vier Autoren befassen sich aus unterschiedlicher Perspektive mit den Zukunftschancen der PDS. Der Meinungsforscher Manfred Güllner sieht für die PDS nur noch eine mittelfristige Perspektive als Regionalpartei auf kommunaler und (ostdeutscher) Landesebene, der Publizist Albrecht von Lucke geht davon aus, dass die auf dem PDSParteitag in Gera unterlegenen Reformer auf lange Sicht ihre politische Heimat in der SPD finden werden. Thomas Falkner, bis zur Bundestagswahl einflussreicher Grundsatzreferent beim PDS-Parteivorstand, kommt in seinem differenzierten und anregenden Beitrag zu dem Schluss, dass es in der PDS gegenwärtig eine Renaissance eines Neokommunismus gibt, der die Partei endgültig ins Abseits bringt. Der Politikwissenschaftler Gero Neugebauer, langjähriger Beobachter der PDS, knüpft an die Frage des „Gebrauchswertes“ der Partei für die Wählerinnen und Wähler an. Er geht davon aus, dass die Bedingungen, die den Erfolg der PDS in der ersten Hälfte der 90er Jahre begünstigt haben, erloschen und nicht rekonstruierbar sind. Der

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neue Zweck der PDS ist (noch?) nicht erkennbar. Abgerundet wird dieser Bereich durch eine Studie über die Veränderung des Wahlverhaltens in der PDS-Hochburg Potsdam zwischen 1990 und 2002, die einige Thesen der genannten Beiträge illustriert. Lars Krumrey und Christian Maaß wenden sich in ihren Beiträgen der Frage zu, was und wie die SPD im Osten etwas aus ihren neuen Chancen nach dem Wahlfiasko der PDS machen kann. In ihren Beiträgen schimmert an verschiedenen Stellen die Debatte durch, was denn nun eigentlich auf die Nachwendezeit folgt. Ist die Zeit des Nachahmens des Westens vorbei? Folgt jetzt ein neues ostdeutsches Selbstbewusstsein? Wird der Osten, werden die Ostdeutschen gar zur Avantgarde? Zeigen sich im Osten gesellschaftliche Entwicklungen, von denen der Westen lernen kann, ja sogar muss?

Fragen, die provozieren und im Augenblick auch noch sehr viele Antworten, die wieder neue Fragen aufwerfen. Aber eine Debatte, die auch von einer neuen Generation Ostdeutscher zunehmend selbstbewusst und ohne jegliches Jammern geführt wird. Jana Hensels Erfolgsbuch „Zonenkinder“, Wolfgang Englers „Die Ostdeutschen als Avantgarde“ und andere Neuerscheinungen aus diesem Jahr illustrieren eine veränderte gesellschaftliche Sicht aus dem Osten. Christian Maaß gibt dieser Generation in der SPD, die diese neue ostdeutsche Sicht einfordert, einen Namen: Zonenfunktionäre. Nun ja, nur wer trommelt wird gehört. Ich wünsche auch dieses Mal eine anregende und spannende Lektüre. Ihr Klaus Ness

perspektive 21 im Internet Die Hefte 1-6 und 8-16 sind im Internet unter www.perspektive21.de als pdf-Datei zum Download verfügbar.

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Die PDS ohne Zukunft? von Manfred Güllner

Viele Wahlforscher waren sich zu Beginn der 90er Jahre ziemlich sicher, dass die PDS relativ schnell aus dem Parteiensystem des wiedervereinten Deutschlands verschwinden würde. Sie wurde als ostdeutsche Milieupartei eingesschätzt, die in dem Maße ihre Existenzgrundlage verlieren würde, wie sich das ostdeutsche Milieu aufgelöst. Die ersten Wahlen nach der Wende schienen diese These zu bestätigen. Während die PDS bei der ersten freien Wahl in der DDR, der Volkskammerwahl im März 1990, noch fast 1,9 Mio. Stimmen erhielt (bei einer Wahlbeteiligung von über 93 %!), schrumpfte dieser Stimmenanteil bei den Landtagswahlen in den neuen Ländern im Laufe des Jahres 1990 und der ersten gesamtdeutschen Wahl im Dezember 1990 auf rund 1 Mio. Stimmen. Der Stimmenschwund der PDS zwischen der Volkskammerwahl im März und der Bundestagswahl im Dezember 1990 betrug 46 Prozent; d.h. die PDS verlor während des Wiedervereinigungsprozesses fast die Hälfte ihrer Wähler. Doch seit Mitte der 90er Jahre konnte von einem schnellen Verschwinden der

PDS aus der Parteienlandschaft nicht mehr die Rede sein. So kam die PDS bereits bei der Bundestagswahl 1994 im Gebiet der neuen Bundesländer (einschließlich Ost-Berlin) auf knapp 1,7 Mio. Stimmen und erreichte damit fast ihr Potential vom März 1990. Und bei der Bundestagswahl 1998 erhielt die PDS mehr Stimmen (über 2 Mio.) als bei der Volkskammerwahl 1990 (ein Stimmenplus von 11 Prozent). Noch bei der Abgeordnetenhauswahl in Berlin im Oktober 2001 konnte die PDS im Ost-Teil der Stadt fast 36.000 Stimmen oder 12 Prozent mehr gewinnen als bei der Volkskammerwahl 1990. Das Abschneiden der PDS bei der Berliner Abgeordnetenhauswahl wurde allerdings weithin recht oberflächlich interpretiert, so als habe die Hälfte der Wahlbürger im Ost-Teil Berlins der PDS die Stimme gegeben. Zwar hatte die PDS in der Tat 47,6 Prozent der abgegebenen gültigen Stimmen erreicht, doch bei einer Wahlbeteiligung von rund 64 Prozent waren dies bezogen auf alle wahlberechtigten Ost-Berliner nur 30,3 Prozent. D.h. 70 Prozent

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Manfred Güllner

der Ost-Berliner gaben auch im Oktober 2001 ihre Stimme nicht der PDS. Dennoch konnte die PDS noch im Herbst 2001 darauf hoffen, dass sie ihr durch die Volkskammerwahl 1990 bei einer extrem hohen Wahlbeteiligung markiertes Wählerpotential weiterhin nicht nur ausschöpfen, sondern weiter ausbauen könnte. Dies aber geschah bei der Bundestagswahl am 22. September 2002 nicht. Die PDS erhielt in den neuen Ländern (einschließlich Ost-Berlin) weniger als

unterschiedlich aus: Den größten Rückgang gab es in Mecklenburg-Vorpommern mit einem prozentualen Verluste von 39 Prozent, den geringsten in Brandenburg mit 19 Prozent. Ein Blick auf die längerfristige Entwicklung der PDS-Anteile zeigt ebenfalls deutliche Unterschiede zwischen den einzelnen neuen Ländern. So ging der PDS-Anteil in etwas mehr als einem Jahrzehnt zwischen 1990 (Volkskammerwahl) und 2002 (Bundestagswahl) in den neuen Bundesländern insgesamt

Wählerschwund der PDS zwischen 1998 und 2002 *) neue Länder insgesamt (einschließlich Ost-Berlin) - 28 % Mecklenburg-Vorpommern Sachsen-Anhalt Thüringen Sachsen Brandenburg

- 39 % - 38 % - 27 % - 27 % - 19 %

Ost-Berlin

- 23 %

*)

Prozentualer Rückgang der PDS-Stimmen bei der Bundestagswahl 2002 im Vergleich zur Bundestagswahl 1998

1,5 Mio. Stimmen. Das waren 580.000 Stimmen weniger als bei der vorhergehenden Bundestagswahl im September 1998. In vier Jahren ging der Stimmenanteil der PDS somit um 28 Prozent zurück. Der Wählerschwund der PDS zwischen 1998 und 2002 fiel dabei in den einzelnen neuen Bundesländern

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(einschließlich Ost-Berlin) um 20 Prozent zurück. Dabei war wiederum in Mecklenburg-Vorpommern mit einem Rückgang von 47 Prozent der größte Wählerschwund der PDS zu verzeichnen. In Thüringen hingegen lag der Stimmenanteil der PDS 2002 entgegen dem allgemeinen Trend sogar über dem von 1990.


Die PDS ohne Zukunft?

Veränderungen der PDS-Anteile zwischen 1990 und 2002 PDS-Anteil*)

bei der

Wählerschwund **)

Volkskammer-

Bundes-

der PDS zwischen

wahl 1990

tagswahl-

1990 und 2002

2002 %

%

%

neue Länder insgesamt (einschließlich Ost-Berlin)

15,2

12,1

- 20

Mecklenburg-Vorpommern Sachsen-Anhalt Brandenburg Sachsen Thüringen

21,1 14,0 17,0 12,7 10,7

11,2 9,8 12,5 11,7 12,5

- 47 - 30 - 27 -8 + 17

Ost-Berlin

27,1

18,3

- 33

*)

in Prozent aller Wahlberechtigten

**)

Prozentualer Rückgang der PDS-Stimmen zwischen der Volkskammerwahl 1990 und der Bundestagswahl 2002

Auffällig ist, dass das Potential von PDS-Wählern in den beiden CDUdominierten Ländern Sachsen und Thüringen im letzten Jahrzehnt nur leicht zurückgegangen ist (in Sachsen) oder sogar zugenommen hat (in Thüringen). Und während 1990 in Mecklenburg-Vorpommern noch fast doppelt so viele Wahlberechtigte der PDS ihre Stimme gaben wie in Thüringen, war der PDS-Anteil (auf der Basis der Wahlberechtigten berechnet) 2002 in Thüringen und Sachsen größer als in Mecklenburg-Vorpommern.

Der bei der Bundestagswahl 2002 zu verzeichnende deutliche Rückgang des PDS-Stimmenanteils in den neuen Ländern ist jedoch – wie schon der Hinweis auf das Ergebnis der Abgeordnetenhauswahl in Berlin 2001 zeigt – kein langfristiger Trend, sondern eine erst im Verlauf des Wahljahres 2002 zu beobachtende Entwicklung. Dies zeigt die folgende Übersicht der von forsa seit Januar 2001 ermitelten Wählerpotentiale für die PDS:

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Manfred Güllner

PDS-Wählerpotential 2001/2002 *) in den neuen Bundesländern (einschließlich Ost-Berlin) % 2001

Januar Februar März April Mai Juni Juli August September Oktober November Dezember

14 14 14 13 13 15 15 16 15 16 18 17

2002

Januar Februar März April Mai Juni Juli August September

16 15 17 15 16 14 14 12 12

*)

Basis: alle Befragten (monatlich wurden ca. 3.000 Personen befragt)

Die PDS, die bei der Bundestagswahl am 22. September von 12 von 100 Wahlberechtigten gewählt wurde, lag bis zum Juli des Wahljahres in den Umfragen zum Teil deutlich über diesem Wert. So wollten auf dem Höhepunkt der Dis-

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kussion um eine deutsche Beteiligung am Kampf gegen den Terror in Afghanistan im Herbst 2001 bis zu 18 von 100 Befragten in den neuen Ländern der PDS ihre Stimme geben (Die damals von der PDS mobilisierten antiamerikanischen Ressentiments verhalfen denn auch der PDS zu dem großen Wahlerfolg bei der Abgeordnetenhauswahl in Berlin Ende Oktober 2001). Der Anteil der Befragten, der PDS wählen wollte, sank dann ab Mai 2002 kontinuierlich von 16 auf 12 Prozent im August und September, was dann auch dem tatsächlichen Anteil der PDS bei der Bundestagswahl entsprach. Zum Rückgang der PDS-Sympathien hat offenkundig der Rückzug von Gregor Gysi aus der Politik beigetragen. Gysi war für die Menschen in Ostdeutschland ein Sprachrohr, das ihre Interessen artikulierte. Und auf einen Teil der Intellektuellen in Westdeutschland übte er, nicht aber die Partei, eine gewisse Faszination aus. Ohne Gysi verfügt die PDS nicht mehr über ein entsprechendes personales Symbol. Als sich im Verlaufe des Wahlkampfes die politische Diskussion auf ernsthafte Themen (Vorschläge der HartzKommission zur Reform des Arbeitsmarktes, Folgen der Flutkatastrophe, Krieg im Irak) und auf die Frage fokussierte, ob Stoiber mit einer schwarzgelben Koalition die Macht in Berlin übernehmen oder aber doch lieber


Die PDS ohne Zukunft?

Schröder mit rot-grün weiterregieren sollte, erschien die PDS ebenso inhaltsleer und konturenlos wie die FDP. Zwischen PDS und SPD gab es im übrigen weniger Wanderungen als oft gemutmaßt. forsa konnte mit einem in Europa bislang einzigartigen internetbasierten Erhebungsverfahren (forsa.omninet) im Verlauf des Wahlkampfes individuelle Wählerwanderungen nachzeichnen. Danach wanderten zwischen Ende Juli und der Woche vor dem 22. September knapp 10 Prozent der PDSSympathisanten zur SPD. Die SPD konnte jedoch im gleichen Zeitraum ihren potentiellen Wähleranteil verdoppeln. Die Zuwanderung von der PDS hatte daran nur einen Anteil von 2 Prozent. Die größten Wanderungsbewegungen gab es zwischen Ende Juli und Mitte September zwischen dem Lager der Unentschlossenen und der SPD: Rund 50 Prozent des SPD-Zugewinns entfiel auf diese Wanderungsbewegung.

Nach der Bundestagswahl gab es im übrigen trotz des nicht optimal gelungenen Starts der neuen rot-grünen Koalition in Berlin keinen Zulauf zur PDS. Der PDS-Anteil sank im Oktober und November sogar auf einen Wert unter 10 Prozent aller Befragten. Noch ist nicht sicher auszuschließen, dass sich die PDS von dem schlechten Abschneiden bei der Bundestagswahl noch einmal erholen kann. Doch vieles spricht dafür, dass nunmehr mit entsprechender zeitlicher Verzögerung eintritt, was die Wahlforscher unmittelbar nach der Wiedervereinigung erwartet hatten, nämlich dass sich die PDS allmählich aus dem Parteiensystem verabschiedet. Sie wird sich vermutlich auf lokaler und Landesebene noch eine gewisse Zeit als RegionalPartei halten können, bundespolitisch aber dürfte sie ihre Bedeutung schon verloren haben.

Manfred Güllner ist Geschäftsführer des Meinungsforschungsinstituts forsa.

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Das Verschwinden der PDS von Albrecht von Lucke

War da was? Fast konnte man den Eindruck haben, eine Partei verabschiedet sich aus dem Bundestag und keiner der sonst so interessierten Beobachter nimmt es auch nur mit dem Anschein von Interesse, geschweige denn mit einer Spur des Bedauerns zur Kenntnis. Kaum war die PDS aus dem Bundestag entschwunden, interessierte nur eine Frage: wie verteilen sich ihre Wähler zukünftig auf Sozialdemokratie und Union? Sicher, bereits 1990 und 1994 lag die PDS klar unterhalb der 5 %-Hürde. Aufgrund der einheitsbedingten Sonderregelung von 1990 und ihrer vier Direktmandate von 1994 blieb sie dennoch im Bundestag sichtbar vertreten, zunächst als Gruppe, ab 1998 als Fraktion, und mit ihrem Vorsitzenden Gysi auch im eigentlichen Polit-Geschäft, sprich: auf den bequemen Stühlen von Sabine Christiansen. Heute ist die Situation eine gänzlich andere. Die beiden verbliebenen Direktmandatierten, Gesine Lötzsch und Petra Pau, müssen sich in die kurzfristig aufgestellte allerletzte Reihe des Reichstages drücken.

Zunächst war nicht einmal ein Tisch für die neuen Hintersassen der Sozialdemokratie vorhanden. Ein Novum in der Bundestagsgeschichte: Zwei Abgeordneten ist förmlich die Partei abhanden gekommen. Und das mehr als im sinnbildlichen Sinne. Denn für wen sprechen in Zukunft Pau und Lötzsch? Nachdem für die Reformer desaströsen Ausgang des Geraer Parteitages jedenfalls keineswegs für die siegreiche Fraktion um Gabi Zimmer. Also Bundestagsmandate als innere Emigration? Vieles spricht dafür, dass es sich bei der PDS definitiv um ein Auslaufmodell handelt. Und dennoch: keinerlei Anteilnahme, eher klammheimliche Schadenfreude in den Medien. Ganz anders die Szenerie, als 1990 die Westgrünen aus dem hohen Hause flogen und fortan nur noch mit ihrer Ostfraktion vertreten waren. Der anschließende Aufschrei medialen Bedauerns war unüberhörbar. Hohe Stimmengewinne bei den nächsten Landtagswahlen folgten. Nur vordergründig liegen die unterschiedlichen Reaktionen darin begründet, dass die Grünen damals mehr als überraschend aus

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Albrecht von Lucke

dem Bundestag flogen, mit dem Scheitern der PDS hingegen zu rechnen war. Die fehlende Resonanz belegt primär eines: Die PDS ist bis heute nicht im Westen angekommen – weder in der Medienlandschaft noch mit ihrem Personal. Mit Gregor Gysi besaß die Partei eine einzige Figur, die sich west- und medienkompatibel zeigte. Was hätte das Scheitern an der Westausdehnung stärker zum Ausdruck bringen können, als jenes Bild der geschlagenen Viererbande Zimmer, Bartsch, Claus und Pau am Abend der Wahl? Bis heute ist die

PDS ein originäres Ostprodukt geblieben – daran können auch einzelne westliche Ausreißer wie die Berliner Senatoren Wolf und Knake-Wemer nichts ändern, zumal sie bundespolitisch vollkommen unbekannt sind. Diese Feststellung impliziert aber ein Zweites: Das Projekt PDS als gesamtdeutsche Linkspartei ist offensichtlich gescheitert und damit auch der von Gysi und Brie verfochtene Anspruch auf Wiederherstellung der europäischen Normalität einer Linkspartei jenseits der Sozialdemokratie.

Gründungsdilemma Die Ursachen für dieses Versagen waren bereits im Gründungswiderspruch der Partei angelegt: einerseits der Wunsch, originäre Ostpartei mit Alleinvertretungsanspruch zu sein, andererseits der Wille zur bundesweit agierenden sozialistischen Linkspartei. Dieses ewige Changieren zwischen Ost-Folklore und linkem Avantgardeanspruch musste letztlich schief gehen. Der Abgang Gregor Gysis enthüllte das Scheitern. Er war die einzige Figur, die zumindest scheinbar den Spagat zwischen Ost und West, linkem Traditionalismus und Postmoderne bewältigte. Mit der Übernahme des Senatorenamtes scheiterte jedoch

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auch seine Turnübung. Hierfür gebührt Gregor Gysi Dank: Seine Fahnenflucht hat den Blick frei gemacht für die Trostlosigkeit der Hinterbühne. Es ist mehr als ironisch, dass es nach den unrühmlichen Abgängen der einstigen linken Frontmänner Lafontaine und Gysi der vormalige Sparkanzler war, der, gerade in der Flutkatastrophe, noch am stärksten das Ideal von Stehvermögen für die von Schicksalsschlägen gebeutelte Notgemeinschaft verkörperte – und nach dem Sieg der SPD sowie dem Ausscheiden der PDS jetzt auch noch den Lordsiegelbewahrer alter sozialdemokratischer Glaubensgewissheiten gibt.


Das Verschwinden der PDS

Denn das Ausscheiden der PDS bedeutet durchaus nicht, dass der durch vierzig Jahre Sozialismus geprägte Osten die Parteistrategen nicht mehr interessiert. Das Gegenteil ist der Fall: Der absehbare Niedergang der PDS weckte erst wieder die Begehrlichkeiten gegenüber jenem Wählerreservoir, das die SPD nur Monate zuvor bei den Landtagswahlen in SachsenAnhalt endgültig verloren zu haben schien. Jene Stimmanteile, die Schröder im Westen wieder an die CDU verlor, hat er im Osten von der PDS zurückgewonnen. Jetzt beginnt; der Kampf um den Nachlass der PDS. Vier Prozent können wahlentscheidend sein. Nur vordergründig konnte deshalb der neue alte Verbalradikalismus Gerhard Schröders auf dem ersten Parteitag nach der Wahl verwundern. In Schröders Rhetorik war aus der Partei der Mitte längst die Linke Mitte geworden. Nach der Wahl ist eben vor der Wahl. Keiner weiß das besser als Schröder. Die vom Kanzler bei seiner fast schon klassenkämpferischen Rede aufgestellte Behauptung: Dieses Land ist ein für alle Mal kein CDU-Staat mehr, steht und fällt nicht zuletzt mit der zukünftigen Rolle der PDS. Gelingt es der SPD tatsächlich, die PDS langfristig überflüssig zu machen und die sozialdemokratischen Stammlande südlich der Elbe zurückzuerobern,

könnten aus 8.800 Stimmen Vorsprung auf die Union wieder die diesmal verloren gegangenen 1,7 Millionen werden. Die Notlösung Stolpe könnte sich deshalb nachträglich als die richtige Wahl erweisen. Wie kein anderer verkörpert er eine Haltung von Arrangement mit dem alten Regime und pragmatischer Ankunft im neuen, die auch bei vielen PDS-Wählern Anklang findet und in Brandenburg bereits einmal mit der absoluten Mehrheit belohnt wurde. Während der Osten zunehmend in die Hände von SPD und CDU übergehen dürfte, bleibt nach dem PDS-Desaster noch die Frage: Wie verhält es sich mit dem Projekt Linkspartei? Die kurzzeitig aufgekommenen Parteigründungsüberlegungen kann man jedenfalls getrost ins Reich der Phantasterei verweisen. Parteien entstehen bekanntlich nicht am Reißbrett, sondern aus gesellschaftlicher Bewegung. Folglich sind alle Pläne in dieser Richtung derzeit auf Sand gebaut. Zwar ist mit der neuen globalisierungskritischen Bewegung um Attac so etwas wie ein Lüftchen im Lande zu spüren. Von Parteigründungsambitionen sind die Aktivisten aus guten Gründen allerdings weit entfernt. Ohnehin spricht vieles für die Annahme Niklas Luhmanns, dass die postmaterialistischen Neugründun-

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Albrecht von Lucke

gen der 80er Jahre den einzigen parteifähigen Widerspruch aufgriffen, der nicht bereits im Parlament vertreten war. Einige der jetzigen Verbalradikalen der neuen Bewegung dürften deshalb mit abgekühlten Mütchen den willkommenen Nachwuchs für Grüne und SPD stellen. Dem gleichen bürgerlichen Milieu entstammen sie ohnehin. Wenn aber in Zukunft die Ostperspektive bei der Parteienkonkurrenz, der linke Universalismus bei Attac besser aufgehoben sein wird als bei der PDS, sitzen vor allem die einstigen PDSReformer endgültig zwischen allen Stühlen. Keine guten Aussichten für die melancholischen Mundwinkel

Andre Bries. Auf lange Sicht betrachtet spricht vieles dafür, dass die moderaten Sozialisten tatsächlich mit Kanzlers Worten ihre „neue Heimat“ in der SPD finden. Sozialdemokratische Politik machen die derzeit Regierenden aus den Reihen der PDS ohnehin, ob man nach Mecklenburg-Vorpommern oder Berlin schaut. Reformer vom Schlage Bries könnten in einer konzeptionell erschlafften SPD vielleicht tatsächlich so etwas wie linke Anstöße geben. Andrea Gysi, ehemalige Bundestagsabgeordnete und Frau von Gregor Gysi, hat schon einmal die Rolle der Vorhut beim geordneten Rückzug übernommen. Ihr Austrittsformular ist jedenfalls bereits unterzeichnet.

Albrecht von Lucke ist Publizist und lebt in Berlin. Mit freundlicher Genehmigung von Autor und Verlag entnommen aus: Blätter für deutsche und internationale Politik, Bonn, 12/2002, S. 1418-1420.

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Sozialisten im Abseits? Die Krise der PDS ist mehr als nur eine Krise der PDS von Thomas Falkner Gut zwei Monate nach der Bundestagswahl 2002 ist es die Frage, ob über die PDS und ihre Niederlage geredet wird – oder über den Zustand der Mitte-Links-Parteien in Deutschland. Ob über Deutschland am 22.9.2002 als Ausbrecher aus dem europäischen Trend – oder über Deutschland als eine spezifische Form der europäischen politischen Entwicklung. Ist die Krise der PDS ein isoliertes Phänomen – oder ist sie ein besonders signifikanter Teil der Krise des Mitte-Links-Lagers in Europa? Sind andere Parteien von der Krise der PDS nur betroffen, weil sie ein politischer Partner und Konkurrent ist – oder können gerade SPD und Bündnisgrüne am Schicksal der PDS Sym-

ptome einer mehr oder weniger gemeinsamen Krise studieren? Vor dem Hintergrund des rapiden Ansehensverfalls der rot-grünen Bundesregierung bereits in den ersten Wochen und Monaten nach der Wahl scheint zumindest die Frage prüfenswert, ob der Absturz der PDS nur der erste Akt in der deutschen Version der allgemeinen europäischen Krise von Mitte-Links gewesen sein könnte. Und zum zweiten wäre vor diesem Hintergrund nach der Perspektive und den Chancen oder Gefahren zu fragen, die sich durch die Entwicklung der PDS, die insbesondere mit dem Bundesparteitag von Gera (Oktober 2002) eingeleitet wurde, verbinden.

1. Mitte-Links in Europa – das ausgefallene Projekt … Erlauben wir uns eine kurze, grobe historische Parallele: Vor 200 Jahren begann die Konstituierung des Kapitalismus im nationalstaatlichen Rahmen, heute erleben wir die Konstituierung des Kapitalismus auf globaler Ebene. Die politischen und gesell-

schaftlichen Regularien, Mechanismen, Institutionen, Akteure aber sind noch die der nationalstaatlich geprägten Ära. Der Liberalismus bestimmte Politik und Ideologie des „nationalstaatlichen“ Kapitalismus – heute bestimmt der Neoliberalismus Politik

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Thomas Falkner

und Ideologie des beginnenden globalisierten Kapitalismus. Auf nationaler Ebene traten Demokraten, Konservative, Sozialisten als politische Akteure mit dem Hintergrund ganzer politischgeistiger Grundströmungen hinzu – sie schlossen Lücken, die der Liberalismus offen ließ, sie nahmen sich der Probleme an, die er erzeugte – und sie erzwangen einen sozialen und demokratischen Ausgleich, der in die modernen westlichen Gesellschaften mündete. Vergleichbare Prozesse sind für die Phase des globalisierten Kapitalismus im Grunde genommen noch nicht einmal im Ansatz zu erkennen. Der ökonomischen Globalisierung, die ausgangs des 20. Jahrhunderts eingeleitet wurde, fehlt am Beginn des 21. Jahrhunderts das Pendant der sozialen Gerechtigkeit und des interkulturellen Ausgleichs. Das hätte das europäische, das internationale Projekt der NachKohl/Mitterand-Generation (also der Mitte-Links-Regierungen der späten 90er Jahre) sein können und müssen – aber es ist ausgeblieben. Der Politischen Union und dem Euro ist nichts mehr gefolgt – nur nationalstaatlich begrenzte Reformen, in Umfang und Substanz unterdimensioniert: Im „Standortwettbewerb“ immer weniger Ressourcen für Sozialstaatlichkeit (im Inneren und erst recht nach außen) – die wachsenden Rivalitäten unter

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den Bedürftigen um die geringer werdenden Ressourcen werden in Kauf genommen – die Druckentlastung erfolgt entlang der kulturellen Konfliktlinien durch restriktivere „Ausländerpolitik“ und durch Missionierung im Ausland (statt ökonomischer, kultureller und sozialer Öffnung). So aber werden Probleme nicht wirklich gelöst, aber Konflikte geschürt. Dafür wird man nicht so einfach wieder gewählt … Die Wurzeln dieses Phänomens liegen tief – in einem faktischen Steuerungsverzicht, der bereits vor Jahrzehnten seinen Anfang nahm. Am Anfang der europäischen Linken entstand mit der industriellen Revolution auch die Utopie von der immer entwickelteren Technik, die man nur in den Dienst der Allgemeinheit stellen müsse, damit es „Zuckererbsen für jedermann“ geben könne. Im 20. Jahrhundert zeigte die fordistische Produktionsweise (Massenproduktion – Massenbeschäftigung – Massenkaufkraft), dass es auch unter kapitalistischen Voraussetzungen eine solche Interessensymbiose geben konnte, die ein weithin auskömmliches Leben ermöglichte. Dafür bedurfte es eines Technologie- und Produktivitätsschubes – jeder weitere Technologie- und Produktivitätsschub aber engte die Interessensymbiose wieder ein und produzierte das Interesse, an der jeweils voraus gegange-


Sozialisten im Abseits?

nen Stufe fest zu halten. Dazu kamen die Tatsache, dass die Technologie- und Technikschübe mehr und mehr mit Kriegswirtschaft und Militär-IndustrieKomplex in Verbindung gerieten, sowie das wachsende Bewusstsein von den ökologischen Gefahren der Großindustrie. Die Linke wurde sozialkonservativ und technik-pessimistisch – und verlor zu großen Teilen Fähigkeit wie Anspruch, Fortschritt zu initiieren und zu gestalten. In einer Analyse für den Bereich Strategie und Grundsatzfragen beim alten PDS-Parteivorstand hieß es im September 2002, unter den Bedingungen der Globalisierung „werden aus dem linken Themenspektrum entscheidende Stücke heraus gebrochen. Universalismus und Individualismus werden als Schlagwörter des Marktes verwaltet. Der Technik- und Fortschrittsoptimismus kommt allein den Neoliberalen zugute. Für die traditionelle Linke bleibt einzig die Sozialpolitik, und die kann im Deutungsmuster der Globalisierung als protektionistisch, partikularistisch, wettbewerbsfeindlich und reaktionär kodiert werden.“ Tatsächlich geraten Sozial- und Reformpolitik in Konflikt. Der fordistisch-nostalgische Sozialkonservatismus verteidigt seine Institutionen und Regularien gegen die Umbrüche der Realität und provoziert damit zusätz-

lich den neoliberalen Tabubruch. In den modernen Gesellschaften steigen die Kosten für die solidarische Alters- und Arbeitslosenversorgung, weil tatsächlich immer weniger Erwerbstätige immer mehr Bedürftige über immer längere Zeiten finanzieren müssen. Medizinisch wird immer mehr möglich – vor allem mehr, als die herkömmliche Finanzierung der Gesundheitssysteme ermöglicht. Die sozialstaatliche Realität verhindert insbesondere in Deutschland marktgerechte Preise und forciert in der Pharma- und Medizintechnikindustrie beachtliche Sonderprofite zu Lasten der Allgemeinheit. Niemand kann davor die Augen verschließen – aber die mächtigen Lobbygruppen beharren auf den von ihnen vertretenen Interessen. Wer zuerst zurück steckt (und sei es nur durch Verzicht auf Widerstand selbst gegen kleinste Maßnahmen), muss einen strategischen Nachteil gegenüber seinen Konkurrenten befürchten. Weil niemand zurück steckt und Raum für Innovationen frei gibt, wird der Druck auf die Politik immer größer – vor allem auf die Parteien, deren WählerInnen traditionell vor allem in Sozialstaatsfragen engagiert sind. So zieht zugleich der Klientelismus in die Politik vor allem der Mitte-Links-Parteien ein. Die bloße Addition von Minderheiten aber schafft noch keine Mehrheiten,

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Thomas Falkner

wusste schon Bill Clinton vor seiner Präsidentschaft. Noch schwieriger aber wird es, wenn Minderheiten nicht einmal mehr addiert werden können, weil ihre Klientele um geringer werdende Ressourcen gegeneinander konkurrieren … In letzter Konsequenz führt das – wie in Frankreich – mit zur Vertiefung der Klüfte zwischen verschiedenen linken Parteien, an die sich verschieden Klientele hängen … Im Ergebnis machen sich als gesellschaftliche Phänomene breit: • Sozialstaatsverdruss angesichts des von Generation zu Generation immer weniger akzeptablen Verhältnisses von Aufwand und Leistung. • Konsensverdruss angesichts der täglichen erlebbaren Entwicklungsblockaden, die sich aus dem weit reichenden faktischen Veto-Recht der

Interessenverbände ergeben. Und der Verdruss wendet sich in neue politische Lust: • Lust an der Polarisierung, mit der Konfliktaustragung erzwungen werden soll. • Lust an individuellen Strategien zur Absicherung von Lebensrisiken, Alter etc., mit denen man den sozialstaatlichen Belastungen und Zumutungen ein Schnippchen schlagen kann … Jörg Haider hat auf der Klaviatur von Verdruss und Lust souverän gespielt. Am (vorläufigen) Ende des FPÖ-Intermezzos am Wiener Ballhausplatz steht ein struktureller Umbruch in den (partei-)politischen Kräfteverhältnissen Österreichs – zu Gunsten des bürgerlich-konservativen Lagers. So weit sind wir in Deutschland noch nicht …

2. Das Versagen der PDS So weit das Koordinatensystem und die Fixpunkte für die Krise, in der sich Mitte-Links-Parteien heute in Europa befinden. Zumindest aus der Erfahrung innerhalb der PDS ergab sich in den letzten Jahren ein solches Bild. Und in diesem beschriebenen Raum vollzog sich die konkrete, spezifische Krise der PDS. Nur durch eine solche erweiterte Beschreibung des Rahmens

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ist z.B. erklärlich, warum die PDS gerade an ihren eigenen Themen gescheitert ist … (Und warum möglicher Weise gerade jetzt die rot-grüne Bundesregierung so dramatisch an Rückhalt in der Bevölkerung verliert, wo sie auf die Gewerkschaftspositionen zugeht, wo die SPD auf Umverteilung von oben nach unten setzt – Vermögenssteuer, wie auch von der PDS


Sozialisten im Abseits?

gefordert –, wo sie im Haushalt nicht nur über Ausgabenkürzungen, sondern auch über Einnahmeverbesserungen nachdenkt – was wir ja auch die PDS immer verlangte.) Doch zurück zur Bundestagswahl. Die Themen Arbeit, soziale Gerechtigkeit, Friedenserhaltung und – gewandelt – Ostdeutschland hatten im Vergleich zu 1998 bei den Wählerinnen und Wählern im Prinzip nichts an Gewicht verloren. Daran hatte sich die rot-grüne Politik zu messen, dem musste sich die bürgerliche Opposition unterwerfen und dem musste die linke Opposition klare, deutlich weiter führende, also über Rot-Grün hinaus gehende Vorschläge entgegensetzen (in diesem Sinne: politisch umsetzbare Alternativen). Und dies alles war in eine Situation hinein umzusetzen und zu kommunizieren, die am Ende fast ausschließlich von der Frage Schröder oder Stoiber und den damit verbundenen tiefen sozialpsychologischen und mentalen Konfliktlinien geprägt war. Demgegenüber waren Erscheinungsbild und tatsächliches Agieren der PDS geprägt von: Dysfunktionalität statt Gebrauchswert. Das Wechselspiel zwischen Selbstintension und Fremdzuweisung, das die Entwicklung der PDS-Identität in den 90er Jahren geprägt hatte, funktionierte nicht mehr; insbesondere der Parteivorstand

und die Parteivorsitzende wechselten auf einen Kurs, der die parteiinterne Furcht vor der wirklichen Politik und darauf fußende Lust an der Opposition zum Maßstab des eigenen Agierens und zur Prämisse der politischen Analyse machte. So setzte sich seit dem Frühjahr 2002 an der Bundesspitze faktisch eine Auffassung durch, die die PDS nicht mehr als Teil eines politischen Mitte-Links-Spektrums in Deutschlands, sondern als ein „drittes Lager“ diesseits von Union und SPD betrachtete. Nach dem damit verbundenen Verzicht auf eigene strategische Optionen hat sie die PDS-Führung dann angesichts der knappen Umfrageergebnisse im Sommer in eine formalisierte Konstellationsdiskussion zwängen lassen, in der inhaltliche Substanz schon gar nicht mehr aufgerufen wurde. Was die PDS in der Sache innerhalb des Mitte-Links-Lagers in Deutschland zur Geltung bringen und durchsetzen könnte, spielte zwar noch in einem im August im SPIEGEL veröffentlichten Strategiepapier – einer Vorarbeit für den Wahlaufruf des PDS-Spitzenteams – und in der journalistischen Nacharbeit dazu eine Rolle, nicht aber politisch, nicht im Agieren insbesondere der PDS-Vorsitzenden und anderer Führungsmitglieder. (Zudem wurde dieser Ansatz durch den Gysi-Brie-Brief

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an Lafontaine sowie die Spekulation um einen angeblichen „Zwei-PunktePlan“ für die Wahl Schröders mit PDSStimmen zunichte gemacht.) So kam es, dass die PDS-Spitze mit ihren Signalen der Unterstützung für Schröder jenes Drittel von potenziellen PDSWählerInnen verunsicherte, die sich laut internen Umfragen eine PDS-SPDKooperation auf Bundesebene nicht vorstellen konnten oder wollten. Und mit der als fundamental wahrgenommenen Orientierung auf Opposition auf jeden Fall führte die PDS-Spitze letztlich gegen jene Mehrheit von rund 70 % der potenziellen PDS-WählerInnen Wahlkampf, die sich eine authentische und engagierte regierungsbezogene Mitwirkung der PDS an einer rotgrünen Bundespolitik wünschten. Dazu kam: Es gab und gibt bislang keine hinreichenden politischen Referenzen – weder auf der Projektebene noch aus der Regierungsbilanz. In Mecklenburg-Vorpommern und Berlin sind zudem – anders noch als in Sachsen-Anhalt – Probleme im Regierungshandeln und enttäuschte (teils auch überhöhte) Erwartungen vor allem zu Lasten der PDS, nicht der SPD, gegangen. In Mecklenburg-Vorpommern sind die Gründe für eine Fortsetzung der rot-roten Koalition zudem wenig mit konkreten Leistungen der PDS innerhalb der Regierung verbunden worden.

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In Berlin konnte im ersten Jahr der neuen Koalition angesichts der schwierigen Ausgangssituation ein praktischer Aufbruch zu Neuem – gerade durch die Beteiligung der PDS ermöglicht – (noch) nicht erlebbar gemacht werden. Allerdings: In Berlin gibt es bei den Interessenverbänden und -gruppen aller Art einen dramatischen Rückfall in die alte Versorgungs- und Besitzstandsmentalität, der weitestgehend das Bewusstsein von der essentiellen Haushaltskrise und deren Verursachern überlagert hat und sich in einer fast aggressiven Verweigerung gegen jede notwendige Veränderung stellt – bei besonderem Druck auf die PDS. Nach den Auseinandersetzungen um das Schweriner Arbeitsministerium und vor allem nach der Bonusmeilen-Affäre um Gregor Gysi ist die PDS dann auch noch im negativen Sinne erstmals als „normale Partei“ wahrgenommen worden und hat an Vertrauen und Zutrauen eingebüßt. Gysis Rücktritt hat dies nicht wett machen können; seine nach dem Rücktritt sogar zunehmende Medienpräsenz hat auch zu Verdruss geführt und den Eindruck verstärkt, er sei eher aus Amtsmüdigkeit zurück getreten und bevorzuge die Rolle des politischen Entertainers gegenüber der harten Sacharbeit. Der in der unmittelbaren Vorwahlphase eingetretene Trend-


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wechsel zu Gunsten von Mitte-Links im Bund kam daher weitestgehend der Sozialdemokratie und nicht der PDS in diesen Ländern zu Gute. Selbst die „Ostkompetenz“ war verloren gegangen. Das dominierende Thema (Abwanderung; „Kippe“) hatte die PDS verpasst und Wolfgang Thierse überlassen; den Anschluss an die neue Differenzierung der ostdeutschen Teilgesellschaft hat bislang keine politische Partei gefunden und den Vorsprung in der Sachkompetenz in den „harten“ Politikfeldern – Wirtschaft etc. – hat die PDS zwar in ihrem Rostocker Parteitagsbeschluss zu Ostdeutschland im Kontext der EU-Osterweiterung auf dem Papier behauptet – in der Breite der Partei ist dies jedoch bislang kaum angekommen … Die Frage der neuen sozialen und kulturellen Differenzierungen im Ost-Milieu hat die PDS noch immer nicht aufgegriffen. Bei der Hochwasserkatastrophe schließlich erwies sich die PDS für viele als Totalausfall. Sicher – als gesamt-nationale Herausforderung hat die Katastrophe Links-RechtsNuancen im Wahlkampf sowie die allgemein problematische Lage im Osten in der allgemeinen Wahrnehmung überlagert. Doch vor allem nach dem

Abebben des Hochwassers hat die PDS als Bundespartei keinerlei Initiativen ergriffen oder auch nur nennenswert unterstützt, die Partei von unten als sinnlich wahrnehmbare Interessenvertretung, als Dienstleister für die sehr konkreten Sorgen und Forderungen der Betroffenen zu profilieren – womit der Aufstieg der PDS in den 90er Jahren begonnen hatte, gab es nicht mehr: die „Partei für den Alltag“. Und letztlich: Mit seiner harten Linie gegen einen Irak-Krieg im Wahlkampf hat Gerhard Schröder nicht nur die Realität seiner Politik seit dem Kosovo-Krieg verdrängt, sondern auch durch verbale Übernahme nahezu jeder PDS-Detailforderung nicht nur mit einem außenpolitischen Thema die Wahlentscheidung massiv beeinflusst, sondern auch der PDS den Schneid abkaufen können. Ursache und zugleich auch wieder Folge all dessen waren: • eine sich vertiefende Spaltung innerhalb des traditionell dominierenden Reformerlagers, die zu internen Entwicklungsblockaden und zu einem widersprüchlichen Erscheinungsbild führte, • eine von den Führungsdefiziten forcierte Demotivierung, schließlich sogar Demoralisierung der Parteibasis.

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3. Wegscheide Mittlerweile gibt es für die PDS zwei Zäsuren: Wahltag und Parteitag. Der Wahltag hat gezeigt, dass die PDS – so, wie sie vor allem konzeptionell und strategisch aufgestellt war – nicht gebraucht wird, wenn es in diesem Lande wirklich ernst wird. Der Bundesparteitag von Gera (Oktober 2002) aber hat die PDS erst recht auf die schiefe Ebene gebracht. Einerseits, weil die der Realpolitik abholde Linie, die Linie des „dritten Lagers“, des Schwerpunktes außerhalb des politisch-parlamentarischen und auch exekutiven Bestrebens obsiegt hat. Vorher hatten die PDS keine tragfähige Antwort auf das, was die Menschen von ihr erwarteten – jetzt hat sie die falsche Antwort: Oppositionskult und naive Ansprüche an politische Gestaltung, Antisozialdemokratismus und „Mitte-Unten“-Träume statt strategische Souveränität innerhalb des Mitte-Links-Lagers in Deutschland … Andererseits hat der Parteitag mit der politischen Unkultur, die mit ihm und danach aufkam (symbolisch dafür die „Aktentasche-Affäre“ um den stellvertretenden Parteivorsitzenden Diether Dehm), Vertrauen in ernsten Dimensionen verspielt, viel Porzellan zerschlagen. Viele innerhalb und außerhalb der PDS sind von der Wucht,

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mit der totalitäre Verhaltensmuster wieder auf- und durchbrechen, überrascht. Instinktiv gehen sie – darunter viele Wählerinnen und Wähler von 1998 – auf Distanz. Man vertraut durchaus noch einzelnen – aber nicht mehr der PDS. Und schließlich: Der Parteitag hat vorgeführt, dass es die stabile strukturelle Mehrheit für die sogenannten Reformer nicht mehr gibt, weil es die Reformer selbst als ein hegemoniefähiges Lager nicht mehr gibt. Aus der Binnenerfahrung der PDS gibt es schon seit langem nicht mehr den Konflikt Reformer vs.Traditionalisten – mit struktureller Reformer-Mehrheit bei den Aktivisten und struktureller Traditionalisten-Mehrheit bei der Basis –, sondern eine neue Lagerbildung in der Partei. Neben den Traditionalisten hat sich eine Gruppe von ehemaligen Reformern (jener, die seit 1989 in erster Linie die Partei reformieren wollten und dazu auch programmatisch Taugliches produzierten) neben und gegen die Gruppe der Pragmatiker konstituiert – also jener Reformer, die in erster Linie die Gesellschaft reformieren und zu diesem Zweck Politik machen wollen. Die parteibezogenen Reformer nun sind aus innerparteilich-machtpolitischen Erwägungen ein Bündnis mit den Traditionalisten eingegangen – und


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nur deswegen erscheint der Konflikt als der klassische Konflikt der Prominenten gegen die Stalinisten und Nostalgiker, wie er stets die PDS-Geschichte geprägt hat … Eigentlich – und das klingt nur zweckoptimistisch, ist aber ein realer Befund – hat die Entwicklung der letzten zwei Jahre auch durchaus etwas Konstruktives gebracht: Die fast schon vollzogene Herausbildung des PragmatikerLagers – mit einer immerhin ermutigenden Machtposition von einem Drittel auf Bundesebene und doch noch starken Bastionen über zwei Landesregierungen. Schon deswegen sind die Abgesänge auf die PDS verfrüht. Wie auch immer – auf absehbare Zeit wird sich die PDS weiter mit wichtigen Fragen aus der Gesellschaft konfrontiert sehen und daran arbeiten: 1. Für welche Funktion in Politik und Gesellschaft bietet sich die PDS künftig den Wählerinnen und Wählern an? 2. Erkennt die PDS mögliche politische Partner und ist sie fähig, ihre Eigenständigkeit so zu entwickeln, dass sie zugleich kooperationsfähig mit diesen wird? 3. Kann die PDS überhaupt den offenkundigen Kulturbruch wieder rückgängig machen? Das heißt: Findet sie zu einem auch personellen Neuansatz – bis in die Delegiertenzusam-

mensetzung des Parteitages? (Denn die jetzigen Delegierten haben ja den Kulturbruch verkörpert …) Das alles läuft letztlich auf eine entscheidende Frage hinaus: Ist die PDS willens und fähig, die mit Rostock/ Halle/Gera eingeschlagene Linie ernsthaft zu korrigieren – inhaltlich und personell? Und umfangreich … Dies – nicht die Auseinandersetzungen darum, ob ein stellvertretender Parteivorsitzender anordnen darf, die Aktentasche des früheren Bundesgeschäftsführers zu durchwühlen – markiert den eigentlichen Raum für die Auseinandersetzungen, die die „Reformer“ innerhalb der PDS mit der jetzigen Richtung ihrer Partei führen – und möglichst gewinnen – müssen. Mit der Wiederholung alter Schlachten freilich wird es nicht getan sein. Dass sich die falsche Linie in Gera durchgesetzt hat, heißt nicht automatisch, dass die bisherige Linie der „Reformer“ noch richtig ist (was wiederum nicht bedeutet, dass sie vor dem 22. September auch schon falsch war). Doch notwendig ist eine (selbst-) kritische Überprüfung der strategischen Grundannahmen der letzten Jahre – sowohl der machtpolitischen Optionen als auch und vor allem der Themen und Images. Mit dem Wegfall der Bundestagsfraktion und des Zugriffs auf die Ressourcen der Bun-

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despartei wird dies allerdings – gelinde gesagt – sehr schwierig. Andererseits haben die Reformer den strukturellen Vorteil, dass sie in Regierungsverantwortung stehen – dass sie handeln müssen, entscheiden können, wahrgenommen werden und insofern auch kompetente Rückmeldungen aus Politik und Gesellschaft erhalten. Die Pflichten des Amtes werden die regierenden Reformer – bei Strafe des eigenen Untergangs – zu konkreten, umsetzbaren, wirksamen Projekten in zwei Richtungen drängen: • Einerseits zu Sparen als Gewinnerspiel für möglichst viele – durch strukturelle Reformen und Innovationen. • Andererseits wird es um Projekte gehen müssen, die Perspektiven eröffnen – und das müsste mit Weichenstellungen für den Osten (der entsprechende Beschluss des Rostocker Bundesparteitages vom März 2002 bietet dafür durchaus Ansatzpunkte) oder für die Jugend (Bildung, Ausbildung, Attraktivität des Bleibens im Osten bzw. der Hinwendung zu ostdeutschen Leistungszentren statt der Abwanderung …) zu tun haben. • Und schließlich muss sich auch demokratisch-sozialistische Politik den Ängsten der Bevölkerung, besonders im Osten, zuwenden: Kriegsangst, soziale Ängste, Zukunftsängste, Angst vor Kriminalität und Terror,

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vor dem Fremden … Doch es geht auch um mehr. Defizite der deutschen Politik sind im Moment das große Thema. In gewichtiger Dimension. Es geht nicht an sich um den dramatischen Ansehensverfall von Schröder und Rot-Grün – das Thema ist das Fehlen einer über den Tag hinaus reichenden Perspektive für die deutsche Politik. An der Oberfläche profitiert die Union davon – aber sie ist Teil des Problems (wenn eben ihre eigentliche Antwort darauf die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses wegen Wahlbetrug ist, der sich ebenso gegen sie selber richten könnte …) Das greifbare Überthema sind Zustand und Zukunft der Demokratie – die Debatte um Weimar, um Schröder und Brüning. Um Parlamente und Kommissionen, gewerkschaftliche Verweigerung, bürgerlichen Widerstand, Umfragen und Wahlen, Staatsfinanzen und Staatszwecke … Das müsste eigentlich eine große Chance für eine demokratisch-sozialistische Programmpartei wie die PDS sein. Stünde sie nicht seit Jahren in einer Programmdebatte, müsste sie gerade jetzt beginnen. Freilich: So, wie die PDS insgesamt derzeit verfasst ist, wird sie keine sonderlich kreativen Antworten auf solche gesellschaftlichen Herausforderungen abliefern können – sondern Formelkompromisse zwischen marxistologischem Traditi-


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onsgut und moderner Symbolik. Für die Pragmatiker jedoch ist dies die Chance und die Herausforderung, sich und ihrem Tun eine programmatische Basis zu geben – durch einen eigenen Programmentwurf, der sie nach außen und innen kenntlich macht, ihre Erfahrungen in der Politik aufarbeitet, in Beziehung zu ihren demokratischen und sozialen Werten und Leitbildern setzt und zugleich entwickelt, wie die politischen Verhältnisse in Deutschland reformiert werden müssen und können, damit überhaupt wieder Perspektiven und große Linien verfolgbar werden. Eine moderne demokratisch-sozialistische Programmatik wird den alten Verbändestaat Bundesrepublik und das Modell Deutschland AG nicht blind zur ewigen Voraussetzung haben können – wohl aber als Gegenstand demokratischer Veränderung annehmen und die archimedischen Punkte für den notwendigen Umbruch bestimmen müssen. Es ist weder ausgemacht, dass eine solche politisch-programmatische Konstituierung des pragmatischen Teils der PDS gelingt, noch dass eine solche Strömung letztlich hegemoniefähig wird. Doch der Versuch ist geradezu demokratische Pflicht. Denn – was wäre die Alternative? Die Fortsetzung jener Entwicklung zu einer neokommunistischen Formation, die bereits vor zwei Jahren mit dem Kollaps von Münster

(auf dem damaligen Bundesparteitag unterlag die damalige PDS-Führung um Lothar Bisky, Gregor Gysi u.a. mit dem zaghaften Versuch, die Partei in der Außen- und Sicherheitspolitik zu den politischen Realitäten hin zu öffnen, und zog sich zugleich aus den Spitzenpositionen zurück) begann und die jetzt in Gera erlebbar wurde: Der postkommunistische Charakter der PDS tritt deutlicher in den Vordergrund; die (partei-)kommunistische Traditionslinie tritt erkennbarer neben und gegen die bisherigen Bemühungen der führenden Reformer, der Partei eine demokratisch-sozialistisches Richtung zu geben. Das geht einher mit relevanten Akzentverschiebungen in der inneren Logik der Partei und ihres politischen Agierens: • Ideologie zu Lasten von Politik und Konzept, • Aufwertung der Binnenverhältnisse zu Lasten der Offenheit in die Gesellschaft, • offenere Bekenntnisse nicht nur als Partei der ehemaligen Dienstklasse der DDR, sondern auch als Partei der ehemaligen Kern-Eliten des stalinistischen Systems in der DDR. Wurden unter Gysi und Bisky die Parteimitglieder beim humanistischen Kern ihres Engagements für die DDR und in der SED gepackt, den Menschen

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Gutes zu tun, und mehr oder weniger direkt an die Philosophie der Anfangsphase gebunden, wonach Bürgerinteressen vor Parteiinteressen zu stehen hätten, so tritt dies jetzt hinter eine stärkere Betonung der parteiinternen Logik und der Veränderung von Gesellschaft als nachgelagerte Folge parteigebundenen Handelns zurück. Die geistigen Konturen eines Neokommunismus in Deutschland sind bereits erkennbar: Er ist (vulgär-)egalitär, ohne sich auf einen ernsthaften Wertediskurs einzulassen. Er bezieht sich programmatisch auf die Einheit der Menschenrechte bei starker Betonung bis Verabsolutierung der sozialen Ansprüche. Er ist demokratie-skeptisch bis parlamentarismusfeindlich – und zugleich demokratisch-fundamentalistisch: Alles soll „von unten“ geklärt werden, Moderation wird an die Stelle von Entscheidung gesetzt, politisches Entscheiden selbst diskreditiert, der repräsentativen Demokratie die Legitimation abgesprochen. Interessengruppen werden zugleich in Gut und Böse eingeteilt und von daher als legitim oder illegitim angesehen. Er ist hochgradig ideologisiert, beharrt auf dem letztlich revolutionären Anspruch auf die ganz andere Gesellschaft als Alternative zur gegenwärtigen mo-

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dernen westlichen Gesellschaft – und zugleich bezüglich der Möglichkeit, dies auch zu erreichen, ultra-realistisch bis zum Defätismus gegenüber jedweder demokratischen und sozialen Veränderung. Er gebärdet sich moralisierend, im Gestus der ständigen Empörung – und leistet sich so die Illusion eines – gesellschaftlich letztlich wohl belanglosen – Avantgardismus. Er ist analytisch ambitioniert, aber un-intellektuell und un-modern: marxistisch-orthodox in der „Eigentums-“ und der „Machtfrage“, marxistisch-illusionär in den Debatten um Entfremdung, Arbeitsgesellschaft oder Emanzipation von einer vermeintlichen „Kapitallogik“, auf die alles reduziert wird. Er präsentiert sich kulturell und mental als eine Funktionärspartei – dem entsprechend mit blassen, wenig charismatischen und eher führungsschwachen Spitzenfiguren. Ein solcher Neokommunismus mag für die Zeit, in der ihn seine politische Schwindsucht noch nicht völlig bedeutungslos gemacht hat, noch durchaus eine Funktionspartei auf unterer Ebene tragen – eine Funktionspartei, die ihren ideologischen Ballast auf die jeweils höchste, für sie machtpolitisch nicht erreichbare Ebene (Bund, Europa, NATO, UNO ...) projiziert. Und auch dort die Schuldigen dafür ausmacht, dass


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sie den eigenen radikalen Ambitionen nicht genügen kann. Gerade eine solche neokommunistische PDS eignet sich, so kurios es erscheint, als Konservator der nachwendischen deutschen Parteiensystems und einer – vorerst – strategischen Mehrheit um die SPD herum, sofern alle Beteiligten an der eingangs beschriebenen Misere von Mitte-Links fest halten … Zugleich würde eine solche neokommunistische PDS im Beiboot von RotGrün die parteipolitische Polarisierung in Deutschland verschärfen. Man stelle sich nur einen Moment lang vor, die PDS regierte jetzt in irgendeiner Form mit – Vermögenssteuer, Irak-Position

und vieles andere würden seitens der bürgerlichen Opposition als schlimmstes kommunistisches Teufelszeug denunziert werden … Freilich: Ohne konzeptionelle Alternative. Das Parteingeschrei im Lande wäre noch schriller – die Alternativlosigkeit noch dunkler. Aus der FDP oder der Union müsste sich ein deutscher Haider auf den Weg machen. Oder ein deutscher Berlusconi erschaffen werden. Es gibt nur eine Alternative: Eine reformfähige linke Mitte. Sie muss an einer neokommunistischen PDS nicht scheitern – aber sie wird von einer pragmatischen reformfreudigen PDS neuen Zuschnitts allein auch nicht kreiert werden können … Es kommt auf alle an.

Dr. Thomas Falkner war bis September 2002 Grundsatzreferent beim PDS-Parteivorstand.

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Die Perspektiven der PDS nach der Bundestagswahl 2002 von Gero Neugebauer Gegen Ende des Jahres 2002 erinnert die PDS an den Lehrer Lämpel in den Geschichten von Max und Moritz. Wie dieser nach der plötzlichen Explosion seiner Pfeife liegt die Partei nach der unverhofften Wahlniederlage am Boden und vergewissert sich, ob sie noch am Leben und wie sehr sie verletzt worden ist. Dass sie noch lebt, ist offensichtlich, denn unmittelbar nach dem Niederschlag wurde bereits darüber gestritten, welche Therapie und Rehabilitationsmaßnahmen eingeleitet werden sollten, um ihr eine Weiterexistenz zu sichern. Bislang vermittelt dieser Streit den Eindruck, dass sie darüber der Agonie und dem Siechtum anheimfallen und als politisches Gesamtunternehmen in Liquidation anstatt auf den Weg der Besserung geraten könnte: der Parteivorstand beschäftigt sich mit Taschenkontrollen (Frankfurter Rundschau v. 25.11.02) und hat es bislang nicht geschafft, einen

Arbeitsplan für 2003 zu beschließen. Wie gut, wie schlecht stehen die Chancen für eine positive Perspektive der PDS und was könnte ihr bevorstehen? Will sie Erfolg haben, d.h. nicht lediglich als Parteiorganisation existieren, sondern in der Parteienkonkurrenz Erfolg haben, muss sie die entsprechenden Bedingungen herstellen. Dazu gehört neben einer handlungsfähigen Führung eine Partei, in der ein gruppen- oder flügelübergreifender Konsens besteht, den herzustellen ist eine zentrale Aufgabe der Führung, auf dessen Basis die Partei als einheitlicher Akteur auftreten kann. Des weiteren ist wichtig, dass sich die Partei an den in ihrer gesellschaftlichen Umwelt ablaufenden Diskussionen beteiligt, um die Wandel von Werten und Einstellungen zu erkennen und sich dazu verhalten zu können, d.h. sie sich gegebenenfalls anzueignen, um nicht sozial isoliert zu werden.

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Randwähler vs. Kernmilieu Der Blick nach vorn erfordert einen Rückblick zur Vergewisserung der Ausgangslage. Der erste Blick zurück geht an das Ende des Wahljahrs 1998, als sich die PDS in einer stabilen Seitenlage befand: sie war erstmals mit einer Fraktion im Bundestag vertreten, hatte sich im Osten Deutschlands auf der dritten Position im Parteiensystem festgesetzt und war Partner in einer Landesregierung geworden. Im Westen dagegen hatte sie zwar Stimmen gewonnen, aber sich nicht richtig aufrappeln können. Der zweite Blick richtet sich auf ihre weiteren Erfolge 1999 bis Anfang 2002. Im Ergebnis der diversen Wahlen erreichte sie eine PDS-Gruppe im Europaparlament und die Beteiligung an zwei Landesregierungen, konnte die SPD in zwei Landtagswahlen überholen und gewann u.a. drei Landratsmandate. Die PDS befand sich Anfang 2002 auf einem Höhepunkt ihrer Laufbahn, wenngleich die höchste Würdigung, die Beteiligung an einer Koalition auf Bundesebene, bislang jedoch nicht erreicht worden war; daran gedacht wurde jedoch. Im Rückblick wird jedoch offenbar, dass sie die Risiken der Erfolge nicht erkannte oder sogar negierte. Da war zum einen ihr angestammtes Milieu, die antiwestlich eingestellten wirtschaftlichen, politischen und kulturel-

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len Trägerschichten der DDR und deren Umfeld. Es bildete eine feste Bank, die bei Wahlen nahezu unverbrüchlich zur Partei stand. Die Wahlerfolge waren zustande gekommen, weil sich die PDS weitere, mit dem Zustand der inneren Einheit unzufriedene Wählerschichten vor allem aus dem Einzugsbereich von SPD und CDU, aber auch aus dem Nichtwählersegment erschlossen hatte. In Bezug auf diese Wähler stellte sich ihr die Aufgabe, dieses Potenzial durch ein attraktives Personal- und Programmangebot bei der Stange zu halten; anders als ihre Kernwählerschaft ließ sich dieses (Protest-) Potenzial nicht automatisch bei jeder Wahl mobilisieren. Mit einer größeren Berücksichtigung der Belange ihrer Randwählerschaft lief die Partei allerdings Gefahr, das Kernmilieu zu verprellen. Da war zum anderen die Frage der Weiterentwicklung ihres Profils. Das alte Programm von 1993, ohnehin ein Konglomerat verschiedener Positionen, war nach Ansicht führender PDSPolitiker untauglich geworden, die Modernisierung der PDS zu unterstreichen und sie für neue Wählerschichten akzeptabel zu machen. Der Partei fehlte ein innerer programmatischer Konsens, der sie nach außen einheitlich auftreten lassen konnte. In der


Die Perspektiven der PDS nach der Bundestagswahl 2002

Öffentlichkeit wirkte sie eher als ein Dachverband diverser Vereine mit einem breiten, teilweise unvereinbarem politischen Spektrum: „PDS e.V.“ nannte das Lothar Bisky. Da war zum dritten die Frage der Expansion der Partei. Der Aufbau der Parteiorganisation im Westen Deutschlands ging nur zögerlich voran. Der Zulauf zur PDS blieb gering, die Übertritte aus der SPD und von den Grünen zeigten keine Trittbrettfahrereffekte. Zwar feierte die Partei die in westdeutschen Kommunen seit 1999 errungenen rund 100 Mandate sowie die gestiegenen Stimmenanteile im Westteil von Berlin – 1995: 2,1 Prozent, 1999: 4,2 Prozent, 2001: 6,9 Prozent und den Einzug in Bezirksvertretungen in westlichen Stadtbezirken – als Beginn eines Durchbruchs. Dennoch war es leichtfertig zu erwarten, dass es ohne massive Anstrengungen zur sozialen und politischen Verankerung der PDS möglich sein könnte, im Westen in der kommenden Bundestagswahl Stimmen hinzu gewinnen zu können. Jedenfalls war

eine zwischen West und Ost unterschiedliche Ausgangslage für die Bundestagswahl 2002 gegeben, auf die zu reagieren war, denn bislang reichten im gesamtdeutschen Stadion die Fans der PDS in der Ostkurve nicht aus. Schließlich waren da noch die externen Bedingungen für die Erfolge der PDS. Auf der lokalen und regionalen Ebene konnte sich die Partei noch auf Kompetenzen, Leistungen und Personen stützen, auf der Bundesebene war das kaum möglich; hier zeigen und zeigten sich keine der erwarteten Synergieeffekte. Neben den Wirkungen des fortdauernden innerdeutschen Ost-WestKonflikts waren es die Schwächen und Mißerfolge ihrer Konkurrenten, durch die sie in unterschiedlicher Weise begünstigt wurde. Mal bewirkten deren Aktivitäten („Rote Socken“-Kampgane) Solidarisierungen zu ihren Gunsten, mal führten sie der PDS Proteststimmen zu; Wahlen mit geringer Beteiligung wirkten sich für die PDS, die zudem gut mobilisieren konnte, häufig positiver aus, als für ihre Mitwettbewerber.

Anschluss verpasst Die PDS sah sich selbst auf dem Weg zu einer „normalen“ Volkspartei und deutete ihre Erfolge als wachsende Anerkennung ihrer politischen Leistun-

gen bzw. Absichten. In ihren Erwartungen ließ sie sich von der „VakuumThese“ leiten. Danach bewegt sich die SPD zunehmend in die politische Mitte

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und hinterlässt am linken Rand des Parteiensystems eine Leerstelle, welche die PDS als linke, sozialistische Partei, als Partei der sozialen Gerechtigkeit, als die einzige Friedenspartei in Deutschland besetzen, und dadurch zugleich ihre Westausdehnung vorantreiben kann. Dazu würden politische Kampagnen und Offerten an linke reformorientierte, aber bislang PDS-skeptische Wählergruppen reichen; der Rest würde sich quasi von selbst einstellen. Dass sich dieses nicht im Selbstlauf realisieren würde, wussten PDS-Politiker wie der frühere Bundesvorsitzenden Lothar Bisky, der ehemalige Vorsitzende der Bundestagsfraktion Gregor Gysi und der PDS-„Vordenker“ André Brie, die nach der Bundestagswahl 1998 auf eine rasche programmatische und strukturelle Modernisierung der Partei gedrängt hatten. Bisky und Gysi, Brie hatte sich 1999 in das Europaparlament abgeseilt, scheiterten damit auf dem Parteitag in Münster im April 2000, weil sie letztlich nicht eindeutig genug von der Mittelgruppe („Reformpragmatiker“) unterstützt wurden. Auch unter Biskys Nachfolgerin Gabriele Zimmer schaffte es die PDS nicht, vor der Bundestagswahl 2002 ein neues Grundsatzprogramm zu verabschieden und zog statt dessen ohne ein klares Profil, aber gekennzeichnet durch Rivalitäten in der Führung und

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durch erhebliche Schwächen in der internen wie der externen Kommunikation in den Wahlkampf. Die Defizite in der politischen Führung des Wahlkampfs, handwerkliche Fehler in der Kampagne, mangelnde Flexibilität in den Reaktionen auf veränderte Rahmenbedingungen, das wenig attraktive und nicht einheitlich auftretende Personalangebot und nicht zuletzt die irritierende Losung – „Wer Stoiber verhindern will, muss PDS wählen“ – konterkarierten im Wahlkampf oft die Anstrengungen der Länder, der Kreise und der Direktkandidaten. Die Folge: Die PDS fiel durch. Im Lagerwahlkampf hatte sie sich widerstandslos an die Seite drücken lassen und in ihren vermuteten Kompetenzen: Eintreten für soziale Gerechtigkeit, für Frieden und für Ostinteressen, wurde sie kaum gewürdigt; damit schaffte sie es nicht, in ihrer Identität bestätigt zu werden. Politisch verantwortlich für den Wahlkampf war der geschäftsführende Vorstand der PDS. Der war weder in der Lage einheitlich zu agieren noch dazu, die Partei zu geschlossenem Handeln zu befähigen. Vordergründig lag das daran, dass die Parteiführung unter dem Deckmantel ideologischer Kontroversen Kämpfe um Positionen – und damit um die Macht – austrug und durch ihre problembehaftete, auf interpersonale Konflikte fokussierte interne und externe


Die Perspektiven der PDS nach der Bundestagswahl 2002

Kommunikation erheblich dazu beitrug, dass politische Ziele und Absichten der Partei nicht zu vermitteln waren. Möglich war das vor dem Hintergrund der von der Vorsitzenden letztendlich zu verantwortenden Politik in der Programmfrage. Sie hatte erst engagiert die Diskussion mit einem neuen Entwurf vorangetrieben, wurde dann jedoch konfliktscheu und war angesichts interner Widerstände nicht bereit, sie auf dem Parteitag in Dresden (Oktober 2001) zum Abschluss zu bringen. Damit bot die PDS dem Wähler keine Möglichkeit zu prüfen, inwieweit die Partei programmatisch und politisch den Anschluss an den gesellschaftlichen Wandel gefunden und Konsequenzen daraus gezogen hatte. Da auf dem Parteitag in Gera (Oktober 2002) faktisch aus der alten Führungsspitze nur der Bundesgeschäftsführer Dietmar Bartsch, er galt als Repräsentant der Modernisierungsdiskussion, ausgeschieden ist, sind die Voraussetzungen dafür nicht besser geworden. Zweifel sind auch, schaut man auf die ersten Beschlüsse des neuen Vorstands, hinsichtlich dessen Bereitschaft angebracht, die Situation der Partei kritisch zu reflektieren. Manche Diskussionsbeiträge verraten Relikte von Kritik und Selbstkritik nach dem alten SED-Muster: Personen, aber nicht Strukturen werden kritisiert, eigene

negative Beiträge der Partei zugeschustert und Bemühungen um eine systematische Analyse in eine Arbeitsgruppe verlagert. Die Tagesordnung könnte eine Reihe von Problemen enthalten, die in der Rekonvaleszenzzeit zu lösen wären. Da sind: • die Ursachen und Folgen der teilweise desparaten innerparteilichen Verfassung der PDS für ihre Aktionsfähigkeit und Akzeptanz, • die Gefahr, in die Isolation zu geraten, wenn keine Verständigung über ihren Standort in der Gesellschaft noch über ihre Bündnisfähigkeit und -bereitschaft hergestellt wird, • die Klärung der widersprüchlichen Positionsbestimmungen, die sie als gesellschaftliche Opposition außerhalb und innerhalb der Parlamente unabhängig von einer eventuellen Regierungsbeteiligung einnehmen will und anderes mehr. Im Moment bietet die PDS eine beschädigte Identität an, weshalb sie nicht nur für die eigenen Mitglieder, sondern auch für potentielle Interessenten wenig attraktiv ist. Das zu ändern, ist Sache politischer Entscheidungen, insbesondere durch eine konsequente Programmdiskussion mit dem Ziel der Modernisierung der PDS. Die Frage ist, ob die im Parteivorstand repräsentierten Strömungen sich darauf einlassen wollen.

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Es rüttelt und schüttelt sich Eine wichtige Voraussetzung für eine positive Perspektive ist also, dass die PDS es schafft, sich aus der durch interne Bedingungen verursachten Lähmung zu lösen und die Partei durch eine Programm- und eine Parteireform zu rekonstruieren. Denn auch die muss vorangetrieben werden, soll die am Boden liegende westdeutsche Parteiorganisation überleben und die Bundespartei konsolidiert werden. Der Wegfall staatlicher Gelder sowie der vielfältigen Ressourcen der Bundestagsfraktion (Mitarbeiter, Geld, Spenden, Medienzugang, nationale und internationale Kontaktmöglichkeiten, Logistik des Bundestages etc. pp.,) muss durch die Landesverbände aufgefangen werden, sonst kann die Gesamtpartei Ende 2003 Konkurs anmelden; kein probates, aber auch kein unbekanntes Mittel für Problemlösungen. Die ostdeutschen Landesverbände sortieren sich nach dem Geraer Parteitag neu. Egal, ob sie in der Opposition oder an der Regierung beteiligt sind,

sie müssen nachweisen, dass ihre Konzepte Erfolg haben. Anders ist der „Sowohl (Opposition) – als auch (Regierungsbeteiligung) – Kurs“ nicht zu vermitteln; ein Profil verschafft sich dadurch jedoch nur der Landesverband, nicht aber die Gesamtpartei. Fazit: Die Voraussetzungen für eine positive Perspektive verlangen Entscheidungen über umfassende programmatische, strukturelle und personelle Aspekte, d.h. sie beziehen sich auf die Führung der Partei, auf ihre Organisation und auf ihr Programm. Schafft die PDS es nicht, sich über die Voraussetzungen ihrer Rekonstruktion zu verständigen, hat sie als Bundespartei ohne wahrnehmbaren westdeutschen Flügel eine Chance auf den Status einer politischen Sekte mit einer ständig abnehmenden sozialen Basis, nicht jedoch auf eine nationale relevante Partei im deutschen Parteiensystem. Gesetzt den Fall, die PDS schafft das, die Prognosen sind unterschiedlich, dann muss sie mit weiteren Problemen rechnen.

Optionen der Parteienkonkurrenz Eins davon ist ihre Wählerbasis. Die Ergebnisse der Bundestagswahlen 2002 zeigen, dass die Bedeutung des Ost-

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West-Konflikts für das Wählerverhalten abgenommen hat und die „westdeutschen“ Parteien, dieses Mal insbeson-


Die Perspektiven der PDS nach der Bundestagswahl 2002

dere die SPD, Gegenstand der Wählergunst geworden sind. Auch die kleinen Parteien FDP und – weniger – die Bündnisgrünen zeigen in der ostdeutschen Parteienlandschaft wieder Flagge. Der gesellschaftliche Wandel wird deren Chancen in Zukunft verbessern, weshalb die PDS auf ihrer Suche nach neuen Wählerschichten mit stärkeren Konkurrenten als zuvor rechnen muss, zumal ihre Monopolposition in Sachen „Sozialer Gerechtigkeit“ abbröckelt. Die Koalitionsoptionen der PDS reduzieren sich faktisch auf die – ungeliebte – SPD; die CDU kann sie trotz mancher Offerten vergessen. Die rechnet sich durch eine erstarkte FDP bessere Chancen auf Regierungsmacht aus. Das schmälert die Möglichkeit der SPD, sich in Koalitionen mit der CDU zu begeben. Entgegen manchen Vermutungen aus der gegenwärtigen PDSSpitze wird sie keine Lust haben, sich in Landesregierungen mit einer Partei zu verbünden, die sich programmatisch anachronistisch, SPD-feindlich und modernisierungsunwillig gibt. Wenn die SPD eine Koalition mit der bündnisgrünen Partei anstreben sollte, was momentan nur in Berlin, auf längere Sicht aber auch in Brandenburg und erst recht in einem Land Berlin-Brandenburg möglich sein könnte, dann bliebe die PDS auch aus arithmetischen Gründen außen vor.

Der Wettbewerb um Wähler wird in dem Maße zunehmen, in dem die Lager der Stammwähler sich reduzieren und der Zugang zu neuen Wählergruppen für den Gewinn von Mehrheiten wie für die Verteilung der politischen Gewichte in den jeweiligen Lagern entscheidend werden wird. Da die PDS sich stärker als ihre Konkurrenten auf Stammwähler stützt, muss sie stärkere Anstrengungen als diese unternehmen, um neue Wähler zu erreichen, wenn sie ihre Ergebnisse verbessern und bündnisfähig werden will. Denn vieles spricht dafür, dass die PDS nur dann eine Perspektive als Wettbewerberin in der Parteienkonkurrenz hat, wenn sie sich den oben skizzierten programmatischen, strukturellen und personellen Herausforderungen stellt; bislang zeigt sie in allen drei Bereichen erhebliche Schwächen. Das bedeutet, dass sie keine unbegrenzten Optionen hat, aber ob sie sich auf die Rolle einer Funktionspartei im Sinne einer Mehrheitsbeschafferin im linken Lager des Parteiensystems oder in der Region auf die Rolle einer Führungspartei einstellen sollte, entscheiden die Wähler und die potentiellen Partner. Parteien können, wenn sie erst mal existieren, sich lange halten, selbst wenn es ihnen an einer ausreichenden sozialen Verankerung fehlt. Solche Parteien am Rande des Parteiensystems

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Gero Neugebauer

sichern ihre Überlebensfähigkeit entweder dadurch, dass sie sich als Vehikel für Protest anbieten oder dass sie von den Schwächen der Konkurrenten profitieren. Da bietet sich eine für die PDS nicht unbekannte Chance an, nämlich aus Veränderungen der Rahmenbedingungen Profit zu ziehen. Schon früher

hat die PDS ihre Stärke nicht nur aus der eigenen Kraft, sondern zugleich aus den Schwächen und Fehlern der oder des Konkurrenten bezogen – und die neue Amtsperiode der rot-grünen Bundesregierung hat gerade erst mit wenig Fortune begonnen.

Zukunftsfähigkeit mit Fragezeichen Will die PDS sich nicht auf ein Scheitern der Koalition verlassen, dann gilt, wenn sie – unabhängig von der Lösung der internen Organisations- und Personalprobleme und ihres demographischen Problems – eine langfristige Perspektive anstrebt, • dass ihre Zeit als Repräsentantin des Ost-West-Konflikts abläuft, • dass sie als Protestpartei nur auf einer instabilen und unsicheren Basis, den wechselnden Protestorientierungen, existieren kann und • dass sie im Parteienwettbewerb in Ostdeutschland durchaus eine Perspektive als regionale Partei haben kann, solange sie sich auf politische und soziale Traditionen und Milieus stützen kann, zu denen die anderen Parteien keinen Zugang haben. Theoretisch könnte sie als Bundespartei eine Chance mit dem Versuch haben, sich entlang einer realen, aber

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keiner fiktiven oder konstruierten gesellschaftlichen Konfliktlinie zu organisieren, die ihr eine soziale Basis wie eine relevante Repräsentation im Parteiensystem sichert. Die Realisierung dieser Hoffnung wird in PDS-Kreisen in der Konstituierung der PDS als einer gesamtdeutschen modernen sozialistischen Partei gesehen. Diese Perspektive setzt, gibt man angesichts des bisherigen Scheiterns der PDS in dieser Frage einer relevanten Nachfrage nach „Sozialismus“ überhaupt eine Chance, vieles voraus, darunter Antworten auf eine Reihe von Gretchenfragen zur Relevanz anachronistischer Sozialismustheorien, zur Vereinbarkeit von Reformkonzeptionen und politischen Systemfragen, zu den Folgen der Renaissance von mentalen und kulturellen Traditionen der SED in der PDS und nicht zuletzt nach den Inhalten ihres Politikkonzepts.


Die Perspektiven der PDS nach der Bundestagswahl 2002

Interessierte Beobachter ziehen aus der gegenwärtigen Performance der PDS, insbesondere aus den Selbstdarstellung der Parteispitze, den Schluss, dass, angefangen vom Einsatz intellektuellen Ressourcen über die Formulierung politischer Positionen bis hin zu personalpolitischen Entscheidungen, sich Konturen einer Strategie abzeichnen, die auf das Überleben in der Organisation mit dem Zweck gerichtet ist, Positionen (Jobs) und den Zugang zu den knapp werdenden Ressourcen zu sichern. Das – und die dagegen gerich-

teten Strategien – erinnern an die Zeit, in der die ursprünglichen Anstrengungen zu einer kritischen Reflektion der programmatischen Positionen und politischen Strategien der PDS aufgegeben wurden und die Partei sich einigelte, wodurch sie den Kontakt zur Gesellschaft und damit Mitglieder sowie Sympathisanten verlor. Die damaligen Bedingungen für den späteren Aufschwung liegen heute nicht mehr vor und sind auch nicht zu rekonstruieren. Der Bedarf für die PDS muss von ihr selbst nachgewiesen werden

Dr. Gero Neugebauer ist Politologe und Parteienforscher am Fachbereich Politik- und Sozialwissenschaften der Freien Universität Berlin http://www.polwiss.fu-berlin.de/osi/osz/index.htm

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Verrückte Welt in Potsdam? Zur Parteienkonkurrenz in der brandenburgischen Landeshauptstadt von Klaus Ness* Potsdam ist eine schöne Stadt. Für viele sogar die schönste Stadt in Ostdeutschland, vielleicht sogar mittlerweile die schönste und kulturell spannendste Landeshauptstadt im vereinten Deutschland. Potsdam ist aber nicht nur wegen seiner Schlösser, seiner Landschaft und Kultur spannend. Spannend und aufregend ist die Stadt auch politisch. Und insbesondere an Wahlabenden immer für eine Überraschung gut. Beispiele: Im Jahr 1993 – als der Westen die PDS schon im Abfallkorb der Geschichte sah – wurde fast ein ehemaliger Stasi-IM für die PDS zum OB gewählt. Oder das Jahr 1998, als mit Matthias Platzeck ein neuer SPD-Oststar geboren wurde, den die Potsdamer gleich im 1. Wahlgang triumphal zum OB wählten. Bei der OB-Wahl 2002 fehlten hingegen im 2. Wahlgang – fünf Wochen nach der Bundestagswahl – nur 122 Stimmen, und ein sächselnder PDSler wäre zum Platzeck-Nachfolger gewählt worden. Und dies, obwohl er im ersten Wahlgang am 22. September noch gut 11.000 Stimmen hinter dem SPD-Kandidaten lag. *

Verrückte Welt in Potsdam also? Auf jeden Fall haben politische Beobachter es schwer, in Potsdam einen klaren politischen Entwicklungstrend zu erkennen. Entsprechend werden in den Medien konjunkturelle Stereotypen wie „PDS-Hochburg“, „SPD-Hochburg“, „Meckerstadt des Ostens“, „Neues Bürgertum erobert die Stadt“ verbreitet, die am nächsten Wahltag nicht mehr stimmen. Zeit also für eine detaillierte Analyse der Wahlen in Potsdam – jenseits der gefühlten Stimmungslagen.

18 Mal gewählt – und nichts ist passiert? In den vergangenen 12 Jahren konnten die Potsdamer in 18 Wahlgängen entschieden, welche Parteien sie präferieren: bei einer Volkskammerwahl, zwei Europawahlen, vier Bundestagswahlen, drei Landtagswahlen, drei Kommunalwahlen, drei OB-Wahlen und zwei dabei notwendigen Stichwahlen. Von ihrem Wahlrecht machten die Potsdamer sehr unterschiedlich gebrauch: die höchste Wahlbeteiligung wurde bei der ersten und einzigen freien

Mein Dank gilt Silke Pamme für die umfangreiche Zuarbeit des statistischen Materials.

39


Klaus Ness

Volkskammerwahl 1990 mit 93,01 Prozent erzielt. Danach ging es – je nach der Beurteilung der Wichtigkeit der jeweiligen Wahl und der allgemeinen politischen Stimmungslage – auf und ab. Bundestagswahlen liegen mit einer relativ hohen Wahlbeteiligung zwischen 75,78 Prozent (1990) und 80,44 Prozent (1998) an der Spitze, während Europawahlen mit 46 Prozent (1994) und 33,3 (1990) am Ende der Skala liegen. Landtagswahlen mit einer Beteiligung zwischen 60,37 Prozent (1999) und 71,79 Prozent (1990) liegen mit rückläufiger Tendenz im Mittelfeld. Gleiches lässt sich für Kommunalwahlen (1990: 74,40 Prozent, 1993: 62,81 Prozent, 1998: 79,92 Prozent) und OB-Wahlen (1993: 62,87 Prozent 1998: 79,91 Prozent, Stichwahl 2002: 40,37 Prozent) sagen.

Stereotype Nr. 1: Potsdam ist eine PDS-Hochburg Ist Potsdam eine PDS-Hochburg? Eindeutig ja. Aber alles ist relativ! Als ehemalige DDR-Bezirksstadt mit einer besonders starken Häufung von Angehörigen der ehemaligen Dienstleistungsklasse (Beschäftige der öffentlichen Verwaltung, der so genannten „bewaffneten Organe“, Hochschulstandort, etc.) sowie von Führungseliten der SED und NVA erreicht die PDS bei allen Wahlen in Potsdam überdurchschnittliche Ergebnisse – wie in anderen ehemaligen Bezirksstäd-

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ten in den neuen Ländern auch. In Potsdam fällt auf, dass die PDS ihre Anhängerschaft im Vergleich zu anderen Parteien bei allen Wahlen relativ gut mobilisieren kann. Die prozentuale Schwankungsbreite bei der Mobilisierung der PDS-Wähler ist im Vergleich zu potenziellen SPD- und CDU-Wählern deutlich geringer. Zunächst ein Blick auf die Stimmenpotenziale: Die höchste absolute Stimmenzahl erreichte die PDS bei den Erststimmen bei der Bundestagswahl 1994, als ihr Kandidat Rolf Kutzmutz (der ein Jahr zuvor fast OB geworden wäre!) 31.447 Stimmen (38,75 Prozent) erreichte. Ihre geringste absolute Stimmenzahl erzielte die PDS mit 12.516 Stimmen (37,10 Prozent) bei der Europawahl 1999 (Wahlbeteiligung: 33,30 Prozent). Der Vergleich der prozentualen Ergebnisse beider Wahlen weist auf ein wichtiges Ergebnis dieser Studie hin: Die PDS profitiert in Potsdam von einer relativ geringen Wahlbeteiligung, da sie den größten Sockel von Stammwählern hat, die mit ihrer Partei „durch dick und dünn“ gehen. Spannend ist die Frage nach der strukturellen Mehrheitsfähigkeit der Potsdamer PDS. Wie entwickeln sich die erreichbaren Wählerpotenziale der Partei angesichts der demografischen und wanderungsbedingten Veränderungen? Gestartet ist die PDS bei der Volkskammerwahl 1990 (höchste erreichte Wahlbeteiligung!)


Verrückte Welt in Potsdam?

Bundestagswahlen PDS Zweitstimmen

Wahlberechtigte

Wahlbeteiligung

PDS

in %

Anzahl absolut

in %

Volkskammerwahl 1990

106.892

93,01

27.385

27,65

1990

106.384

75,78

16.120

20,20

1994

106.595

77,7

25.559

31,40

1998

102.650

80,44

22.808

28,14

2002

105.654

77,27

18.335

22,80

mit 27.385 Stimmen. Sie stürzte bei den weiteren Wahlen des Jahres 1990 bis auf 16.120 Stimmen (Zweitstimme Bundestagswahl) ab und erlebte ab 1993 in einer Phase wachsenden Unmutes ihren Wiederaufstieg als Vertreterin von Ostinteressen auf 29.782 Stimmen (OB-Stichwahl 1993). 1994 holte Kutzmutz als Direktkandidat bei der Bundestagswahl 31.447 Stimmen – der Höhepunkt dieser Entwicklung, 1998 erhielt er noch 29.399 Stimmen, 2002 aber nur noch 25.703 Stimmen. Ein paralleler, sogar noch deutlicherer Rückgang ist bei den Zweitstimmen der jeweiligen Bundestagswahlen erkennbar: 1994 erreichte die PDS 25.559 Stimmen, 1998 noch 22.808 Stimmen, 2002 jedoch nur noch 18.335 Stimmen. Auch wenn unterstellt werden kann, dass ein Teil von PDS-Anhängern aus

taktischen Gründen bei der Bundestagswahl 2002 mit der Zweitstimme SPD gewählt hat, bleibt festzustellen, dass sich das für die PDS erreichbare Wählerpotenzial in Potsdam tendenziell verringert. Grob taxiert: Während das erreichbare Potenzial für die Potsdamer PDS in der ersten Hälfte der 90er Jahre bei maximal 32.000 Wählern lag, sind es jetzt nur noch 25.000 – 27.000 Wähler. Übersetzt: Die PDS hat jeden fünften bis jeden sechsten Wähler verloren. Festzuhalten ist weiter, dass der PDS die optimale Ausschöpfung ihres Potenzials nur gelingt, wenn sie ein attraktives Personalangebot unterbreitet. Kutzmutz hat einerseits deutlich an Attraktivität eingebüßt, andererseits kann der OB-Kandidat Scharfenberg das frühere KutzmutzPotenzial nicht vollständig erreichen. Trotzdem bleibt nach der knappen

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Klaus Ness

Stichwahl um den OB-Posten 2002 festzuhalten, dass das erreichbare PDS-Potenzial leichter mobilisierbar ist als die potenzielle Anhängerschaft der SPD und der bürgerlichen Parteien. Deshalb hätte es im Herbst fast einen PDS-OB gegeben … Fazit: Die PDS hat in Potsdam wahrscheinlich ihren Zenit überschritten. Ursachen sind der zurückgehende „Gebrauchswert“ der PDS als Ostpartei, aber auch demografische und wanderungsbedingte Veränderungen in der Potsdamer Bevölkerung. Auf ihrem Weg, in Potsdam strukturell mehrheitsfähig zu werden, ist die PDS auf dem Rückmarsch. Andererseits kann die PDS durch ihre nach wie vor gute Mobilisierungsfähigkeit in Potsdam bei geringer Wahlbeteiligung immer noch stärkste Partei werden. Im Extremfall sogar mit absoluter Mehrheit.

Stereotype Nr. 2: Ein neues Bürgertum erobert Potsdam Jauch, Joop, Borer-Fielding, Nadja Auermann, Friede Springer und Matthias Döpfner: Die Schönen und Reichen erobern Potsdam, die Villen in der Berliner Vorstadt erstrahlen in neuem Glanz. Spiegel, Stern, die Berliner Tageszeitungen beschreiben in regelmäßigen Abständen, wie es ein neues Großbürgertum sehnsuchtsvoll ins preußische Arkadien zieht.

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Logisch, dass damit auch die Vermutung einhergeht, bei so viel finanzkräftigen Zuzug müsse in Potsdam bald so bürgerlich gewählt werden wie an der Hamburger Elbchaussee, in Bad Godesberg oder am Wannsee. Goldene Zeiten also für die CDU in Potsdam? Zunächst stimmt eins: So viel Zuzug, Wegzug und Umzug gab es in Potsdam noch nie wie in den vergangenen 12 Jahren. Seit 1991 haben 61.016 Personen ihren Wohnsitz nach Potsdam verlegt, 67.864 Menschen sind im gleichen Zeitraum aus der Stadt verzogen. Auch wenn man unterstellt, dass es unter den Zu- und Wegzügen eine Reihe von Überschneidungen (beispielsweise Studenten) gibt, hat sich die Potsdamer Wahlbevölkerung in den vergangenen 12 Jahren radikal verändert. In die Betrachtung muss auch einbezogen werden, dass sich der Potsdamer Lebensbaum aufgrund natürlicher Entwicklungen (allein 12.060 Sterbefälle in den vergangenen 10 Jahren) verändert hat. Unterm Strich kann also davon ausgegangen werden, dass die Potsdamer Wählerschaft des Jahres 2002 nur noch zu maximal 30 – 40 Prozent mit der des Jahres 1990 identisch ist. Fast zwei Drittel der Wähler sind neu hinzugekommen. Die gemessen an der Einwohnerzahl gigantische Zuzugszahl von gut 61.000 Personen deutet schon darauf hin, dass die Neu-Potsdamer nicht alles nur gut verdienende Promi-


Verrückte Welt in Potsdam?

Bundestagswahlen CDU Zweitstimmen

Wahlberechtigte

Wahlbeteiligung

CDU

in %

Anzahl absolut

%

Volkskammerwahl 1990

106.892

93,01

18.467

18,65

1990

106.892

75,78

18.804

23,57

1994

105.395

77,70

14.123

17,35

1998

102.650

80,44

11.340

13,99

2002

105.654

77,27

12.421

15,45

nente sein können. Der „Promi-Kult“ um die Jauchs und Joops verzerrt das reale Bild der Neu-Potsdamer: es sind sehr viele Studenten dabei, die durch die nach der Wende neu entstandene Universität mit mittlerweile 16.500 Studenten in die Stadt gekommen sind. Und noch mehr Menschen, die in der Verwaltungs-, Dienstleistungs- und Medienstadt Potsdam in den vergangenen 12 Jahren eine neue Anstellung gefunden haben. Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass das von Journalisten beschworene, vielleicht auch herbeigewünschte „bürgerliche Potsdam“ bei der Betrachtung der CDU-Wahlergebnisse der Jahre 1990 – 2002 keine Entsprechung findet. Merke: Potsdam ist nicht konservativer geworden. Ihr bestes Ergebnis erreicht die CDU

prozentual und in absoluten Stimmen bei der Bundestagswahl 1990: 18.804 Potsdamer gaben ihr damals ihre Zweitstimme und damit 23,57 Prozent. Zur Bundestagswahl 2002 waren es jedoch nur 12.421 Potsdamer und damit nur noch 15,45 Prozent. Wenn alle 18 Wahlgänge der Jahre 1990 – 2002 in die Betrachtung einbezogen werden, erreicht die CDU zwischen 6.157 Stimmen (Europawahl 1999) und 18.804 Stimmen (Zweitstimme Bundestagswahl 1990) Bei den Wahlen ab 1998 holte sie aber nur noch zwischen 6.157 Stimmen (Europawahl 1999) und 13.625 Stimmen (Erststimme Bundestagswahl 2002). Das bedeutet im Ergebnis, dass die Veränderungen in der Zusammensetzung der Potsdamer Wahlbevölkerung keine Erweiterung des Potenzials der CDU zur Folge hatte. Im Gegenteil:

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Klaus Ness

Die CDU stagniert in ihren Wahlergebnissen, die für sie erreichbare Wählerschaft ist offensichtlich sogar rückläufig. Fazit: Es mag sein, dass sich ein Bürgertum in der Stadt etabliert. Aber bisher gibt es, wie die Wahlergebnisse belegen, kein Indiz dafür, dass sich in Potsdam ein prägendes konservatives Milieu herausbildet, von dem die CDU profitiert.

Stereotype 3: Platzecks Hometown wird SPD-Hochburg Matthias Platzeck ist ein Kind seiner Stadt. Der gebürtige Babelsberger erreichte bei der OB-Wahl 1998 als SPDKandidat gleich im 1. Wahlgang 51.905 Stimmen und damit 63,51 Prozent. Bei der am selben Tag stattfindenden Kommunalwahl überrundete die SPD im Sog dieses Wahlsieges mit 39,30 Prozent die

Bundestagswahlen SPD Zweitstimmen

Wahlberechtigte

PDS und wurde stärkste Fraktion in der Stadtverordnetenversammlung. Platzeck erwies sich in seiner Zeit als OB als der gute Kommunikator, als den die Brandenburger ihn bereits als Umweltminister kennen gelernt hatten. Potsdam hatte vor Platzeck lange und schwer an dem Image getragen, die „Meckerhauptstadt des Ostens“ zu sein. Platzeck verstand es in seiner knapp vier Jahre währenden Amtszeit, die Potsdamer wieder mit ihrer Stadt zu versöhnen. Insbesondere seine aktive Unterstützung für bürgerschaftliches Engagement bei der Wiedergewinnung verlorener historischer Identitätspunkte der Stadt (Stadtkanal, Belvedere auf dem Pfingstberg, Fortunaportal) haben dazu beigetragen, dass die Potsdamer wieder Stolz für ihre Stadt empfinden.

Wahlbeteiligung

SPD

in %

Anzahl absolut

in %

Volkskammerwahl 1990

106.892

93,01

34.552

34,86

1990

106.384

75,78

26.575

33,30

1994

106.595

77,7

35.181

43,22

1998

102.650

80,44

35.058

43,25

2002

105.654

77,27

37.087

46,11

44


Verrückte Welt in Potsdam?

Platzeck traf in seiner Amtszeit aber auch schwierige und umstrittene Entscheidungen wie etwa die Schließung der Philharmonie, die Widerstand hervorriefen. Vor allem seine Kommunikationsfähigkeit auch in diesen Situationen hat dazu beigetragen, dass die meisten Potsdamer sein Ausscheiden als OB und die Übernahme des Amtes des Ministerpräsidenten mit einem lachenden und einem weinenden Auge gesehen haben. Dies hat den Eindruck entstehen lassen, dass Potsdam nun endgültig zur SPD-Hochburg geworden ist. Als Platzecks „Kronprinz“ Jann Jakobs dann als SPD-Kandidat im 1. Wahlgang bei sechs Gegenkandidaten gleich 45,42 Prozent der Stimmen erreichte, schien sich das sogar zu bestätigen. Umso größer war der Schock in der SPD, als Jakobs dann in der Stichwahl gegen den PDS-Kandidaten Hans-Jürgen Scharfenberg nach einer Zitterpartie mit nur 122 Stimmen Vorsprung knapp das Rennen machte. Wie stark, wie schwach ist die SPD in Potsdam? Ein Blick in die Wahlgeschichte der Potsdamer Sozialdemokratie kann helfen, diesen Vorgang besser zu verstehen. Die SPD startete bei der Volkskammerwahl 1990 mit 34,86 Prozent = 34.522 Stimmen, fiel bei den Bundestagswahlen 1990 auf 33,30 Prozent = 26.575 Stimmen. Bei den Bundestagswahlen 1994 steigerte sie sich

auf 43,22 Prozent = 35.181 Stimmen. 1998 wiederholte sie mit 43,25 Prozent = 35.058 Stimmen fast genau dieses Ergebnis, um sich bei den Bundestagswahlen 2002 auf 46,11 Prozent = 37.087 Stimmen zu steigern. Während es der Potsdamer SPD bei den nationalen Wahlen gelang, ihr erreichbares Potenzial relativ umfassend zu mobilisieren, zeigt ein Blick auf die Kommunal-, Landtags- und Europawahlen etwas anderes: Nämlich wie gering der prozentuale Stammwähleranteil am Gesamtpotenzial der Potsdamer SPD im Vergleich zu PDS oder auch CDU ist. Bei den Landtagswahlen schwankt der Zweitstimmenanteil zwischen 23.268 und 32.325 Stimmen. Bei den beiden Europawahlen erreicht die SPD nur 16.668 Stimmen (1994) und 9.904 Stimmen (1999). Bei den Kommunalwahlen (3 Stimmen je Wähler) schwankte der SPD-Anteil zwischen 61.815 Stimmen (1993) und 91.046 Stimmen (1998). Fazit: Die SPD ist in Potsdam die Partei, die absolut die größte Stimmenzahl aller Parteien erreichen kann. Es ist sogar davon auszugehen, dass die Veränderungen in der Wahlbevölkerung in den vergangenen zwölf Jahren der SPD zugute gekommen sind. Aber: Die SPD hat im Vergleich zu den beiden Hauptkonkurrenten PDS und CDU den geringsten Anteil von Stammwählern.

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Klaus Ness

Sie muss deshalb bei jeder Wahl stärkere Mobilisierungsanstrengungen als die Konkurrenz unternehmen, um ihr Potenzial auszuschöpfen. Wenn ihr das gelingt, ist sie bei allen Wahlen in der Lage, stärkste Partei zu werden.

Und wie gehen die Wahlen 2003 und 2004 in Potsdam aus? Kein Mensch kann voraussagen, wie in zwölf Monaten die Kommunalwahlen oder in knapp zwei Jahren die Landtagswahlen ausgehen. Die Erfahrungen der bisherigen Wahlen lassen klare Schlüsse zu, was den Wahlausgang beeinflussen wird: Entscheidend sowohl für den Ausgang der Kommunalals auch der Landtagswahlen in Potsdam wird sein, welches allgemeine politische Klima herrscht. Wohin geht der Bundestrend, wohin geht der Landestrend? All das hat Konsequenzen für die einzelnen Parteien, für die Mobilisierung ihrer jeweiligen Wählerpotenziale. Berücksichtigt werden muss auch, dass jede Wahl ihre eigenen Gesetzmäßigkeiten hat. Während die Landtagswahlen in starkem Maß von dem Spitzenkandidaten geprägt sind, sind Kommunalwahlen – auch bedingt durch die drei Stimmen, die kumuliert oder panaschiert werden können – in hohem Maße Persönlichkeitswahlen. Was bedeutet das konkret für die beiden nächsten Wahlen in Potsdam? Bei

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der Kommunalwahl 2003 ist eine Wahlbeteiligung zwischen 45 und 65 Prozent zu erwarten. Die Wahlbeteiligung wird von der allgemeinen politischen Stimmung, den von den Parteien aufgestellten Kandidaten und ihren jeweiligen Mobilisierungsanstrengungen abhängen. Bei einer eher niedrigen Wahlbeteiligung spricht sehr viel dafür, dass die PDS stärkste Fraktion im Stadtparlament wird. Bei einer höheren Wahlbeteiligung hat die SPD gute Chancen, ihre Rolle als stärkste Fraktion zu verteidigen. Der CDU wird bei beiden Varianten der Sprung über die 20 ProzentGrenze nicht gelingen. Bei der Landtagswahl 2004 ist eine Beteiligung zwischen 55 und 65 Prozent zu erwarten, abhängig von der allgemeinen politischen Stimmung und den Mobilisierungsanstrengungen der einzelnen Parteien. Die SPD hat mit dem Ministerpräsidenten Matthias Platzeck in Potsdam alle Chancen, stärkste Partei zu werden. Je höher die Wahlbeteiligung sein wird, umso besser wird das Ergebnis der SPD ausfallen. Die CDU wird hingegen größere Probleme haben, ihr relativ gutes Wahlergebnis von 1999 zu wiederholen. Die PDS hat Chancen, bei guter Mobilisierung ihrer Anhängerschaft und gleichzeitig relativ geringer Wahlbeteiligung, ihr Ergebnis von 1999 zu halten.


Verrückte Welt in Potsdam?

Und wer hat sich in den 12 Jahren nun durchgesetzt? Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Kräfteverhältnisse zwischen den Parteien in den vergangenen zwölf Jahren trotz massiver Veränderung in der Potsdamer Wählerschaft relativ stabil geblieben sind. Die SPD konnte ihr erreichbares Potenzial um etwa 3.000 auf 37.000 Stimmen vergrößern. Das Potenzial der PDS schrumpfte um etwa 4.000 – 5.000 auf 25.000 Stimmen. Die CDU SPD Anzahl absolut

schwankte ohne große Änderungen zwischen 12.000 und 13.500 Stimmen. Entscheidend für den jeweiligen Wahlausgang wird sein, welche Partei ihre Anhänger und Sympathisanten besser zum Gang an Wahlurne mobilisieren kann. Hier hat die PDS es am leichtesten und die SPD die größten Schwierigkeiten. Alle drei Parteien sind weit davon entfernt, strukturelle Mehrheiten in Potsdam zu erreichen. Es bleibt also spannend.

%

PDS Anzahl absolut

%

CDU Anzahl absolut

%

BT-Wahl Erststimmen

Min Max

27.232 (90) 32.928 (02)

34,22 (90) 41,07 (02)

17.066 (90) 31.447 (94)

21,45 (90) 38,75 (94)

11.398 (98) 18.277 (90)

14,05 (98) 22,97 (90)

BT-Wahl Zweitstimmen

Min Max

26.575 (90) 37.087 (02)

33,30 (90) 46,11 (02)

16.120 (90) 25.559 (94)

20,20 (90) 31,40 (94)

11.340 (98) 18.804 (90)

13,99 (98) 23,57 (90)

LT-Wahl (Erststimmen)

Min Max

20.961 (99) 29.281 (94)

33,21 (90) 42,73 (94)

18.303 (90) 24.255 (94)

24,43 (90) 36,86 (94)

8.130 (94) 14.309 (90)

11,86 (94) 20,57 (99)

LT-Wahl Min (Zweitstimmen) Max

23.268 (99) 32.325 (94)

38,01 (99) 47,05 (94)

17.742 (90) 22.637 (94)

23,58 (90) 32,95 (94)

7.731 (94) 13.697 (90)

11,25 (94) 20,46 (99)

Europawahl

Min Max

9.904 (99) 16.668 (94)

29,30 (99) 34,70 (94)

12.516 (99) 17.627 (94)

36,70 (94) 37,10 (99)

6.157 (99) 6.178 (94)

12,90 (94) 18,20 (99)

Kommunalwahl Min (3 Stimmen) Max

61.815 (93) 91.046 (98)

31,96 (90) 39,30 (98)

61.559 (90) 74.330 (98)

26,52 (90) 38,36 (93)

19.579 (93) 38.589 (90)

10,27 (93) 16,62 (90)

OB-Wahl

Min Max

19.347 (93) 51.905 (98)

29,48 (93) 63,51 (98)

20.043 (98) 29.739 (93)

24,52 (98) 45,32 (93)

7.458 (98) 12.493 (02)

9,13 (98) 15,51 (02)

OB-Stichwahl

Min Max

21.423 (02) 36.311 (93)

50,14 (02) 54,94 (93)

21.301 (02) 29.782 (93)

45,06 (93) 49,86 (02)

Klaus Ness ist Landesgeschäftsführer der SPD Brandenburg.

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„Wir sind das Bauvolk der kommenden Welt“ Chancen für eine neue Sozialdemokratie in Ostdeutschland von Lars Krumrey Die Parteien und Parteisysteme schweben in Ostdeutschland nach wie vor in weiten Bereichen lose vernetzt über dem Wählermarkt. Begründete Parteibindungen existieren kaum und sind häufig Zufälligkeiten anheim gestellt. Zusätzlich herrscht das Gefühl vor, dass die westdeutsch dominierten Parteien SPD und CDU die ostspezifischen Interessenlagen nur unzureichend aufnehmen können. Hier hat die PDS den entscheidenden Vorsprung gegenüber ihren Konkurrenten. Sie hat keine westdeutsche Schwesterpartei, auf die sie Rücksicht nehmen müsste und sie hat aus der ehemaligen Dienstleistungsklasse der DDR ein Milieu hinüberretten können, das aus Tradition und innerer Verbundenheit so etwas wie ein Stammwählerpotential darstellt. Für die SPD müssen die Parteibindungen immer wieder neu begründet werden. Ausgehend von einer tiefen emotionalen Verbundenheit mit dem amorphen Gebilde „Ostdeutschland“ (siehe weiter unten) muss diese Parteibindung über Perspektiven und Identifikationen hergestellt werden. Harte

Fakten, wie der Solidarpakt II, der Stadtumbau Ost oder auch eine Infrastrukturoffensive reichen hierfür nicht aus. Dieses sind Voraussetzungen zur ökonomischen Überlebensfähigkeit „des Ostens“, sie lassen sich aber kaum emotional aufladen. Das gelingt jedoch mit Kompetenzen, die die Ostdeutschen besitzen. „Zwölf Jahre nach der Wiedergründung des Landes Brandenburg ist die Nachwendezeit abgelaufen. Die Zeit ist zu Ende, die gekennzeichnet war durch den dramatischen Umbruch des Jahres 1989 und seine Folgen“, so Matthias Platzeck, einer der Hoffnungsträger der ostdeutschen SPD, in seiner ersten Regierungserklärung als brandenburgischer Ministerpräsident. Und weiter: „Wir Brandenburger sind im Alltag der neuen Bundesrepublik angekommen. Es wächst inzwischen eine junge Generation heran, die mit der Zeit vor 1989 höchstens noch vage Kindheitserinnerungen verbindet – und oft nicht einmal mehr das. Im Herbst vor 13 Jahren waren viele der Erstwähler des Jahres 2002 noch nicht einmal eingeschult.“

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Was wie ein Allgemeinplatz klingt, ist der Versuch, eine neue Debatte über die zukünftige Rolle Ostdeutschlands in der Bundesrepublik zu initiieren. Mit einigem Geschick kann hieraus auch ein neuer Denkansatz für die Sozialdemokratie Ostdeutschlands entstehen. Schauen wir uns zunächst noch mal die Nachwende-Zeit an. Mit der Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion begann ab Sommer 1990 das Umkrempeln einer gesamten Volkswirtschaft. Statt Club-Cola gab es plötzlich CherryCoke in den Diskos, Werder-Obst wurde durch Holländische Importtomaten abgelöst und statt des Trabbis stand nun der Opel Omega vor der „Platte“. Politisch erodierte die DDR ebenfalls. Die ideologisch kontrollierte Wandzeitung in der Schule durch mehr oder wenig gelungen Schülerzeitungen abgelöst, das Kollektiv hieß nun Team und statt eines einfachen Ja zum Wahlvorschlag der Nationalen Front musste sich der mündige Wähler plötzlich zwischen bis zu einem Dutzend Parteien auf dem Wahlzettel entscheiden. Das alles war von der Bevölkerung gewollt. Was nicht gewollt war, war die ökonomische Depression, die um sich griff. Weil alle Treibhaus-Tomaten kauften, wurden die Obstpflücker in Werder arbeitslos. Weil Milka-Schokolade en vouge war, wurde keine Schlager-Süßtafel mehr hergestellt. Weil Pneumant

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Trabbi-Reifen produzierte, stand die Firma kurz vorm Exodus. Und Robotron mit dem größten Mikrochip der Welt war plötzlich weit weniger modern als ein 10 Jahre alter Commodore C 64. Neu war auch, dass es statt des kostenlosen Betriebskindergartens nun plötzlich Gebührendbescheide für die kommunalen Kitas gab. Das alles hat zu den sattsam bekannten massiven Tranformations-Problemen und zunehmender Perspektivlosigkeit der Bevölkerung geführt. Kaum ein „gelernter DDR-Bürger“ kann nach der Wende auf eine bruchfreie Berufsbiografie zurückschauen. Fast jede Familie war in unterschiedlich intensiver Ausprägung von Arbeitslosigkeit betroffen – oder ist es noch heute. Wie das neue Gesellschaftssystem funktioniert, musste man erst mühsam lernen, häufig überaus schmerzhaft. Transformation bedeutet deshalb in der Nachwendezeit vor allem Unsicherheit bis hin zur Fremdheit im eigenen Lande. Alles in allem fühlte sich bei weitem nicht nur die ehemalige Dienstleistungsklasse der DDR um ihr Lebenswerk betrogen. Nun hatten die Westdeutschen den Ossis aber blühende Landschaften versprochen. Keinem sollte es schlechter gehen als vorher! Und hier setzten die politischen Konzepte der Nachwendezeit an. Die Probleme des Vereini-


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gungsprozesses mussten staatlich abgefedert werden. Die ostdeutsche SPD erklärte vernünftiger Weise über zehn Jahre lang die Menschen und deren sozialen Zusammenhalt zur Richtschnur ihres Handelns. Dem Primat der Kohlschen Wirtschafts- und Währungsunion setzte sie das Primat der Sozialunion entgegen. Sie wollte den Vereinigungsprozess auf Länderebene so gut wie möglich managen und die Unbilden der Vereinigung möglichst umfassend abfedern. Stamokap war zwar out, der Staatsinterventionismus erhielt aber in den Ost-Ländern unter zu Hilfenahme der größten Umverteilung Deutschlands von West nach Ost unter anderem Vorzeichen eine völlig neue Dimension. Dabei kämpfte die Ost-SPD an vielen Fronten: Den Menschen versuchte sie den Eindruck zu vermitteln, dass sie keine wirkliche Deklassierung erlebt haben und erhobenen Hauptes in die neue Bundesrepublik eintreten könnten. Von rechts musste sie sich des Vorwurfes erwehren, auf Kosten einer unverantwortlichen Staatsverschuldung „Sozialistische Wärmestuben“ zu errichten. Die PDS – zu der die SPD ihr Verhältnis nie wirklich richtig klären konnte – warf den Sozialdemokraten vor, die Menschen nur technokratisch zu verwalten und im Zweifelsfall auf dem Altar der gesamtdeutschen Politik zu opfern.

Das große Dilemma der Ost-SPD war, das „Links“ und „Rechts“ in Ostdeutschland eindeutig aufgeteilt waren. Sie hatte also nur einen sehr schmalen Grad, innerhalb dessen sie sich profilieren konnte. Ihre Genese als einzige wirklich neue Partei von Bedeutung in der Nachwende-Gesellschaft reichte für den dauerhaften Parteienwettbewerb nicht aus. Die dringend notwendige Diskussion über ein eigenes politisches Selbstverständnis wurde innerhalb der Ost-Sozialdemokratie leider teils aus Überlastung (die Anzahl der von Sozialdemokraten ausgefüllten Mandate stand und steht in einem krassen Missverhältnis zur Anzahl der Mitglieder), teils aus Mutlosigkeit, nie ernsthaft geführt. Das führt auch heute noch dazu, dass die SPD in den „neuen Ländern“ zwar dort Erfolge erzielen kann, wo sie charismatische Persönlichkeiten anbietet (Stolpe, Platzeck, Ringsdorf, früher sehr herausragend Hildebrandt) und sich die Menschen (staatsinterventionistisch) gut regiert fühlen. Eine in schwierigen Zeiten auch inhaltlich belastbare Verbindung zwischen Wählerschaft und Partei ist hieraus jedoch nur sehr rudimentär erwachsen. In Zeiten knapper Kassen bedeutet dies eine erhebliche Gefahr für die SPD. Gut regieren im ostdeutschen Sinne hieß bisher immer, Geld in die Hand zu

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nehmen und entweder Strukturförderung zu betreiben oder wichtige Projekte mit „Ost-Feeling“ am Leben zu erhalten. Hierauf konzentriert(e) sich der Parteienkampf um die kulturelle Hegemonie in Ostdeutschland letztlich. Die Auseinandersetzungen um die Finanzierung der Kinderbetreuung in Brandenburg und Sachsen-Anhalt sind hierfür nur ein Beispiel. In den letzten Jahren sind die Grenzen der öffentlichen Kassen aber mehr als deutlich geworden. Es muss also eine neue Begründung für politisches Handeln her. Gleichzeitig schreit die Realität angesichts von Anspruch und Wirklichkeit danach, die Rolle Ostdeutschlands in der Gesamtrepublik auf eine neue Grundlage zu stellen. Der Solidarpakt II und seine Schattenhaushalte gewährleisten zwar nach wie vor erhebliche Investitionen, die Bewältigung des sozialen Wandels ist damit aber nicht zu realisieren. Deshalb ist Matthias Platzeck uneingeschränkt zuzustimmen: Die Nachwendezeit ist vorbei – in Ost und West! Das wiedervereinigte Deutschland steht von einem ähnlichen Strukturwandel wie die DDR-Bevölkerung Anfang der 90er. Zwar wird das politische System nicht durch ein neues ersetzt, aber Grundfesten des deutschen Sozialsystems müssen renoviert werden. Die Politik steht vor der Aufgabe, ein moder-

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nes Deutschland zu schaffen. In den nächsten Jahren wird für die gesamte Bundesrepublik Wandel zur Normalität und Stillstand zur Ausnahme. Ostdeutschland kommt hierbei eine Schlüsselrolle zu. Zwar gibt es immer noch vereinigungsbedingte Probleme, aber es gibt eben weder die finanziellen Mittel aus der Nachwendezeit, noch kann man 13 Jahre nach dem Mauerfall ruhigen Gewissens begründen, warum sich bestimmte soziale Standards (Schulsozialarbeit, Kita-Dichte, Schulgrößen usw.) immer noch deutlich über den westdeutschen Niveaus befinden. Der Nachwendezeit in Ostdeutschland folgt nun ein gesellschaftlicher Umbruch, der durch demografische Brüche geprägt ist. In den ländlichen Regionen hält das Downsizing an, die Abwanderung qualifizierter und junger Menschen aus den Dörfern und Gemeinden wächst und insgesamt kollabiert unser Sozialsystem angesichts der derzeitigen Ausgaben. Das Gleichgewicht zwischen sozialen Ansprüchen und staatlicher Unterstützung muss neu gefunden werden. Hier stehen vielfältige und tiefgreifende Umbrüche bevor. Bei aller negativen Erfahrung haben die Ostdeutschen bei der Lösung der anstehenden Probleme jede Menge einzubringen. Sie haben in der Nachwendezeit erfahren, wie Umbrüche und Herausforderungen gemeistert


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werden können. Sie haben gelernt, dass jede Krise auch neue Chancen birgt und sie haben an eigenem Leib gespürt, was es bedeutet, flexibel auf den Wandel reagieren zu müssen. Diese Erfahrung haben die „Ossis“ den „Wessis“ voraus. Ihre Kenntnisse und das Wissen um die Chancen, die mit den Krisen einhergehen können, geben den Ostdeutschen einen Erfahrungsvorsprung. Hinzu kommt ein in Ostdeutschland immer noch sehr homogenes System an Werten und Identifikationsmustern. Das Selbstverständnis der Ostdeutschen als „Deutsche zweiter Klasse“, das empirisch ja durchaus auch begründbar ist, hat zu einer signifikanten Identifikation mit „Ostdeutschland“ geführt. Haben sie sich kurz nach der Wende (ausgehend von dem Slogan „Wir sind ein Volk“) zu 65 Prozent vor allem mit der Bundesrepublik emotional verbunden gefühlt, so weist der Sozialreport für das Jahr 2001 eine 80-prozentige Verbundenheit mit „Ostdeutschland“ aus, einem politischen Raum, der anders als eine Gemeinde, die Bundesrepublik oder die Europäische Union formal gar nicht existiert.Wolfgang Engler, Berliner Soziologe mit ostdeutscher Biografie, bringt es auf den Punkt: „Aus den Ostdeutschen an sich wurden die Ostdeutschen für sich.“ Dieses „für sich“ führt zu spezifischen Ausprägungen, die gute Ansatz-

punkte für die SPD bieten. Ausgehend von der kulturellen Identität spielen die Begriffe „Gerechtigkeit“ und „soziale Sicherheit“ eine zentrale Rolle im ostdeutschen Selbstverständnis. Beides, die während des Transformationsprozesses erworbenen „UmbruchKompetenzen“ und der innere Zusammenhalt der Ostdeutschen mit dem spezifischen Wertesystem kann die Grundlage einer neuen sozialdemokratischen Politik sein. Ein Indiz hierfür ist auch das Ergebnis der Bundestagswahl 2002. Hier soll keine Wahlanalyse geleistet werden, und sicherlich ist das Ergebnis auf eine Vielzahl von Einflüssen zurückzuführen. Trotzdem einige Anmerkungen, die die Ausgangslage skizzieren.„Sicherheit im Wandel“, unter dieser Überschrift hat die SPD in Ostdeutschland ein bemerkenswertes Ergebnis erzielt. Sie wurde mit Abstand stärkste Partei. Von Sachsen abgesehen, wird die politische Geographie im Osten seit dem 22. September von der SPD bestimmt: von den 37 Wahlkreisen in den übrigen vier Ländern hat die CDU diesmal lediglich 3, die SPD dagegen 34 für sich gewinnen können. Von der PDS sind 300.000 Wählerinnen und Wähler zur SPD gewandert. Das macht deutlich: Die SPD ist in Ostdeutschland durchaus auch in für sie als schwierig erachteten Ländern

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mehrheitsfähig. Sie ist es immer dann, wenn sich die Menschen von ihr mitgenommen fühlen. Vergewissert sich die Sozialdemokratie dessen und orientiert sie sich – ausgehend von der gesellschaftlichen Wirklichkeit – bei der Begründung der Notwendigkeit von Umbrüchen und Einschnitten an den Begriffen „Gerechtigkeit“ und „soziale Sicherheit“, wird sie Zustimmung zu ihren Politikangeboten erhalten. Die Gestaltung eines modernen Deutschlands muss zum Markenzeichen der Ost-SPD werden. Hierbei werden die Ostdeutschen einen wesentlichen Teil ihrer Erfahrungen einbringen und damit ihre Rolle im vereinigten Deutschland einer grundlegenden Veränderung unterziehen können. Daraus wird sich dann auch ein neues, ein starkes und tragfähiges Selbstbewusstsein der Ostdeutschen entwickeln. Nur, das muss die Sozialdemokratie auch leisten: Sie muss begründen, wohin sie will, warum das sozial gerecht ist und was man gegenseitig voneinander erwarten kann! Die Kernprobleme müssen auf den Tisch. Dieses sind die Fragen der Rentenversicherung und Generationengerechtigkeit, der staatlichen Absicherung von Lebensrisiken und die Frage nach den Voraussetzungen für mehr Beschäftigung und Entlohnung. Hinzu kommt die Frage, welche Wanderungs-

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bewegungen sind innerhalb der Bundesrepublik notwendig, um mehr Arbeit zu schaffen, sprich: Können die Uckermark oder das Vogtland in einem nennenswerten Umfang über den Status quo hinaus Arbeitsplätze anbieten, oder muss die regionale Mobilität nicht gefördert werden? Auf alle diese Probleme muss die SPD in der nächsten Zeit wohl begründete Antworten liefern. Wenn sich Ostdeutschland an die Spitze der Reformbewegung setzt, profitiert es ökonomisch und sozial. Leisten kann das die ostdeutsche Bevölkerung allemal. Abwanderung, ausgelöst durch den demografischen Wandel in unserer Gesellschaft, wachst sich zu einem der zentralen Zukunftsprobleme des Landes aus. Das Auseinanderfallen von Randregionen und Ballungszentren birgt erheblichen sozialen Sprengstoff und stellt die Politik vor die vielleicht größte Herausforderung der nächsten Jahre. Um den demografischen Wandel ranken sich alle großen Probleme wie Arbeitslosigkeit, Bildungspolitik, Generationengerechtigkeit und Zukunftsfähigkeit unserer sozialen Sicherungssysteme. Aus Brandenburg sind im letzten Jahr 15.800 Personen in andere Bundesländer abgewandert. Nur die Ansiedlung an der Berliner Stadtgrenze sichert Brandenburg zur Zeit eine halbwegs ausgeglichene Wanderungsbilanz. In der


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Gesamtbetrachtung bedeutet es aber, denn hinzu kommen noch die Wanderungsbewegungen innerhalb Brandenburgs, das „Ausbluten“ weiter Bereiche des Landes. Spektakuläre Aktionen, wie der Abriss von Plattenbauten in Schwedt oder Eisenhüttenstadt, sind nur die Vorboten der tatsächlichen Herausforderung. Es geht für Ostdeutschland in der Konsequenz darum, das soziale, ökonomische und kulturelle Leben in Forst, Parchim, Chemnitz und Saalfeld abzusichern. Die Diskussion über den jahrgangsübergreifenden Unterricht zur Absicherung einer wohnortnahen Schulversorgung oder tragfähige Strukturen des öffentlichen Personennahverkehrs in der Fläche sind die „neuen Kulturfolger“ der Abrissbirnen. Da die großzügig ausgebauten Gewerbegebiete auch mehr als 10 Jahre nach der Wende von Großinvestoren links liegen gelassen werden, werden die Fragen nach regionalen Wirtschaftskreisläufen und Vermarktungssystemen ebenfalls laut gestellt. Für das Gesundheitssystem stellt sich zum Beispiel die Frage, wie kann die Versorgung der zunehmend vergreisenden Bevölkerung aufrechterhalten werden? Ein ähnliches Versorgungsproblem entsteht bei den Konsumgütern des täglichen Bedarfs. Anders als der Westen der Republik, wo sich die Landes- und Kommunalpolitiker diesen Problemen noch weitest-

gehend verschließen, sind die Diskussionen über Reaktionsmöglichkeiten und Auswege in Ostdeutschland mittlerweile voll im Gange. Das Vertrauen auf ein Bevölkerungswunder ist einer realistischen Wahrnehmung gewichen. Die Lösungen sind bei weitem noch nicht gefunden. Aber die Bereitschaft dazu ist deutlich ausgeprägter als an der niederländischen Grenze. Der hieraus entstandene Erfahrungsvorsprung in Bezug auf Infrastrukturwandel und demografische Herausforderungen beträgt mindestens zehn Jahre. Ein Faustpfand, der genutzt werden muss. Zu der zu erwartenden neuen Rolle und den korrespondierenden eigenen Ansprüchen gehört auch, dass ostdeutsche Spitzenrepräsentanten zunehmend bereit sein müssen, Verantwortung für die gesamte Gesellschaft zu übernehmen. Personen sind in unserer Gesellschaft zu Symbolen von politischen Inhalten geworden. Ein modernes Ostdeutschland will von modernen Menschen repräsentiert werden. Das heißt, die Ost-SPD muss verstärkt Leute anbieten, die Stallgeruch mitbringen, gleichzeitig aber auch Wandel und Zukunftsfähigkeit repräsentieren. Hier steckt die SPD zur Zeit insgesamt in einem Dilemma. Ein ausreichend großes Personalreservoir von Menschen, die eine entsprechende Reprä-

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sentationsleistung erbringen könnten, existiert derzeit nicht. Jedoch ist bei aller Unzulänglichkeit die Lage der OstSPD um einiges komfortabler, als die der westlichen Parteigliederungen. Hier fallen einem relativ spontan immerhin die Namen Platzeck, Matschie und Tiefensee ein – alles Personen, die erst am Anfang ihrer Karriere stehen. Ähnliche Assoziationen fallen für Westdeutschland ungleich schwerer. Wende-Repräsentanten der Ost-SPD, wie Richard Schröder, Markus Meckel, Stephan Hilsberg, Friedrich Schorlemmer oder Reinhard Höppner spielen hingegen heute in der Ost-SPD, und noch stärker in der öffentlichen Wahrnehmung, kaum noch eine Rolle. Auch daran macht sich das Ende der Nachwendezeit deutlich. Die erste Person auf Regierungsebene, die mit einer eindeutigen Ost-Biographie und den entsprechenden Erfahrungen Verantwortung für Gesamtdeutsch-

land übernimmt, ist Manfred Stolpe. Wenn er als Infrastrukturminister „Aufbau Ost“ und „Ausbau West“ auf eine Stufe stellt, dann ist das Ausdruck des eingeforderten Selbstbewusstseins. Er ist aus seiner Rolle als Sachwalter des Ostens (Ministerpräsident) herausgewachsen und betreibt seine Politik nun auf Grundlage eines gesamtdeutschen Hintergrundes. Das wird zunehmend der Anspruch an SPD-Spitzenpolitiker sein: Mit dem Bewusstsein um die eigenen Erfahrungen und den hieraus resultierenden Kompetenzen die gesamtdeutsche Perspektive des politischen Handelns deutlich machen. Der „Sonderweg Ost“ ist vorbei. Die von Franz Walter eingeforderte fulminante Beteiligung an den großen Kontroversen der Republik muss eine nachhaltig ostdeutsche Prägung bekommen. Auch dieses ist ein Ergebnis des Endes der Nachwendezeit.

Lars Krumrey ist Diplom-Politologe und Referent beim SPD-Landesverband Brandenburg.

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Zonenfunktionäre 1 – Eine ostdeutsche Generation als Avantgarde oder ein egoistisches Manifest 2 von Christian Maaß Brandenburg nach Stolpe und Hildebrandt Brandenburg ist derzeit kein Land ohne Probleme. Dafür gibt es eine Vielzahl von Ursachen. Sicher ist nur ein Teil der Probleme in Brandenburg selbst begründet und kann durch die Politik im Land beeinflusst werden. Dennoch sollte eine gewisse kritische Stimmung erlaubt sein. Aus meiner Sicht (ganz persönlich und ganz subjektiv) brauchen wir in der jetzigen Situation vor allem ein klares Eingeständnis bestehender Probleme – ohne zu resignieren – und Ernsthaftigkeit und Problemlösungskompetenz in ihrer Beseitigung. Es folgen lose Gedanken über eine Generation, die ihren Beitrag zur Lösung dieser Probleme leisten möchte. 1 2

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Bevor wir uns jedoch mit dieser Generation beschäftigen, müssen wir uns mit drei anderen Generationen – vielleicht wäre es besser von Gruppen zu sprechen, doch der Generationsbegriff ist/war irgendwie in Mode3 – beschäftigen. Die erste bestand aus Regine Hildebrandt und Manfred Stolpe. Sie prägten Brandenburg weit über zehn Jahre und über den politischen Rahmen hinaus. Zum einen führten sie Politik und Verwaltung, waren somit für Problemlösungen verantwortlich. Zum anderen nahmen sie aber die Menschen im Land mit in die neue Zeit. Sie standen für das Brandenburg in den zehn Jahren nach der Wende. Sie gaben Stabilität und Legiti-

Der Begriff Zonenfunktionäre ist wie der gesamte Titel eine Kombination der folgenden drei Buchtitel. Hensel, Jana (2002): Zonenkinder, Berlin.; Illies, Florian (2000): Generation Golf, Berlin.; Engler, Wolfgang (2002): Die Ostdeutschen als Avantgarde, Berlin. Die nachfolgen Zeilen sind bewusst subjektiv gefärbt und erheben keinen Anspruch auf Differenziertheit und Neutralität. Sie sollen vor allem zur Diskussion anregen. Zeiten großer Herausforderungen verlangen Ideen und Denkanstösse außerhalb gewohnter Raster und Wege, „denn Avantgarde ist keine Garantie für Ankunft, nur für Aufbruch. Furcht vor dem Unbekannten ist ihr eigen, gewaltsame Abstoßung von der Vergangenheit, zeitweiser Verlust von Ort und Halt, Schmerz und Herbheit. (Engler 2002, S. 196)“ Dabei wird bewusst in Kauf genommen anzuecken. Eine Distanz zum Thema kann es schon deshab nicht geben, weil sich der Verfasser der hier beschriebenen Gruppe zugehörig fühlt. Allenthalben werden Generationen besichtigt (siehe FN 1 und 2). Dabei ist allerdings kaum jemand so lesenswert wie Herr Lehmann und die Generation derer, die vor dem Mauerbau in Westberlin darauf warteten 30 zu werden.

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mation für ein System, das für einen deutlich sichtbaren Teil unserer Bürgerinnen und Bürger durchaus Probleme mit sich bringt. Sie standen für den Übergang von der DDR in das vereinigte Deutschland. Regine Hildebrandt ist so früh und auf so tragische Weise von uns gegangen. Es wird auf absehbare Zeit keine Politikerin und schon gar keinen Politiker gegeben, der so glaubwürdig und zugleich kraftvoll und optimistisch den Zugang zu den Menschen finden wird.4 Manfred Stolpe verschleißt sich derweil im Kabinett von Gerhard Schröder: Dieses Kabinett ist gegenwärtig nicht der Ort übergroßen Erfolges und Siegesgewissheit. Auf Regine Hildebrandt können wir demnach gar nicht mehr und auf Manfred Stolpe nur noch bedingt zurückgreifen, wenn es um Politik in Brandenburg geht. Die zweite Gruppe ist die Gruppe derer, die 1990 die Ärmel aufkrempelten und unter teilweise chaotischen und dramatischen Bedingungen Politik und Verwaltung in Brandenburg auf-bauten. Diese Gruppe trägt heute zum großen Teil Verantwortung. Sie steht vor der Herausforderung, aus der Erinnerung an die Aufbauleistung ein neues Selbstbewusstsein und neue Problemlösungskompetenz zu gewinnen. Wenn die Zeit der Transformation vorbei ist, 4

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aber die großen Herausforderungen noch bestehen, Antworten auf noch immer drängende Fragen für Brandenburg gesucht werden müssen, können die bisherigen Lösungsmuster nicht mehr verfangen. Im Sinne des Landes wäre eine intensive und vertrauensvolle Zusammenarbeit dieser Generation und der Zonenfunktionäre erforderlich. Das Problem dieser beiden Gruppen ist der mitunter nicht ausreichende Altersabstand. Die Zonenfunktionäre werden teilweise als Bedrohung aufgefasst, zumindest wenn sie in hauptamtliche Verantwortung streben. Hier bedarf es eines fairen Ausgleichs zwischen den besten Teilen beider Gruppen. Die dritte Generation/Gruppe ist wie die erste sehr klein. Aus Regine Hildebrandt und Manfred Stolpe ist Matthias Platzeck geworden. Er steht angesichts der Situation des Landes vor der schwierigen Aufgabe, anhaltend hohe Integrationswerte mit neuer Problemlösungskompetenz zu verbinden. Alte Muster verfangen nicht mehr, es geht darum, Brandenburg erfolgreich in eine neue Zeit zu führen. In der Regierungserklärung heißt das „Modernisierung mit märkischer Prägung“. War bereits kurz auf den Konflikt zwischen der Generation der erste Stunde und den Zonenfunktionären hingewiesen worden, so

Als Beleg kann u.a. das Kondolenzbuch auf den Seiten http://www.regine-hildebrandt.de/ angeführt werden.


Zonenfunktionäre – Eine ostdeutsche Generation als Avantgarde oder ein egoistisches Manifest

kommt dem Parteivorsitzenden und Ministerpräsidenten auch hier eine ausgleichende und auswählende Aufgabe zu. Er wird herausfinden müssen, wer sich dazu eignet, den Weg der

Modernisierung mitzutragen. Die richtige Beantwortung dieser Frage, auch unter maßvollem Rückgriff auf qualifizierte Importe, ist eine Erfolgsvoraussetzung für die SPD in Brandenburg.

Die Zonenfunktionäre5 Ihre Ausbildung Geboren sind die Angehörigen dieser Generation so um das Jahr 1970. Mitunter können ihr auch etwas jüngere oder ältere Menschen zugerechnet werden. Stimmen die Mitglieder der Gruppe in vielen, aber nicht allen Merkmalen überein, ist es eben durchaus leichter möglich, zur Gruppe dazu zu stoßen. Somit waren sie 1989 für eine aktive Teilnahme an den mehr oder weniger revolutionären Umwälzungen noch zu jung. Sie waren auch zu jung, um 1989/90 einen der recht einfach zu ergatternden hauptamtliche Posten in Politik und Verwaltung abzu-bekommen. Die meisten waren aber alt genug, um zu diesem Zeitpunkt mit einem politischen Engagement zu beginnen, das spätestens bei der zweiten Runde der Kommunalwahlen einen Sitz in einer Stadtverordnetenversammlungen oder Kreistag brachte. Hier konnten die ZF in den letzten Jahren zumeist gut vorankom5

men. Zu jung, um in der DDR zu studieren sind die Angehörigen dieser Gruppe, aber alt genug, um in der DDR die Schule abgeschlossen zu haben. Somit verfügen sie über beides die Prägung durch den Osten und die Ausbildung (oft ein Studium) im Westen. Sie sind hier sozialisiert, dennoch kennen sie mehr als den einheimischen Kulturkreis. Somit ist die Gruppe eine große Chance für die Partei. Die doppelte Geschichte bietet Perspektiven, angesichts knapper Kassen und einer bisher in gewissen Teilen qualitäts-vergessenen NRW-orientierten Personalrekrutierung Verantwortung zu übernehmen und neue Lösungen zu offerieren. Wie geht die Partei mit dieser Gruppe um? Welche Rolle spielt sie in der Modernisierung? Angesichts der (äußerst) problematischen Situation des Landes Brandenburg brauchen wir Professionalität zur Bewältigung der Herausforderungen. Zonenfunktionäre können aufgrund

Zukünftig nur noch ZF.

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ihrer Ausbildungspfade zumeist ein gewisses Maß an Professionalität bieten. Die Qualität der Schulbildung in der DDR hat zumeist die Grundlagen für ein erfolgreiches Studium gelegt. Sie haben davon profitiert, dass Deutsch, Mathe und Physik nicht nach der achten Klasse abwählbar waren. Fehlende musische, geschichtliche, künstlerische und sprachliche Kenntnisse wurden durch familiäre, kirchliche oder sonstige oft außerhalb des ostdeutschen Systems liegende Aktivitäten kompensiert. Viele besuchten den Religionsunterricht regelmäßig bis gern, auch und gerade, weil er in der Gemeinde und nicht in der Schule stattfand. Zonenfunktionäre mussten lernen, sich anzupassen und aufzupassen. Wer keine Jugendweihe mitmachte, brauchte Durchhaltevermögen, Disziplin und ein Elternhaus, das ihn dabei stützte. Einige von ihnen mussten lernen, in einer Welt voranzukommen, die sie manchmal an den Rand schob, es auf keinen Fall besonders leicht machte. Sie lernten zwischen den Zeilen lesen und denken. Später konnten sie mit den Kommilito-

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nen aus dem Westen mithalten. Was für einen Erfolg in Brandenburg von größerer Bedeutung ist; sie haben ein Studium (oft) im Lande eben trotzdem unter Westbedingungen absolviert. Dabei profitierten sie von der Aufbruchstimmung in den ersten Jahren an den Nachwendeuniversitäten. Sie studierten oft bei Professoren, die noch einmal etwas bewegen wollten, die etwas Neues suchten. Sie hatten einen Vorsprung, wenn es um studentische Jobs und die Besetzung von Mitarbeiterstellen im Anschluss an das Studium ging. Sie standen nicht vor dem überfüllten Hörsaal, sondern lasen in aus Erstausstattungsmitteln angeschafften Büchern. Sie erlebten dabei zugleich, wie es Ostdeutsche schafften, im Wissenschaftsbetrieb zu verbleiben, oder viele – trotz guter Qualifikation – durch den Rost fielen. Eine gewisse Professionalität versprechende Ausbildung ist also vorhanden. Die neben dem Studium entfalteten praktischen Aktivitäten sorgten dabei für die notwendige Bodenhaftung und Praxisorientierung.


Zonenfunktionäre – Eine ostdeutsche Generation als Avantgarde oder ein egoistisches Manifest

Ihr Glaube an die Einheit – Oder für eine lebendige Sozialdemokratie und wider Bonner6 und andere Kleingeister7 Zonenfunktionäre sind Ostdeutsche mit einem ausgeprägten Selbstbewusstsein. So gehen sie an die Gestaltung der Einheit. Es bleibt für sie unfassbar, dass viele SPD-Mitglieder noch immer Probleme mit der Wiedervereinigung haben. Besonders deutlich wurde dies bei der Vielzahl von Mitgliedern der SPD-Fraktion, die für Bonn und gegen die Einheit gestimmt haben8. Aus der Sicht der ZF haben diese Fraktionsmitglieder nicht begriffen, was das ist, die Wiedervereinigung. Wiedervereinigung ist eben mehr als nur eine Osterweiterung der BRD. Sie bringt Wandel für den Osten, aber eben auch für den Westen. Einige in der Partei scheinen vergessen zu haben, dass die Partei ihre Wurzeln auch im Osten hat. Gotha und Eisenach und selbst Karl Liebknecht und der Sieg der SPD im Kaiserwahlkreis scheint für einige nur noch im Geschichtsbuch der Partei zu existieren. Das sind aber Orte im Osten. ZF können nur schwer akzeptieren, dass Teile der SPD im Westen sich nicht neu

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orientieren können. Sie identifizieren sich deutschlandpolitisch eher mit Kurt Schumacher. Es war übrigens Adenauer, der aus Köln kommend den Osten gering schätzte. Schumacher stand für die Einheit. Willy Brandt war für so viele im Osten ein Hoffnungsträger, Helmut Schmidt ob seiner Fachlichkeit hoch geschätzt. Es war schmerzhaft, das Gefühl zu haben, dass das im Westen zum Teil verleugnet wurde. ZF stellen die Frage: Wie konntet Ihr Euch bei dieser Abstimmung, bei diesem einzigen symbolischen Sieg des Ostens verweigern. Ein Glück, dass Willy Brandt noch lebte. ZF passen nicht in eine sozialdemokratische Politik, die für den Osten nicht mehr bietet, als eine in Teilen richtige aber kalte und initiativlose Analyse, die nicht Verantwortung übernehmen will. Brudermord gefolgt von Fahnenflucht in der schweren Stunde ist nicht ihr Stil. ZF arbeiten daran, ernst genommen zu werden. Sie setzen nicht auf geschenkte Sonderrechte, die kaschieren, dass sie bei den wirklich wichtigen Dingen außen vor sind.

Hier soll keines Falls der Eindruck erweckt werden, dass vor allem Bewohnern der Stadt Bonn eine Ablehnung der Einheit unterstellt wird. Bonn kann und soll hier symbolisch aufgefasst werden. Vgl. zur Debatte insgesamt: http://www.bundestag.de/info/berlin/debatte/ Besonders eindrucksvoll – im positiven Sinne ist die Rede von Wolfgang Thierse, dem kann exemplarisch Peter Glotz entgegen gestellt werden: http://www.bundestag.de/info/berlin/debatte/bdr_002.html. Peter Glotz: „Bonn ist die Metapher für die zweite deutsche Republik. Bonn muß und soll Regierungs- und Parlamentssitz bleiben.“ Dem ist zu entgegnen, dass die zweite deutsche Republik im Sinne Glotz nun mehr nicht nur einfach erweitert wurde, sondern etwas gänzliches neues entsteht, mit allen Chancen und Risiken. Von den 320 Stimmen für Bonn kamen 126 aus der Fraktion der SPD. Lediglich 109 stimmten für Berlin. Liste unter: http://www.bundestag.de/info/berlin/debatte/bd_nam3.html

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Ihre an Werten orientierte Politik – Oder gegen Solardächer auf Kuba Ein junger Sozialdemokrat9 zu sein, ist für ZF nichts Ehrenrühriges. Ein guter Mensch muss nichts zwangsläufig modisch-links sein. Für Solardächer auf Kuba sammeln, ist nicht wertvoller als Haushaltskonsolidierung in Potsdam-Mittelmark zu betreiben, die die Versorgung der Bevölkerung mit öffentlichen Dienstleistungen sicherstellt. ZF müssen sich nicht linke Theoretiker unter das Kopfkissen legen, um ein soziales Gewissen zu entwickeln. Sie konnten die Jusos10 aus dem Westen erleben. 11 Bis tief in die Nacht stritten diese unerbittlich – gesellschaftlich relevant wie viele andere Sekten – um inhaltlich nicht immer wirklich wichtiges dafür mit einer teilweise stalinistischen Attitüde. Im Gegenüber wird vor allem der Feind gesehen und ein wesentliches Ziel ist seine Demütigung. ZF haben gelernt zurückzuschlagen, das immerhin verdanken sie auch zum Teil den Jusos aus dem Westen. Deshalb reagieren sie auch so allergisch auf Teile einer 9

nachrückenden Generation im eigenen Land, die gelernt hat, dass Intrigen wichtiger als Problemlösungskompetenz sind. Wenn die Tageslosung aus der Kampa das eigene Denken ersetzt, kann es mit der Sozialdemokratie nicht mehr lange gut gehen. Wohl gerade, weil die ZF lernen mussten in untergehenden Welten zu leben, konnten sie Werte und die Kraft bewahren, angeblichen Sachzwängen zu trotzen. ZF haben reale Arbeiter(innen) in ihren Familien. Sie kennen Arbeiter nicht nur aus missglückten Versuchen, sich Weltrevolution verkündend Lehrlingen zu nähern und sie von ihrem Weg abzubringen. ZF sind nicht versnobt und fühlen sich tief in in ihren Herzen als etwas Besseres. Sie haben eine Chance darauf, auch noch in zwanzig Jahren ein Gewissen zu haben und sich nicht mit scheinbarer Professionalität, die leider diesen und jenen auch moralischen Kompromiss erfordert, sentimental an die Zeit zu erinnern, in der es schick war, ein sozial denkender Mensch zu sein. Nur wenige haben zum Glück das Zeug für Diagonalkarrie-

Aus der Sicht westdeutscher Jusos handelt es sich bei der Bezeichnung „Junge Sozialdemokraten“ fast schon um ein Schimpfwort. Junge Sozialdemokraten stehen für sie tendenziell rechts und werden grundsätzlich abgelehnt. Hier gibt es eine ausgeprägte politische und kulturelle Differenz zwischen einem Teil der Jusos Ost (nämlich den Teilen – vor allem der ersten Generation der Jusos in Ostdeutschland – die sich als junge Sozialdemokraten empfinden) und den Jusos West. Vgl. dazu auch Ehlers, Benjamin (1999): Wer, wenn nicht wir! 10 Jahre Junge Sozialdemokraten in der DDR, Potsdam. Bei den Jusos in den alten Ländern gab es 1989/90 sogar Überlegungen, mit der FDJ zu kooperieren. 10 Es gibt natürlich nicht den Juso aus dem Westen. Das Engagement vieler Jusos, von denen viele auch noch immer „reale Arbeitnehmer“ persönlich kennen, ist gar nicht hoch genug zu würdigen. Es entsteht indessen oft der Eindruck, dass gerade sie es nicht schaffen, sich gegen den harten Funktionärs-/Karrieretyp durchzusetzen. 11 Die Art und Weise, wie die Jusos in den alten Ländern teilweise Politik betrieben, wird sehr schön ein einem von einem erfahrenen Juso aus den alten Ländern zusammengefasst: „Fehlende Sachkompetenz ersetzen wir durch Engagement und Lautstärke“.

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Zonenfunktionäre – Eine ostdeutsche Generation als Avantgarde oder ein egoistisches Manifest

ren. So können sie davor bewahrt werden, inhaltsleer auf den Moden und Wellen zu surfen. Vielleicht bringt ein Leben ohne dieses Surfen weniger Spaß, bei den ganz wichtigen Zielen setzen ZF eben auf Konsequenz und – wenn es sein muss – Verbissenheit.

Ihr Erleben des Niedergangs – Oder Trotz aus der Entwertung ziehen Die Eltern der ZF haben oft Jahrzehnte im Osten geschuftet. Stammen die Eltern aus der direkten Kriegs- und Nachkriegsgeneration, war ihr Weg besonders entbehrungsreich. ZF haben erlebt, wie der Westen ihre Eltern ausgeschieden hat. Plötzlich bestimmte nicht mehr Friedrich Engels ihr Schicksal, sondern drängte sie die Treuhand im Sinne westlicher Konkurrenten aus dem Markt. ZF wissen, dass die DDR am Ende war. Das lässt sie manche Widersprüche leichter ertragen als die 45- bis 50-Jährigen, die sich 1989/90 mit einem ihr Leben in Frage stellenden, radikalen Bruch konfrontiert sahen. ZF können selbstbewusst genug sein, eine starke Position für ihr Land einzufordern. Sie trauen sich zu, dafür Ideen zu entwickeln. Dass die DDR marode war, bedeutet nicht, dass Brandenburg keine Chance bekommen sollte. ZF können die Leistungsfähigkeit des Westen anerkennen ohne seine Schwächen zu verkennen. Sie glaubten schon immer eher

Dieter Hildebrandt als Helmut Kohl. Das „ZDF-Magazin“ war nur wenig demagogischer als „Der Schwarze Kanal“. Trotzdem war die Bundesrepublik nach dem Überwinden des Muffs der AdenauerZeit eine Demokratie, und der kleinkarierte Sachsen-Sozialismus ein Unrechtsstaat, wenn auch mit kommoden Bedingungen für brave Untertanen. Der anheimelnde Kleinbürgerrealsozialismus der DDR duldete Abweichungen nur in einem sehr begrenzten Rahmen. Wer ausbrach wurde verraten, weggeschlossen, ja auch weggeschossen oder einfach nur verkauft. Manche ZF mögen Kommunisten fast so sehr, wie es Kurt Schumacher tat, doch erscheint ihnen die „Jagd“ nach kleinen Stasimitläufern manchmal absurd, wenn wir an die BRD-Karrieren so vieler Nazis denken.

Ihr Leben als glaubhafter Träger von Identität – Oder ein Sozialdemokrat aus Preußen kauft kein Haus im Tessin Zu den Herauforderungen, eigentlich zu den Problemen Brandenburgs gehört die Frage, wie es gelingt, möglichst alle Menschen in ein erträgliches Gemeinwesen zu integrieren. Was hilft dabei, entwurzelte Menschen unterschiedlichen Alters wieder an eine zivile Gesellschaft zu binden. Diese Bindung an das hier und jetzt kann durchaus Züge von Stolz auf das Eigene tragen. Sie braucht aber vor

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allem die Kraft, die notwendige Toleranz zu entwickeln, die ein verträgliches Auskommen aller garantiert. Ach, gäbe es zumindest eine vernunftbegründete Toleranz, sei sie auch wirtschaftlich begründet. Das wäre doch für einige ein Anfang. ZF können helfen, das Hier und Jetzt zu vermitteln, ohne den Blick nach außen unnötig zu verstellen. Sie fühlen sich ihrer Heimat verbunden. Die Toskana ist für sie überwältigend und die Alpen unfassbar. ZF sind aber mutig in Rheinsberg (hier war immer schon Fronde) und trauern mit Luise in Gransee. Brandenburg braucht diese Bindung. ZF können dabei helfen, sie aufzubauen. Besinnen wir uns in Brandenburg zurück, ist da vor allem Preußen. Das ist für ZF mehr als Folklore. ZF sehen all das Problembehaftete, doch können sie mit dieser Quelle der Identität umgehen. Sie brauchen keinen Wettstreit darüber, welcher Teil Deutschlands mehr Schuld an den grausamen und menschenverachtenden Verbrechen des Nationalsozialismus trägt. Wenn Baden-Württemberger alles können außer Hochdeutsch und Bayern Lederhose und Laptop versöhnt, warum sollen wir dann Friedrich II oder seinen Bruder Heinrich negieren. München feiert die Pinakothek, ZF gewinnen Tiefe durch die Betrachtung von Menzels Auseinandersetzung mit der

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Größe und Ambivalenz von Preußen. ZF genießen Caravaggio, denn er bringt italienische Lebensart nach Preußen.

Ihr Selbstbewusstsein ist stark genug – Oder wir brauchen die Fusion mit Berlin Endlich einmal Nein-Sagen, gegen alle vermeintlichen und realen Niederlagen stimmen … so oder so ähnlich lässt sich im Rückblick das Abstimmungsverhalten bei der Fusionsabstimmung beschreiben. Einer schlechten Kampagne folgte ein verhängnisvolles Nein bei einer Frage von zentraler Bedeutung. Die Region braucht Berlin-Brandenburg, auch wenn wir es nicht Preußen nennen können. Als Berlin noch ganz klein war, war vieles einfacher, da war es ein Teil der Mark. Die Metropole in der Mitte und das Land darum, sie sind fast schicksalhaft mit einander verwoben. Wenn auch der Bahnhof in Neustadt (Dosse) einen Ausgang zur City hat, wir brauchen die City in unserer Mitte. Welche der Städte Brandenburgs könnte da mithalten. Brandenburg an der Havel und Frankfurt an der Oder: die eine Stadt hat einen tragischen Helden, der seiner Schwester glücklich über seinen Selbstmord berichtete und die andere einen herrlichen Dom, der allerdings auseinanderbrechen oder doch wenigsten wegrutschen will (Dank sei den


Zonenfunktionäre – Eine ostdeutsche Generation als Avantgarde oder ein egoistisches Manifest

Rettungsversuchen seit Schinkel). Cottbus kämpft mit Eduard Geyer gegen den Abstieg. Da bleibt als Zentrum nur noch Potsdam, das – doch aber auch und gerade – davon lebt, das kleine und deshalb andere an der Seite von Berlin zu sein. Die Mark Brandenburg ist mehr als ein Teil der manchmal laubenpiperhaften Westberliner Sozialdemokraten, die nach Reuter, Brandt und anderen sich in ihrer Welt behaglich einrichteten, CDU-Politik auf Teppichhändlerniveau. Die Sorgen der Brandenburger, übervorteilt zu werden sind berechtigt, die schwache Region muss aber ihre Potentiale bündeln. Wenn wir eine wettbewerbsfähige Region werden wollen, muss es ein gemeinsames und starkes Land geben. Wir haben das Selbstvertrauen, in einem solchen Land nicht unterzugehen. ZF haben das notwendige Selbstvertrauen, ein starkes Brandenburg in ein gemeinsames Bundesland zu begleiten.

Ihre Politik ist mehr als Kungeln – Oder für eine Problemlösung, die länger als eine Wahlkreisdelegiertenkonferenz hält Politik hat immer viel mit Macht, Herrschaft und der Durchsetzung von Interessen zu tun. Es wäre blauäugig anzunehmen, dass es nur um die For-

mulierung lösungsbedürftiger Probleme, die Auswahl von Lösungsalternativen und die Umsetzung der besten Lösung geht. Schon die Auseinandersetzung mit dem parteipolitischen Gegner erzwingt ein taktisches Vorgehen, das auch harte Bandagen kennt. Politik in der heutigen Zeit kann sich aber nicht mehr darauf beschränken in erster Linie Mehrheiten in Ortsvereinen zu organisieren und hoffnungsvolle andere Bewerber auszustechen. Wir brauchen Wissen darüber, wie eine Gemeindegebietsreform konzipiert und durchgeführt wird – das darf man eben nicht allein der Ministerialbürokratie übertragen – und darüber, wie die Wirtschaft in unserem Land gefördert werden kann. Wir brauchen Strategien für ein in weiten Landstrichen schrumpfendes Land, wo ungeklärt ist, wie die notwendige Infrastruktur vorgehalten werden kann. Die Liste der Herausforderungen ließe sich beliebig verlängern. Neben der Härte in der innerparteilichen Auseinandersetzung brauchen wir Politiker/Politikerinnen mit höherer Problemlösungskompetenz. Ein auf Transfers aus den alten Ländern gestütztes „Weiter So!“ kann und wird es nicht geben. ZF stehen für eine solche neue Politik bereit.

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Ende und Ausblick Eine erfolgreiche Sozialdemokratie in Brandenburg braucht einen Ausgleich zwischen dem Solitär Platzeck, der Generation der ersten Stunde und den Zonenfunktionären. Es sollte verhindert werden, dass mit den ZF auch noch eine weitere junge Generation das Land verlässt. Dabei geht es nicht darum, jemanden zu verdrängen, auch wenn der Beitrag stellenweise die Argumente auf eine intensivere Art

und Weise vortrug. Es geht um nachvollziehbare Perspektiven und nicht darum etwas geschenkt zu bekommen. Brandenburgs Erfolg wird zukünftig ganz stark davon abhängen, wie seine Menschen auf die Herausforderungen vorbereitet sind. Werden die ZF gut an zukünftige Aufgaben herangeführt, können sie in Brandenburg und darüber hinaus an einer „Modernisierung mit märkischer Prägung“ mitwirken – und darauf kommt es an.

Christian Maaß ist stellvertretender Vorsitzender der SPD im Havelland.

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Magazin Orient und Okzident: Schuldzuweisung gegen Schuldbekenntnis Eröffnungsvortrag der 44. Jahrestagung der Gesellschaft für Geistesgeschichte am 31. Oktober 2002 in Potsdam im Rahmen des Symposiums „Der Orient im Okzident“ von Mordechay Lewy

Einleitung Es klingt fast banal nach den Terroranschlägen von 11.9.2001 auf das offensichtliche Spannungsverhältnis zwischen Orient und Okzident hinzuweisen. Es ist ebenso leicht, eine Verdichtung dieser Spannungen sowohl auf der weltpolitischen Bühne wie auch auf der geistigen Ebene festzustellen. Die herrschende Tendenz in der westlichen Welt, vor allem in Europa, ist aber, den Aufeinanderprall der Zivilisationen zu ignorieren. Der Dialog zwischen Christen und Moslems wird verstärkt weiter betrieben. Der Dialog der Kulturen des Orients und des Okzidents wird mehr als je zuvor gefördert. Dieses gilt zwar als politisch korrekt, ist jedoch um so erstaunlicher, angesichts der offenen Kriegserklärung an den Westen seitens Al Qaida und anderen gleichgesinnten islamistischen Bewegungen. Diese Islamisten haben keine

Bedenken einen fortwährenden Kampf der Kulturen durchzuführen. Sie haben „ihren Huntington“ gelesen. Seit mehr als einem Jahr zeichnen sich im Westen Reaktionen ab, die mehrheitlich als aufklärerisch, beschwichtigend, Harmonie orientiert oder apologetisch zu bezeichnen wären. Sie alle haben eines gemeinsam: sie sind nicht konfrontativ. Auch die buddhistische Welt des Fernen Ostens hat nicht aggressiv reagiert angesichts der mutwilligen Zerstörung ihrer Heiligtümer in Bamian durch die Talibanherrschaft. Stellen Sie sich nur vor, welche islamische Reaktionen wir zu erwarten hätten, wenn islamische Heiligtümer in Mitleidenschaft gezogen worden wären. Die Konfrontation zwischen Muslimen und Hindi in Indien wäre nur ein Vorspiel. Im Westen sind die hörbaren Stimmen, die den Zivilisationskampf

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zwischen Okzident und Orient als unvermeidlich artikulieren, selten. Es gilt nicht als politisch korrekt, sich darüber öffentlich zu äußern. Berlusconis Einschätzungen über die kulturelle Überlegenheit des Okzidents im Vergleich zur islamisch-arabischen Welt riefen in Europa eine Welle der politischen Entrüstung hervor. Eine radikal feindselige Haltung spricht aus dem letzten Buch von Oriana Fallaci „Die Wut und der Stolz“. Sie ist früher mehrmals als Sensationsreporterin aufgefallen. Doch ihre Kritik gegenüber der Rückständigkeit der arabischen Welt und des Islam kann nicht nur als rechtspopulistisch disqualifiziert werden. In ihrer manchmal überzogenen Kritik hat sie einen Tabubruch an der im Westen betriebenen political correctness gegenüber der arabischen Welt begangen. Auch von konservativer Seite wurde Fallaci gerügt: „Die arabische Kultur von vornherein minderwertiger als die europäische anzusehen, wie Oriana Fallaci dies tut, muss als

unerträgliche Hybris erscheinen. In Sachen Zuwanderung nach ihrem Rezept kurzen Prozess zu machen und Armutsflüchtlinge zu deportieren heißt, Grundgedanken der Aufklärung und des Christentums, auf die demokratische Kultur und Rechtsstaatlichkeit in Westeuropa aufbauen, gleich mit abzuschieben.“ Klare und unmissverständliche Stimmen wie der indischstämmige Literaturnobelpreisträger V. S. Naipaul in seiner Islamkritik haben Seltenheitswert: „Die islamischen Länder sind korrumpiert. Sie überschätzen ihre eigene Stärke und haben nicht begriffen, dass das, was sie für ihre Stärke halten, auf Schwäche beruht … Es muss eine sehr entschiedene Antwort geben. Sonst wird dieser Wahn weitere Länder befallen.“ Meine Ausführungen sollen Denkanstöße geben, um uns mehr Klarheit über das westliche Verhaltensmuster zu verschaffen. Ferner liegt mir daran, den dialektischen Zusammenhang zwischen den westlichen und orientalischen Verhaltensmustern aufzudecken.

Definitionen Orient und Okzident verstehe ich als aus ihrer eigenen Geschichte entstandene Kulturräume, die wegen ihrer geopolitischen Nähe relevant zueinander waren und es auch bleiben werden.

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Diese Dichotomie ist keineswegs nur eine Erfindung des kolonialen Okzidents, um den Orient zu unterjochen oder zu verunglimpfen, auch wenn Edward Saids These vom Orientalism


Orient und Okzident: Schuldzuweisung gegen Schuldbekenntnis

breite Zustimmung in westlichen Universitäten und in islamistischen Kreisen gefunden hat. Seine schärfsten Kritiker befinden sich im übrigen unter den säkulären Kreisen der linksgerichteten Intelligentsia in der arabischen Welt. Die Namen von Sadik-al-Azm oder Nadim-al-Bitar sollen hier gewürdigt werden. Die Gegensätze sind nicht virtuell sondern real.

Orient: bedeutet hier geographisch die islamisch-arabische Welt im Mittelmeerraum und im Nahen Osten. Eine Welt, die keine strikte Trennung zwischen Religion und Staat vollzogen hat. Säkularisierung als staatstragende Idee existiert halbwegs im Orient nur dort, wo es von Oben verordnet wird und sich auf die herrschende Macht der Bajonette berufen kann. Es ist eine Welt, in der der Islam den Alltag der Mehrheit der Bevölkerung geprägt hat und immer noch oder wiederum entscheidend mitformt.

Okzident:

bedeutet geographisch hauptsächlich den Kulturraum in Europa und Nordamerika. Eine Welt, die ihr Selbstverständnis als Wertegemeinschaft aus der judäisch-christlichen Tradition übernommen hat. Sie ist der Demokratie als Herrschaftssystem und der Säkularisierung (also rechtliche Trennung von Staat und Religion) verpflichtet.

Schuldzuweisung: Jeder von uns kennt die alltägliche Situation, in der ein Kind sich am häuslichen Tisch anstößt und sich dabei wehtut. Seine Mutter wird das heulende Kind gleich trösten wollen und den schlimmen, bösen Tisch beschuldigen, weil er dort gestanden und dem Kind wehgetan hat. Diese Schuldzuweisung ist eine Ablenkung der eigenen Schuld und Unzulänglichkeit auf andere, weil man selbst nicht richtig aufgepasst hat. Dieses Verhaltensmuster kann man auch auf eine bestimmte kulturell homogene Bevölkerungsgruppe anwenden. Die moderne Kulturanthropologie arbeitet seit längerer Zeit nach dieser Methode.

Schuldgefühl und Schuldbekenntnis: Wer kennt nicht den Unglücklichen, der einen verhängnisvollen Autounfall verursacht hat und sich seither nicht mehr traut, sich ans Lenkrad zu setzen. Sein Schuldbekenntnis belastet sein Gewissen so sehr, dass er nicht mehr das Risiko eingehen will nochmals schuldig zu werden. Sein zukünftiges Verhalten beruht auf einer einmaligen traumatisierten Erfahrung in seiner Vergangenheit. Darüber hinaus definierte Freud das irrationale Schuldbewusstsein bzw. Bekenntnis folgendermaßen: „Der Neurotiker reagiert so, als ob er schuldig wäre, obwohl er unschuldig ist, weil ein in ihm bereitliegendes und lauerndes

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Schuldbewusstsein sich der Beschuldigung des besonderen Falles bemächtigt“. Auch hier bietet sich die Anwen-

dung eines solchen Verhaltensmusters auf eine bestimmte kulturell homogene Bevölkerungsgruppe an.

Gegenseitige Wahrnehmungen Ich gehe davon aus, dass Orient und Okzident seit dem Erscheinen des Islams auf der historischen Bühne mehr Gegensätze als Gemeinsamkeiten ausgestrahlt hatten. Bis ins hohe Mittelalter war die arabisch-islamische Kultur die tonangebende von den Beiden. Fernand Braudel beschreibt die Beschaffenheit der longue duree des gemeinsamen Mittelmeerraumes. Obzwar kein Schmelztiegel, war dieser Raum die Plattform des Gebens und Nehmens zwischen Orient und Okzident in allen Bereichen. Eine Abschottung des Mittelmeers als Barriere zwischen diesen Kulturen, wie es einst Henri Pirenne behauptete, fand wahrscheinlich nie statt. Nur wenige Muslime sehen heute den Okzident als die Wertgemeinschaft der judäisch-christlichen Zivilisation an. Ihr Bild vom Westen entbehrt die religiöse Essenz dieser Zivilisation. Die Religion in Europa hat in der Tat an politischer Macht eingebüßt und das Christentum stellt für die Muslime keine Gefahr mehr dar. Vielmehr erscheint ihnen der Okzident als eine säkulari-

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sierte Macht, die von Materialismus, Imperialismus und Ausbeutung der arabischen-islamischen Welt geprägt wird. Bei strengen Muslimen und radikaleren Islamisten erscheint der Westen letztlich als ein Hort der Dekadenz und der Gottlosigkeit. Demgegenüber ist bei der großen Mehrheit der Bevölkerung im Westen ein Bild vom Orient entstanden, das von agressivem religiösem Fanatismus, gesellschaftlicher Rückständigkeit und politischer Unmündigkeit geprägt wird. Tatsächlich sind im letzten Jahrzehnt in 90 % der blutig ausgetragenen Konflikte auf der Welt arabische bzw. islamistische Kräfte mit involviert. Diese Wahrnehmung mag auf der Stammtischebene kursieren. Es ziemt sich aber nicht, diese Wahrnehmung lautstark und öffentlich zu artikulieren. So absurd es klingen mag, nehmen die etablierten Kirchen im Okzident ihre unmittelbare Umgebung ähnlich wie der Islam wahr. Durch die Beliebigkeit der Wertorientierung im postmodernen Zeitalter und der „Spaßgesellschaft“ im Okzident, lamentieren Kirchenvertre-


Orient und Okzident: Schuldzuweisung gegen Schuldbekenntnis

ter ebenso über den grassierenden Materialismus, über die dekadente Kultur im Westen und über die herrschende Gottlosigkeit. Kirchen und Islamisten hoffen zugleich auf religiöse Umkehr und wollen der Dekadenz ihrer jeweiligen Kulturen entschieden entgegentreten. Der kleine Unterschied liegt aber darin, dass die Dekadenzkritik der Islamisten sich auf den korrumpierend erscheinenden westlichen Einfluss auf die arabischislamischen Welt bezieht, also kein Schuldbekenntnis im eigentlichen Sinne ist. Zwischen Islam und katholischer Kirche ergeben sich sogar gemeinsame Interessen in gesellschaftspolitischen Fragen, wie in der Familienplanung oder dem menschlichen Klonen. Es ist bezeichnend für den Westen, dass die a-religiöse Mehrheit die eigenen Kirchen und die Rolle der Religion als obsolet beurteilt, aber in ihrer Wahrnehmung des Orients die Rolle der islamischen Religion überaus relevant erscheint. Unter dieser a-religiösen Mehrheit im Westen gibt es wiederum eine intellektuelle Schicht, die auch stark in den Medien und der Publizistik vertreten ist. Ihr Bild vom Orient ist von den Denkkategorien der Politik- und Sozialwissenschaft geprägt. Ihre eigene politische Sozialisierung hat sie zu einem Weltbild geführt in dem die Religionen kaum eine

gestaltende Rolle einnehmen. Daher wird die Macht des heutigen Islam in dieser Schicht unterbewertet. Ihr Bild von der arabischen Welt ist das eines Opfers der kapitalistischen Ausbeutung, der imperialen Dominanz und des westlichen Orientalism. Diese Schicht sieht den islamischen Terrorismus zwar als verabscheuungswürdig, aber nicht als einen Zivilisationsbruch. Sie meinen, wenn man die politischen, sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen ändert, so trocknet man damit auch den Sumpf aus, in dem dieser Terrorismus entstehen konnte. Innerhalb dieser Schicht sieht man die Schuld des Westens stark ausgeprägt. Der emeritierte Prof. Krippendorf sagte auf einer Tagung in Berlin wie folgt: „Es sei ein Glück für die Muslime, die Aufklärung und die Modernisierung verpasst zu haben, weil ihnen so die ,Horrorvision‘ unserer totalitären Macht und Ausbeutung erspart geblieben sei.“ Man fühlt sich unwohl, reich und mächtig zu sein. Amerikanische Intellektuelle wie Susan Sontag, Noam Chomski und der Italiener Tiziano Terzani, aber auch gemäßigtere Stimmen wie Norman Mailer oder Philipp Roth oder die indische Autorin Arundhati Roy üben Zivilisationskritik am Westen und verteilen die Schuld an beide Seiten oder weisen sogar einseitig die Schuld der USA zu. Während im Okzident eine Vielfalt der

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Wahrnehmungen des Orients besteht, bleibt das Bild des Okzidents im Orient monolithisch. Diejenigen Intellektuellen im Orient, die eine differenzierte bzw. eine positive Wahrnehmung des Westens haben, können sich nur bedingt

in der einheimischen Öffentlichkeit artikulieren. Fouad Ajami beschreibt in seinem Buch „The Dream Palace of the Arabs“ eingehend ihr Dilemma. Früher oder später werden sie in den Westen ziehen, um sich freier entfalten zu können.

Thesen Soweit mir bekannt ist, wurde im Spannungsverhältnis zwischen Orient und Okzident noch nie der Blickwinkel der Beziehung zwischen einer Schuldzuweisungskultur (blame society) und einer Schuld- und Schuldbekenntniskultur (guilt society) beleuchtet. Kulturanthropologen operieren eher mit den Begriffen der Schuldkultur (Westen) und Schamkultur (Ostasien und Afrika). Unser Bezugsrahmen soll jedoch nicht als alleiniges Erklärungsmodell verstanden werden. Er soll uns aber nachdenken helfen, warum die Schuldgefühle im Okzident teilweise zur Selbstverleugnung führen, ungeachtet dessen, dass der Konfliktstoff zwischen Orient und Okzident auf absehbare Zeit nicht versiegen wird. Fraglich bleibt, warum der Orient schwerlich Verantwortung für selbstverschuldete Unzulänglichkeiten übernehmen kann. Da eine Selbstkorrektur die Fähigkeit zur Selbstkritik voraussetzt, sind zukunftsorientierte Umwäl-

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zungen im Orient nur in langsamen Schritten zu erwarten. Darüber hinaus kann der Orient aus sich heraus den Konflikt mit dem Okzident kaum meiden, da er sich selbst seit Jahrhunderten in Verschwörungstheorien verstrickt hat und sich in einem hermetischen Verschluss der sich selbst erfüllenden Prophezeiungen eingekreist hat. Die Tatsache, dass die kleinen und großen „Tiger“ im Fernen Osten, innerhalb von einigen Jahrzehnten, den Anschluss an die globalisierte Wirtschaft gefunden haben und sich von Hungersnot und Armut verabschiedet haben, verdeutlicht den Menschen in der arabischen Welt, wie weit sie selbst eigentlich in der gleichen Zeitspanne zurückgefallen sind. Thesenhaft formuliert ergeben sich folgende Aussagen: 1. Im Orient wird die eigene Schuld und Unzulänglichkeit verdrängt und anderen zugeschoben. Selbstkritik ist selten zu finden. Korrekturfähig-


Orient und Okzident: Schuldzuweisung gegen Schuldbekenntnis

keit ist begrenzt. 2. Im Orient wird die eigene Opferrolle bevorzugt. Zur Begründung dieses Verhaltensmusters werden Verschwörungstheorien geschmiedet. 3. Der Islam kennt keine Erbsünde und daher keine historisch tradierte Kollektivschuld. 4. Der Islam begünstigt nicht die Gestaltung des freien Willens und der eigenen Verantwortung. Im islamischen Menschenbild steht der freie Wille neben der allumfassenden Vorherbestimmung Allahs, ohne dass die islamischen Theologen bisher beide Grundsätze vereinbaren konnten. 5. Im Okzident neigt man zum Schuldbekenntnis, ungeachtet ob zurecht oder zu unrecht. Daher wird häufig

die Täterrolle übernommen. 6.Die Schuldbekenntniskultur im Okzident begünstigt die Selbstkritik aber auch die eigene Korrekturfähigkeit. 7. Im heutigen Okzident ist die religiös begründete Erbsünde teilweise säkularisiert und drückt sich in Schuldbekenntnissen u.a. auch gegenüber der islamisch-arabischen Welt aus. 8. In dem offenen oder verdeckten Konflikt zwischen beiden Kulturen kann der Okzident mit seiner Schuldkultur nicht frei handeln und zwar wegen selbstauferlegten moralischen Zwängen. Diese Einschränkung wird vom Orient, die als Schuldzuweisungskultur aggressiver agiert, als Schwäche wahrgenommen. Diese Schwäche wird in Konfliktsituation nicht honoriert, sondern ausgenutzt.

Ohne Erbsünde kein kollektives Schuldbewusstsein Sigmund Freud behauptete, das Schuldgefühl sei das wichtigste Problem der Kulturentwicklung. Die Regulation sozialen Verhaltens (Kultur) liegt in den Händen des Über-Ichs (das Gewissen). Dieses bedient sich mittels des Schuldgefühls. Schuld ist nach Freud dem Menschen in der abendländischen Kultur immanent. Diese Auffassung beruht, zumindest symbolisch, auf der biblischen Erzählung der Erbsünde,

infolgedessen der Übergang vom unschuldigen Naturzustand zur Unterscheidung zwischen Gut und Böse vollzogen wurde. Aber eine Erbsünde, wie im abendländlichen Verständnis, gibt es nicht im Islam. Die Vertreibung aus dem Paradies ist im Koran kein Schlüsselerlebnis. Allah vergibt alle Sünden, großund klein, wenn der Sünder Reue und Umkehr zeigt. Ungläubigen, einschliesslich der Völker der früheren

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Offenbarungen wie Juden und Christen, bleiben die Pforten des Paradieses verschlossen. Es gibt im Koran keinen ausgangsoffenen Kampf zwischen Gut und Böse, der manichäische Dimensionen hat. In der abendländischen Tradition kann der Satan den Menschen verführen (das faustische Motiv). Im Islam entwaffnet der Satan sich selbst, indem er in der Sure 14,22 zugibt, über die Menschen keine Macht ausüben zu können. Ein praktizierender Muslim erlangt seine Gewissheit das Heil zugeteilt zu bekommen einzig und allein durch die Erfüllung aller Gebote Allahs. Dieses Verhalten erspart ihm die Gewissensbisse um sein Heil, die im Christentum immanent sind. In der islamischen Auffassung gilt die Schuld zwar als persönliche Bürde, die kann aber mit der strikt rituellen Befolgung der Gebote Allahs abgetragen werden. Im Orient kennt der Muslim kein kollektives Schuldbekenntnis, das historisch an die nächsten Generationen tradiert würde. Im Okzident hat sich die christlich geprägte Idee der Erbsünde so ausgewirkt, dass sie Bestandteil der westlichen Zivilisation geworden ist. Mit der Säkularisierung und der Aufklärung im Okzident wurde die Erbsünde ebenfalls säkularisiert und in den jeweiligen ideologischen Schematas des zu behebenden unmoralischen Grundübels bewahrt. Man fühlt sich schuldig, reich zu sein, so

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als ob man diesen Reichtum nicht mit Mühe erarbeitet hätte. Man hat ebenso Gewissensbisse, legitime Machtmittel zu verwenden. Der Antikolonialismus, Postkolonialismus, Antikapitalismus oder die Antiglobalisierung nähren sich doch alle auch von Schuldgefühlen, die der Dritten oder Vierten Welt abzugelten wären. Der Orient ist trotz seines Erdölreichtums darin eingeschlossen. Somit bekommt der Orient auch Anteil an der Schlüsselgewalt der zu vergebenen Absolution. Als Schuldtilgung gelten z.B. finanzielle Zuwendungen an Länder der Dritten Welt. Gegenüber dem Orient soll eher die Schuld mit politischer Rücksichtnahme abgegolten werden. Terzani schreibt drei Tage nach dem 11.9., dass man den Islam als eine Religion begreifen soll, die sich gegen die Globalisierung zur Wehr setzt. Die Islamisten verabscheuen aber die demokratischen Werte. Deren Gesetze sind von Menschenhand bestimmt worden, und damit stehen sie im Widerspruch zu dem göttlichen Ursprung der Scharia, der islamischen Gesetzgebung. Aber wenn sie selbst von arabischen oder westlichen Regimen verfolgt werden, scheuen sie sich nicht, die „undemokratischen Verfahren“ anzuprangern und an Menschenrechte zu appelieren. Schuldbewusste Abendländer lassen sich trotz dieser Heuchelei davon beeindrucken.


Orient und Okzident: Schuldzuweisung gegen Schuldbekenntnis

Arabische Verschwörungstheorien und Schuldzuweisungskultur Bassam Tibi erwähnt in seinem Buch „Die Verschwörung – Das Trauma arabischer Politik“ den Begriff Mu’amarah (Verschwörung) als eine kulturell verankerte Sichtweise, die dem eigenen Schicksalsglauben (Kismet) Vorschub leistet. Der türkische Begriff Kismet stammt aus dem Arabischen Qisma und bedeutet Zuteilung oder Anteil. Gemeint ist eigentlich die tröstende Erklärung für Schicksalsschläge, die den unerklärbaren göttlichen Willen als Grund voraussetzen. Damit wird dem Kismet ein religiöser Sinn gegeben. Islamwissenschaftler billigen dem Glauben an Kismet kaum einen theologischen Stellenwert zu. Für sie gehört er eher in die Bereiche der Folklore bzw. Volksreligion. Der Begriff wird ferner überall benutzt, wo es den Betroffenen nicht mehr möglich ist, hinter den unentrinnbaren schicksalhaften Erscheinungen eine für sie erklärbare lebensbezogene Ursache festzustellen. Wenn der Moslem von Allah ein zugeteiltes Los erhält, ohne es selbst beeinflussen zu können, übt der Mensch auch keine eigene Verantwortung aus. So entsteht die Neigung, Ereignisse oft aufgrund des Eingreifens anderer Kräfte zu erklären, sie aber nie auf sich selbst zurückzuführen. Niederlagen und unerwünschte Ereignisse im politischen Bereich werden somit als Verschwörungen gegen

die Araber oder den Islam wahrgenommen. Bernard Lewis schildert in seinem neuesten Buch „What went wrong?“ eine historische Kette von Schuldzuweisungen an externen Faktoren, die für die Antwort auf die arabischen Frage „Wer hat uns das angetan?“ herhalten mussten. Im Mittelalter wurde die mongolische Invasion für die Zerstörung des Khalifats in Bagdad verantwortlich gemacht. Über die interne Schwäche der Abassiden wurde vornehm geschwiegen. Seit Beginn der relativ kurzen Herrschaftsperiode der Kolonialmächte im arabischen Raum wurden vornehmlich England und Frankreich für den politischen und kulturellen Niedergang der Araber schuldig befunden. Diese Rolle wurde nach dem zweiten Weltkrieg von der USA übernommen. In der politischen Kultur der arabischen Welt wird das Schicksal der Araber seit den Sykes-Picot Abmachungen von 1916 durchgehend bis zum Anschlag auf die Zwillingstürme in New York am 11.9.2001 als eine lange Kette der westlichen Verschwörung empfunden. Anlässlich des ersten Jahrestags der Anschläge vom 11.9. veröffentlichte die ägyptische Wochenschrift al-Ahram Weekly eine Umfrage. Auf die Frage, wer verantwortlich für den Anschlag sei, antworteten 39 % – der Mossad; 25 % – wir werden es nie erfah-

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ren; 19 % – Al Qaida oder andere militante Islamisten; 17 % – andere NichtMuslime. Bin Laden hat sich zwar in seinem Video längst der Tat bezichtigt, und seine Kassette wurde in dem populärsten Satellitensender im Nahen Osten „Al Dschezira“ ausgestrahlt. Dennoch waren 81 % der Befragten nicht bereit, eine arabische Verantwortung zu konzidieren oder die Al Qaida in die Pflicht zu nehmen. Das Verschwörungssyndrom spricht den Araber von der Verantwortung an Missständen und Misserfolgen frei, und die Schuld wird anderen, vorzugsweise dem Westen, zugeschoben. Die Araber empfinden sich oft als Opfer, nie als Täter. Islamisten beschuldigen auch oft die korrupten arabischen Regierungen und die korrumpierte Lebensart an den Missständen in der arabischen Welt und bieten die Rückkehr zum Islam als Heilsrezept an. Die islamistischen Imame predigen in Moscheen Hass und geben dem Westen die Schuld an dem kranken Zustand des Islam. Die Verschwörungstheorie gegen den Islam wird für die Schuldzuweisung mobilisiert. „Wie kommt es, dass 15 Millionen Juden die Welt beherrschen und die 1,2 Milliarden Moslems, trotz des Erdölreichtums, sind die Unterlegenen?“ So wird in den Moscheen gefragt. Der Westen hat die Muslime um ihren Glauben gebracht und darüber hinaus auch korrumpiert.

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Im Namen der globalisierten Neuordnung der Welt, im Namen der Menschenrechte und im Namen des Friedensprozesses, so schallt es in Freitagspredigten, will der Westen den Islam auch zukünftig beherrschen. Das Heilmittel ist die Reislamisierung der Menschen individuell, wie auch die der Gesellschaft. Ziel ist die Einigung der islamischen Welt, bei manchen soll sogar das Khalifat als zentrales oder als föderatives Staatsgebilde wieder entstehen. Der politische Aktionismus der Islamisten steht im Dienst ihres Islamverständnisses. Die Islamisten nehmen das Gesetz des Handelns in ihre Hand und lassen den Kismet nicht gelten. Angesichts solcher Schuldzuweisungen war es wohltuend, die besonnene Stimme des jordanischen Prinzen Hassan bin Tallal zu hören. In der Eröffnungsrede des Orientalistenkongresses WOCMES in Mainz, sagte er „I’m blaming ourselves for our own shortcomings, I’m not blaming the west“. Arabische Intellektuelle, wie die Tunesier Abdelwahab Meddeb und Mohamed Talbi oder der Marrokaner Abdou Filali-Ansary setzen sich für Reformen in der islamischen Welt ein. Sie erhoffen sich die Wiedererlangung der Fähigkeit zur Selbstkritik und den verpassten Anschluss des Islam an die Aufklärung. Leider artikulieren sie ihre Meinungen eher im Pariser Exil und nicht in ihren Heimatländern.


Orient und Okzident: Schuldzuweisung gegen Schuldbekenntnis

Der christlich-islamische Dialog zwischen Schuldzuweisen und Schuldbekennen Der geballte Komplex von der säkularisierten Kollektivschuld des Westens gepaart mit der christlichen Bereitschaft zum Schuldbekenntnis wirft seinen Schatten über den eifrig betriebenen interreligiösen Dialog. Professor Bassam Tibi hat in einem ZEIT-Interview „Selig sind die Betrogenen“ diesen Dialog als eine Selbsttäuschung der christlichen Dialogpartner bezeichnet. „Skepsis ist angebracht, wenn man bedenkt, dass im bisherigen Dialog von islamischer Seite nichts als Forderungen und Anklagen erhoben wurden. Die Muslime gefielen sich in der Rolle des Opfers. Den christlichen Vertretern wurde nicht nur die deutsche Vergangenheit vorgehalten, sie wurden auch für die Kreuzzüge und für den Kolonialismus mitverantwortlich gemacht. Zugleich verbaten es sich die Muslime, mit der Geschichte des Dschihad konfrontiert zu werden. … Doch darüber zu reden gilt als tabu. Lieber reden auch die Christen von ihrer eigenen dunklen Vergangenheit. Ein solches Ritual einseitiger Schuldzuweisungen ist kein Beitrag zur Verständigung zwischen den Zivilisationen. Es kommt dabei nur ein verlogener Dialog heraus.“ Tibi beklagt sich, dass Christen dieser feindseligen Haltung nicht trotzen, sondern sich „dem

Islam anbiedernd verbeugen“. Er sieht mehrere Gründe dafür. Zwei sind für uns von grosser Relevanz, zumal sie auf den Zustand in Deutschland abzielen. „Erstens: die Schuldgefühle der Christen, vor allem der deutschen Protestanten, in Bezug auf die unrühmliche Vergangenheit ihrer Kirche im ,Dritten Reich‘. Nie wieder will man in die Gefahr kommen, andere Religionen zu diskriminieren. Hier stellt sich die Frage, warum es Islamisten, die ja militante Antijudaisten sind, gestattet sein soll, moralisches Kapital aus dem vergangenen Leiden der Juden zu schlagen. Zweitens: die gesinnungsethisch verordnete Fremdenliebe der Deutschen, die es ihnen verbietet, zwischen demokratischen und undemokratischen Ausländern und Kulturen zu unterscheiden.“ Noch schärfer als Bassam Tibi geht der Islamwissenschaftler Dr. Hans-Peter Raddatz mit der unbedingten Dialogbereitschaft der christlichen Seite zu Gericht. Er kritisiert massiv die katholische Kirche in ihrer Dialogbereitschaft mit dem Islam in seinem Buch „Von Gott zu Allah – Christentum und Islam in der liberalen Fortschrittgesellschaft“. Raddatz meint, dass im westlichen Kulturkreis gegen das eigene Interesse gehandelt wurde. Man war nicht nur

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bereit den Islam zu verklären, sondern Kirche (Dialog) und Staat (Einwanderungspolitik) haben eigenen Interessen zuwidergehandelt. Eine gegensätzliche Ansicht vertritt der Jesuitenpater und Islamwissenschaftler Prof. Christian W. Troll, der von katholischer Seite mit dem Islamdialog betraut ist. Er betont, dass „die Katholische Kirche weiss, dass ohne beharrliches Fortschreiten auf dem Weg des vom Zweiten Vatikanischen Konzil konzipierten und vorgeschriebenen interkulturellen und -religiösen Dialogs die vielfältig zusammengesetzten, global vernetzten Gesellschaften der Erde keine Zukunft haben – weder bei uns noch sonst wo gibt es eine Alternative zu ehrlichem, kritisch-offenem Dialog für das gedeihliche Zusammenleben in Verschiedenheit – es bliebe nur deKampf der Kulturen.“ Troll setzt hier eine Dialogbereitschaft seitens der islamischen Theologen voraus, die es in der Realität kaum gibt. Der Islam fühlt sich als letzte Offenbarung überlegen. Bei Troll ist der Dialog eine Notwendigkeit, da er jegliche zusätzliche Konfrontation mit dem Islam vermeiden möchte. Bei einem kürzlich in Mainz geführten christlich-islamischen Dialog betonte Troll, man habe universale Werte gemeinsam durchzusetzen gegen „jenen Humanismus, der die Religion aus der öffentlichen Sphäre her-

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ausdrängen will“. Aber nicht nur die Dialektik des religiösen Dialogs zwischen dem schuldbewussten Okzident und dem schuldzuweisenden Orient verdient unsere Aufmerksamkeit. Es gibt im heutigen Islam Versuche, die Kirchen im Okzident soweit zu instrumentalisieren, dass ihnen von islamischer Seite eine gemeinsame Plattform angeboten wird, um den dekadenten und ausbeuterischen Westen zu bekämpfen. Hierzu ein Beispiel: Der Vorsitzende des Hohen Rates der Schi’iten im Libanon, Muhammad Mahdi Schams-a-Din, hat im Jahre 1996 einem Aufsatz „Der islamischchristliche Dialog: die Notwendigkeit des Wagnisses“ veröffentlicht, der in großen Auszügen von Prof. Adel Khoury in der Festschrift für Sma’il Balic wiedergegeben wurde. Darin erkennt der Autor drei Dialogkreise zwischen Muslimen und Christen. Der Dialog der Kriege ist für ihn Vergangenheit, da beide Religionen ihre politische Kraft eingebüßt haben. (Ich stimme ihm im Bezug auf den Islam nur bedingt zu.) Der theologische Dialog hat keine Zukunft, da beide Religionen dogmatisch unvereinbar bleiben werden. Es bleibt also der Dialog des Zusammenlebens beider Religionen in den jeweiligen sozio-politischen Systemen, sowohl in Europa als auch im Nahen Osten. Schams-a-Din erkennt


Orient und Okzident: Schuldzuweisung gegen Schuldbekenntnis

für beide Religionen die gemeinsame Gefahr der materialistischen Dekadenz und der Säkularisierung, die zu bekämpfen wären. Er verschweigt dabei, dass er die westliche Kultur und die Verwestlichung in der arabischen Welt im Auge hat. Schams-a-Din scheut sich nicht, die gemeinsame Plattform auf der Judenfeindschaft errichten zu wollen. Er hebt daher die Rezepierung der christlichen Judenfeindschaft im Koran hervor: „die ablehnende Haltung der Juden Jesus gegenüber und ihre Verleugnung seiner Botschaft, ihre ungeheuerliche Verleumdung gegenüber Maria und die Intrigen der Juden gegen Jesus um ihn zu töten“. In seinem Fragekatalog zum Dialog stellt er unverfroren die folgenden Fragen: „Welche Haltung diktiert der Glaube im Bezug auf die Frage des alten und neuen Imperialismus?“ Aus dem nicht übersetzten Text geht hervor dass er die Palästinafrage und den

„Siedlerimperialismus“ meint. Die andere Frage lautet: „Welche Haltung diktiert der Glaube im Bezug auf den Rassismus?“ Auch hier geht aus der nicht übersetzten Orginalfassung hervor, dass er den „zionistischen Rassismus“ meint. Die Marschroute wird also deutlich. Das koranisch rezipierte Christentum soll den Dialog offenbar attraktiver machen. Der Preis für die gemeinsame Plattform ist aber die Judenfeindschaft. Die im traditionellen Islam verbürgte Gleichbehandlung der Juden und Christen als ahl-al-Dhimma, wird somit aufgehoben. Es bleibt zu hoffen, dass die katholischen Theologen, die den Dialog mit dem Islam aus der Enzyklika „Nostrae Aetate“ des 2. Vatikankonzil ableiten, gleichzeitig die dort erwähnten Passagen zum Abbau der christlichen Judenfeindschaft vor Augen haben. Unser Beispiel zeigt, dass Schuldgefühle auch zur Blindheit verführen könnten.

Zusammenfassung Die Beziehungsgeschichte zwischen Orient und Okzident war und ist durch eine lange Kette von gegensätzlichen Wahrnehmungen, aber auch von zeitweiliger gegenseitiger Achtung gekennzeichnet. Oft wurden die Reformation, der Rationalismus, die Aufklärung oder

die Werte der Französischen Revolution als Erklärungsmodelle hinzugezogen, um den zivilisatorischen Vorsprung des Okzidents gegenüber dem Orient zu vermitteln. Aus der Krise des Osmanischen Reiches seit dem späten 17. Jahrhundert folgerte man in Istanbul, dass man den

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Mordechay Lewy

Okzident nachahmen sollte, um Anschluss an die Moderne zu finden. Dieser Versuch setzte die Anerkennung der eigenen Schwäche und Unzulänglichkeit voraus. Es war der Machterhaltungstrieb, der die osmanische Herrschaft zu dieser Erkenntnis führte, wobei man auch religiöse Bedenken manchmal beiseite ließ. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde aber zunehmend klar, dass die Nachahmung des Okzidents eine beträchtliche Modernisierung herbeibrachte, aber eine Verwestlichung, d.h. Verinnerlichung von westlichen Werten, kaum erreicht wurde. Westliche Modernisierung kam in den Verruf, nur den autokratischen arabischen Regimen beim Machterhalt förderlich zu sein. Die breite Masse in der arabischen Welt sah die Moderne als repressive Instrumente ihrer Herrscher. Die eklektische Nachahmung des Westens war zum Scheitern verurteilt und wurde mit zunehmender Rückbesinnung und agressiver Interpretation des Islam kompensiert. Eigene Unzulänglichkeit wurde nicht mehr zugegeben. Die Schuldzuweisung an allem Übel wurde dem Westen und seinen Agenten zugeschoben. Im Westen, der selbst in eine postmoderne Orientierungskrise (Beliebigkeit der Werte) geraten ist, weiss man nicht genau wie man mit die-

sen Schuldzuweisungen umgehen soll. Das westliche Dilemma wird deutlicher angesichts des zivilisatorischen Erbes des Christentums und der Aufklärung. Eine Kultur, die Schuldbekenntnis und Selbstkritik gewohnt ist, neigt auch dazu, die an sie gerichteten Schuldzuweisungen ernst zu nehmen. Ich meine, dass mit zunehmender Aggression des islamistischen Orients, sich der Okzident aus eigenem Erhaltungstrieb zurückbesinnen muss und dem geistigen und politischen Konflikt mit dem Orient letztendlich nicht ausweichen kann. Der erste Schritt wäre, das Kind beim Namen zu nennen und zu konzidieren, dass wir uns in einer Konfrontation befinden, die wir uns nicht ausgesucht haben. Wir sollten dabei mit Umsicht und Entschlossenheit vorgehen, ohne uns selbst zu verleugnen. Durch behutsames Vorgehen könnte man auch eine Entwicklung vermeiden, die Heine in den Versen „An Edom“ schon antizipiert hatte. Seine Verse waren zwar auf den Konflikt zwischen Juden und Christen gemünzt, aber im Konflikt mit der arabisch-islamischen Welt könnten sie sich bewahrheiten: Jetzt wird unsre Freundschaft fester, Und noch täglich nimmt sie zu; Denn ich selbst begann zu rasen, Und ich werde fast wie Du.

Mordechay Lewy ist Gesandter der Botschaft des Staates Israel in Berlin.

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Vertreibung, Flucht und ethnische Säuberung – europäische und amerikanische Orientierungsprobleme gegenüber Nationalitätenkonflikten von Klaus Faber

Dass es in der Vergangenheit an Aufklärungsmaterial und Informationen zur Vertreibung der Deutschen aus den früheren ostdeutschen Gebieten, aus Ostmittel-, Ost- und Südosteuropa gefehlt habe, lässt sich kaum behaupten. Amtliche und nicht-amtliche Dokumentationen sowie Schilderungen der Ereignisse oder Zeitzeugenberichte haben sich bereits am Ende der 40er Jahre des letzten Jahrhunderts ausführlich mit der Vertreibung der Deutschen im 2. Weltkrieg oder in den ersten Jahren nach diesem Krieg befasst. Von Anfang an – mit der Zeit allerdings deutlich zunehmend – bildete die Vorgeschichte zur Vertreibung der Deutschen – die Unterdrückungs- und Umsiedlungspolitik des deutschen NSStaates in Tschechien, Polen und Osteuropa sowie der Völkermord an den Juden – einen Teil der historischen Interpretation und Wahrnehmung in Deutschland. Der deutsche Generalplan Ost und andere vergleichbare Dokumente machten die langfristige Zielsetzung Hitlerdeutschlands in Ost-

europa deutlich. Die deutsche Nationalität sollte danach schrittweise die nicht-deutschen Völker verdrängen und nach Osten transferieren. Jalta und Potsdam haben die umgekehrte Bewegung – die Vertreibung der Deutschen – vorbereitet und legitimiert. Vertreibung und Umsiedlung betrafen nicht nur die Deutschen – in Teilen ihres früheren Staatsgebiets oder als Minderheit in der Sowjetunion, in Polen, Rumänien, Jugoslawien, Ungarn und in der Tschechoslowakei. Auch die ungarische Minderheit in der Tschechoslowakei, in Jugoslawien, in Rumänien oder in der Karpatho-Ukraine, die der Sowjetunion angegliedert wurde, war betroffen. Selbst Nationalitäten, die zur Siegerseite gehörten, wurden einbezogen, etwa Teile der slowakischen Minderheit in Ungarn, die in die Slowakei „zurückkehrten“, und die polnische Minderheit im ehemaligen Ostpolen, die in Teilregionen Weißrußlands und Litauens – jeweils in den Grenzen nach 1945 – vor der deutsch-sowjetischen Teilung Polens die Mehrheit gebildet hatte. In

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Klaus Faber

der Mitte und im Osten Europas sollten, soweit möglich, im Rahmen der von den Siegermächten gestalteten Nachkriegsordnung nach Nationalitäten gegliederte, homogene Territorialeinheiten entstehen. Gegenüber den Deutschen war dabei am wenigsten Rücksicht zu nehmen, wie dies Stalin bereits auf der JaltaKonferenz andeutete. Er wies damals auf die in den Ostgebieten zu erwartenden deutschen Verluste durch Tod und Flucht während des sowjetischen Vormarsches hin. Das dieser Prognose entsprechende tatsächliche Schicksal der deutschen Zivilbevölkerung in dem von sowjetischen Truppen besetzten Teil Deutschlands in den letzten Kriegsmonaten des Jahres 1945 war der politisch-militärischen Führung in Moskau selbstverständlich bekannt. Die Sowjetunion warnte in einer Erklärung vor Aufnahme der Kriegshandlungen gegen Japan dieses Land vor den Schrecken, die nach dem Beispiel Deutschlands auch Japan erleiden werde, falls es den Krieg fortsetzen wolle. Die Zahl von etwa zwei Millionen vergewaltigter Frauen, von der einige Historiker ausgehen, zeigt einen Teilaspekt der sowjetischen Kriegsgreuel und macht gleichzeitig die allgemeine Aggressionstendenz gegen Zivilisten während der letzten Kriegsphase in Deutschland deutlich. Der antikommu-

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nistische Grundkonsens in der Gründungsphase des westdeutschen Teilstaates beruht in einem beachtlichen Umfang auf diesen Kriegserfahrungen. Vor allem nach dem Abschluss der Verträge von Warschau und Moskau in den 70er Jahren fand das Vertreibungsthema in der deutschen Politik und Publizistik zunächst nur noch wenig Aufmerksamkeit. Das seitdem wohl vorherrschende Erklärungsmuster zieht historisch Bilanz: Hitlers Angriffskrieg, die deutschen Völkermordverbrechen, Unterdrückungsmaßnahmen und Umsiedlungsaktionen führten zur Vertreibung der Deutschen und zu den deutschen Gebietsverlusten. Die Erinnerung an die Vertreibungsgreuel verblasste. Die DDR versuchte nicht ohne Erfolg, sie durch systematische geschichtspolitische Anstrengungen zu löschen. Die Neuordnung der europäischen Landkarte nach der Wiedervereinigung, der Auflösung der Sowjetunion, der Tschechoslowakei und des früheren Jugoslawiens hat an dem nach 1990 weiter bestehenden Konsens nichts geändert, Deutschlands Grenzen politisch als endgültig zu akzeptieren. Revisionistische, auf Rückgewinnung verlorenen Territoriums gerichtete Bestrebungen finden im Deutschland des neuen Jahrhunderts bislang nur wenige Anhänger. Die aktuelle literarisch-politische Diskussion über die Vertreibung der


Vertreibung, Flucht und ethnische Säuberung

Deutschen im Osten – vom GustloffUntergang bis zu den Benesch-Dekreten – sehen einige Debattenteilnehmer wohl als ein Normalisierungselement in der deutschen Identitätsfindung. Die Vertreibungsverbrechen aus der deutschen Geschichtsüberlieferung auszublenden, war in der Tat keine auf die Dauer Erfolg versprechende Konzeption. Verbrechen – auch und gerade Verbrechen dieser Dimension – können nicht aufgerechnet werden, wie z.B. die Auseinandersetzung mit dem Terrorismus zeigt. Tragfähige Kooperations- und Freundschaftsbeziehungen zwischen Staaten und Völkern sind nicht auf dem Vergessen aufzubauen. Sie müssen zumindest in einigen Grundelementen auf gemeinsamer Erinnerung beruhen. Manche Untertöne in der deutschen Vertreibungsdebatte geben allerdings Anlass zu Fragen. Führt z.B. der zuweilen mit außenpolitischem Druck verbundene Appell, die Benesch-Dekrete zur Enteignung und Vertreibung der Deutschen aufzuheben, nicht doch mit einer gewissen Konsequenz zu Anschlussforderungen nach einem Rückkehrrecht? Müsste ein derartiges Rückkehrrecht, wiederum folgerichtig, nicht in gleicher Weise den Flüchtlingen und ihren Nachkommen aus den früheren Ostgebieten Deutschlands und aus anderen europäischen Regionen einge-

räumt werden? Die Antwort auf derartige Fragen könnte positive oder negative Auswirkungen auf die Stabilität der europäischen Staatenwelt und der einzelnen Staaten haben. Sie steht auch in einem inneren Zusammenhang zur politischen Position der EU-Staaten und der USA gegenüber den Bevölkerungsbewegungen sowie den Lösungsansätzen nach dem Auseinanderbrechen des früheren Jugoslawiens oder der Teilung Zyperns. Sie führt damit zudem zu Grundsatzproblemen des inner- und zwischenstaatlichen Zusammenlebens von Angehörigen verschiedener Ethnien und Kulturkreise. Gegen den thematischen Debattenzusammenhang vom Vertreibungsunrecht gegenüber den Deutschen bis zur Lösung der Konflikte in Bosnien, im Kosowo oder in Zypern könnte eingewandt werden, die abstrakte Anerkennung eines Rechts auf Rückgabe früheren Eigentums und auf Rückkehr sei nicht unbedingt gleichbedeutend mit der Rückgabe oder der Rückkehr selbst; das Bekenntnis zu den Vorzügen eines multiethnischen und multikulturellen Zusammenlebens bedeute nicht, dass fünfzig Jahre oder mehr Jahre zurückliegende Flucht- und Vertreibungsvorgänge, die nach der heute üblichen Terminologie zu einer „ethnischen Säuberung“ führten, rückgängig gemacht werden sollten. Gegen eine derartige

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Klaus Faber

Aufteilung zwischen grundsätzlichsymbolischer Position und konkreter Politik spricht aber die Dynamik, die mit einer prinzipiell-moralisch angelegten Argumentation verbunden sein kann, und ebenso die praktische Erfahrung. Von der abstrakten Anerkennung eines Rückkehrrechts bis zur Realisierungsforderung ist es häufig nur ein kleiner Schritt. Was die einen als abstrakt-grundsätzliche Position verstanden wissen wollen, sehen andere als durchsetzbaren Rechtsanspruch. Auch uns Deutschen sollte es deshalb möglich sein, Zurückhaltung und Zögern etwa auf der tschechischen Seite bei solchen Fragen zu verstehen. Migrationsvorgänge und die daraus resultierende Begegnung und Verbindung verschiedener Ethnien und Kulturen sind in der Menschheitsgeschichte eher die Regel als die Ausnahme. Die räumliche Trennung nach langem Zusammenleben, Flucht und Vertreibung – sowie Schlimmeres – gehören auf allen Kontinenten aber ebenso zum historischen Erfahrungsbestand; sie sind keinesfalls ein Spezifikum des christlich-abendländischen oder europäisch-amerikanischen Kreises. Seit dem 19. Jahrhundert haben mehrere Millionen Muslime die früher osmanischen Gebiete von der Donau bis zum heute noch türkischen Ostthrakien verlassen. „Flucht“, „Vertrei-

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bung“ oder – nach neuer Sprachkonvention – „ethnische Säuberung“ sind dafür die richtigen Bezeichnungen, vor allem wenn man die Verluste der muslimischen Zivilbevölkerung in diesen Regionen im gleichen Zeitraum durch Kriegsakte und Verfolgung berücksichtigt. Einen ähnlichen muslimischen Exodus (auch von Teilen der tschetschenischen Bevölkerung) hat seit dem 19. Jahrhundert der Kaukasus erlebt, mit umgekehrten Vorzeichen, was ethnisch-religiöse Unterdrückung und Verfolgung anbelangt, Armenien. Der griechische Ministerpräsident Venizelos und Atatürk wußten, weshalb sie sich in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts auf einen Bevölkerungsaustausch einigten, der nur wenige Muslime in Griechenland und, dem Anteil nach, noch weniger Griechen in der Türkei zurückließ. Niemand wird ernsthaft vorschlagen, die Bevölkerungsbewegungen zwischen Griechenland und der Türkei nach etwa achtzig Jahren wieder rückgängig zu machen. Atatürks Versuch, eine islamische Gesellschaft zu säkularisieren, wäre wohl kaum in dem bei allen Rückschlägen bis heute zu erkennendem Umfang erfolgreich gewesen, wenn Auseinandersetzungen mit einer starken nicht-muslimischen Minderheit die türkische Innenpolitik geprägt hätten. Das alles in allem sich


Vertreibung, Flucht und ethnische Säuberung

gut entwickelnde deutsch-polnische und deutsch-tschechische Verhältnis beruht auch auf der Sicherheit in Grenzfragen und diese wiederum darauf, dass keine Irridentabestrebungen nationaler Minderheiten die Grenzen in Frage stellen. Der Völkermord des deutschen Staates an den Juden muß Gegenstand der Erinnerungskultur in Deutschland und in anderen Ländern bleiben. Ebenso spricht nichts dafür, aus der kollektiven Erinnerung die während und nach dem 2. Weltkrieg begangenen Verfolgungsund Vertreibungsverbrechen Hitlerdeutschlands, der Sowjetunion, Polens, der Tschechoslowakei oder Jugoslawiens auszunehmen. Die rückblickende Kritik an der Vertreibung der Deutschen wird sich dabei – in Deutschland und in anderen Ländern – in erster Linie auf die in jeder Hinsicht inhumane Durchführung der Vertreibung, aber zugleich auf das Prinzip der Trennung nach Nationalitäten beziehen. Zwischen diesen beiden Aspekten ist allerdings deutlich zu unterscheiden. Die Gründung neuer Nationalstaaten in Ostmittel- und Osteuropa nach dem 1. Weltkrieg wird wohl kaum pauschal negativ beurteilt werden können, auch nicht der dabei – mit Mängeln und zum Teil parteilich – verfolgte Grundsatz der Grenzziehung nach Nationalitätenund Sprachzonen. Es besteht kein

Anlass, etwa die Verhältnisse im Habsburgerstaat mit seinen zahllosen, am Ende immer aggressiver geführten Nationalitäten- und Sprachkonflikten posthum romantisch zu verklären. Noch weniger wäre eine beschönigende Sicht der Zustände vor dem 1. Weltkrieg z.B. in der preußischen Provinz Posen oder im russischen Generalgouvernement Warschau zu rechtfertigen. Dass nach einem verlorenen Krieg der unterlegene Staat, vor allem wenn er, wie Deutschland, als Aggressor angesehen werden konnte, Territorialverluste hinzunehmen hat, wird trotz anderslautender Grundsatzerklärungen verschiedener Herkunft auch in den Konflikten nach 1945 nicht unbedingt widerlegt. Multiethnische und multikulturelle Formen des Zusammenlebens in einem Staat oder in einer Staatengemeinschaft werden auf längere Sicht zunehmend an Bedeutung gewinnen – trotz der nicht zu übersehenden aktuellen Trennungs- und Abgrenzungstendenzen. Unverzichtbar dafür ist allerdings ein Mindestmaß an Übereinstimmung in den Grundregeln für das Zusammenleben – in dieser Definition ein Mindestmaß an „Integration“. Ethnische oder ethnisch-religiöse Gruppen können ohne einen Basiskonsens zur gegenseitigen Tolerierung und zur politischen Ordnung auf die

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Klaus Faber

Dauer nicht in einem gemeinsamen Staat zusammenleben. Dass die dafür notwendigen Bedingungen nach Bürger- oder Sezessionskriegen und in Nationalitätenkonflikten insbesondere dann nicht binnen kurzer Zeit hergestellt werden können, wenn starke religiöse Faktoren die ethnische Differenz mitbestimmen, ist eine Erfahrung, die Europäer und Amerikaner zur Zeit nicht nur auf dem Balkan machen. Der Zeitfaktor hat bei Prognosen zur künftigen Entwicklung des Verhältnisses zwischen verschiedenen Nationalitäten durchaus praktische Bedeutung. Wenn eine ausreichend positive Tendenz in absehbarer Zeit nicht zu erwarten und ein halbwegs erträgliches Nebeneinander verschiedener Ethnien in einem Staat auch auf längere Sicht nur durch eine internationale Intervention zu sichern wäre, verstärkt dies die Argumente für eine räumliche Trennung – soweit dafür nach der jeweiligen politischen Konstellation Optionen überhaupt eröffnet sind (was, um in diesem Zusammenhang Beispiele zu nennen, im jetzt noch überwiegend uigurisch besiedelten Sinkiang oder in Tschetschenien nicht der Fall ist). Europäer und Amerikaner müssen sich deshalb fragen, welche Ziele sie in den Nationalitätenkonflikten in Bosnien, im Kosowo oder in Mazedonien

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verfolgen und welche Mittel sie dafür einsetzen wollen. Wenn, wie es zur Zeit im Kosowo geschieht, die internationale Interventionsadministration die Wiederherstellung ursprünglich von Serben bewohnter Siedlungen fördert, die im Kosowo-Krieg von den Einwohnern der ausschließlich albanischen Nachbardörfer zerstört worden waren, müssen die politisch-militärischen Konsequenzen – der dauerhaft sicherzustellende Schutz durch internationale Truppen – klar sein. Europäer und Amerikaner sollten sich in einer derartigen Lage der Frage stellen, wie lange sie den dafür zu entrichtenden Preis bezahlen wollen und wie mögliche Alternativen für eine stabile Lösung (unter Einschluss von territorialen Teilungsmodellen) aussehen könnten. Flucht und Vertreibung sowie vor allem die von den Amerikanern unterstützte kroatisch-bosnische Offensive in der letzen Phase des Krieges in Bosnien und Herzegowina haben in diesem Land zu einer Territorialverteilung zwischen dem muslimisch-kroatischen Staat und der „Serbischen Republik“ geführt. Ihre Bedeutung soll jedoch durch eine Rückbesiedlung wieder relativiert werden, die sich auch an den Vorkriegsverhältnissen orientiert. Es lässt sich kaum behaupten, dass in diesen Fragen eine stringente, langfristig tragfähige und von Europäern sowie


Vertreibung, Flucht und ethnische Säuberung

Amerikanern gemeinsam getragene Politiklinie zu erkennen ist. Der damit beschriebene Koordinations- und Konzeptionsmangel besteht im Jugoslawienkonflikt allerdings von Anfang an. Ein Rückblick auf das Vertreibungsunrecht am Ende und nach dem 2. Weltkrieg, dem vor allem die Deutschen ausgesetzt waren, sollte auch die aktuellen Erfahrungen mit Nationalitätenkonflikten etwa auf dem Balkan einbeziehen. Er hat dabei allerdings nicht nur das angestrebte Ziel des multiethnischen Zusammenlebens, sondern ebenso den Umsetzungsstand und die künftigen Realisierungschancen zu berücksichtigen. Welche Alternativen hatte, vom heutigen Standpunkt aus gesehen, 1945 z.B. Tschechien (bzw. die damals bestehende Tschechoslowakei), das wegen der Benesch-Dekrete in der neuen Vertreibungsdebatte zur Zeit eine besondere Rolle spielt? Einen Teil der sudetendeutschen Gebiete bei Deutschland und Österreich zu belassen, wäre damals wohl weder in der Tschechoslowakei noch in anderen Ländern der Anti-Hitler-Koaliton verstanden worden. Sollte die Tschechoslowakei darauf setzen, die 3,5 Millionen Sudetendeutschen in den tschechoslowakischen Staat – unter nicht-kommunistischer oder unter kommunistischer Führung – zu integrieren? Wie wäre

eine derartige Politik im Verhältnis zu Polen bewertet worden, nachdem die früher deutschen, nach 1945 von Polen verwalteten und besiedelten Ostgebiete bereits im Krieg einen größeren Teil ihrer ursprünglichen Bevölkerung verloren hatten? Dass eine „Transfer“Lösung, wie die Entfernung der Sudetendeutschen aus der Tschechoslowakei schon während des Krieges von der Londoner Exilregierung genannt wurde, zu den in Betracht kommenden Varianten zählte, war im Kreis der AntiHitler-Koalition eine weit verbreitete Position. Stalin hatte während des Krieges – also vor der Vertreibung der Sudetendeutschen – Massendeportationen durchführen lassen, deren Opfer verschiedene Völker und Nationalitäten in der Sowjetunion aufgrund kaum im einzelnen begründeter Loyalitätszweifel wurden. Fluchtbewegungen und Vertreibungen, die ungefähr 20 Millionen Menschen betrafen, fanden kurze Zeit nach der Vertreibung der Deutschen auf dem indischen Subkontinent nach der Aufteilung von Britisch-Indien statt. Dies alles kann den „Transfer“ der Sudetendeutschen nicht rechtfertigen – und schon gar nicht die Verbrechen bei der nach Kriegsende vollzogenen Vertreibung. Ein gewisses Maß an Verständnis für die damalige tschechoslowakische Position, nicht weiter mit 3,5

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Millionen Deutschen in einem Staatsverband leben zu wollen, ist aber dennoch möglich. In der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen wurden die Sudetendeutschen, was die Minderheitenrechte als eigene Nationalität anbelangt, von dem neuen tschechoslowakischen Staat unterdrückt. Hitlerdeutschland gab sich 1938 jedoch nicht mit der Abtretung der sudetendeutschen Gebiete im Münchner Abkommen zufrieden. Das ein Jahr später errichtete Protektorat Böhmen und Mähren war ein deutsches Instrument, das über verschiedene Zwischenschritte die Auslöschung der tschechischen Nationalität zum Ziel hatte. Ein junger deutscher Revolutionär – sein Name war Karl Marx – hatte 1848 Abgeordneten aus Böhmen, die sich als Tschechen definierten und deshalb die Teilnahme an der deutschen Nationalversammlung in Frankfurt am Main

ablehnten, eine militärische Reaktion der deutschen Revolution angedroht. Er hatte dabei eher beiläufig, aber konsequent, die Existenz einer tschechischen Nation in Frage gestellt und mit dieser Auffassung im deutschen Umfeld damals vermutlich keine isolierte Einzelmeinung vertreten. Vor dem damit skizzierten Hintergrund sollten wir in der neuen inner- und außerdeutschen Vertreibungsdebatte, vielleicht ebenso in unserer eigenen Erinnerungskultur, zumindest einige der Positionen – vor allem die Ängste – einer kleinen Nation verstehen, deren Überleben vor nicht allzu langer Zeit von Deutschland bedroht war. Differenziende Lösungsansätze, die historische Erfahrungen, darunter die eigene Geschichte im 19. und 20. Jahrhundert, nicht ausblenden, könnten auch für aktuelle Konflikte in anderen Regionen angemessen sein.

Klaus Faber, Rechtsanwalt in Potsdam und Geschäftsführender Vorsitzender des Wissenschaftsforums der Sozialdemokratie in Berlin, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern. Der Artikel erschien zuerst in Frankfurter Hefte/Neue Gesellschaft 12/2002.

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hochschulschriften

Harald L. Sempf

Harald L. Sempf

Regionale Wirtschaftspolitik vor dem Hintergrund des regionalen Standortwettbewerbs

Eine Untersuchung am Beispiel des Landes Brandenburg

weber • brandenburgische hochschulschriften

Regionale Wirtschaftspolitik vor dem Hintergrund des regionalen Standortwettbewerbs Eine Untersuchung am Beispiel des Landes Brandenburg 352 Seiten, Paperback, 29,80 € ISBN 3-936130-03-5

Die in der Bundesrepublik praktizierte Regionale Wirtschaftspolitik gerät hinsichtlich ihrer Wirksamkeit und Effizienz insbesondere in den neuen Bundesländern zunehmend in die wissenschaftliche Kritik. In dem Buch werden der Nachweis bestehender regionaler Disparitäten auf unterschiedlichen Ebenen innerhalb der EU geführt, regionalökonomisch relevante Begrifflichkeiten diskutiert und die theoretischen Grundlagen der Regionalen Wirtschaftspolitik verdichtet dargestellt. Am Beispiel des Landes Brandenburg untersucht der Autor, ob eine Neuorientierung der bisherigen Regionalen Wirtschaftspolitik vor dem Hintergrund des zunehmenden Wettbewerbs der Regionen geboten scheint. Raumordnung, Regionalentwicklung und Regionale Wirtschaftspolitik werden dabei ins Spannungsfeld zueinander gesetzt. Die brandenburgische Strategie, Raumordnung und Regionale Wirtschaftspolitik zum Leitbild der Dezentralen Konzentration zu vernetzen, wird dabei einer kritischen Untersuchung unterzogen. Anhand von ausgewählten Indikatoren werden die wirtschaftlichen Ergebnisse in Brandenburg denen in den anderen Neuen Bundesländern gegenübergestellt, die wirtschaftliche Entwicklung Brandenburgs nach regionalen Gesichtspunkten analysiert und das Erreichen der Ziele nach Leitbildkriterien überprüft und bewertet. Die Untersuchung formuliert Anforderungen an eine langfristig erfolgversprechende Regionale Wirtschaftspolitik in Brandenburg, die sowohl „leitbildgerechte, bzw. -ergänzende“ als auch „nicht leitbildkonforme“ Aspekte enthalten, die jedoch auch eine Neuorientierung nicht ausschließen, die mit einer vollständigen Abkehr vom Leitbild verbunden wäre. Damit richtet sich das Buch gleichermaßen an Praktiker in Politik und Verwaltung sowie Wissenschaftler aus den Bereichen Regionale Wirtschaftspolitik, Regionalwissenschaft und Landesplanung.

verlag kai weber brandenburgische hochschulschriften hebbelstrasse 39 · 14469 potsdam fon 03 31 – 200 87 22 · fax 200 87 24 e - m a i l : i n f o @ w e b e r- m e d i e n . d e Wir liefern versandkostenfrei auf Rechnung.


SPD-Landesverband Brandenburg, Friedrich-Ebert-Straße 61, 14469 Potsdam PVSt, DPAG, Entgelt bezahlt, A47550

Bislang erschienen: 1. Zukunft der brandenburgischen Hochschulpolitik* 2. Sozialer Rechtsstaat* 3. Informationsgesellschaft* 4. Verwaltungsreform* 5. Arbeit und Wirtschaft* 6. Rechtsextremismus* 7. Brandenburg – die neue Mitte Europas* 8. Was ist soziale Gerechtigkeit? 9. Bildungs- und Wissensoffensive 10. Zukunftsregion Brandenburg 11. Wirtschaft und Umwelt 12. Frauenbilder 13. Kräfteverhältnisse – brandenburgisches Parteiensystem 14. Brandenburgische Identitäten 15. Der Islam und der Westen 16. Bilanz 4 Jahre sozialdemokratisch-bündnisgrünes Reformprojekt * leider vergriffen


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