perspektive21 - Heft 24

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HEFT 24 AUGUST 2004 www.perspektive21.de

SPD-Landesverband Brandenburg, Friedrich-Ebert-Straße 61, 14469 Potsdam PVST, DPAG, Entgelt bezahlt, A47550

Seit 1997 erscheint „perspektive 21 – Brandenburgische Hefte für Wissenschaft & Politik“. Wenn Sie Interesse an bisher erschienenen Ausgaben haben, können Sie ältere Exemplare auf unserer Homepage www.perspektive21.de als pdf-Datei herunterladen. Einzelne Exemplare von bisher erschienenen Ausgaben schicken wir Ihnen gerne auch auf Wunsch kostenlos zu. Senden sie uns bitte eine E-Mail an perspektive-21@spd.de.

DOKUMENTATION: Von Finnland lernnen?!

BRANDENBURGISCHE HEFTE FÜR WISSENSCHAFT UND POLITIK

DOKUMENTATION

Von Finnland lernen?! MATTHIAS PLATZECK PAAVO LIPPONEN TOBIAS DÜRR

: Fortschritt neu denken

: Brandenburg und das finnische Modell

AILA-LEENA MATTHIES STEFFEN REICHE

HEFT 24 AUGUST 2004

Zur Zeit sind folgende Titel lieferbar: Heft 13 Kräfteverhältnisse – Brandenburgisches Parteiensystem Heft 14 Brandenburgische Identitäten Heft 15 Der Islam und der Westen Heft 16 Bilanz – Vier Jahre sozialdemokratisch-bündnisgrünes Reformprojekt Heft 17 Ende der Nachwendezeit. PDS am Ende? Heft 18 Der Osten und die Berliner Republik Heft 19 Trampolin oder Hängematte? Die Modernisierung des Sozialstaates. Heft 20 Der Letzte macht das Licht aus?! Heft 21/22 Entscheidung im Osten: Innovation oder Niedriglohn? Heft 23 Kinder? Kinder!

: Finnland ist mehr als Pisa

: Wo ein Rad ins andere greift

: Finnische Inseln


Das neue Deutschland

Das Debattenmagazin Wieviel Einspruch verträgt der Mainstream? Heute regieren die 68er – aber was kommt, wenn sie fertig haben? Die Berliner Republik ist der Ort für eine neue politische Generation: undogmatisch, pragmatisch, progressiv. Weil jede Zeit ihre eigenen Antworten braucht.

Kr ise im Westen, Umbr uch im Osten – wie wir gemeinsam Chancen beg reifen und Refor men durchsetzen. Mit Beiträgen von: Frank Decker, Wolfgang Engler, Matthias Platzeck, Uwe Rada, Landolf Scherzer, Alexander Thumf ar t und vielen anderen

Bezug der bereits erschienenen Hefte möglich

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Die Berliner Republik erscheint alle zwei Monate. Sie ist zum Preis von 5,- EUR im Zeitschriftenhandel erhältlich oder im Abonnement zu beziehen: Das neue Deutschland Die Zukunft als Chance Herausgegeben von Tanja Busse und Tobias Dürr 336 Seiten. Broschur. s 15,90 (D) ISBN 3-351-02553-X

als Jahresabo zum Preis von 30,- EUR als Studentenjahresabo zum Preis von 25,- EUR

aufbau

V E R L A G

W W W. A U F B A U - V E R L A G . D E

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[ editorial ]

Von Finnland lernen?! ach der Pisa-Studie der OECD war Finnland in aller Munde. Doch bei genauerem Hinsehen zeigt sich, dass Finnland weit mehr zu bieten hat als ein erfolgreiches Bildungssystem. Bereits im Babyalter setzt eine intensive Beratung von Eltern und Kindern an. Und auch nach der Schule versprechen finnische Universitäten und Unternehmen eine enge Kooperation, die eine wichtige Voraussetzung für das „finnische Wirtschaftswunder“ waren. Ende Mai 2004 besuchte Matthias Platzeck Finnland. Er wollte sich vor Ort ein Bild machen über ein Land, das in den vergangenen Jahren in beispielhafter Weise wirtschaftliche Innovation und sozialstaatliche Orientierung miteinander verbunden hat. Zweifellos lassen sich Modelle und Erfahrungen aus anderen Ländern nicht 1:1 übertragen. Denkanstöße und neue Ideen lassen sich gleichwohl daraus ziehen. Vor allem auch vor dem Hintergrund, dass 15 Jahre nach der Wende so sehr viel vom Westen nicht mehr gelernt werden kann. Aufgrund der großen Resonanz wollen wir mit dieser Sonderausgabe der Perspektive 21 die Finnland-Fahrt von Matthias Platzeck dokumentieren und einige Themen und Schlussfolgerungen im Zusammenhang darstellen. In diesem Heft beschreibt der Vorsitzende der Sozialdemokratischen Partei Finnlands, Paavo Lipponen, die Herausforderungen, vor der seine Regierung in den neunziger Jahren stand und wie wichtig Vertrauen in die eigenen Stärken ist. Aila-Leena Matthies untersucht das Zusammenspiel von Wirtschaft, Bildungswesen und Familienpolitik in Finnland. Matthias Platzeck berichtet über seine Eindrücke und Schlussfolgerungen seiner Finnland-Reise. Und Tobias Dürr verdeutlicht, welche politisch-strategischen Ziele die Finnen verfolgt haben und warum das finnische Beispiel ein Lehrstück für Brandenburg sein kann. Abschließend erläutert Steffen Reiche die Folgerungen, die sich aus dem Erfolg des finnischen Bildungssystems ziehen lassen.

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KLAUS NESS

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[ impressum ]

HERAUSGEBER

SPD-Landesverband Brandenburg Wissenschaftsforum der Sozialdemokratie in Berlin, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern e.V. REDAKTION

Klaus Ness (ViSdP), Ingo Decker, Tobias Dürr, Benjamin Ehlers, Klaus Faber, Tina Fischer, Klara Geywitz, Thomas Kralinski, Raimund Kropp, Lars Krumrey, Christian Maaß, Till Meyer, Manja Orlowski ANSCHRIFT

SPD-LANDESVERBAND

Friedrich-Ebert-Straße 61, 14469 Potsdam Telefon: 0331/200 93 -0 Telefax: 0331/270 85 35 ANSCHRIFT

WISSENSCHAFTSFORUM

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[ inhalt ]

Von Finnland lernen?! DOKUMENTATION

: Finnland ist mehr als Pisa oder: Das finnische Regine-Hildebrandt-Prinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5

MATTHIAS PLATZECK

: Fortschritt neu denken Die Sozialdemokraten stehen vor der Herausforderung, einen neuen gesellschaftlichen Konsens zu organisieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15

PAAVO LIPPONEN

TOBIAS DĂœRR : Brandenburg und das finnische Modell Warum regionale Entwicklung einer strategischen Vision bedarf . . . . . . . . . . 21

: Wo ein Rad ins andere greift Wie sich Wirtschaft, Bildung und Familienpolitik in Finnland gegenseitig auf die SprĂźnge helfen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31

AILA-LEENA MATTHIES

: Finnische Inseln Was Brandenburg aus Finnlands Bildungserfolgen lernen kann . . . . . . . . . . 47

STEFFEN REICHE

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Finnland ist mehr als Pisa ODER: DAS FINNISCHE REGINE-HILDEBRANDT-PRINZIP VON MATTHIAS PLATZECK

ie Seen liegen ruhig, Hügel durchziehen die Landschaft, Alleen und Bäume verwandeln das Land in ein grünes Meer. Große Städte gibt es in der kargen Landschaft kaum, ebenso wenig wie Bodenschätze. Die Bevölkerungsdichte ist gering, kleine Siedlungen säumen die Landstraßen. Der Menschenschlag, der hier lebt, ist eher ruhig und gelassen. Viel mussten sie mitmachen, zu Beginn der neunziger Jahre. Die Arbeitslosigkeit explodierte innerhalb von zwei Jahren von fast Null auf 20 Prozent. Die Wirtschaft ist eingebrochen, vor allem weil die Märkte im Osten – zusammen mit der Sowjetunion – über Nacht verschwunden waren. Und viele Menschen zogen und ziehen vom Land in die Städte. Alles erinnert ein wenig an Brandenburg, doch wir sind in Mittelfinnland, genauer gesagt in Jyväskylä. Was macht Finnland, was macht eine Region wie Jyväskylä so interessant für Brandenburg? Gemeinsam haben beide die Erfahrung, dass nach jahrelanger

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relativer wirtschaftlicher Stabilität alles anders kommen kann. Dass die Wirtschaft in unverstellbarer Härte und Geschwindigkeit einbrechen kann und vormals richtig Geglaubtes falsch ist. Das Beispiel Finnland lehrt aber auch, das wirtschaftlicher Aufbruch und Erfolg möglich sind. Die Arbeitslosigkeit ist heute nur noch halb so hoch wie Mitte der neunziger Jahre, Finnland

Potsdams Partnerstadt Jyväskylä: Die Stadt am See wächst. perspektive21

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[ matthias platzeck ]

gehört zu den wachstumsstärksten Ländern Europas, pro Kopf ist das Bruttosozialprodukt mittlerweile höher als in Deutschland. Seit Mitte der neunziger Jahre wächst Finnland schneller als der EU-Durchschnitt. In der Wettbewerbsfähigkeit hat sich das Land laut Weltwirtschaftsforum von Platz 25 auf Platz 1 vorgearbeitet. Nokia ist der Inbegriff des finnischen Wunders und heute an jedermanns Ohr. Wer kannte vor zehn, zwanzig Jahren schon irgendein finnisches Produkt? Jyväskylä – seit 20 Jahren Potsdams Partnerstadt – gehört heute zu den vier, fünf finnischen Boomregionen. Was haben die Finnen anders gemacht? Was lässt sich vom finnischen Beispiel lernen? Und vor allem: Was können Regionen tun, um in der globalen Wirtschaft mitzuhalten? Wie können sie Entwicklungen beeinflussen, die vermeintlich nicht oder kaum zu steuern Finnland Mit 338.000 km2 ist Finnland fast so groß wie Deutschland. Über 188.000 Seen bedecken ca. 10 Prozent des Landes. Finnland hat mit 5,2 Millionen Einwohnern eine Bevölkerungsdichte von lediglich 17 Menschen pro Quadratkilometern (zum Vergleich: Brandenburg von 88 Einwohnern pro Quadratkilometer). Die wichtigsten Städte sind Helsinki, Tampere, Turku, Oulu, Lahti und Jyväskylä. In der Hauptstadt Helsinki wohnen 555.000 Einwohner. 92 Prozent der Finnen sprechen Finnisch als Muttersprache, 6 Prozent Schwedisch. 62 Prozent der finnischen Haushalte haben einen PC, 47 Prozent einen Internetanschluss und 94 Prozent haben ein Mobiltelefon. 79 Prozent der Frauen zwischen 25 und 54 Jahren sind gehen einer Beschäftigung nach. Männer verdienen im Monat durchschnittlich 2.581 €, Frauen 2.065 €.

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[ finnland ist mehr als pisa ]

sind? Manch einer hat von Finnland schon durch die Pisa-Studie gehört. Doch Finnland ist mehr als Pisa. Faszinierend ist, wie es dort gelingt, günstige Wechselwirkungen zwischen guter Bildung und Ausbildung, sozialer Sicherheit und hoher Familienorientierung einerseits sowie wirtschaftlicher und technologischer Innovation andererseits zu organisieren.

des Hochschulbetriebes in Jyväskylä und machen die Universität zu einer der größten und begehrtesten in Finnland. Doch damit nicht genug. Die Hochschulen sind aus dem Elfenbein-

Mit Engagement und Elan Kommt man heute nach Jyväskylä, fällt einem als erstes die positive Grundstimmung auf. Die ganze Stadt ist in Bewegung. Jyväskylä ist für deutsche Verhältnisse eine junge Stadt: 1837 wurde sie gegründet. Kurz danach kam die Universität dazu, die 1994 um eine Fachhochschule ergänzt wurde. Und Jyväskylä wächst. Mittlerweile hat die Stadt über 80.000 Einwohner, davon etwa 20.000 Studenten. Ihr Bürgermeister ist ein engagierter Mann. Er ist für Schulen, für Kindergärten und die Gesundheitsversorgung verantwortlich. Und für regionale Wirtschaftsförderung. Jyväskylä hat sehr früh erkannt: Allein mit Holz – und davon gibt es wirklich reichlich – lässt sich die Zukunft nicht mehr gestalten. Die Stadt hat in ihren Studenten einen „Scheck“ auf die Zukunft entdeckt. Die Universität wurde ausgebaut – Nanotechnologie, Physik und Psychologie gehören heute zu den wichtigsten Standbeinen

Jyväskylä liegt in Mittelfinnland, etwa 300 km nördlich von Helsinki. Die Stadt wurde 1837 vom russischen Zaren Nikolaus I. gegründet und hat heute über 82.000 Einwohner. In Jyväskylä gibt es eine Universität und eine Fachhochschule mit zusammen über 20.000 Studenten. Die wichtigsten Branchen sind Papiermaschinen, Informations- und Kommunikationstechnologie, Umwelt- und Wellnesstechnologie. Zwischen Potsdam und Jyväskylä besteht seit 1980 eine Städtepartnerschaft. (Im Bild das Rathaus von Jyväskylä.) perspektive21

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[ matthias platzeck ]

turm der Wissenschaft ausgezogen. Nichts repräsentiert dies so sehr wie Agora. Hinter dem griechischen Namen verbirgt sich ein modernes, lichtdurchflutetes Gebäude am Ufer des Sees von Jyväskylä. Links von Agora hat sich Nokia niedergelassen, im Rücken das alte Unigelände. Am anderen Ufer des Sees – durch eine Brücke verbunden – findet sich der neue Campus der Uni. Das Agora-Gebäude selbst besteht aus drei Teilen. In einem Komplex hat sich die psychologische Fakultät niedergelassen, im Mittelteil wird geforscht, und im dritten Gebäudekomplex haben sich die ersten Firmen niedergelassen. Die Chefin der Firma Mobile Mirror liebt diese kurzen Wege. Sie gibt im Agora-Haus Vorlesungen, sie nimmt an Forschungsprojekten teil, und leitet ihr

Agora: Wo sich Wissenschaft, Forschung und Unternehmertum treffen.

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eigenes kleines Unternehmen. Sie profitiert von der Nähe und der Zusammenarbeit – und sie sucht sich in ihren Vorlesungen ihre Forschungsmitarbeiter und zukünftigen Angestellten heraus. Das Kapital ist im Kopf Agora symbolisiert die Vision von Jyväskylä, die Human Technology City zu sein. Dahinter versteckt sich der Anspruch, menschliche Bedürfnisse mit moderner Informations- und Kommunikationstechnologie zu verknüpfen, Technik menschlich zu machen. Es geht darum, Autofahren sicherer zu machen, es geht um Lernen im jungen und fortgeschrittenen Alter. Auf den Anspruch der Human Technology City trifft man in Jyväskylä immer wieder. Wie die Zukunft der Arbeit aussehen kann, lässt sich direkt neben Agora sehen. Nokia ist vor ein paar Jahren nach Jyväskylä gekommen. Fragt man den Chef von Nokia Jyväskylä nach dem Grund für den Umzug in die mittelfinnische Stadt, sagt er unumwunden: „Uns war die Nähe zur Uni wichtig.“ 50 Kilometer zu Forschern, zu Experten, zu Hochschulen waren Nokia zu weit. Verschiedene Komponenten, die rund um den Globus erforscht und entworfen werden, werden hier zu neuen Produkten entwickelt. Fotohandys vor allem. Die meisten Arbeitsplätze der NokiaLeute sehen unspektakulär aus: Bild-


[ finnland ist mehr als pisa ]

schirm, Computer, Tastatur, Maus, Papier, Stifte. „Unser größtes Kapital ist, was unsere Leute im Kopf haben“, sagt der Nokia-Chef. Der Druck, unter dem die Nokianer arbeiten, ist groß. Die Produktentwicklung dauert zwischen einem halben und anderthalb Jahren, verkaufen lassen sich die neuen Produkte etwa ein Jahr lang. Dann ist alles schon wieder veraltet. Produziert werden die neuen Geräte von Nokia übrigens nicht in Finnland – sondern in Brasilien und China. Auch hier also Arbeitsteilung. Nokia ist sich sicher: „Die Entwicklung können wir am besten, deshalb machen wir sie hier.“ Und diese Arbeitsplätze, da ist man sich in Jyväskylä sehr sicher, werden so schnell nicht nach China oder Indien wandern. Ideen umsetzen

kylä, bei der Fachhochschule ist der Anteil sogar noch höher. Der Science Park hilft dabei. Er ist vor allem eine Anlaufstelle der guten Ideen. Ob Studenten, Absolventen, Doktoranten, Forscher oder Unternehmensmitarbeiter: Wer eine Geschäftsidee hat, kann sich an den Wissenschaftspark wenden. Gemeinsam wird untersucht, ob die Idee für ein Unternehmen gut genug ist. Wenn ja, wird der Business Incubator in Gang gesetzt. Das bedeutet Hilfe beim Aufbau des Unternehmens, Hilfe bei der Finanzierung und Hilfe bei Marketing und Management. Bis zu fünf Jahren dauert die Unterstützung durch den Science Park für die neu gegründeten Unternehmen. Pro Jahr landen ein paar Hundert Ideen beim Science Park, etwa 80 bis 100 werden verwirklicht. Und ihre Erfolgs-

Ein paar Minuten den See hinunter kommt man zum Jyväskylä Science Park. Der Science Park ist eine Erfindung der Stadt und der umliegenden Gemeinden. Für ihr Projekt konnten sie sowohl Banken und Versicherungen, als auch einige große Unternehmen der Region gewinnen. Das Ziel war ganz einfach: möglichst viele der an den Hochschulen ausgebildeten Fachkräfte in der Region behalten und sie für die Wirtschaft der Region gewinnen. Diese Rechnung ist aufgegangen. Etwa 40 Prozent der Hochschulabsolventen der Uni bleiben in Jyväs-

Kurze Wege in Jyväskylä: Das Agora-Zentrum (links) und Nokia (rechts). perspektive21

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rate kann sich sehen lassen: vier von fünf schaffen es, dem rauen Wind der Marktwirtschaft zu widerstehen – das ist deutlich mehr als bei anderen Existenzgründern. Ein wichtiges Credo des Science Park auch hier: Selbstständigkeit gepaart mit enger Kooperation, Zusammenarbeit zwischen Unternehmen, Wissenschaft, Hochschule und Forschungseinrichtungen. Das ist die Basis des Erfolgs. Beeindruckend ist aber auch das hohe Maß an Leidenschaft und Engagement für die Sache und die Region. Die Leute vom Science Park können einen mitreißen, wenn sie über die vielen Projekte und kleinen Firmen reden, die mit ihrer Hilfe entstanden sind. Hier hat man verstanden: Kooperation, lückenlos und mit möglichst Kooperation zwischen Unternehmen Finnland Schweden Frankreich Deutschland Italien 0 10 20 30 40 50 60 70 in % Quelle: EU 2001

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vielen Partnern, ist der Schlüssel zu immer neuen Produkten und Dienstleistungen. Von den jungen Projektmanagern stammt auch der Leitspruch: „If you can dream it, you can do it“. Zweifel werden geprüft – sollen aber überwunden werden. Der Satz „Wenn du zweifelst – lass es“, ist im Science Park in die Mottenkiste der siebziger Jahre verbannt worden. Besser als viele andere haben die Finnen auch die Bedeutung von Technologie- und Innovationspolitik aus einem Guss erkannt. Doch nicht nur, dass die Finnen so intensiv in Innovation investieren, ist bemerkenswert. Noch vorbildlicher ist die Art und Weise, wie sie es tun. Neues als Chance nutzen Zur Unterstützung neuer, kleiner und mittlerer Unternehmen hat Jyväskylä zusammen mit ihren Umlandregionen eine öffentlich-private Partnerschaft ins Leben gerufen: die Jykes Unternehmensförderungs GmbH. Die Leute von Jykes warten nicht auf ihre Kunden, sie gehen zu ihnen hin. Sie sprechen mit den kleinen und mittleren Unternehmen der Region – fragen nach Sorgen, bieten Hilfeleistung an. Dazu gehören Management- und Marketingerfahrung, aber eben auch Unterstützung bei der Erschließung neuer Märkte. Dazu hat Jykes sogar eine eigene Repräsentanz in St. Petersburg gegründet


[ finnland ist mehr als pisa ]

– in einer Stadt also, die so viele Einwohner wie ganz Finnland hat. Vertreter gibt es auch schon in Polen und Ungarn. Und eine Zusammenarbeit mit Brandenburg, die sich für unsere und die finnischen Unternehmen auszahlen wird, ist anvisiert. Vertrauen in eigene Stärken Hinter dem Engagement steht auch hier die Überzeugung, dass das, was den Unternehmen hilft, auch der Region und ihren Bewohnern nutzt. So versucht man frühzeitig, neue Märkte und neue Partner zu entdecken. Denn auch das wissen die Finnen: Allein auf Märkte lassen sich andere Länder nicht reduzieren, vielmehr gilt es, sie als Partner zu gewinnen. Ricardos Theorem der komparativen Kostenvorteile mag eine alte Theorie sein, falsch ist sie noch lange nicht. Selbst für neue Entwicklungen, etwa Sport und Gesundheit mit moderner Kommunikationstechnologie zusammenzubringen, suchen die Finnen gleich zu Beginn Märkte und Partner. Dabei fällt auf: Die Finnen vertrauen auf ihre eigenen Stärken und entwickeln daraus auch Kraft, mutige Schritte zu gehen. Der neuste Zweig des Science Park, eben Kombination aus Gesundheit und Kommunikation, ist gerade erst aus der Taufe gehoben worden – und schon auf den ersten Messen in China unterwegs.

Überhaupt: China. Daran lässt sich der Unterschied der finnischen Denkweise am besten illustrieren. Heute kommt jedes Gespräch über wirtschaftliche Fragestellungen spätestens nach 20 Minuten auf China – das ist in Deutschland so, aber auch in Finnland. Während die Deutschen vor allem die niedrigen Löhne und abwandernde Unternehmen sehen, fangen bei den Finnen die Augen an zu glitzern. Sie sehen China, aber auch andere Länder – selbst Deutschland – als Absatzmärkte. Aber eben auch als Partner – für Ausgliederungen, für Produktion, für zukünftige Entwicklungen. Kooperation und Fairness stehen im Mittelpunkt. Ein Leitspruch wie Connecting people (Nokia) konnte nur in Finnland entstehen. Dieses Motiv zieht sich durch große Teile der finnischen Ge-

Aufgrund der Nähe zur Universität hat sich Nokia in Jyväskylä angesiedelt. perspektive21

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[ matthias platzeck ]

sellschaft. Die Finnen haben bereits vor vielen Jahren erkannt, wo die Zukunft liegt. Und was es dafür braucht. Denn eine brummende Wirtschaft funktioniert auf die Dauer nicht ohne eine ausgeglichene Gesellschaft, ohne stabile Familien, gute Bildung – und das Vertrauen in die eigene Stärke. Alle Elemente bedingen einander – und ein aktiver und aktivierender Staat baut die Brücken zwischen ihnen. Schon vor vielen Jahren begann Finnland sein Bildungssystem umzugestalten: Die Mehrgliedrigkeit wurde durch eine 9-jährige Gesamtschule ersetzt. Die Früchte kann das Land heute ernten. Die Gesamtschulen verfügen über große Eigenständigkeit, die Leitlinien für die gymnasiale Oberstufe passen in eine einfache Broschüre, eine staatliche Schulaufsicht gibt es

Matthias Platzeck beim Besuch einer Grundschulklasse in Jyväskylä.

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nicht. Kinder mit Problemen werden frühzeitig betreut und gefördert – in Jyväskylä gibt es seit ein paar Jahren keine Sonderschulen mehr. Das Land kann es sich nicht erlauben, irgendjemanden zurück zu lassen. Niemanden zurück lassen Doch die Betreuung von Kindern – und Eltern – setzt schon Jahre vorher an. Neuvola heißt das System auf Finnisch. Werdende Mütter werden in Polikliniken während der Schwangerschaft betreut, untersucht und beraten. Zur Geburt bekommen die Eltern eine Grundausstattung mit Babysachen. Aber auch nach der Geburt sind die Neuvola-Tanten bei regelmäßigen Untersuchungen und Gesprächen für Kinder und Eltern da. Das Wohl des Kindes steht in Finnland im Mittelpunkt. Pflicht ist Neuvola nicht – doch nahezu alle finnischen Familien nehmen das Angebot an. Und der Erfolg schlägt sich unter anderem in einer höheren Schulfähigkeit der Kinder nieder. Die Beratung von Eltern und die Begleitung der Kinder übernehmen nach der Schuleinführung Schulpsychologen und Schulkrankenschwestern. All dies führt zu stabileren Familien, größerem Zusammenhalt – letztlich auch zu geringeren sozialen und gesellschaftlichen Kosten. Die Finnen sagen von sich selbst, dass das Land so klein ist, das sie sich gar nicht leisten können,


[ finnland ist mehr als pisa ]

jemanden zurück zu lassen. „Kinder, vergesst nicht, der eigentliche Sinn des Lebens liegt im Miteinander“, lautete das Lebensmotto Regine Hildebrandts. Es ist im Grunde genau das Prinzip, zeitgemäß erneuert für die dynamische Welt des 21. Jahrhunderts, an dem sich die Finnen heute orientieren. Finnland ist es in den vergangenen Jahren gelungen, aus einer schweren Wirtschaftskrise heraus zu kommen und gleichzeitig die soziale Balance im Land zu wahren. Auch die finnische Regierung musste in den neunziger Jahren Einschnitte in das soziale Netz vornehmen. Doch sie hat gleichzeitig neue Türen und Chancen eröffnet. Bildung macht den Unterschied Die langfristig angelegte Strategie – Bildung, Forschung und Kinderbetreuung auszubauen – ist aufgegangen und hat zu einer beispiellosen Innovationsdynamik geführt. Finnland hat sich auf den Weg zur Bildungs- und Kommunikationsgesellschaft gemacht. Während in Deutschland die Forschungs- und Entwicklungsausgaben seit den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts von knapp 3 auf unter 2,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts gesunken sind, stieg dieser Anteil in Finnland von 1,5 auf über 3,5 Prozent. Das ist nach Schweden der zweithöchste Anteil weltweit. Heute gibt es mehr wissenschaftliche Über-

setzungen aus dem Finnischen ins Deutsche als umgekehrt. Verantwortung übernehmen Diese Dynamik ist nicht zuletzt durch Vertrauen in die Kreativität vor Ort entstanden. Für deutsche Verhältnisse wirken die Freiheiten, die Kommunen, Schulen oder Universitäten haben, fast ein wenig anarchisch. Sowohl Schulen als auch Unis suchen sich ihre Lehrkräfte und ihre Schüler oder Studenten selbst aus. Doch diese Freiheiten erziehen auch zur Verantwortung. So verbindet sich in Finnland auf wunderbare Weise Heimatverbundenheit mit Offenheit und Internationalität. In Finnland lässt sich ein Blick auf die Wirtschaft der Zukunft werfen. Die Arbeitsplätze der Zukunft sehen unspektakulär aus – Aufsehen erregende Einweihungen und Präsentationen groß dimensionierter Anlagen werden wohl der Vergangenheit angehören. Das eigentlich Spannende ist nämlich weder zu sehen noch anzufassen. Es ist die Kooperation und die Zusammenarbeit zwischen vielen Beteiligten. Das ganze funktioniert nur mit modernen, flexiblen und unabhängigen Universitäten und Forschungslabors, die die Freiheit haben, sich die besten Leute auszusuchen und unkompliziert mit Unternehmen und anderen Einrichtungen zusammen arbeiten können. Das heißt auch, perspektive21

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[ matthias platzeck ]

mehr Vertrauen in die Menschen vor Ort zu legen. Erneuerung aus eigener Kraft Regionale Entwicklungsstrategien gelingen, wenn sie von den Menschen vor Ort selbst gestaltet und als Chance begriffen werden. In diesem Vertrauen in lokale Verantwortung macht uns Finnland viel vor. Gerade am Beispiel Finnlands lässt sich sehen, dass damit gerade nicht der komplette Rückzug des Staates gemeint ist. An vielen Stellen bietet der Staat Hilfe an – deren Qualität so gut ist, dass die Menschen sie auch gerne annehmen. In Finnland kann man sehen, dass soziale Balance im Land und eine erfolgreiche Ökonomie zusammen gehören. Hohe soziale Standards, ein hoher Lebensstandard und hohe Löhne können zur selben Medaille gehören. Die Finnen nämlich zeigen, dass dynamische Wirtschaft und moderner Sozialstaat nicht im Konflikt stehen müssen, sondern sich gegenseitig stärken können. Richtig verstanden ist der finnische Erfolg ein „Gesamtkunstwerk“, bei dem viele gut geölte Räder ineinander greifen. Zugleich ist Finnlands Erfolg der beste Beleg dafür, dass es keine

Zukunft ohne Herkunft gibt. Die Finnen spielen Vergangenheit und Zukunft nicht gegeneinander aus. Hier betrachtet man die wettbewerbsfähige Wissensgesellschaft als wichtigste Bedingung dafür, die eigene Identität bewahren zu können. Denn ohne wirtschaftliches Fundament zerfällt irgendwann jede Gesellschaft. Konkrete Schritte der Erneuerung gelingen am besten in einer umfassenden Kultur der Offenheit und Hinwendung zu Neuem. Das haben die Finnen verstanden – und richten sämtliche Verfahren und Institutionen ihres Landes danach aus. Sicherlich, wir können das in Brandenburg nicht exakt kopieren – der Aufbau Ost seit 1990 hat gezeigt, dass vorgefertigte Blaupausen oft nicht gut funktionieren. Aber wir tun gut daran, uns an den Erfolgsmodellen der Gegenwart zu orientieren. Wenn wir unser Land Brandenburg in den kommenden Jahrzehnten zu einer Erfolgsgeschichte machen wollen, werden wir kluge Anregungen aufgreifen müssen, wo immer wir sie finden. Auf wegweisende Ideen aus Westdeutschland können wir dabei derzeit kaum hoffen. Das macht das finnische Beispiel für Brandenburg umso spannender. ■ MATTHIAS PLATZECK

ist Ministerpräsident des Landes Brandenburg und Landesvorsitzender der SPD Brandenburg. Dieser Beitrag ist bereits in Heft 23 der perspektive21 erschienen. 14

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Fortschritt neu denken DIE SOZIALDEMOKRATEN STEHEN VOR DER HERAUSFORDERUNG, EINEN NEUEN GESELLSCHAFTLICHEN KONSENS ZU ORGANISIEREN VON PAAVO LIPPONEN

ie internationale Wettbewerbsfähigkeit der EU ist von fundamentaler Bedeutung für unsere Zukunft. Das gilt insbesondere angesichts der Erweiterung der EU um zehn neue Mitglieder. Die Erweiterung ist ein wichtiger Impuls für das europäische Wirtschaftswachstum. Jedoch, die alten Mitgliedstaaten müssen ihre eigene Lage kritisch betrachten. Trotz vieler Fortschritte ist das Lissabon-Ziel – bei der Wettbewerbsfähigkeit der EU mit den USA gleichzuziehen – noch weit entfernt. Wir müssen unbedingt entschiedene Maßnahmen ergreifen. Wir benötigen eine Investitionspolitik, die Zukunftsperspektiven fördert. Wir brauchen mehr Ausbildung, mehr Forschung, mehr Entwicklung. Wir müssen die Dienstleistungsmärkte öffnen, um die Produktivität der europäischen Wirtschaft zu erhöhen. Und wir brauchen eine fortschrittliche europäische Einwanderungspolitik. Das ist nicht nur

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ein demografisches Gebot. Es ist auch ein Mittel im internationalen Wettkampf um die hellsten Köpfe. Laut World Economic Forum ist Finnland am weitesten fortgeschritten bei der Erreichung des Lissabon-Ziels. Die Messkriterien der Untersuchung waren: Informationsgesellschaft, Innovation sowie Forschung und EntwickRanking der Wettbewerbsfähigkeit Rang 2003

Rang 2002

Finnland

1

2

USA

2

1

Schweden

3

5

Deutschland

13

14

Frankreich

26

30

Polen

45

51

Quelle: Weltwirtschaftsforum

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[ paavo lipponen ]

lung, Liberalisierung, Netzwerkindustrien, Unternehmen, soziale Einbeziehung sowie nachhaltige Entwicklung. Unsere Wettbewerbsfähigkeit beruht darauf, dass wir öffentliche Mittel über eine Vielzahl an staatlichen Leistungen für dynamische Zwecke einsetzen: Ausbildung, Forschung und Entwicklung sind die Grundlage der Informationsgesellschaft. Ebenso wichtig ist unser transparentes Innovationssystem von der Entwicklung bis zum Endprodukt. In dessen Zentrum steht die umfassende Kooperation von staatlichen Einrichtungen und Universitäten mit kommerziellen Unternehmen. Die wichtigste Ressource für Wettbewerbsfähigkeit bleibt jedoch der Mensch. Ein kleines Volk wie wir kann es sich nicht leisten, menschliche Ressourcen ungenutzt zu lassen. Staatliche

Für alle Schüler gibt es in Finnland ein kostenloses Mittagessen.

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Leistungen müssen das produktive Potenzial der Menschen mobilisieren und maximieren. Humankapital muss so umfassend wie möglich ausgeschöpft werden. Das setzt jedoch soziale Einbeziehung voraus. In den Turbulenzen der Globalisierung brauchen die Menschen Sicherheit. Besonders im Bildungssystem ist eine gleichberechtigte Teilhabe erforderlich – unabhängig von der sozialen Herkunft. Junge Familien fördern Gerade unter diesem Gesichtspunkt ist es wichtig, dass junge Familien be-sonders gefördert werden. So ermöglichen zum Beispiel eine umfassende Kinderbetreuung sowie Ganztagsschulen mit Schulspeisung, dass beide Elternteile arbeiten können. Das steigert nicht nur das Familieneinkommen und dadurch das Steueraufkommen. Im Scheidungsfall ist angemessen entlohnte Arbeit die beste Versicherung Alleinerziehender gegen finanziellen Abstieg. Deswegen ist es von höchster Wichtigkeit, Frauen in vollem Umfang in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Staatliche Leistungen müssen diesem Ziel dienen. Bloße finanzielle Transfers können das nicht leisten; man braucht eine leistungsstarke öffentliche Kinder- und Jugendbetreuung. Ein gut ausgestattetes Schulsystem bereitet die Kinder zugleich auf ihre Zukunft vor. Ziel ist nicht Leistungsauslese, sondern eine


[ fortschritt neu denken ]

möglichst individuelle Förderung aller Schüler. Aufgrund einer solchen Schwerpunktsetzung der öffentlichen Dienstleistungen ist Finnland nicht trotz seines Wohlfahrtssystems, sondern gerade wegen desselben international wettbewerbsfähig. Bei langfristigen Strukturentscheidungen haben wir in Finnland besonders auf nachhaltige Lösungen gesetzt. Dazu zählt auch der Bau unseres fünften Kernkraftwerks. Angesichts des Kyoto-Protokolls und des steigenden Energiebedarfs brauchen wir eine Energieversorgung zu angemessenen Kosten. Außerhalb der Europäischen Union liegende Energieerzeugung ist keine Lösung. Auf die Sicherheit und Zuverlässigkeit solcher Lieferungen haben wir nicht genug Einfluss. Für eine nachhaltige Energiepolitik ist es ebenso wichtig, die Energieeffizienz zu steigern. Gerade bei der Nutzung fossiler Brennstoffe muss der Ausnutzungsgrad maximiert werden. Nachhaltigkeit heißt aber zugleich auch, die Entwicklung erneuerbarer Energiequellen voranzutreiben.

en, dass die Renten bezahlt und das Gesundheitssystem finanziert werden können. Fehlt ein solches Vertrauen in den Staatshaushalt, weigern sich die Verbraucher, Geld auszugeben – selbst wenn die Exportwirtschaft anzieht, nimmt die Binnennachfrage dann nicht zu. Dabei liegt gerade in der Binnennachfrage der Schlüssel zum Abbau von Arbeitslosigkeit. Selbst Steuersenkungen regen unter solchen Bedingungen nicht mehr die Nachfrage an. Sie führen nur zu einer höheren Sparquote. Ihre stimulierende Wirkung verpufft. Verlorenes Vertrauen kann nur wieder gewonnen werden durch ein umfassendes Strukturprogramm. Man braucht ein schlüssiges Konzept für eine glaubwürdige Finanzpolitik und einen ausgeglichenen Haushalt – der Beitritt zur europäischen WährungsAusgaben für Forschung und Entwicklung in Prozent des Bruttoinlandsprodukts 4 Finnland 3

Vertrauen zuerst Deutschland

2

2002

1999

1996

1993

1990

1 1987

Volkswirtschaftliche Belebung setzt gezwungenermaßen die Konsolidierung der Staatsfinanzen voraus. Es dürfen keine Zweifel an der finanziellen Leistungsfähigkeit des Staates aufkommen. Die Verbraucher müssen darauf vertrau-

Quelle:OECD

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[ paavo lipponen ]

union war ein Kernelement der finnischen Stabilitätspolitik. Aus eigener Erfahrung als Regierungschef in schwierigen Zeiten kann ich nachvollziehen, welchen gewaltigen Herausforderungen die deutsche Regierung derzeit gegenübersteht. Dem mutigen Reformkurs von Bundeskanzler Schröder möchte ich daher meine volle Unterstützung aussprechen. Auch in Finnland haben wir noch längst nicht alle Herausforderungen überwunden. Einen solchen Zustand wird es auch nie geben. Vielmehr werden wir unsere Errungenschaften immer wieder auf Zukunftstauglichkeit abklopfen müssen. Neue Zeiten mit neuen Rezepten In Finnland macht uns immer noch eine viel zu hohe Arbeitslosigkeit zu schaffen. Trotz mehrjährigen Wirtschaftswachstums über dem EUDurchschnitt haben wir dieses Problem noch immer nicht bewältigen können. In Finnland wie in Deutschland bereiten uns der Zustand der kommunalen Haushalte, die steigenden Kosten im Gesundheitswesen und die Alterung der Bevölkerung zunehmend Sorgen. Zur finanziellen Sicherung des Sozialstaates ist es erforderlich, die Beschäftigungsquote zu steigern. Wir müssen die Menschen schneller in den Arbeitsmarkt integrieren und ihr Potenzial län18

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ger nutzen. Dieselben strukturellen Herausforderungen stellen sich praktisch überall in Europa. Als Sozialdemokraten können wir aber nicht einfach auf alte Rezepte zurückgreifen. Was in der Vergangenheit erfolgreich war, wurde meist unter ganz anderen Bedingungen entwickelt. Und seien wir ehrlich: unter den heutigen Bedingungen sind einige der alten Rezepte selbst zum Teil des Problems geworden. Errungenschaften hinterfragen Gerade das macht es für Sozialdemokraten so schwierig: Wir sind gezwungen, unsere eigenen Errungenschaften zu hinterfragen, ohne unsere Grundüberzeugungen in Frage zu stellen. Es drängt sich die Frage auf: „Sind Sozialdemokraten überhaupt zu den nötigen Reformen fähig?“ Von den Konservativen wird uns dies stets bestritten. Ich selbst bin fest überzeugt: Gerade die Sozialdemokratie hat nicht nur die Fähigkeit, sondern den Auftrag zu Reformen. Nur Sozialdemokraten sind in der Lage, den erforderlichen gesellschaftlichen Konsens herbeizuführen. Nur wir können so umfassend Arbeitnehmer und Zivilgesellschaft in den Reformprozess einbinden. Und gerade auf die Unterstützung dieser Gruppen kommt es an, wenn der Reformprozess nicht bei der nächsten Wahl wieder abgewählt werden soll. Im Übrigen ist es falsch zu behaupten, Sozialdemokraten


[ fortschritt neu denken ]

wären allein verantwortlich für sozialstaatliche Verkrustungen und Reformstau. In vielen Ländern Europas ist konservativen Regierungen Wirtschaftsund Reformpolitik nicht gelungen. Die Sozialdemokratie hat die Herausforderung erkannt, nur fehlt es uns bisher an gemeinsamen Konzepten. Ende der neunziger Jahre regierten Sozialdemokraten in einer Mehrzahl europäischer Länder; in den USA führte Präsident Bill Clinton das Weiße Haus. Damals begannen wir eine viel versprechende Debatte über den so genannten „Dritten Weg“ oder die „Neue Mitte“. Mutige Schritte wurden gemacht und interessante Konzepte entwickelt. Dennoch scheint der Debatte nun der Elan ausgegangen zu sein. Woran liegt das?

loren gegangen zu sein. Nun liegt es an uns, sie wieder aufzunehmen. Wir sind heute in der Verantwortung, weitere Schritte zu tun. Wir dürfen die europäische Reformpolitik nicht den Konservativen überlassen. Reformorientierten Sozialdemokraten wird oft vorgeworfen, lediglich Neoliberalismus zu kopieren. Dass dieser Vorwurf nicht zutrifft, wissen alle. Es liegt an uns, dies auch nach außen deutlich zu machen. Neoliberalen geht es darum, den Sozialstaat abzuschaffen. Reformorientierten Sozialdemokraten geht es um das genaue Gegenteil: den Erhalt des Sozialstaats für die Zukunft. Wir müssen unsere sozialdemokratischen Werte deutlich kommunizieren, ohne im Reformstreben nachzugeben. Wir müssen klarstellen, dass wir nur deshalb mehr Effizienz,

Neue Debatten wagen Es gibt eine Vielzahl an Gründen. Neue Initiativen stellten alte Besitzstände in Frage; die junge Debatte war rasch einem Schwall traditionalistischer Rhetorik ausgesetzt. Es gelang auch nicht ganz, den Eindruck zu widerlegen, dass nur ein exklusiver Club debattieren würde. Schließlich entsteht auch schnell der Verdacht von Beliebigkeit, wenn regierende Parteien theoretische Konzepte entwickeln: Jede Regierungsmaßnahme lässt sich dann leicht zum Teil der neuen Theorie erklären. Die Initiative scheint im Moment ver-

Treffen im Finnischen Parlament: Matthias Platzeck und Paavo Lipponen perspektive21

19


[ paavo lipponen ]

Initiative und Verantwortung einfordern, damit wir die Substanz unserer Errungenschaften für folgende Generationen bewahren können. Fortschritt und Dynamik Wenn wir den Staat dort entlasten, wo er nicht unbedingt tätig werden muss, dann kann er umso wirkungsvoller handeln, wo er tatsächlich gefordert ist. So ist es für Bürger vor allem wichtig, dass sie gute öffentliche Dienstleistungen zu gleichen Bedingungen erhalten. Wer hingegen diese Leistungen erbringt, ist für Bürger oft von geringer Bedeutung. In geeigneten Bereichen sollte man daher verstärkt über Kooperation mit privaten Akteuren nachdenken. Voraussetzung ist natürlich, dass dies nicht zu Qualitätsverlusten oder Lohndumping führt. Die Sozialdemokratie ist die erfolgreichste organisierte politische Bewegung. Sie ist so erfolgreich, weil sie fortschrittlich ist. Wenn sich eine fortschrittliche Bewegung aber auf die Sicherung errungener Besitzstände zu beschränken beginnt, dann wird sie konservativ. Unsere Aufgabe ist es da-

her, der Fortschrittlichkeit unserer Bewegung neue Dynamik zu verleihen. Andernfalls werden wir Europäer nicht in der Lage sein, unseren strategischen Herausforderungen gerecht zu werden. Es freut mich feststellen zu können, wie eng die historischen Bindungen zwischen Deutschland und Finnland heute noch sind. Die deutsche Unterstützung unserer EU-Mitgliedschaft bleibt unvergessen. In der Europapolitik haben wir viel mehr Gemeinsamkeiten als Differenzen: Uns vereint eine integrationsfreundliche und konstruktive Vision Europas. Im Verhältnis zu Russland, im Ostseeraum und hinsichtlich der Nordischen Dimension der EU haben wir viele gemeinsame Interessen. Ich würde mir daher einen noch lebhafteren Dialog zwischen unseren Ländern und unseren Parteien wünschen; sowohl im bilateralen Verhältnis als auch im Rahmen der Europäischen Sozialdemokratischen Partei. Aufgrund meiner langjährigen Erfahrung habe ich keine Zweifel: Deutschland und die deutschen Sozialdemokraten werden ihre Herausforderungen bewältigen und gestärkt aus den jetzigen Turbulenzen hervorgehen. ■

PAAVO LIPPONEN

ist Parlamentspräsident und Vorsitzender der Finnischen Sozialdemokratie. Von 1995 bis 2003 war er Finnischer Premierminister. 20

perspektive21


Brandenburg und das finnische Modell WARUM REGIONALE ENTWICKLUNG EINER STRATEGISCHEN VISION BEDARF VON TOBIAS DÜRR

Ob eine Region pulsiert, hängt auch davon ab, ob sie weiß, was sie will und worin ihr besonderes Profil bestehen soll. In diesem Sinne benötigt Brandenburg eine neue orientierende Idee für seine Zukunft. Gebeutelt von krisenhaften Entwicklungen und einander wechselseitig verstärkenden negativen langfristigen Trends in Ökonomie, Demografie, Gesellschaft und öffentlichen Finanzen wird sich die Politik des Landes in den kommenden Jahren nicht darauf beschränken können, bloß sehenden Auges den wachsenden Mangel zu verwalten. Die Folgen wären unweigerlich fortgesetzter und beschleunigter Niedergang – sowie der Machtverlust derjenigen politischen Formationen, die diesen Niedergang federführend administrieren. Angesichts aller erkennbarer Makrotrends ist völlig ausgeschlossen, dass sich eine grundlegende Umkehrung der Rahmenbedingungen gleichsam im Selbstlauf ereignen wird. Wie andere Regio-

nen des klassischen Industrialismus auch, aber strukturell besonders benachteiligt, tritt Brandenburg in eine ganz neue Etappe seiner Geschichte ein. Damit wächst die Wahrscheinlichkeit gesellschaftlicher Verdrossenheit. Ohne Leitbild geht es nicht Benötigt wird daher umso mehr eine zu Brandenburg passende, aber klar über seine derzeitigen Verhältnisse hinaus weisende strategische Vision – also das plausible Bild einer erstrebenswerten, machbaren Zukunft für das Land (beziehungsweise die Region). Nur vor dem Hintergrund einer solchen von allen wesentlichen Akteuren verinnerlichten, konsequent verfolgten und offensiv kommunizierten langfristigen strategischen Vision werden sich die unweigerlich bevorstehenden Rückschläge und Durststrecken der kommenden Jahre überstehen lassen. Und perspektive21

21


[ tobias dürr ]

überhaupt nur langer Atem und eine geeignete strategische Vision für Brandenburg werden dazu führen, dass am Ende jener Rückschläge und Durststrecken eine lebbare und wünschenswerte Zukunft für Brandenburg möglich wird. Ob es dazu kommen wird, ist offen; als absolut sicher kann dagegen gelten, dass das Land Brandenburg (bzw. die gesamte Region Berlin-Brandenburg) ohne eine strategische Vision für das 21. Jahrhundert schweren Zeiten entgegen sieht.

Entwicklung des finnischen Handelsbilanzüberschusses

12

8

6

4

2002

2001

2000

1999

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1997

0

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in Milliarden €

10

Quelle: Zolldirektion Finnland

22

perspektive21

Es ist offensichtlich, dass Brandenburg nicht in der Lage sein wird, aus eigener Kraft ein ganz eigenes ökonomisches und gesellschaftliches Modell zu entwickeln. Das Land braucht Leitbilder, es kann von den Ideen und Erfolgen anderer profitieren, die sich in vergleichbar schwierigen Konstellationen „neu erfunden“ haben. Eigene Schlüsse ziehen Dabei geht es ausdrücklich nicht darum, fremde Erfahrungen unreflektiert zu kopieren; es geht darum, die richtigen eigenen Schlüsse zu ziehen. Ebenso wichtig bei der Auseinandersetzung mit Erfolgsgeschichten anderswo ist der psychologische Aha-Effekt, der sich mit der Einsicht verbinden kann, dass so etwas überhaupt möglich ist. Es kommt deshalb auch nicht darauf an, ob sich ein anhand der Erfolge anderer gewonnenes Leitbild in Brandenburg maßstabsgetreu „anwenden“ lässt – dies wird angesichts unterschiedlicher Voraussetzungen ohnehin niemals der Fall sein. Entscheidend ist die anschauliche Konkretion, die am geeigneten Beispiel gewonnene Erkenntnis der Machbarkeit von Aufbruch und Wandel. Aber an welchen Vorbildern, Modellen, Ideen, Prinzipien könnte sich Brandenburg überhaupt orientieren? Klar ist, dass jede ernst gemeinte strategische Ausrichtung – mindestens – den folgenden Anforderungen genügen muss:


[ brandenburg und das finnische modell ]

Anschlussfähigkeit. Langfristig entstandene und traditionsreiche Sozialmodelle lassen sich aller Erfahrung nach nicht im Handumdrehen austauschen; es gilt das „Gesetz“ der Pfadabhängigkeit allen gesellschaftlichen Wandels. Jede noch so transformativ und radikal gemeinte Strategie muss daher – zumindest langfristig – zugleich doch anschlussfähig sein an die Vorstellungen, Mentalitäten, Einstellungen der Bevölkerung. Die Fragen lauten also: Ist diese strategische Vision öffentlich vermittelbar? Verspricht sie – paradox gesprochen – Veränderungen im Dienste der Bewahrung dessen, was den Menschen vor allem wichtig ist? ■ Folgerichtigkeit. Auch Parteien und Politiker können sich nicht ohne weiteres neu erfinden. Plötzliche Traditionsbrüche und ansatzlos aus dem Hut gezauberte Identitätswechsel sind von vornherein zum Scheitern verurteilt. Die Fragen lauten: Ist die strategische Vision vereinbar mit den grundlegenden normativen Orientierungen der politischen Parteien und ihrer Repräsentanten, die sich für diesen Weg entscheiden (sollen)? Ist sie vereinbar mit den über lange Zeiträume entstandenen Erwartungshaltungen der Wähler und Aktivisten gegenüber diesen Parteien und Repräsentanten? ■ Erfolgsaussichten. Eröffnet die in Betracht gezogene strategische Vision tatsächlich eine motivierende und sinn■

stiftende Perspektive? Bietet sie einen gangbaren Weg? Oder bedeutet der großspurige Begriff „strategische Vision“, bei Licht betrachtet, nicht doch nur ein Synonym für „Wolkenkuckucksheim“ und „Phantasterei“? Was macht bei Berücksichtigung dieser Gesichtspunkte aus Brandenburger Sicht den Fall Finnland so interessant? Was lässt sich von Finnland lernen? Inwiefern kann eine strategische Vision für Brandenburg eher von finnischen Erfahrungen profitieren als von anderen? Die Wirtschaft soll brummen In den vergangenen Jahren ist Finnland im Kontext der Aufregung um die PISA-Studie vor allem aufgrund seines im internationalen Vergleich herausragenden Schul- und Bildungswesens auf dem deutschen Radarschirm aufgetaucht. Auf diesem Gebiet lässt sich in der Tat viel abschauen und nacheifern. Dies ist allerdings umso sinnvoller, je weniger die eindrucksvollen finnischen Erfolge im Bildungssektor isoliert betrachtet werden. Die eigentliche „finnische Lehre“ ist weit umfassender. Finnland ist dasjenige Land, das wie kein anderes auf der Welt demonstriert, dass und wie sich ökonomische Dynamik, Informationsgesellschaft und modern verstandene Sozialstaatlichkeit wechselseitig bedingen, ja beflügeln können. perspektive21

23


[ tobias dürr ]

Finnland kann heute gemeinsam mit den Vereinigten Staaten und Singapur als eine der wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensintensiven Volkswirtschaften weltweit gelten. In den Jahren 1996 bis 2000 erzielte Finnland ein jährliches Durchschnittswachstum von 5,1 Prozent gegenüber 4,3 Prozent in den USA und 2,6 Prozent in den EUStaaten insgesamt. Die wirklich bemerkenswerte Erkenntnis lautet aber, dass Finnland diese Leistung auf völlig andere Weise erbringt als etwa die USA mit ihrem marktliberalen Modell Silicon Valley Finnische Wirtschaftsstruktur 2003

Sonstige Dienstleistungen 33 %

Handel, Tourismus 15 % Industrie 19 %

oder Singapur mit seinem Modell einer autoritär gesteuerten Informationsgesellschaft. Unter allen relevanten Gesichtspunkten sozialer Gerechtigkeit (etwa Einkommensungleichheit, Exklusion, Armut, Bildungsniveau, Gesundheitsversorgung, staatliche Ausgaben für Forschung und Entwicklung, Gewährleistung öffentlicher Infrastruktur) steht Finnland heute im internationalen Vergleich herausragend da. Das Land führt exemplarisch vor, dass für erfolgreiche technologisch-ökonomische Entwicklung nicht der Preis steigender gesellschaftlicher Ungleichheit und Ungerechtigkeit entrichtet werden muss, sondern dass im Gegenteil einerseits soziale Gerechtigkeit sehr wohl eine entscheidende Ressource wirtschaftlichen Erfolgs sein kann, wie auch andererseits die notwendigen Mittel zur Gewährleistung sozialer Gerechtigkeit mittels herausragender ökonomischer Performanz erwirtschaftet werden. Handys statt Gummistiefel

Finanzdienstleistungen 13 %

Bau 6%

Landwirtschaft 5% Transport, Kommunikation 8%

Quelle: Statistik Finnland

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perspektive21

Manuel Castells und Pekka Himanen beschreiben genau diesen Zusammenhang als den „virtous circle“, der das finnische Entwicklungsmodell so interessant für bislang weniger erfolgreiche und entwickelte Länder und Regionen mache.1 Dies gilt vor allem 1 Manuel Castells und Pekka Himanen, The Information Society and the Welfare State. The Finnish Modell, Oxford 2002.


[ brandenburg und das finnische modell ]

Entwicklung der Arbeitslosenquoten in Finnland 1990 – 2002 16 14 12 10 8 6 4

2002

2000

1998

0

1996

2 1994

Bis vor drei Generationen lebte der überwiegende Teil der Bevölkerung in technologischer Rückständigkeit von den mageren Erträgen der Forst- und Landwirtschaft. Und selbst Ende der achtziger Jahre noch beschäftigte sich die 1865 als Sägewerk und Papiermühle gegründete Firma Nokia mit der Produktion von Toilettenpapier, Gummistiefeln, Autoreifen und Fernsehern; heute ist Nokia das Unternehmen mit der höchsten Börsenkapitalisierung in ganz Europa. Und – aus ostdeutscher und brandenburgischer Perspektive ebenfalls besonders aufschlussreich – noch Anfang der neunziger Jahre, nach dem Zusammenbruch des benachbarten Handelspartners Sowjetunion und des gesamten Ostblocks, musste Finnland eine schwere Wirtschaftskrise überstehen: Innerhalb des Jahres 1994 schrumpfte das finnische Bruttosozialprodukt um volle 13 Prozent, während zugleich die Arbeitslosenquote von 3,5 auf 17 Prozent stieg. Es dürfte ohne weiteres auf der Hand liegen, dass die produktive finnische Verbindung von Sozialstaat und

1992

Neustart nach Zusammenbruch

hoch dynamischer Informationsgesellschaft aus deutscher (und erst recht ostdeutscher) wie zugleich auch aus sozialdemokratischer Perspektive deshalb besondere Attraktivität besitzt, weil hier offensichtlich ein spezifisches Innovations- und Entwicklungsmodell vorliegt, das im Einklang steht mit dem sozialstaatlichen, Gleichheit und Gerechtigkeit betonenden deutschen Sozialmodell sowie mit den fundamentalen Wertvorstellungen der sozialen Demokratie. Als Brüche mit diesen Traditionslinien empfundene Moderni-

1990

auch deshalb, weil Finnland (anders als die anderen nordischen Länder) vor noch nicht langer Zeit selbst ein bitterarmes, ja geradezu unterentwickeltes Agrarland war.

Angaben in Prozent Quelle: Statistik Finnland

perspektive21

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[ tobias dürr ]

sierungspfade in die wissensintensive Wirtschaft (die Modelle „Silicon Valley“ oder „Singapur“) wären nach Lage der Dinge gesellschaftlich nicht vermittelbar. Aus der spezifischen Sicht Brandenburgs treten indes noch weitere Faktoren hinzu, die den Fall Finnland besonders interessant machen. Dies gilt in besonderem Maße unter sozialräumlichen Gesichtspunkten. Wie das deutsche Flächenland Brandenburg (tatsächlich noch in weitaus höherem Maße als Brandenburg) hat es Finnland

mit den Schwierigkeiten zu tun, die sich im ökonomischen Modernisierungsprozess aus geringer Bevölkerungsdichte sowie der zunehmenden sozialökonomischen Abkoppelung und demografischen Überalterung peripherer Regionen ergeben. Ähnlich wie Brandenburg sucht Finnland nach Antworten auf das Problem des wachsenden Widerspruchs zwischen ökonomisch und demografisch boomenden metropolennahen Regionen einerseits und zurückfallenden Randlagen. Dies ist die räumliche Dimension der übergeordneten Frage, auf welche Weise soziale Inklusion unter den Bedingungen einer zunehmend wissensbasierten Ökonomie überhaupt noch möglich sein kann. Alle mitnehmen

Innovatives Konzept: Der Jyväskylä Science Park.

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perspektive21

Das Problem ist bekannt: „Je mehr die Informationsgesellschaft das große Leitmotiv des Landes insgesamt ist“, schreiben Castells und Himanen, „desto mehr fühlen sich diejenigen vom Fortschritt abgehängt, die nicht die Fähigkeiten besitzen, an diesem Leitmotiv teilzuhaben – am Ende könnten sie im innerhalb der finnischen Informationsgesellschaft in einer Art innerer Exil leben.“ Genau dies zu verhindern ist ein zentrales Anliegen der finnischen Politik. Im Einklang mit dem expliziten Leitmotiv des finnischen Innovationsmodells, unter allen Umständen die gesamte Bevölkerung auf dem


[ brandenburg und das finnische modell ]

Weg in die Informationsgesellschaft mitzunehmen, sind in Finnland große Anstrengungen unternommen worden, auch abgelegenere Regionen technologisch und infrastrukturell auf das neue wissensökonomische Paradigma einzustellen.

sich heute und in Zukunft die Orte der Innovation, der Wertschöpfung, der Kultur und der Kommunikation. Damit sind diese Städte neuen Typs zugleich die Motoren von Wachstum und Kreativität in ihrem jeweiligen Hinterland – der Erfolg lokaler und regionaler Strukturen hängt ab von deren Einbindung in globale Netzwerke.

Städte neuen Typs Aber auch die positive Kehrseite dieser Herausforderung teilt das rund um die deutsche Metropole Berlin gelegene Brandenburg mit Finnland. Denn das Korrelat zur Entvölkerung peripherer Regionen ist die Entstehung von „Zwischenstädten“: Neuartigen Formen urbaner Agglomerationen. Im Übergang von den sozialräumlichen Strukturen der Industriegesellschaft zu jenen der Informationsgesellschaft erleben wir die größte Urbanisierungswelle aller Zeiten. In den neuartigen ausgedehnten, verkehrstechnisch und kommunikativ miteinander vernetzten Metropolenregionen konzentrieren

Im Sog des Innovationsmilieus Wie die südfinnische Region von GroßHelsinki (und im Übrigen viele andere Metropolenregionen weltweit) befindet sich auch die Großregion von Berlin und Brandenburg mitten in einem Prozess der „konzentrierten Dezentralisation“ (Castells/Himanen) von Bevölkerung und ökonomischer Aktivität. Das bedeutet, dass wir einerseits überall die fortschreitende Ausdehnung und Dominanz urbaner Siedlungsgebiete vis à vis ländlichen Regionen erleben, dass die dabei entstehenden und wachsenden urbanen Struk-

Telekommunikation in Finnland Festanschlüsse pro 100 Einw.

Mobiltelefone pro 100 Einw.

Internetanschlüsse pro 1.000 Einw.

1980

36

0,5

1990

53

5

1995

55

20

41

1998

55

55

106

2001

54

80

182

Quelle: Finnisches Ministerium für Verkehr, Medien und Telekommunikation

perspektive21

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[ tobias dürr ]

turen aber andererseits immer weniger dem industriegesellschaftlichen Muster von Zentrum und Vororten entsprechen. Zusammengenommen bilden diese neuartigen Agglomerationen der Informationsgesellschaft je eigene regionale Innovationsmilieus: integrierte Wertschöpfungs- und Wissenschaftscluster fortgeschrittener Produktion, Dienstleistung, Forschung und Kultur. Diese untereinander vernetzten Mega-Regionen bieten mehr und bessere Arbeitsplätze, Bildungschance und sonstige städtische Angebote. Damit üben die enorme Sogwirkung auf die sie umgebenden Regionen aus. Der finnische Weg besteht darin, die großen Chancen dieser Entwicklung entschlossen und ohne schlechtes Gewissen zu nutzen – gerade um jene ökonomische Dynamik und Ressourcen hervorbringen zu können, die notwendig sind, um peripherer gelegene Regionen überhaupt an Wachstum, Wertschöpfung und Fortschritt teilhaben zu lassen. Castells und Himanen beschreiben vielversprechende Strategien (etwa im abgelegeBruttoinlandsprodukt pro Kopf 2002 Finnland

24.800 €

Deutschland

24.650 €

Schweden

24.540 €

USA

33.010 €

Quelle: Statistik Finnland, nach Kaufkraftbereinigung

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perspektive21

nen Nordkarelien), „der Informationsgesellschaft eine lokale und regionale Dimension zu geben.“ Hier könnten aus Brandenburger Sicht womöglich spannende Anknüpfungspunkte vorliegen. Warum nicht lieber Irland? Zugegeben, für die höchst erfolgreiche Bewältigung des Weges von der Agraroder Industriegesellschaft in die moderne Wissensökonomie gibt es in Europa noch andere Beispiele. Oft wird voller Bewunderung der „keltische Tiger“ Irland genannt. Irland gehörte noch in den sechziger Jahren zu den Armenhäusern Europas; die irische Pro-Kopf-Produktion betrug unter 50 Prozent des westdeutschen Wertes. Heute liegt Irland beim Sozialprodukt pro Kopf nicht nur über dem europäischen Durchschnitt, sondern hat auch Deutschland hinter sich zurückgelassen. „Irland ist heute das Wirtschaftswunderland Europas“, schreibt deshalb voller Bewunderung der liberale Ökonom Hans-Werner Sinn.2 Und ebenso begeistert nennt Sinn zugleich die Faktoren, die den Aufstieg Irlands ermöglicht haben. Zu diesen Faktoren gehört die irische Niedrigsteuerpolitik mit einem Einkommensteuersatz von nur 10 Prozent für große Unternehmen, ganz bewusst darauf ausgerichtet, inter2 Hans-Werner Sinn, Ist Deutschland noch zu retten?, München 2003.


[ brandenburg und das finnische modell ]

nationales mobiles Kapital anzulocken; zu diesen Faktoren gehören daneben, so Sinn, „eine extrem liberale Wirtschaftspolitik nach amerikanischem Muster“ sowie „ein weit gehender Verzicht auf sozialstaatliche Einrichtungen“. Auf diese Weise, durch niedrige Steuern, niedrige Löhne und eine niedrige Staatsquote, habe Irland massive Kapitalimporte angelockt. „Aber das ist es eben, was eine hohe Standortqualität ausmacht“, resümiert Sinn: „Wir Deutschen könnten uns im Hinblick auf die Entwicklung in den neuen Ländern vom irischen Beispiel eine Scheibe abschneiden.“ Aufgerappelt aus Ruinen Tatsächlich? Ist, ausgehend vom Status quo, wirklich eine erfolgversprechende strategische Vision für Ostdeutschland und besonders Brandenburg vorstellbar, die dezidiert auf niedrige Löhne und den weit gehenden Verzicht auf Sozialleistungen setzt? Und erst recht: Handelt es sich hier tatsächlich um ein Modell, dem Ostdeutsche sinnvoller Weise nacheifern sollten? Wohl eher nicht. Es ist ziemlich offensichtlich, dass jeder Versuch, Brandenburg „durch eine extrem liberale Wirtschaftspolitik nach amerikanischem Muster“ auf Vordermann zu bringen, mit den hier dominanten Einstellungsmustern sowie mit den Grundüberzeugungen sozialer Demokratie ganz unvereinbar wäre.

Als Vorbild für ein Brandenburg unter sozialdemokratischer Regie erscheint Irland also angesichts der Ursachen seines ökonomischen Erfolgs ziemlich unbrauchbar. Das Gegenteil gilt für Finnland. Das Beispiel Finnland demonstriert so eindringlich wie kein zweites in Europa, wie ein vormals rückständiges Land mit Hilfe einer zu ihm passenden strategischen Vision zu Modernität und Wohlstand gelangen kann, ohne darüber seine Traditionen, seine Kultur und gesellschaftliche Identität aufzugeben – vor allem aber: ohne eine Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik zu betreiben, die auf Niedriglöhne und Sozialdumping setzt. Auch Hans-Werner Sinn zählt Finnland zu den vorbildhaften Staaten in Europa, die heute „die Nase vorn“ haben. Das Land habe sich in den neunzi-

Wo sich Modernität und Wohlstand verbinden: Region Jyväskylä in Mittelfinnland. perspektive21

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[ tobias dürr ]

ger Jahren „aufgerappelt und zu einem soliden Wachstum gefunden“. Dass Finnland auf dem Weg zu diesem Erfolg einen geradezu diametral anderen Kurs eingeschlagen hat als Irland, also eine gänzlich andere strategische Vision verfolgt und auf völlig andere Instrumente setzt, bleibt dabei ganz und gar unberücksichtigt. Doch eben auf diesen Unterschied kommt es an. Unter den – oben genannten – Gesichtspunkten der Anschlussfähigkeit und der Folgerichtigkeit sozialer und ökonomischer Innovationsprozesse hat Finnland die für Brandenburg zweifellos weit aufschlussreichere Strategie gewählt. Technologie und Seele In ihrer Studie zum finnischen Modell legen Castells und Himanen wert auf den Hinweis, dass ihre Absicht natürlich nicht darin bestehe, Finnland schlechthin als Blaupause für andere Gesellschaften und Regionen zu beschreiben. Deshalb nochmals: Unmit-

telbar nachahmen lässt sich der singuläre Aufstieg Finnlands sicherlich nirgendwo, und bekanntlich ist ein brandenburgisches Nokia derzeit nirgendwo auch nur am Horizont zu erkennen. Sofern der Fall Finnland eine zentrale ermutigende Lehre enthält, dann diejenige, dass eine benachteiligte Gesellschaft oder Region auch unter den Bedingungen von Globalisierung und Wissensökonomie nicht bloß vor der Alternative zwischen trostlosem Weiter-so und rasender Anpassung an marktradikale Lehren steht. Die Kombination von inklusiver Gesellschaft, kultureller Identität, moderner Sozialstaatlichkeit und rundum wettbewerbsfähiger Ökonomie – „information technology with a soul“ (Castells/ Himanen) – erscheint nicht nur möglich, sondern bedeutet langfristig zweifellos auch die erfolgversprechendere Option. Das Unterfangen, eine strategische Vision für Brandenburg zu entwickeln, sollte aus dieser Zuversicht heraus begonnen werden. ■

DR. TOBIAS DÜRR

ist Politikwissenschaftler, Publizist und Chefredakteur der Zeitschrift „Berliner Republik“. Dieser Beitrag ist bereits in Heft 21/22 der perspektive21 erschienen. 30

perspektive21


Wo ein Rad ins andere greift WIE SICH WIRTSCHAFT, BILDUNG UND FAMILIENPOLITIK IN FINLAND GEGENSEITIG AUF DIE SPRÜNGE HELFEN VON AILA-LEENA MATTHIES

n einigen zentralen gesellschaftlichen Bereichen, wie in der Arbeitswelt, der Wirtschaft, der Familie oder in den Betreuungssystemen, lassen sich im europäischen Vergleich große nationale Unterschiede erkennen 1, trotz des globalen Konkurrenzdrucks und der zunehmenden europäischen Integration. Gerade die Wahrnehmung existierender Divergenzen ermöglicht es, über das jeweilige eigene System oder über einen allseits angestrebten Idealzustand kritisch nachzudenken, und die Machbarkeit alternativer Entwicklungswege in einer Gesellschaft zu erkennen. Einige dieser Unterschiede lassen sich historisch und kulturell verwurzelt nachvollziehen und sind nur langsam veränderbar. Andere Besonderheiten sind dagegen politisch gewollt,

I

von gesellschaftlichen Akteuren umgesetzt und daher auch ständig potenziell ein Verhandlungsgegenstand. Internationale Vergleiche lassen Finnland glänzen In den jüngsten europäisch und international vergleichenden Analysen ragt Finnland außergewöhnlich positiv heraus und zwar durch Faktoren, die nicht nur überraschend, sondern in sich zunächst widersprüchlich erscheinen: ■ Das Weltwirtschaftsforum hat Finnland zu der wettbewerbsfähigsten Volkswirtschaft gekürt und gleichzeitig zugegeben, dass Finnland eine außergewöhnlich hohe Staatsquote mit starkem öffentlichen Dienstleistungssektor beibehalten hat.2

1 Siehe vergleichende Studien z.B. Ute Gerhard, Trudie Knijn und Anja Weckwert (Hg.), Erwerbstätige Mütter. Ein internationaler Vergleich, München 2003; Christine Dienel, Die Mutter und ihr erstes Kind. Individuelle und staatliche Arrangements im europäischen Vergleich, in: Zeitschrift für Familienforschung, 15 (2003), Seite 120-145 sowie Teppo Kröger (Hg.), Families, Work and Social Care in Europe, SOCCARE-Project www.uta.fi/laitokset/sospol/soccare. 2 Siehe z.B. Thomas Fischermann, Der Fall Finnland. US-Ökonom Jeffrey Sachs legt sein makroökonomisches Lehrbuch bei Seite, in: www.zeit.de, 6-2002

perspektive21

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[ aila-leena matthies ]

Nach der OECD-Studie „PISA“ 3 gehört das finnische Schulsystem zu einem der leistungsstärksten in der Welt, obwohl in seinem grundlegenden pädagogischen Konzept eine Leistungsorientierung im klassischen Sinne gar nicht zu finden ist. ■ Die finnischen Frauen fallen im europäischen Vergleich durch ihre hohe Erwerbstätigkeit in Vollzeitbeschäftigung sowie durch ihre exzessive Bildungsfreudigkeit (58 Prozent absolvieren einen Hochschulabschluss 4) auf. Trotzdem erreicht Finnland eine Geburtenrate ■

Erwerbsquoten in EU-Ländern

Dänemark

(1,74), die den deutschen Durchschnitt (1,35) beachtlich übersteigt. Die genannten Faktoren sind deswegen eine Analyse wert, weil sie insgesamt ein interessantes Gegenbeispiel zu Rhetorik und Denkmustern liefern, die momentan in der globalen, europäischen und auch nationalen Politik vieler Länder dominierend wirken: „Bessere Wettbewerbsfähigkeit durch Abbau von öffentlichen Ausgaben“; „mehr Kinder und weniger Arbeitslosigkeit durch Ausstieg der Frauen aus dem Arbeitsmarkt“; „bessere Leistungen der Schüler und Lehrer durch stärkere Kontrolle und mehr Leistungsdruck“. Gegenbeispiel zu gängigen Denkmustern

Finnland Schweden Brandenburg Sachsen Deutschland Spanien 30

40

50 in %

60

70

Frauen

Je stärker diese Dogmen der neuen einseitig ökonomischen Weltreligion gepredigt werden, desto erstaunlicher erscheint es, dass es in der Tat moderne Informationsgesellschaften wie Finnland gibt, die einige dieser Dogmen widerlegen oder zumindest relativieren. Meines Erachtens kann keiner der genannten Politikbereiche isoliert voneinander, sondern nur in der gegenseitigen Abhängigkeit der Bereiche Arbeitsmarktpolitik, Familienpolitik und Bildungspolitik, verstanden werden.

Männer Quelle: Eurostat 2002

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perspektive21

3 Siehe: www.pisa.oecd.org 4 Siehe www.OECD.org, Education at a glance 2003.


[ wo ein rad ins andere greift ]

Trotz einiger objektiver Vorteile gilt Finnland keinesfalls als ein harmonisches Modell der Sozialpolitik 5, sondern auch die genannten zentralen Bereiche der Gesellschaftsgestaltung sind gegenwärtig in einer Arena heftiger Auseinandersetzungen: Brauchen junge Familien mehr Betreuungsangebote? Wie können die Arbeitgeberkosten bei Schwangerschaft, Elternschaft und Krankheit des Kindes gerechter zwischen den Arbeitgebern beider Eltern geteilt werden? In diesen komplexen Fragestellungen bahnt sich eine neue Perspektive an, die zeigt, dass Finnland zwar in mancher Hinsicht eine vorbildliche arbeitsmarktfreundliche Familienpolitik entwickelt hat, aber erst mühsam dabei ist, in eine familienfreundliche Arbeitsmarktpolitik umzusteigen. Historische und aktuelle Züge des finnischen Modells Finnland gehört zu den Ländern, die – auf Grund der elterlichen Erwerbsmuster und Betreuungskulturen der Kinder –, in der vergleichenden sozialpolitischen Forschung 6 der Kategorie Doppelkarrieremodell zugeordnet werden.7 In diesem Modell sind sowohl Mann wie auch Frau in Vollzeit be-

schäftigt, und die Kinderbetreuung wird von formellen Organisationen, in Finnland hauptsächlich von kommunalen Einrichtungen, geleistet. Frauen haben die Männer überholt Rein theoretisch besitzen in diesem Modell beide Eltern, unabhängig vom Geschlecht, die Option, ihr Leben möglichst vielfältig zu gestalten und alle Lebensbereiche, inklusive Beruf und Kinder, gleichmäßig zuzulassen. Vor die Entscheidung „entweder das Eine oder das Andere“ werden die finnischen Eltern in dieser Frage gar nicht gestellt. In der Praxis verteilt sich diese Vielfalt dennoch ungleichmäßig: Die Chancen der Vielfalt im Sinne von Familienarbeit und Betreuungszeiten neben der Berufstätigkeit werden – trotz gesetzlich garantierter Rechte und finanziellen Ausgleichs – von den Vätern erst in geringem Maße wahrgenommen. Frauen machen fast die Hälfe (47 Prozent) der Arbeitskraft in Finnland aus und arbeiten in der Regel in Vollzeit. Die Frauen haben die Männer des Landes in der Erwerbstätigkeit nicht nur eingeholt, sondern im Bil-

5 Vergessen darf man nicht, dass Finnland wie jede Gesellschaft auch ihre besonderen Probleme hat. Um einige zu nennen; international gesehen ist die Selbstmordrate der finnischen Männer extrem hoch, eine überdurchschnittlich hohe Anzahl von Frauen sterben wiederum durch Familiengewalt. Das öffentliche Gesundheitssystem weist große Funktionsprobleme auf und die regionale Ungleichheit in der Versorgung der Bürger/innen mit öffentlich existentiellen Dienstleistungen nimmt besorgniserregend zu. 6 Siehe z.B. Jane Lewis, Erwerbstätigkeit und Betreuungsarbeit, in: Gerhard, Knijn, Weckwert (Hg.), a.a.O., Seite 29-52 sowie Birgit Pfau-Effinger, Change of Family Policies in the Social-cultural Context of European Societies, in: Compartative Social Research, 18 (1999), Seite 135-159. 7 Siehe Lewis, ebd., Pfau-Effinger, ebd.

perspektive21

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[ aila-leena matthies ]

dungsgrad bereits überholt: Frauen haben den höheren Anteil an akademischen Abschlüssen und belegen auch intensiver als Männer die Fortbildungsangebote. Frauen belegen zum Beispiel schon lange die Mehrheit der universitären Studienplätze und neuerdings 25 Prozent der Professuren – immerhin ein Spitzenwert im europäischen Vergleich. Unabhängigkeit von Frauen ist selbstverständlich Auf die historischen Erklärungen des Geschlechtermodells Finnlands möchte ich hier nur anekdotisch eingehen. Schon die steinzeitlichen archäologischen Funde (Felsenmalerei, Gräber) zeigen: Frauen in Finnland mussten unter den harten Lebensbedingungen ihres Landes schon immer stärker mit für das Überleben sorgen als in anderen Gebieten. Die Mehrheit der finnischen Männer konnte sich praktisch in keiner historischen Periode „eine Hausfrau leisten“. Ob in der volkstümlichen Mythologie oder in der modernen Erziehung, die wirtschaftliche Unabhängigkeit und Selbstbestimmung der Frau gilt in Finnland als eine Selbstverständlichkeit. Insofern erklärt sich ihre Berufstätigkeit kaum durch eine bewusste Emanzipation, schon gar nicht durch massive feministische Einflüsse, sondern zum größten Teil durch eine feh34

perspektive21

lende wirtschaftliche Alternative. Bis in die sechziger Jahre war Finnland vorwiegend ein Agrarland, dessen Agrarwirtschaft aus kleineren bäuerlichen Familienbetrieben bestand. Auf den oft abgelegenen Höfen waren die Arbeitseinsätze von Mann und Frau gleichermaßen unverzichtbar. In den erst spät aufkommenden Industrieund Dienstleistungsbranchen waren Frauen als günstige Arbeitskräfte ebenfalls gefragt. Durch die fast ununterbrochene Präsenz der Frauen auf dem Arbeitsmarkt war es selbstverständlich, dass sie im Aufbau staatlicher Sozialversicherung (z.B. Rente, Krankenversicherung) nach dem Zweiten Weltkrieg als Individuen mit eigenständiger Versicherungsleistung und eigenem Anspruch erfasst und nicht als „abhängige Familienmitglieder“ mitversichert wurden. Dieselbe Logik galt auch in der Etablierung des Bildungswesens: Alle Bürgerinnen und Bürger wurden bei der wirtschaftlichen Entwicklung des Landes benötigt, alle sollten daher möglichst gleiche Bildungschancen haben. Geschlechtermuster sind weitgehend ähnlich Auf der anderen Seite werden Frauen nach wie vor von den zentralen Machtstellen der Wirtschaft ausgegrenzt und bekommen trotz höherer Bildungsanstrengungen durchgängig


[ wo ein rad ins andere greift ]

weniger Gehalt. Auch das postmoderne Risiko der Job-hopper-Generation hat besonders stark die Frauen betroffen: Seit den neunziger Jahren werden 50 Prozent der Frauen in befristeten Arbeitsverhältnissen beschäftigt, aber nur 18 Prozent der Männern. Resümierend ist festzuhalten, dass das gesellschaftliche Geschlechtermuster der Frauen in Finnland sich weitgehend angepasst hat an das, was als „männliche Norm“ gilt: finanziell unabhängig, voll berufstätig, bildungsorientiert, effektiv, politisch mitgestaltend. Solche junge Frauen findet man heute allerdings überall in Europa, nur haben sie dann meistens – anders als in Finnland – auf (mehrere) Kinder verzichtet. In der aktuellen Geschlechterdebatte geht es aber darum, dass die männliche Norm viel zu einseitig und schließlich auch zerstörerisch ist. Sozialstaat spiegelt sich bei Gesundheit und Bildung Könnte eine Annäherung beider Geschlechter, an einer Norm „Frau“ bzw. an einem Modell jenseits der Geschlechterdichotomie bedeuten, dass alle Lebensbereiche beider Elternteile sich ausgeglichener die Waage halten? Sicher ist es der Volkswirtschaft dienlich, wenn sie hoch gebildete junge

Eltern in grenzenloser zeitlicher und räumlicher Flexibilität zur Verfügung hat. Aber gerade dies scheinen junge Eltern nicht mehr bedingungslos mitzumachen, weil der Verlust an Lebensqualität zu hoch ist. Für hohe Steuern auch gute Qualität Die lange und vergleichsweise starke Mitwirkung beider Geschlechter in der politischen Gestaltung des skandinavischen Gesellschaftsmodells sowie die offensive Bildungsbeteiligung der Frauen sind nicht ohne Ergebnis geblieben, sondern spiegeln sich darin wieder, welche Schwerpunkte die Politik sich vornimmt und mit welcher Qualität diese umgesetzt werden. Eine Spezialität des nordischen Wohlfahrtstaatsmodells ist, dass es sich nicht nur als monetäres System der Sozialversicherung versteht, sondern den Sektor der Dienstleistungen – im Sozial-, Gesundheits- und Bildungsbereich – eine mindestens vergleichbare, wenn nicht sogar höhere Signifikanz anrechnet.8 Die Dienstleistungen, die fast von allen Bürgern in Anspruch genommen werden, legitimieren im Gegenzug die relativ hohen Steuerbelastungen: Man bekommt auch etwas Sichtbares und Unmittelbares für die an Staat und

8 Vgl. z. B. Raija Julkunen, Women in the Welfare State, in: Merja Manninen und Päivi Setälä (Hg.), The Lady with the Bow, Helsinki 1990, Seite 140-160 und Jorma Sipilä (Hg.), Social care services. The key to the Scandinavian welfare model, Avebury 1997.

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Kommunen bezahlten Abgaben. Hinzu kommt, dass die Dienstleistungen einen quantitativ außergewöhnlich umfangreichen und auch qualitativ anspruchsvollen Arbeitsmarkt bieten. Diese Stellen werden vor allem von Frauen mit relativ hoher Bildung besetzt. Elternschaftszeiten plus Kita-Betreuung Anders ausgedrückt: Der enorme Ausbau des öffentlichen Dienstleistungssektors in Finnland im Bereich Bildung, Soziales und Gesundheit war finanziell möglich, weil der Staat auf die kostengünstige Arbeitskraft der Frauen zurückgreifen konnte. Dadurch wurde ein preiswerter „dienstleistungsgewichtiger Wohlfahrtsstaat“ für das Land geschaffen.9 Die Einkommensunterschiede der Geschlechter erklären sich somit hauptsächlich aus der starken Segregation des Arbeitsmarktes. Andererseits erklärt sich auch aus diesen Zusammenhängen der Begriff „womenfriendly welfare state“, der eine besondere Verbundenheit der Frauen mit dem nordischen Wohlfahrtsstaatstypus verdeutlicht.10 Dass Berufsleben und Nachwuchs sich für finnische Eltern nicht gegenseitig ausschließen, liegt in erster Linie

am finanziellen Ausgleich während der Mutterschafts- und Elternschaftszeiten und an der durchgehenden Kindertagesbetreuung. Die Logik klingt zunächst einfach: Beide Eltern werden auf dem Arbeitsmarkt gebraucht, gleichzeitig will die Gesellschaft nicht auf den Nachwuchs verzichten. Also muss beides für die Eltern, insbesondere für Frauen, attraktiv gemacht werden. Im Prinzip gilt dasselbe in allen skandinavischen Ländern und war auch die Logik in der DDR und in den meisten osteuropäischen Ländern. Elternbeiträge sind nach Einkommen gestaffelt Weiterhin ist klar, dass die Kindertagesbetreuung eine unabdingbare Voraussetzung für die Berufstätigkeit beider Eltern und für die Geburtenrate ist.11 Ohne das Bewusstsein, dass jedes Kind in einer Tagesbetreuung einen Platz erhält, dort gut versorgt und gefördert wird und somit die weitere Erwerbstätigkeit der Eltern absichert, würde der Wunsch nach einem Kind in vielen Fällen auch nur ein Wunsch bleiben. Allein die Existenz des zuverlässigen Betreuungssystems hat daher sicher eine an sich schon förderliche Funktion für

9 Siehe Raija Julkunen, Hyvinvointivaltio käännekohdassa, Tampere 1992. 10 Siehe Helga Hernes, Welfare State and Women Power. Essays in State Feminism, Oslo 1987. 11 Dagegen wurde die Gestaltung der Schule kaum im Zusammenhang mit der Berufstätigkeit der Eltern betrachtet. Eine relativ lange Dauer des Schultages und das warme Mittagessen ergaben sich in finnischen Schulen schon von Anfang an, allein wegen der langen Schulwege, und hatten in dem Sinn wenig mit der Berufstätigkeit der Eltern zu tun.

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die Reproduktion der Bevölkerung.12 Genauso entscheidend ist aber auch die Option, für eine Weile abgesichert aus dem Berufsleben aussteigen zu können. Vorschulunterricht erreicht fast alle Das Kindertagesbetreuungsgesetz Finnlands von 1973 verpflichtet die Kommunen dazu, eine Kindertagesbetreuung entweder in Kindertageseinrichtungen oder bei Tagesmüttern für alle Kinder nach Bedarf bereit zu stellen. Im Jahr 1994 wurde das Gesetz auf alle Kinder von 0 bis 7 Jahre als subjektives Recht unabhängig davon erweitert, ob Eltern berufstätig sind oder nicht. Seit den Achtziger Jahren wird die häusliche Betreuung mit Hilfe des Erziehungsgeldes gleichwertig mit der Kindertagesbetreuung in Einrichtungen gefördert. Familien sollten möglichst kostenneutral entscheiden können, ob sie die Kinder selber betreuen oder ihr Recht auf kommunale Betreuung wahrnehmen. Die Elternbeiträge der Kindertagesbetreuung sind nach dem Einkommen der Eltern gestaffelt. Auf Grund von langen Elternschaftsund Erziehungszeiten, Geburt der Geschwister oder auch temporärer Er-

werbslosigkeit der Eltern verläuft eine Betreuung selten nur nach einem Modell. Fast jedes Kind hat Erfahrungen sowohl mit der Kindertagesbetreuung als auch mit einer Zeit zu Hause mit einem Elternteil und mit Geschwistern. Entsprechend vielfältig erleben auch die Eltern diese Jahre. So werden durchschnittlich 24 Prozent der Kinder unter 3 Jahren in einer Einrichtung betreut. Von den 3 bis 6-jährigen Kindern sind 66 Prozent in der Tagesbetreuung und 34 Prozent zu Hause. 13 Hochschulausbildung für Kitalehrerinnen und -lehrer Die Kinder werden in Finnland in dem Kalenderjahr eingeschult, in dem sie das Alter von 7 Jahren erreichen. Ein kostenloser Vorschulunterricht ist für die 6-jährigen Kinder ein freiwilliges Angebot und wird entweder in einer Kindertagesstätte oder in einer Schule für ein paar Stunden am Tag erteilt. Dieses Angebot nehmen 96 Prozent der Zielgruppe in Anspruch. Für die ersten beiden Schuljahre wurde noch bis Mitte der neunziger Jahre in den Kindereinrichtungen eine Nachmittagsbetreuung fast flächendeckend angeboten. Dies wurde aber in

12 Auch wenn diese These in Finnland nicht experimentell exakt nachgewiesen werden kann, wurde sie im Experiment deutsche Wiedervereinigung erwiesen: Frauen der neuen Bundesländer hörten 1990 praktisch auf, Kinder zu bekommen (Geburtenrate sank um 60 Prozent in einem Jahr) u.a. weil der Fortbestand der Betreuungseinrichtungen ein Unsicherheitsfaktor wurde bzw. mit höheren Kosten verbunden war. Siehe dazu z.B. Aila-Leena Matthies, Geschlechtermodell im Wandel? Finnland und Neue Bundesländer im Vergleich, in: Sozialreform, 3 (1998), Seite 193-214. 13 www.stakes.fi „Facts about Finnisch Social Welfare and Health Care 2003“.

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der Zeit der Finanzkrise stark abgebaut. Laut staatlicher Vorgaben hat ein Betreuer oder eine Betreuerin in der Kindereinrichtung bei Kindern unter 3 Jahren maximal vier Kinder und bei Kindern im Alter von 3 bis 7 Jahren maximal sieben Kinder zu betreuen, was erheblich über dem europäischen Betreuungsschlüssel liegt und eine andere Intensität der Betreuung und Förderung ermöglicht. Auch die Qualifikation des Personals weicht von den europäischen Werten nach oben ab. Eine

Zufriedenheit von Eltern auch für die Wirtschaft gut

Das finnische Schulsystem

5 4

4

3

Fachhochschulen

Universitäten

2

3 2 1

1

3 2 1

Schulen mit gymnasialer Oberstufe

Berufliche Bildung

zentrale Berufsgruppe sind die „Kindergartenlehrer und -lehrerinnen“ (finn. lastentarhanopettaja), die eine 3- bis 5jährige universitäre Ausbildung (BA oder MA) erworben haben und ständig fortgebildet werden, um auf dem neuesten Wissensstand der frühkindlichen Förderung und Pädagogik zu bleiben. Es ist gesetzlich geregelt, dass jede dritte Betreuungsperson in der Kindereinrichtung diesen akademischen Abschluss des Kindergartenlehrers oder der Kindergartenlehrerin haben muss. 14

3 2

Insgesamt werden Kindertagesstätten in Finnland nicht als beliebige um Spenden bettelnde Wohlfahrtseinrichtungen für arme, berufstätige Mütter angesehen, sondern ihre europäisch gesehen hohe Qualität und öffentlichpolitisch garantierte Zuverlässigkeit ist von enormer Bedeutung gerade für bildungs- und karriereorientierte El-

1

10 16 9 15 8 14 7 13 6 12

Grundlegender Unterricht

5 11

Pflichtschule

4 10 3 9 2 8 1 7 6

Vorschulunterricht in Schulen oder Kindergärten

Alter Schuljahre

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14 Typischerweise lässt sich daraus folgende maximale Gruppengröße abgeleiten: eine Gruppe von Kindern unter 3 Jahren hat maximal 12 Kinder und wird von einem oder einer Kindergartenlehrer/in und zwei Erzieher/innen bzw. Kinderpfleger/innen betreut. Bei den Kindern im Alter von 3 bis 7 Jahren beträgt die maximale Gruppengröße 21 Kinder, die von zwei Kindergartenlehrer/innen und einer Kinderpflegerin betreut werden. Darüber hinaus können auch sog. „Geschwistergruppen“, d.h. altersgemischte Gruppen, gebildet werden, in denen insgesamt maximal 15 Kinder unter und über 3 Jahren zusammen betreut werden. Gemäß dem Betreuungsschlüssel nimmt ein behindertes Kind einen doppelten Platz ein oder hat zusätzliche Betreuungspersonen. Mehr über die Kindertagesbetreuung in Finnland z.B. in Aila-Leena Matthies, Nicht mehr in Frage gestellt. Kinderbetreuung in Finnland, in: Kinder-Tageseinrichtungen aktuell, 18 (2003), Seite 125-128.


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tern – und indirekt auch für ihre Arbeitgeber. Schließlich ist es der Wirtschaft auch förderlich, wenn Eltern von Betreuungsproblemen entlastet sind und sich beruflich einsetzen können, wenn Kinder gesund bleiben und ihre Entwicklung optimal und nach besten wissenschaftlichen Erkenntnissen gefördert wird. Im Folgenden bemühe ich mich auf den Punkt zu bringen, wie das nach den PISA-Ergebnissen der OECD oft gelobte finnische Schulsystem im Gesamtkontext eines speziellen Gesellschaftsmodells eingebettet ist, und wie die angeblichen Erfolge zu erklären sind. Meine These ist, dass es dabei nicht nur um schulinterne lerntechnische Aspekte oder didaktische Tricks geht, sondern um ein komplexes Bündel von Faktoren, auf deren Gesamtwirkung es ankommt. Was ist in den finnischen Schulen anders? Der wichtigste Faktor ist meines Erachtens, dass Finnland schon seit langer Zeit einen politisch-gesellschaftlichen Konsens über das Modell der Breitenbildung erreicht hat und eine Schulform durchgesetzt wurde, die in ihren Grundlagen für alle Kinder ein einheitliches und relativ hohes Bildungsniveau

anstrebt, unabhängig von der sozialen Herkunft. Es gibt eine breite grundsätzliche Übereinstimmung, dass Bildung der zentrale Wirtschaftsfaktor Finnlands ist und Investitionen in die Bildung ökonomisch sinnvoll sind. Die seit Anfang der siebziger Jahre anstelle eines dreigegliederten Systems eingeführte einheitliche 9-jährige Grundschule 15 wurde regionalpolitisch und wirtschaftspolitisch forciert, erhielt aber zunächst heftigen Widerstand vor allem von den Lehrerinnen uns Lehrern sowie ihrer Gewerkschaft. Schulsystem war Voraussetzung für den Wirtschaftsboom Der ökonomische Sprung Finnlands während der letzten 30 Jahre, von einem unterentwickelten peripheren Agrarland zu einer modernen Informationsgesellschaft, hat den „Schulwechsel“ im Nachhinein bestätigt. Ein relativ hohes Bildungsniveau der gesamten Bevölkerung hat die raschen wirtschaftlichen Umstrukturierungen Finnlands möglich gemacht: Die Menschen können flexibel in neue Aufgaben umgeschult werden, und Fortbildung und Umschulung gehören als Normalität zum Lebenslauf. Als zweiten Erfolgsfaktor möchte ich die allgemeine atmosphärische Ge-

15 Mehr zum Aufbau des finnischen Bildungssystems, siehe z. B. www.edu.fi/info/system und Aila-Leena Matthies, Finnisches Bildungssystem und Familienpolitik – ein leuchtendes Beispiel?, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B41-2002, Seite 38-45.

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staltung und eine fördernde Grundeinstellung der finnischen Schule nennen. Man geht von der Annahme aus, dass ein Kind dann optimal lernt, wenn es gern zu Schule kommt, sich dort möglichst wohl fühlt und ohne Angst und sonstige Belastungen auf das Lernen konzentrieren kann. Die hohe Priorität des psychosozialen und physischen Wohlbefindens der Schülerinnen und Schüler spiegelt sich wieder in der relativ guten äußerlichen materiellen Ausstattung, dem gemeinsamem warmen Mittagessen und vor allem auch in der breiten Palette von professionellem Betreuungspersonal.16 Lehrer sind allgemein hoch motiviert. Individuelle Förderung von Schülern Keine Schule läuft ohne Probleme, aber die Schulen haben Möglichkeiten, individuell und gestalterisch rasch in die entstehenden Probleme einzugreifen. Bis zum 6. Schuljahr erhalten die Schüler keine Noten sondern leisten Selbsteinschätzungen bzw. erhalten Fremdeinschätzungen, die sich nicht auf einen Vergleich mit Mitschüler, sondern auf die eigene Zielsetzung und die eigenen Reserven und Bewältigungen des Lernstoffes beziehen.

Als drittes würde ich die integrierte und individuelle Förderung zum Abbau von Lernschwächen und Lernproblemen in der Schule nennen. Lernprobleme individuell auffangen Nach finnischem Denkmuster kann eine moderne Informationsgesellschaft es sich nicht leisten, einen Teil der Jahrgänge schon im Voraus in die soziale Ausgrenzung und Aussichtslosigkeit zu schicken. Wissenslücken bzw. Lernprobleme müssen unmittelbar aufgefangen werden. Wenn das Kind, die Lehrer oder die Eltern Lernprobleme erkennen, können diese sofort durch individuelle Förderstunden oder durch Einsatz von Sonderpädagogen bzw. Lehrerassistenten in der Schule bearbeitet werden. Sonderschulen und Sonderschulklassen wurden weitgehend abgebaut und deren Fachkräfte in die Regelschulen integriert. So gibt es keine andere Alternative, als sich als Team in der Schule so gut wie möglich zu bemühen und alles auszuprobieren, damit jedes Kind mitkommt. Wiederholungen der Klassen kommen kaum vor und würden als Versagen der Schule angesehen werden. Für die Lernförde-

16 Die Lehrenden und Lernenden sind nicht allein gelassen, sondern haben ein Team oder Netz von Schulassistent/innen, Kolleg/innen, Schulsozialarbeiter/innen, Schulschwester, Psycholog/innen, Studienberater/innen und Sonderpädagog/innen um sich, die flexibel eingeschaltet werden können.

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rung kann jede Schule in dem ihr gegebenen finanziellen Rahmen die besten Lösungen für jedes Kind individuell entwickeln. Es ist kein Stigma, diese Leistungen entgegen zu nehmen. Kinder gehen in der Regel gern zum Förderunterricht. Als viertes sind die relativ umfangreiche Autonomie und das moderne Schulmanagement finnischer Schulen im Vergleich mit vielen anderen Ländern auffallend. Die positiven Aspekte des New Public Managements – wie Zielvereinbarung und Globalbudgetierung, eigene Stundenrahmen und Teamarbeit – sind so umgesetzt, dass sie das Vertrauen in die Kompetenz der Lehrenden und der einzelnen Schulen unterstreicht. An die Schulleitung ist von oben recht viel Macht delegiert worden, dennoch muss das gesamte Personal gleichberechtigt einbezogen werden.

in Finnland stellt, die von Anfang an anwendungsorientiert zum Teil in authentischen Klassenzimmersituationen stattfindet. Ob Fortbildung der Lehrenden, Bildungsorientierung der Eltern, allgemeine Lesegewohnheiten und öffentliche Bildungsangebote, sowie das Netz der Bibliotheken – der Erfolg der Schule steht in Verbindung mit einem bildungsfördernden Umfeld. Um nicht ein zu rosiges und somit unglaubwürdiges Bild über das finnische Schulsystem zu vermitteln, seien einige Themen aus dessen aktuellen Problemdebatten angerissen. Seit einigen Jahren wird an der Schnittstelle der Bildungs-, Familien- und Arbeitsmarktpolitik über die sogenannte „Nachmittagslücke“ der Kinder kontrovers diskutiert und es werden dazu Lösungskonzepte entwickelt.

Viele Einzelheiten greifen ineinander Schließlich ist davon auszugehen, dass in die PISA-Ergebnisse, die über die Lernerfolge der 15-jährigen Schülerinnen und Schüler Auskunft geben, auch die Wirkungen anderer Ebenen des gesamten Bildungswesens hineinfließen. Dazu gehören der Besuch der vorschulischen Einrichtungen der Kinder aber auch die Ausbildung der Lehrenden, die sehr hohe Aufnahmebedingungen für die akademischen Studien

In Finnland kein Widerspruch: Individuelle Förderung im Klassenverband. perspektive21

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Die Länge des Schultags wird in Finnland von jeder Schule selbst bestimmt und geht in der Regel bis in die Nachmittagsstunden, jedoch nicht so lange wie der Arbeitstag der Eltern. Die größte Versorgungslücke entsteht gerade bei den kleinsten Schülern, die zwar ein warmes Mittagessen bekommen, aber nach der Schule theoretisch mehrere Stunden Zeit haben, bevor ihre Eltern von der Arbeit nach Hause kommen. Nachmittagslücke soll geschlossen werden Während noch bis Anfang der neunziger Jahre die Kommunen in den Kindertagesstätten Nachmittagsgruppen für die kleinen Schüler zur Verfügung stellten, wird heute versucht, mit einer Vielfalt von mehr oder weniger provisorischen Lösungen die Nachmittagslücke zu schließen. Nach der Empfehlung einer eigens berufenen staatlichen Kommission werden seit 2003 die Kommunen dazu verpflichtet, Betreuungsangebote nach Bedarf für die Schüler anzubieten. Dazu gehören beispielsweise Nachmittagsclubs in der Schule, die auch mit außerschulischen Organisationen gestaltet werden können, oder Experimente mit Verlängerung des Schultags vor allem durch eine ausgedehnte Mittagspause mit Erholungsangeboten. Aber neben den zusätzlichen Angeboten wurde auch die vorhandene 42

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Variante erweitert, dass Eltern ihre Erwerbstätigkeit während der ersten Schuljahre des Kindes reduzieren – entweder zu einem Sabbatjahr oder zum verkürzten Arbeitstag. Neu ist dabei, dass die verkürzte Arbeitszeit zwischen den beiden Eltern flexibel geteilt werden kann und somit die Arbeitgeber beider Elternteile zu den Kostenträgern gehören. So wird die Nachmittagslücke in erster Linie als gesellschaftspolitisches und nicht als ein privates Problem betrachtet. Weitere Problemzonen des finnischen Schulsystems wurden durch die intensive schulbegleitende Forschung erkannt. Die Benachteiligung der männlichen Schüler scheint eine Herausforderung zu sein, die inzwischen zwar immer glaubwürdiger nachgewiesen wurde, aber deren Lösung sich als schwierig darstellt, solange der Beruf des Lehrers für Männer nicht attraktiver wird bzw. männliche Studienbewerber mit ihren in der Regel schlechteren Abschlussnoten geringere Aufnahmechancen zum Lehrerstudium haben. An Bildung wurde nicht gespart Eine Quotenregelung des Lehrerberufes hat in dem Sinn wenig gewirkt, weil männliche Lehrer selten im Schulbetrieb – vermutlich wegen des niedrigen Gehalts – verbleiben, son-


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dern auf der Karriereleiter nach oben oder aus der Schule heraus gehen. Eine wichtige Botschaft der PISAStudie ist, dass eine vernünftige öffentliche Versorgung im Bereich „Bildung und Soziales“ eben keine unerträgliche Belastung für die Wirtschaft ist. Im Gegenteil. Es hat sich erwiesen, dass Investitionen in die Bildung gerade eine Voraussetzung für eine zukunftsorientierte und flexible Volkswirtschaft sind und zur Überbrückung von Krisen beitragen. Trotz großer Sparmaßnahmen in den letzen zehn Jahren genießt die Bildung im finnischen politischen System einen vergleichsweise bevorzugten gesellschaftlichen Stellenwert. Perspektiven einer neuen europäischen Familienpolitik In Finnland aber auch in anderen skandinavischen Ländern sind bei der Vereinbarkeit von Familie und Erwerbstätigkeit zwei Diskussionsfronten zu erkennen. Einerseits wird angestrebt, die öffentliche Verantwortung für Betreuungsangebote der Kinder zu erweitern im Sinne von Nachmittagsbetreuung der Schüler. Diese Zielsetzung steht jedoch kontrovers zur Forderung nach Arbeitszeitverkürzung und einem familienfreundlicheren Arbeitsleben insbesondere für die Väter. Mit der zunehmenden Abwesenheit der Eltern, und

gerade der Väter, werden manche neuen psycho-sozialen Problemerscheinungen der Kinder und Jugendlichen erklärt. Zunehmende Zeitknappheit sorgt beide Eltern Was junge Familien, die sowohl mit der Karriere als auch mit den Kindern verbunden sind, am meisten vermissen, ist der so genannte Zeitwohlstand. Zeit ist es, deren Knappheit die Berufstätigen, oft schon mobilen oder pendelnden Familien, am meisten belastet. Wegen des Zeitmanagements und dem Anspruch auf eigene Zeit entstehen die meisten innerfamiliären Konflikte – beim gleichzeitig bestehenden Ziel, eine möglichst hohe Qualität der knappen gemeinsamen Zeit zu erreichen. In Umfragen 17 zu optimalen Arbeitszeitregelungen wurde belegt, dass über die Hälfte der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer unabhängig vom Geschlecht sich vor allem weniger Arbeitszeit wünschen und bereit sind, unter Berücksichtigung finanzieller Konsequenzen kürzer zu arbeiten. Besonders stark ist diese Äußerung bei Eltern kleiner Kinder. Nicht nur über die fehlenden Dienstleistungen, sondern auch über Überforderung durch den Beruf, Überstunden und Angst um den Job klagen heutzutage junge El-

17 M. Härmä, T. Nupponen, Työn muutos ja hyvinvointi tietoyteiskunnassa, www.sitra.fi, 2003.

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tern. Gleichzeitig kommen Horrormeldungen aus den Schulen und aus der Jugendhilfe über die Verwahrlosung der Kinder und die angeblich abnehmende Erziehungskompetenz der Eltern. Die neue Suche nach Zeitwohlstand macht sich bemerkbar auch in dem Umfang, wie die vorhandenen Möglichkeiten der beruflichen Freistellung von Eltern – allerdings hauptsächlich von Müttern ausgeschöpft werden. Emanzipation von Müttern und Vätern Auch in Finnland lehnen zunehmend mehr junge Frauen das volle Doppelbelastungsmodell ihrer Mütter ab. Die Erziehungsfreistellung nach der Geburt des Kindes wird relativ umfangreich und weithin ausgeschöpft, so dass die einstigen Vorkämpfer der Tagesbetreuung hier schon einen frauenpolitischen Rückschlag zu erkennen vermuten. Aber auch die Bereitschaft beider Eltern, bei der Einschulung des Kindes nochmals die Erwerbstätigkeit zu reduzieren, ist ein Zeichen eines Wertewandels oder zumindest einer anderen Prioritätensetzung. Viele junge Frauen gehen so weit, dass der Wunsch nach Kindern nur dann realisiert wird, wenn der Partner

sich gleichermaßen an den familiären Verpflichtungen beteiligt bzw. gleichermaßen auf die Berufstätigkeit verzichtet. Das Arbeitsleben soll sich diesen Anforderungen stellen, unterstützt durch die staatliche Väterpolitik. In dieser Variante der Geschlechterpolitik kann sich auch der Vater an der Norm der Frau orientieren.18 Zunehmend wird gerade aus der Sicht von Schule und Familie kritisch gefragt, inwieweit die Familien eigentlich ihre Lebensgestaltung nach den Interessen der Wirtschaft und des Berufslebens ausrichten sollen. Lieber wünsche man, dass über eine gerechtere Verteilung der bezahlten Arbeit bzw. Reduzierung der Arbeit geredet wird. Und gemeint ist hier nicht nur die Verteilung zwischen Männern und Frauen, sondern auch zwischen den überbelasteten Erwerbstätigen und den frustrierten Erwerbslosen in dem Sinne, dass alle zwar Arbeit, aber etwas weniger, und zugleich auch mehr Freizeit und Familienzeit, d.h. Zeitwohlstand hätten. Neue familienpolitische Initiativen Mit zwei konkreten vaterpolitischen Reformen ist die finnische Gesellschaft momentan bemüht, den Anforderun-

18 Viel stärker werden allerdings die Benachteiligungen der Frauen und die Barrieren der Familiengründung aus den zunehmenden Unsicherheiten und Inkontinuitäten des Arbeitsmarktes diktiert. Die befristeten Arbeitsverhältnisse – oft der Schutz des Arbeitgebers gegen das Risiko Familiengründung der Mitarbeiter - machen das Kind erneut zum Erwerbsrisiko für die Frau und höhlen damit die Errungenschaften der neuen Väterpolitik wieder aus.

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gen einer geschlechtermäßig ausgeglicheneren Familien- und Arbeitsmarktpolitik entgegen zu kommen. Anfang 2003 wurde der von der Mutter unabhängig bezahlte19 Vaterschaftsurlaub von zwei Wochen auf einen ganzen Monat verlängert. Der einjährige Elternschaftsurlaub und die Erziehungsfreistellung bis zur Vollendung des 3. Lebensjahrs des Kindes von jeweils einem der beiden Eltern bleiben dabei unberührt, genauso wie der 6-wöchige Mutterschaftsurlaub. Schwangerschaftsrisiko auf die Arbeitgeber verteilen Darüber hinaus wurde geregelt, dass die Eltern die Erziehungsfreistellung untereinander so teilen können, dass beide ihre Erwerbstätigkeit auf Teilzeit reduzieren. Diese Regelung wurde jedoch von der Zustimmung beider Arbeitgeber abhängig gemacht. 20 Nach den ersten Erfahrungen sieht es allerdings so aus, dass gerade die Arbeitgeber der Väter generell Probleme mit der Flexibilisierung der Arbeitszeit und mit dem verlängerten Vaterschaftsurlaub haben, und auch keine massenhafte Bewegung der Väter nach Hause zu verzeichnen ist. Das zweite Reformvorhaben steht noch in der heißen Diskussionsphase: Die Frauenorganisationen aller Parteien,

die Unternehmerinnenverbände sowie die Arbeitgeberverbände des Dienstleistungssektors haben die Forderung konkretisiert, dass die Arbeitgeberkosten, die durch Schwangerschaft, Geburt und Erziehung des Kindes entstehen, zwischen den Arbeitgebern beider Eltern gerecht verteilt werden müssen. Momentan werden sie einseitig von den Arbeitgebern der Mütter getragen und die kapitalintensiveren Arbeitgeber der Väter haben in der Frage des Familiennachwuchses ihrer Arbeitnehmer gar keine Konsequenzen zu tragen. Diese Ungleichheit erklärt auch die zähe Benachteiligung junger Frauen bei der Arbeitssuche und der hohe Anteil an Zeitverträgen. In einer gleichberechtigten Bewerbungssituation müsste jeder zeugungsfähige Mann ein genauso großes Risiko für die Arbeitgeber darstellen wie eine gebärfähige Frau. Familienfreundlichkeit als Qualitätsausweis Die hier angesprochenen Fragestellungen sind schließlich mit der Frage verknüpft, wie Voraussetzungen für eine nachhaltige Gesellschaft, ausgeglichenes Familienleben und ein solides Sozialisationsumfeld im Zeitalter des globalen Kapitalismus generell zu erreichen sind. Transnationale Vergleiche erläutern im-

19 Die Vergütung entspricht 65 % des Einkommens und die Kosten werden von der finnischen nationalen Sozialversicherungsanstalt getragen, die sich durch Arbeitgeber- und Arbeitnehmerbeiträge sowie durch Steuermittel finanziert. 20 Juhapekka Suutarinen, Isät mukaan lapsia hoitamaan, in: PT-lehti, 1-2003, www.palvelutyonantajat.fi

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merhin, dass sehr viele Faktoren der Gesellschaftsgestaltung vom politischen Willen gelenkt und geändert werden können. Wenn Europa ein Profil als Qualitätsregion in der globalen Arbeitsteilung erreichen und behalten soll, sollte die einseitige Suche nach möglichst kostengünstigen Wirtschaftsstandorten nicht mehr das dominierende Prinzip sein. Gefragt werden muss, wie und wo hochqualifizierte Arbeitskräfte ausgebildet und behalten werden können. Wenn Frauen in Europa zunehmend die Bildungschancen wahrnehmen und Studienplätze an den Universitäten belegen und gleichzeitig die Geburtenraten bedrohlich sinken, muss in der „Dauerfrage“ der Vereinbarkeit von Familie und Beruf noch einmal ernsthaft nach praktikablen Lösungen gesucht werden. Und diese Lösungen

gibt es – das zeigen transnationale Vergleiche. Welche Familienmodelle sollen generell in Europa etabliert werden? Inwieweit sind pluralistische Lebensentwürfe für beide Geschlechter erreichbar und um welchen Preis? In diesem Punkt scheinen die Interessen der globalisierten Marktwirtschaft und der modernen Familiengestaltung völlig auseinander zu klaffen. Familienfreundliche Arbeitsmarktpolitik und arbeitsmarktfreundliche Familienpolitik sind nicht miteinander zu verwechseln, auch wenn sie auf Dauer zu einander finden müssen. Ziel muss es sein, dass Eltern unabhängig vom biologischen Geschlecht sowohl am Leben und am Heranwachsen ihrer Kinder teilhaben können, als auch, dass sie sich beruflich entfalten können. ■

PROF. DR. AILA-LEENA MATTHIES

ist Professorin für Soziale Arbeit an der Hochschule Magdeburg-Stendal (FH). Sie arbeitet unter anderem an vergleichenden Studien über soziale Dienstleistungen, bürgerschaftliches Engagement und soziale Ausgrenzung. Eine längere Verion dieses Aufsatzes ist erschienen in: „Zeit für Familien“. Beiträge zur Vereinbarkeit von Familien- und Erwerbsalltag aus familienpolitischer Sicht. Eidgenössische Koordinationskommission für Familienfragen EKFF. Bern 2004, Seite 91-107 46

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Finnische Inseln WAS BRANDENBURG AUS FINNLANDS BILDUNGSERFOLGEN LERNEN KANN VON STEFFEN REICHE

as machen die Finnen eigentlich so anders, dass sie so viel besser sind?“ wollte ich von einer Schülerin aus Deutschland wissen, die ein Jahr in Finnland die Schule besucht hatte. Ihre Antwort war viel prägnanter als die langen Aufsätze, die in den vergangenen Jahren zu lesen waren: „In Finnland wird den Schülern jeden Tag gezeigt, was sie schon können und wie gut sie sind. Wo liegen die Unterschiede zwischen der deutschen und der finnischen Schule? In Deutschland werden oft Fächer unterrichtet, nicht Schüler. In Deutschland wird überlegt, ob ein Kind eigentlich auf diese Schule passt, oder nicht lieber doch auf eine andere Schule gehen sollte. Der Bildungsexperte Reinhard Kahl erklärt den Unterschied über die Betonung: „Auf Euch haben wir gerade noch gewartet“, heißt es in Finnland. „Auf Euch haben wir gerade noch gewartet“, sagt man in Deutschland.

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Ins Gelingen verlieben Schule soll Spaß machen, aber Schule ist kein Spaß. In Finnland lebt man

diesen Satz. In Deutschland galt als eine wichtige Reaktion auf die Ergebnisse der PISA-Studie, dass man der Spaßpädagogik den Kampf ansagen müsse – und sogleich machte man sich daran, das Kind mit dem Bade auszukippen. Von Finnland lernen heißt nicht sehnsüchtig in den hohen Norden zu gucken, sondern auf die finnischen Inseln in Deutschland zu setzen und diese Träger einer „ansteckenden Gesundheit“ so bekannt zu machen, dass in Deutschland ein Schulen und Schüler tragendes Netzwerk daraus hervorgeht. Erst wenn wir ins Gelingen verliebt sind, wird uns die Depression über die deutschen Probleme kalt lassen. Nur auf finnischen Wegen kommen wir auch zu finnischen Ergebnissen. Als im Mai 2003 die Bundesbildungsministerin sich mit einer Handvoll Kollegen aus den Bundesländern auf den Weg nach Helsinki machte, wurden wir in der dortigen Qualitätsagentur mit der Frage begrüßt, was wir überhaupt sehen und lernen wollten? Alles was man zeigen könne, habe perspektive21

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[ steffen reiche ]

man schließlich von Deutschland gelernt. Schnell war klar, dass damit nicht nur von Rochow, Fröbel und von Humboldt gemeint waren. Gemeint war vielmehr das (oft sagt man mit falscher Betonung: einheitliche) Schulsystem aus DDR-Zeiten. In Finnland lernen Kinder länger gemeinsam und mit besseren Ergebnissen. Sie lernen besser, weil es natürlicher, menschlicher und individueller vonstatten geht. Auch die leistungsstarken Kinder, jene aus den bildungsnahen und anregungsreichen Elternhäusern, lernen in diesem System besser. Das kann den konservativen deutschen Bildungspolitikern nicht oft genug gesagt werden, die immer noch glauben, man müsse die Besseren separieren, damit sie noch besser lernen. Ein folgenschwerer Irrtum, den wir uns um der

Grundschulunterricht im mittelfinnischen Jyväskylä

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Besseren willen nicht länger leisten können. Aber auch nicht der schwächeren Schüler wegen. Das sind die genannten Drop-outs, jene 10 Prozent, die in Deutschland die Schulen ohne Abschluss verlassen. Finnland konnte sich das nicht mehr leisten und ist deshalb den Weg der Integration und Inklusion gegangen und hat schrittweise die Sonderschulen abgeschafft. Wir Deutschen sollten diese Wege ebenfalls beschreiten. Doch wir gehen sie nicht schnell und konsequent genug, weil die Kompetenzen zersplittert sind und die Mehrheiten dafür fehlen. Integration statt Auslese Bis 1990 hatten wir eine gemeinsame Schule, zweifellos stark reformbedürftig. Doch leider hat Ostdeutschland schon damals das Kind mit dem Bade ausgeschüttet. Der Nachwende-Reformzug sollte ostdeutsche Gleise so schnell wie möglich verlassen. Dabei haben viele in der Eile der damaligen Zeit übersehen, dass die Grundstrukturen des DDR-Schulsystems – entkernt um all ihren ideologischen Ballast – durchaus ein tragfähiges Fundament für eine bundesweite Reformdiskussion hätten sein können. Doch der Kampf für eine Reform der Inhalte und die zumindest zeitweise Beibehaltung der 10-jährigen gemeinsamen Oberschule war ein Kampf gegen Windmühlenflügel.


[ finnische inseln ]

Wie geht es heute weiter? Zu allererst müssen wir das Zukunftsfähige erlauben, es fördern und unterstützen. Wir haben im Land bereits zukunftsfähige Schulen, wo Kinder gemeinsam lernen, Lernmüde und Lernbegeisterte, Lernschwache und Lernstarke. Hier sind mit guter pädagogischer Kompetenz, wie z.B. an der Lenné-Schule, der Montessori-Schule und der Voltaire-Schule in Potsdam sowie der Jenaplan-Schule in Lübbenau, die am stärksten nachgefragten Schulen des Landes entstanden. Obwohl sie Gesamtschulen sind? Nein, weil sie echte Gesamtschulen sind! Das sind einige unserer „finnischen Leuchttürme“. Davon brauchen wir mehr – damit unsere Schulen und unser Land im Wettbewerb um Qualität und Existenz mithalten können. Schule für alle Schule von oben zu verordnen – das wird nicht der Weg zu mehr Erfolg sein. Vielmehr geht es darum, Schule zu öffnen. Ich will niemanden dazu zwingen, das zu machen, was gut ist für Kinder. Jeder soll selbst sehen und nachahmen können. So sollten auch die Schulen für geistig behinderte Kinder zu einer „Schule für alle“ geöffnet werden – wie sie beispielsweise mit der Waldhof-Schule in Templin schon existiert. Sonderschulen sollte es immer weniger geben, nicht nur wegen des damit verbundenen

Makels für die Kinder, sondern weil behinderte Schüler zum besseren Lernen ihre nicht behinderten Mitschüler mindestens genauso brauchen wie umgekehrt. Wer sich davon überzeugen lassen will, muss nur mit Eltern, Schülern und Lehrern in Templin sprechen. Zu meiner großen Freude und Überraschung war dort vor allem die Zahl der angemeldeten „nicht behinderten“ Kinder so groß, dass nicht alle genommen werden konnten. Hochachtung für Lehrer Wenn wir Schulleiter durch eine obrigkeitsstaatliche Entscheidung zwingen, etwas zu machen, was sie nicht wollen und deshalb auch nicht können, organisieren wir nur unnötigen Gegendruck. Das integrierte Schulsystem ist so gut, dass man es Schülern und Eltern leicht schmackhaft machen kann. Man muss es nur intelligent organisieren, dann springt der Funke über. Es gibt einen weiteren wichtigen Punkt, an dem sich die finnische von der deutschen Situation unterscheidet. In Finnland gehört der Lehrerberuf zu den anerkanntesten Berufsgruppen. In Deutschland kommen nach den Lehrern nur noch die Politiker, Journalisten und Buchhändler (!). In Finnland werden nur die Besten Lehrer, vor allem weil der soziale Status so hoch ist. Und dass, obwohl sie deutlich weniger perspektive21

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verdienen als ihre deutschen Kollegen. Die Deutschen verdienen wie ihre Schweizer und Österreicher Kollegen weltweit am meisten. Lehrer sind in Deutschland zum „Reparaturbetrieb“ der Gesellschaft geworden – und werden bisweilen auch so angesehen. Dabei haben sie einen der schwersten aber auch schönsten Berufe überhaupt. Bildung schon in der Kita Eine äußerst wichtige Hirnwachstumsphase findet bei den 3- bis 6-Jährigen statt. Die Synapsenverschaltung, das heißt die Grundlegung der individuellen Befähigung zum Denken, wird in dieser Zeit organisiert. Informatiker würden es als die Formatierung der „kindlichen Festplatte“ bezeichnen, sozusagen das Aufspielen des Betriebssystems. Nur im deutschsprachigen Raum überlässt man diese Phase, die weit wichtiger ist als die der Schule, den dafür weniger Qualifizierten. Im Grunde müsste es umgekehrt sein. Gerade in dieser Phase müssen die Kinder von den Bestqualifizierten in ihren Lernprozessen unterstützt werden. Alle Kinder sind geborene „Lerner“. Aber bis sie das „rettende Ufer“ der Schule erreichen, haben sie oft lern-demotivierende Familien und Lebensumfelder durchlaufen. In Finnland hingegen gehen ganz selbstverständlich auch Kindergärtnerinnen und Kindergärtner nach dem Abitur 50

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auf die Universität. Ein Ziel, nachdem es sich auch für uns zu streben lohnt. Also auch hier „auf nach Finnland“? Doch wie lässt sich all dies finanzieren? Drei Wege gibt es dorthin: ■ Den ersten Weg hat der Bundeskanzler aufgezeigt: Er betrifft die Eigenheimzulage. Sie beträgt zurzeit etwa € 10 Milliarden pro Jahr. Für die elternbeitragsfreie Kita wie in Skandinavien, den Aufbau der hochschulischen Erzieherausbildung und dann perspektivisch angemessenen Bezahlung brauchte man nur die Hälfte der heute angesichts der demografischen Veränderungen überflüssigen Eigenheimzulage. So würden wir stärker in die Köpfe investieren. ■ Der zweite Weg: Abbau anderer Subventionen, konsequente Prioritätensetzung und Umschichtung im Bildungssystem. ■ Der dritte Weg: In Skandinavien werden 23 bzw. 24 Prozent Mehrwertsteuer erhoben. Deutschland hat die geringste Mehrwertsteuerquote in Europa. Ein Prozent erbringt in Deutschland € 8 Milliarden. Das wäre mehr Geld als nötig, um für jeder der 40.000 deutschen Schulen einen Sozialarbeiter einzustellen (Kosten: € 1,8 Milliarden). Diesen Weg halte ich selbst für den schlechtesten – aber auch bei den zuvor genannten bewegt sich im Bundesrat wenig. Man muss das nicht wollen. Man kann sagen, dass man das nicht bezah-


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len will. Man darf sich dann aber auch nicht über schlechte PISA-Ergebnisse wundern. Nationale Standards für alle Der vierte zentrale Bereich, in dem wir uns von Finnland unterschieden (haben), ist jener der Standards. Finnland hat nationale Bildungsstandards für alle Bildungsstufen, die als Mindeststandards ausgewiesen sind. Deutsche Rahmenlehrpläne überfordern meist Lehrer und vor allem Schüler, indem sie die Latte so hoch legen, dass es einfacher ist, darunter durch zu laufen, als darüber zu kommen. Die Mindeststandards muss in Finnland jeder erreichen. Eine Schule ist dem Schüler, den Eltern, dem Staat gegenüber verpflichtet, dass jeder dasd Ziel erreicht, dass man keinen fallen, hängen oder sitzen lässt. Als ich über bundesweite oder länderübergreifende Standards auf der Kultusministerkonferenz (KMK) 2002 diskutieren wollte, scheiterte dies am Veto von mindestens zwei Ländern. Sie erklärten die KMK und erst recht den Bund für unzuständig und inkompetent. Doch steter Tropfen höhlt den Stein: Seit Ende 2003 haben wir zwar keine national verordneten, aber immerhin zwischen den Ländern verabredete Bildungsstandards für die 10. Klasse. In Finnland muss jede Schule das nationale Curriculum mit einem schulinternen Curriculum untersetzen.

Die dafür notwendige, aber erlernbare Selbstständigkeit ist neben dem Schulsystem, den Lehrern und den Standards der bei weitem wichtigste Grund für die höhere Qualität und Modernität der finnischen Schule. Dort weiß man, dass reformpädagogisch zu arbeiten nicht heißt, den Frontalunterricht abzuschaffen, sondern ihn in eine gute Balance mit Freiarbeit, Projektarbeit, Gruppenarbeit usw. zu integrieren. Beispielloser Schülerrückgang Wo fängt man an mit der Veränderung von Schule in Brandenburg? Noch dazu da das Schulsystem durch einen historisch beispiellosen Schülerrückgang unter enormen Anpassungsdruck steht? Die 1999 im Land begonnene Bildungsoffensive umfasst ein sehr breites Spektrum an Maßnahmen, von Bildungsstandards in den Kitas über bessere Ausstattung bis zu zentralen Prüfungen in der 10. Klasse und der Einführung des Zentralabiturs. Die Bildungsoffensive braucht eine Vision, einen langen Atem und kontinuierliche Anstrengung. Mit der Umsetzung der Offensive haben wir uns auf den Weg gemacht, Schritt für Schritt „finnische Inseln“ in Brandenburg entstehen zu lassen: ■ In den Grundzentren wird eine Absenkung der Mindestklassenfrequenz auf 15 Schülerinnen und Schüler je Klasse an Gesamtschulen zugelassen. Damit können etwa ein Dutzend perspektive21

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Schulen im äußeren Entwicklungsraum und einige ländliche Standorte im Berliner Umland erhalten werden. ■ Eine erfolgreiche Reaktion auf den Geburtenrückgang sind die 45 Kleinen Grundschulen. Der dort praktizierte jahrgangsübergreifende Unterricht gilt inzwischen als pädagogisch zukunftsweisend. Neue Ganztagsschulen Mit dem Ganztagsschulprogramm des Bundes werden bis 2006 in Brandenburg € 156 Millionen in bauliche Erweiterungen, Bibliotheken, Spielund Sportflächen, Freizeit- und Aufenthaltsräume investiert. Ziel ist es, 50 Prozent der Schulen in der Sekundarstufe 1 und 25 Prozent der Grundschulen in Ganztagsschulen umzuge■

Anteil der Schüler, die nicht gerne lesen Finnland Tschechien Frankreich Schweden Deutschland 20

30 in %

40

Quelle: OECD PISA 2001

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perspektive21

stalten. Die Ganztagsschulen werden intensiv mit außerschulischen Partnern zusammenarbeiten und jugendkulturelle Freizeitangebote integrieren – Projekte, die vor allem im dünn besiedelten Raum sonst nicht mehr aufrechterhalten werden könnten. ■ Rund € 50 Millionen Fördermittel wurden allein vom Land in den letzten Jahren für Investitionen in moderne Medien bereitgestellt. Mit der Medienoffensive „m.a.u.s. – Medien an unseren Schule“ wurden Brandenburgs Schulen flächendeckend mit Computern, Internetanschlüssen und Software ausgestattet. Seit 2000 wurden 8.000 Lehrkräfte zum Medieneinsatz fortgebildet. Motivation der Lehrer erhöhen ■ Mit dem Schulressourcenkonzept sollen die Arbeitsbedingungen für Lehrer langfristig planbar, ihre Motivation gestärkt und pädagogische Verbesserungen umgesetzt werden. So wird die derzeitige Schüler-LehrerRelation von 15,8 auf 14,8 Schüler pro Lehrkraft bis 2010 sinken (Bundesdurchschnitt: 18). Alle Lehrkräfte bekommen eine Perspektive auf Vollbeschäftigung. ■ Der Unterrichtsausfall in Brandenburg ist mit 2,7 Prozent der zweitniedrigste in ganz Deutschland. ■ Mit seinen bundesweit nur noch in Berlin angebotenen sechs Jahren ge-


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meinsamen Lernens in der Grundschule geht Brandenburg den Weg einer langen integrativen Phase, den die PISA-Ergebnisse als Vorteil für die Bildungsvermittlung zeigen. Die sechsjährige Grundschule muss aber weiter verbessert werden. So wurde pro Jahrgangsstufe eine zusätzliche Unterrichtsstunde für Deutsch oder Mathematik zur Verfügung gestellt. Als Reaktion auf die unterschiedliche individuelle Leistungsfähigkeit von Schulanfängern wird im Land Brandenburg an derzeit schon 76 Grundschulen eine flexible Eingangsphase (FLEX) angeboten. Schwerpunkte von FLEX sind die Betonung einer individuellen Verweildauer, das Prinzip der Jahrgangsmischung und die Förderung von schneller und langsamer lernenden Kindern. Ziel von FLEX ist es, alle Kinder termingerecht in die Grundschule aufzunehmen und Zurückstellungen vom Schulbesuch zu vermeiden. ■ Wer eine fremde Sprache lernt, lernt auch seine eigene besser kennen. Seit

2002 beginnen wir in der dritten Klasse mit der ersten Fremdsprache. Unser Ziel ist es, die erste Fremdsprache bereits in der 1. Klasse einzuführen. Mehr Selbstständigkeit Zum Schuljahr 2003/2004 haben wir ein Modell zur „Stärkung der Selbstständigkeit von Schulen“ MoSeS gestartet. Damit soll die Qualität schulischer Arbeit über erweiterte Entscheidungsbefugnisse der Schule verbessert werden. Dabei werden Instrumente für einen effizienteren Einsatz der Mittel erprobt. Von besonderer Bedeutung ist die Zusammenarbeit in der Schule und mit außerschulischen Partnern. MoSeS ist der Weg in eine moderne Schulverwaltung. ■ Seit 2001 wurden neue Konzepte zum Umgang mit Schulverweigerung eingeführt. Ziel ist die Förderung und Reintegration von schulmüden und schulverweigernden Jugendlichen. Im Rahmen von abweichenden Organisa■

OECD-Zahlen 1999 zur Lehrer-Schüler-Relation PISA-Rang Land

Elementar

Primar

SEK I

SEK II

12,3

17,4

10,6

16,6

13,3

13,3

15,5

12,9

12,7

1

Finnland

9

Schweden

14

Frankreich

19,3

19,6

19

Tsch. Republik

19,5

13,9

21

Deutschland

23,7

21,0

8,8 16,4

12,4 perspektive21

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tionsformen werden an 10 Schulen der Sekundarstufe I schulmüde und schulverweigernde Jugendliche in kleinen Lerngruppen gezielt gefördert. ■ Seit dem Schuljahr 2002/03 werden zum Ende der 10. Klasse wieder Prüfungen abgelegt, in Deutsch und Mathematik mit zentralen Vorgaben. Ab 2005 wird in zehn Fächern ein Zentralabitur abgelegt. Ziel ist es, die allgemeine Bildung und die Studierfähigkeit zu stärken. Neue Perspektiven Alle finnischen Mädchen und Jungen besuchen neun Jahre lang die Gesamtschule, von Klasse eins bis sechs die Grundstufe und dann bis zur neunten Klasse die Mittelstufe. Wir haben in Brandenburg die sechsjährige Grund-

schule. An dieser Errungenschaft darf nicht gerüttelt werden. Ein entscheidender Erfolgsfaktor Finnlands ist eindeutig die gemeinsame Schule für alle. Die Gesamtschule beruht auf einem breiten gesellschaftlichen Konsens – ein Konsens wie wir ihn in Deutschland zurzeit leider noch nicht haben. Die finnische Schulpädagogik weiß, dass alle Schülerinnen und Schüler nur gemeinsam gut lernen können. Das Bildungssystem ist das wichtigste Instrument der Chancengleichheit. Eine moderne Informationsgesellschaft kann es sich gar nicht leisten, einen Teil der Jahrgänge schon im Voraus sozial auszugrenzen und in die Aussichtslosigkeit zu schicken. In Deutschland hingegen ist die Gesamtschule als politisches Instrument oft missbraucht worden. Vorschule ganz groß

Ausgaben für Bildungseinrichtungen als Anteil des Bruttoinlandsproduktes für Primar- und Sekundarbereich

für Tertiärbereich

Schweden

4,4 %

1,6 %

Deutschland

3,6 %

1,0 %

Finnland

3,5 %

1,7 %

Polen

3,8 %

0,8 % Quelle: OECD 2001

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In allen skandinavischen Ländern ist die Vorschule heute das wichtigste Thema. Fast 100 Prozent der Kinder besuchen inzwischen die freiwillige Vorschulklasse. Vorher gibt es Kindergärten, in denen durchweg akademisch ausgebildete Erzieherinnen und Erzieher arbeiten. Mittlerweile haben wir in Brandenburg mit den freien Trägern Grundsätze elementarer Bildung für die Kindertagesbetreuung vereinbart. Das ist ein wichtiger Beitrag, um die Arbeit in den Kindertagesstätten voranzubringen. Die schritt-


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weise Einführung von Kita-Leitern und -Leiterinnen mit Hochschulausbildung ist ein nächster Schritt. Ein wichtiger Schritt in die Zukunft ist ein einfaches Schulsystem, das für Eltern und Kinder verständlich ist – und eine zu frühe Selektion vermeidet. Deshalb ist es unser Ziel, nach der sechsjährigen Grundschule nur noch zwei Schulformen, die Sekundarschule und das Gymnasium, zu etablieren. Gute Bildung für alle und überall Die Einführung der – aus Real- und Gesamtschule gebildeten – Sekundarschule würde es auch in den höheren Klassen ermöglichen, möglichst viele Schulstandorte gerade in dünn besiedelten Gegenden zu erhalten und die Schulwege nicht noch länger werden zu lassen. Daneben ist darüber nachzudenken, auch neue Unterrichtsformen wie Videokonferenzen (e-learning) bei seltenen Fächern anzubieten. Das sind Modelle, mit denen Schüler und Lehrer in Finnland gute Erfahrungen machen. Dies ist ein wichtiges Instrument, um das Grundprinzip, gute Bildung für alle in allen Regionen, mit Leben zu erfüllen. An der Lenné-Schule in Potsdam wird dies für das Fach Rechtskunde im neuen Schuljahr praktiziert. Die Schule in Finnland ist zu einem „Aktivitätszentrum“ mit integriertem Schultag geworden, der von

acht bis 16 Uhr dauert. Vor Unterrichtsbeginn, in der Mittagspause, zwischen den Unterrichtsstunden und am Ende des regulären Schultags werden sowohl die Betreuung der spielenden oder Hausaufgaben machenden Kinder als auch Arbeits- und Hobbygruppen angeboten. Diese werden in der Verantwortung der Schulleitungen auf dem Schulgelände organisiert. Ziele sind das Wohlbefinden des Kindes, die Förderung der sozio-emotionalen Entwicklung, die Verbesserung der Sozialkompetenz und die Stärkung des Sozialkapitals der Schule sowie ihrer Schülerinnen und Schüler. Kinder in den Mittelpunkt stellen Es geht darum, Werte und Normen zu verinnerlichen, einen hohen Grad an

Videounterricht in Laukaa: Gute Bildung in allen Regionen sichern. perspektive21

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Vernetzung und vertrauensvolle Interaktion zu erzielen. Dies lässt sich durch eine enge Verzahnung der Schule mit dem außerschulischen Alltagsleben erreichen. Der Sinn von Schule erschließt sich für die Schülerinnen und Schüler aus der engen Verbindung von Schule und Alltag. Ganztagsangebote können Bildungsbarrieren abbauen und soziale Ausgrenzung verhindern helfen. Ganztagsschulen als Lebens- und Lernorte verzahnen die jugendlichen Lebenswelten von Schule und Freizeit planvoll oder ermöglichen in ländlichen Regionen Brandenburgs ein jugendkulturelles Grundangebot. Ganztagsangebote sind aus Sicht der Eltern oft die Voraussetzung für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Schritt für Schritt nach vorn Schulreformen brauchen eine Vision und Zeit. Erfolge sind nicht von heute auf morgen, sondern bestenfalls übermorgen zu sehen. Deshalb ist es umso nötiger, mit festem Ziel vor Augen unser Bildungssystem weiter Schritt für Schritt umzugestalten. Es geht darum, „finnische Inseln“ wachsen zu lassen. Dabei gilt auch: Zuerst sollte man sich

umschauen und sagen, wo man schon gut ist. Dann versteht man, dass Schule auch schon heute in Brandenburg Spaß machen kann und gelingt. Mit einem so geschärften Blick sieht man besser, wo Schule nicht gelingt und keine Freude macht – und wie man Schritt für Schritt Veränderungen einleiten kann. Anfangen ist oft ganz einfach. Warum brechen in den meisten deutschen Schulen noch immer nervtötende Klingeln oder zu Flughafensignalen geliftete Verwandte davon im 45 Minuten-Rhythmus Lernprozesse ab? Wir alle wissen und spüren, dass Lernen vor acht Uhr morgens und in gleichgeschalteten Zyklen von 45 Minuten sowie zu sechs verschiedenen Themen eine Überforderung von Menschen (nicht nur von Schülern) ist und außerdem demotiviert. Der nächste Schultag ist die nächste Möglichkeit, die Schulklingel abzustellen und sie erst bei Feueralarm wieder in Betrieb zu nehmen. Das wäre ein kleiner und sogar kostenfreier Schritt auf dem Weg zu finnischen Ergebnissen. Man könnte einen solchen Schritt verordnen. Ich wünsche mir jedoch, dass Lehrer und Schüler von sich aus überzeugt davon sind, dass ein solcher Schritt richtig ist. Und dass sie die Klingel dann selbst abstellen. ■

STEFFEN REICHE

ist Minister für Bildung, Jugend und Sport des Landes Brandenburg. 56

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DOKUMENTATION

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Zur Zeit sind folgende Titel lieferbar: Heft 13 Kräfteverhältnisse – Brandenburgisches Parteiensystem Heft 14 Brandenburgische Identitäten Heft 15 Der Islam und der Westen Heft 16 Bilanz – Vier Jahre sozialdemokratisch-bündnisgrünes Reformprojekt Heft 17 Ende der Nachwendezeit. PDS am Ende? Heft 18 Der Osten und die Berliner Republik Heft 19 Trampolin oder Hängematte? Die Modernisierung des Sozialstaates. Heft 20 Der Letzte macht das Licht aus?! Heft 21/22 Entscheidung im Osten: Innovation oder Niedriglohn? Heft 23 Kinder? Kinder!

: Finnland ist mehr als Pisa

: Wo ein Rad ins andere greift

: Finnische Inseln


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