perspektive21 - Heft 28

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HEFT 28 DEZEMBER 2005 www.perspektive21.de

SPD-Landesverband Brandenburg, Friedrich-Ebert-Straße 61, 14469 Potsdam PVST, DPAG, Entgelt bezahlt, A47550

BRANDENBURGISCHE HEFTE FÜR WISSENSCHAFT UND POLITIK

Seit 1997 erscheint „perspektive 21 – Brandenburgische Hefte für Wissenschaft & Politik“. Wenn Sie Interesse an bisher erschienenen Ausgaben haben, können Sie ältere Exemplare auf unserer Homepage www.perspektive21.de als pdf-Datei herunterladen.

Die neue SPD

Zur Zeit sind folgende Titel lieferbar: Heft 13 Kräfteverhältnisse – Brandenburgisches Parteiensystem Heft 14 Brandenburgische Identitäten Heft 15 Der Islam und der Westen Heft 16 Bilanz – Vier Jahre sozialdemokratisch-bündnisgrünes Reformprojekt Heft 17 Ende der Nachwendezeit. PDS am Ende? Heft 18 Der Osten und die Berliner Republik Heft 19 Trampolin oder Hängematte? Die Modernisierung des Sozialstaates. Heft 20 Der Letzte macht das Licht aus?! Heft 21/22 Entscheidung im Osten: Innovation oder Niedriglohn? Heft 23 Kinder? Kinder! Heft 24 Von Finnland lernen?! Heft 25 Erneuerung aus eigener Kraft Heft 26 Ohne Moos nix los? Heft 27 Was nun, Deutschland?

Die neue SPD MATTHIAS PLATZECK HUBERTUS HEIL

OLAF CRAMME

: Offen und spannend

: Erfolg dank Erneuerung

MICHAEL MIEBACH KLAUS FABER

: Die zupackende SPD

: Vorwärts!

MARTIN GORHOLT

HEFT 28 DEZEMBER 2005

Einzelne Exemplare von bisher erschienenen Ausgaben schicken wir Ihnen gerne auch auf Wunsch kostenlos zu. Senden sie uns bitte eine E-Mail an perspektive-21@spd.de.

DER WEG DER SOZIALDEMOKRATIE NACH DEN WAHLEN

: Plädoyer für ehliche Ursachenforschung

: Rot-grüne Bilanzen und deutsche Umbrüche

WOLFGANG SCHROEDER TOBIAS DÜRR

: Zwei schwierige Partner

: Der Pol der Beharrung

THOMAS KRALINSKI SUSANNE MELIOR

: Die (neue) Mitte im Osten?

: Fliege hoch du Roter Adler


Das Debattenmagazin Wieviel Einspruch verträgt der Mainstream? Heute regieren die 68er – aber was kommt, wenn sie fertig haben? Die Berliner Republik ist der Ort für eine neue politische Generation: undogmatisch, pragmatisch, progressiv. Weil jede Zeit ihre eigenen Antworten braucht.

Bezug der bereits erschienenen Hefte möglich

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Die Berliner Republik erscheint alle zwei Monate. Sie ist zum Preis von 5,- EUR im Zeitschriftenhandel erhältlich oder im Abonnement zu beziehen: als Jahresabo zum Preis von 30,- EUR als Studentenjahresabo zum Preis von 25,- EUR

Jetzt Probeheft bestellen: Telefon 030/255 94-130, Telefax 030/255 94-199, E-Mail vertrieb@b-republik.de


[ vorwort ]

Die neue SPD ls Gerhard Schröder und Franz Müntefering am 22. Mai 2005 Neuwahlen ausriefen, war es für fast alle politischen Kommentatoren klar, dass die Sozialdemokratie den Weg des politischen Selbstmords beschreitet. Der Wahlabend sah aber ganz anders aus. Ich behaupte: Das Ergebnis der Bundestagswahl 2005 beweist, dass der Neoliberalismus in Deutschland nicht mehrheitsfähig ist – für viele wirtschaftsliberale und konservative Meinungsmacher eine ernüchternde Erkenntnis. Für die Verteidiger des Primats der Politik über ein reines betriebswirtschaftliches Denken jedoch ist das Ergebnis ermutigend. Die Deutschen befürworten in ihrer großen Mehrheit einen Weg notwendiger Reformen, der die soziale Balance in unserem Land nicht aufgibt. Die Regierung der Großen Koalition ist die folgerichtige Entscheidung aus diesem Wahlergebnis. Sie bietet die Chance, in einer Phase nichtantagonistischer Kooperation, die notwendige Erneuerung unseres Landes entscheidend voranzubringen. Matthias Platzeck hat kurz nach der Bundestagswahl auf den Punkt gebracht, was dieses Wahlergebnis für die SPD bedeutet: „Wer sich am 18. September 2005 in freier Wahl für Gerhard Schröder und die deutsche Sozialdemokratie entschieden hat, unterstützt die SPD nicht obwohl, sondern weil sie den Weg der umfassenden Erneuerung unseres Landes eingeschlagen hat.“ Nur kurze Zeit später sah sich Matthias Platzeck als neuer Vorsitzender der SPD in der Verantwortung, diesen Weg in den kommenden Jahren fortzusetzen. Seine Aufgabe wird es sein, den sozialdemokratischen Leitgedanken eines fruchtbaren Wechselverhältnisses von wirtschaftlicher Dynamik und moderner Sozialstaatlichkeit systematisch weiterzuentwickeln. Letztlich geht es dabei um die Frage der Daseinsberechtigung der Sozialdemokratie im 21. Jahrhundert. Eine wichtige Etappe auf diesem Weg wird die Debatte um das neue Grundsatzprogramm der SPD sein. Die Aufsätze in dieser Ausgabe der Perspektive 21 können und sollen auch als Beitrag zu dieser Debatte gelesen werden.

A

KLAUS NESS

P.S. Mit diesem Editorial verabschiede ich mich als Herausgeber der Perspektive 21. Diese kleine, aber feine Zeitschrift hat in den vergangenen acht Jahren eine ständig wachsende Leserschaft gefunden. Und ich bin sicher, dass diese gute Entwicklung auch unter der Leitung von Thomas Kralinski in den nächsten Jahren fortgesetzt werden kann. perspektive21

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[ impressum ]

HERAUSGEBER

J SPD-Landesverband Brandenburg J Wissenschaftsforum der Sozialdemokratie in Berlin, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern e.V. REDAKTION

Klaus Ness (ViSdP), Thomas Kralinski (leitender Redakteur), Ingo Decker, Dr. Tobias Dürr, Klaus Faber, Tina Fischer, Klara Geywitz, Lars Krumrey, Christian Maaß, Till Meyer, Manja Orlowski ANSCHRIFT

Friedrich-Ebert-Straße 61 14469 Potsdam Telefon: 0331/200 93 -0 Telefax: 0331/270 85 35 E-MAIL

: Perspektive-21@spd.de

INTERNET

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GESAMTHERSTELLUNG UND VERTRIEB

weberpress. Daniela Weber Postfach 60 16 31, 14416 Potsdam BEZUG

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[ inhalt ]

Die neue SPD DER WEG DER SOZIALDEMOKRATIE NACH DEN WAHLEN MAGAZIN

— Die zupackende SPD. Miteinander statt gegeneinander – für soziale Demokratie im 21. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5

MATTHIAS PLATZECK:

THEMA

— : Vorwärts! Wie die Sozialdemokratie die Zukunft gewinnen kann . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23

HUBERTUS HEIL

MARTIN GORHOLT

: Offen und spannend . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29

: Erfolg dank Erneuerung Wie aus Old Labour New Labour wurde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33

OLAF CRAMME

: Plädoyer für ehrliche Ursachenforschung. Will sie wieder Wahlen gewinnen, dann muss die SPD ihre Niederlage eingestehen und verarbeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43

MICHAEL MIEBACH

: Rot-grüne Bilanzen und deutsche Umbrüche Nach dem Wechsel in der Regierung und an der SPD-Spitze . . . . . . . . . . . . . 53

KLAUS FABER

WOLFGANG SCHROEDER: Zwei schwierige Partner Über das Verhältnis von Sozialdemokratie und Gewerkschaften . . . . . . . . . . . 61

: Der Pol der Beharrung Was die „Linkspartei“ für SPD und Parteiensystem bedeutet . . . . . . . . . . . . . . 71

TOBIAS DÜRR

THOMAS KRALINSKI : Die (neue) Mitte im Osten? In Ostdeutschland ist die Lage der SPD eine andere als im Westen . . . . . . . . . 79 SUSANNE MELIOR : Fliege hoch du Roter Adler Wie die SPD in der Fläche an sich arbeitet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 perspektive21

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[ inhalt ]

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Die zupackende SPD MITEINANDER STATT GEGENEINANDER – FÜR SOZIALE DEMOKRATIE IM 21. JAHRHUNDERT VON MATTHIAS PLATZECK

Im November dieses Jahres brannten in Frankreichs Vorstädten die Autos. Die Ereignisse, die unser Nachbarland bis ins Mark erschütterten, beweisen uns, wie dringend, wie ganz ungeheuer dringend unsere modernen Gesellschaften auf Zusammenhalt und Integration angewiesen sind. Diese Bilder machen uns klar, was geschehen kann, wenn das Band der gesellschaftlichen Gemeinsamkeit zerfasert und zu zerreißen droht. Diese Bilder zeigen uns, was geschehen kann, wenn neue Spaltungslinien die Gesellschaft durchziehen, wenn ganze Bevölkerungsgruppen über Generationen von der Entwicklung in Wirtschaft und Gesellschaft ausgeschlossen werden. Diese Bilder zeigen uns, was geschehen kann, wenn es in einer Gesellschaft zuerst an Bildungschancen mangelt, dann an beruflichen und wirtschaftlichen Perspektiven für Jugendliche und junge Erwachsene. Mit aller Eindringlichkeit wird deutlich, welchen neuen Gefährdungen das Zusammenleben in unseren europäischen Gesellschaften des 21. Jahrhunderts ausgesetzt ist. Diesen Gefahren müssen wir begegnen: vorbeugend und weitsichtig, und nicht erst dann, wenn das Kind in den Brunnen gefallen ist. Deshalb erinnern uns die Ereignisse bei unseren Nachbarn in Frankreich noch einmal mit aller Schärfe daran, welche Aufgabe, welche Verantwortung wir Sozialdemokraten heute haben. Wir wissen: Die Situation bei uns in Deutschland ist nicht dieselbe wie die in Frankreich. Aber genauso wissen wir: Auch bei uns gibt es zunehmend Menschen und Gruppen, die nicht teilhaben an dem, was unsere Gesellschaft ausmacht. Wir Sozialdemokraten sind die Partei, die hier Verantwortung übernehmen und neue Ideen entwickeln muss. Ganz einfach weil es sonst niemand tun wird, wenn wir es nicht tun. Denn worum geht es uns? Was sind unsere Ziele? Was wollen wir? Welche Idee, welches Leitbild von einer guten und lebenswerten Gesellschaft in Deutschland und Europa haben wir?

I.

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[ matthias platzeck ]

Wir sind ohne Wenn und Aber die Partei der einen und zusammengehörigen Gesellschaft in Deutschland. Wir sind die Partei der Lebenschancen für alle, die Partei des sozialen Zusammenhalts, der Chancengleichheit, der inneren Einheit Deutschlands, die Partei der Solidarität, des Gemeinsinns und der Nachhaltigkeit. Wir sind die Partei der Aufklärung und des Fortschritts, uns geht es um die soziale Durchlässigkeit unserer Gesellschaft, um Aufstiegschancen für alle. So verstehe ich unsere Partei. So hat sie sich selbst immer verstanden – 142 Jahre lang. Dieser großen Sozialdemokratischen Partei anzugehören bedeutet eine große Verpflichtung. Wir dürfen niemals vergessen: Die Menschen erwarten etwas von uns! Sie erwarten von uns, dass wir Probleme lösen und neue Wege eröffnen. Unsere Diskussionen müssen immer mehr sein als nur Selbstzweck. Die Aufgabe der Sozialdemokratischen Partei heißt niemals Selbstbeschäftigung! Sie war und ist die tägliche harte Arbeit dafür, dass das Leben besser wird – besser nicht bloß für die Wenigen, sondern besser für alle Menschen in unserem Land. Mit aller Kraft Probleme lösen Viele Millionen Wählerinnen und Wähler in Deutschland haben uns am 18. September ihre Stimmen gegeben. Jeder und jede Einzelne von ihnen hat mit der Stimmabgabe für die SPD eine Erwartung verbunden: Die Erwartung, dass wir uns mit aller Kraft mit den Problemen unseres Landes widmen, um sie zu lösen; dass wir dabei sorgfältiger und ernsthafter; dass wir gewissenhafter und gerechter vorgehen als andere; dass wir ehrlich sagen, was wir meinen und beherzt tun, was wir sagen. Diese Erwartungen dürfen wir nicht enttäuschen! Darum darf niemals auch nur für einen einzigen Augenblick der Eindruck entstehen, es würde uns um das Regieren gehen nur um des Regierens willen. Es muss uns immer um mehr gehen als um uns selbst. Es geht ums Gestalten, es geht um die große sozialdemokratische Idee der gleichen Freiheit für alle. Und am wichtigsten: Es geht um unser Land, und es geht um die Menschen in unserem Land – um Menschen, die in ihrem Leben jede nur mögliche Chance haben sollen, alle ihre Potentiale auszuschöpfen. Nur wenn das gelingt, wird unsere Gesellschaft auch in Zukunft noch lebenswert sein. Deshalb lag Franz Müntefering so punktgenau richtig mit seinem legendären Satz: „Opposition ist Mist!“ Genau so ist es doch! Nicht aus Prinzip. Auch nicht, weil wir dann mal eine Zeitlang nicht regieren. Sondern weil wir dann während dieser Zeit genau diejenigen Dinge nicht vorantreiben und durchsetzen können, von denen wir wissen: Sie sind gut für das Land! Sie sind gut für die Menschen! Und von denen wir noch dazu wissen: Wenn wir uns nicht um diese Aufgaben 6

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[ die zupackende spd ]

kümmern, dann werden diese Aufgaben liegen bleiben. Die Aufgaben der Sozialdemokratie dürfen aber nicht liegen bleiben! Sie müssen angepackt werden – weil sie so wichtig sind! Und darum haben wir sie in der Vergangenheit angepackt. Und darum werden wir sie auch in Zukunft anpacken! Wir Sozialdemokraten wollen die eine Gesellschaft der Lebenschancen für alle – der Lebenschancen für jede einzelne Frau, für jeden einzelnen Mann, für jedes einzelne Kind. Dass es uns um die eine Gesellschaft geht und dass wir tatsächlich alle Menschen meinen, wenn wir von „Lebenschancen“ sprechen – genau das unterscheidet uns von allen unseren politischen Mitbewerbern. Die Welt ist im Umbruch. Europa tut sich schwer. Amerika geht immer öfter seine eigenen Wege. Zugleich erleben viele asiatische Länder einen beispiellosen wirtschaftlichen und technologischen Aufbruch. Alle diese Veränderungen sind real. Sie betreffen uns ganz direkt. Als Exportweltmeister profitieren wir Deutschen von der Globalisierung wie kaum ein anderes Land, doch der Wandel verläuft unübersichtlich. Er kennt Verlierer ebenso wie Gewinner und deshalb machen die Umbrüche der Gegenwart vielen Menschen Angst. Das ist verständlich. Aber Angst ist kein guter Ratgeber! Angst lähmt, und Angst macht mutlos! Deshalb suchen die Menschen in Deutschland inmitten der Veränderungen nach neuer Orientierung, deshalb brauchen wir positive Ziele und Leitmotive. Deshalb brauchen wir eine optimistische Grundhaltung, wenn die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts bewältigt werden sollen, eine Grundhaltung der Zuversicht und des engagierten Zupackens. Umso aktueller sind heute unsere sozialdemokratischen Ziele und Grundwerte, weil sie bleibende Ziele und Werte sind und weil sie die richtigen Ziele und Werte sind. Es geht um die Leitsterne der Freiheit, der Gerechtigkeit und der Solidarität. Diese Ziele der sozialen Demokratie werden für unser Land im 21. Jahrhundert um nichts weniger wichtig sein, als sie es im 19. und im 20. Jahrhundert waren. Es reicht niemals aus, sich im sicheren Besitz der richtigen Ziele zu wissen. Es reicht auch nicht, die richtigen Ziele zu haben – man muss dann auch alles daran setzen, sie zu verfolgen und zu verwirklichen. Gerade wenn wir wollen, dass Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität in diesem schwierigen 21. Jahrhundert nicht unter die Räder kommen, gerade wenn wir wollen, dass unsere Grundwerte auch dieses neue Zeitalter prägen – gerade dann müssen wir erkennen: Nur als hellwache und als lernende Partei, nur als Partei auf der Höhe unserer Zeit können wir unsere Ziele erreichen.

II.

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[ matthias platzeck ]

Ich meine: Das genau war es, was Willy Brandt meinte, als er kurz vor seinem Tod 1992 die Worte schrieb: „Nichts kommt von selbst. Und nur wenig ist von Dauer.“ Diese Sätze heißen doch: Die Ziele bleiben, aber die Voraussetzungen für ihre Durchsetzung verändern sich. Gerade weil uns Sozialdemokraten Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität so wichtig sind – gerade darum müssen wir uns immer wieder aufs Neue fragen, wie wir ihrer Verwirklichung näher kommen. Gedanken müssen wir uns keinen Augenblick lang darüber machen, ob unsere Grundwerte, ob soziale Gerechtigkeit und Sozialstaat für das 21. Jahrhundert überhaupt noch die richtigen Ideen sind. Natürlich sind sie das! Und ich kann nirgendwo irgendwelche Sozialdemokraten erkennen, die hierzu eine grundsätzlich andere Position vertreten würden. Natürlich gibt es bei uns in Deutschland harte ideologische Gegner der Grundideen und Prinzipien des Sozialstaates. Das sind die Westerwelles, die Henkels und die Merzens unseres Landes. Wir kennen sie alle nur zu gut. Einen neoliberalen Mainstream gibt es nicht Aber diese Leute werden bei weitem überschätzt. Sie werden überschätzt, vermutlich weil sie so oft im Fernsehen zu sehen sind. Tatsächlich sind sie nicht das Hauptproblem. Den ständig herbei geredeten „neoliberalen Mainstream“ in der unserer Gesellschaft gibt es in Wirklichkeit überhaupt nicht. Das genaue Gegenteil ist doch richtig! Alle Untersuchungen, alle Umfragen, alle unsere Erfahrungen im Alltag und nicht zuletzt das Ergebnis der Bundestagswahl beweisen uns doch: Die Grundidee des Sozialstaates, das Prinzip der sozialen Demokratie – diese Grundidee erfreut sich ungebrochener Beliebtheit und Zustimmung. Und zwar quer durch alle Gruppen unserer Gesellschaft. Das grundsätzliche Nein zum Sozialstaat war und ist in Deutschland nicht mehrheitsfähig. Weder im Osten noch im Westen. Und das grundsätzliche Nein zum Sozialstaat wird in Deutschland auch in Zukunft keine Chance haben. Dafür werden wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten sorgen, indem wir unseren Sozialstaat systematisch erneuern und weiterentwickeln – und zwar so, dass er niemals zur Belastung wird, sondern klar und unverkennbar zur Kraftquelle für Wirtschaft und Gesellschaft. Was unseren Sozialstaat heute tatsächlich in Schwierigkeiten bringt, das sind gar nicht seine ideologischen Feinde. Schwierigkeiten macht vielmehr, dass unserem Sozialstaat die alten Voraussetzungen abhanden kommen. In

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seiner gewohnten Form stößt er heute an objektive finanzielle und demografische Grenzen. Der gewohnte Weg der Problemlösung hieß kräftiges Wachstum: Kräftiges Wachstum der Wirtschaft, zugleich Wachstum der Bevölkerung, der staatlichen Haushalte, der Sozialbudgets, der Staatsverschuldung. Dieser Weg steht uns heute nicht mehr offen. Wir müssen tatsächlich auf vielen Gebieten lernen, aus weniger mehr und Besseres zu machen. Aber wer sagt denn, wir könnten nicht auch unter diesen veränderten Bedingungen erfolgreich sein? Unser Land ist zu beeindruckenden Erneuerungsleistungen im Stande. Das haben wir in den vergangenen 15 Jahren im Prozess der Vereinigung von Ost und West eindrucksvoll bewiesen – nicht nur die Menschen in den neuen Bundesländern haben das bewiesen, sondern alle Deutschen. Unser Land ist buchstäblich das einzige auf der Welt, das in seiner jüngeren Geschichte das Zusammenwachsen zweier so radikal unterschiedlicher Wirtschafts- und Gesellschaftsordnungen zu bewältigen hatte. Auf den Erfahrungen dieser Zeit im Umgang mit Prozessen des Umbruchs, des Wandels und der Erneuerung können wir in ganz Deutschland sehr selbstbewusst aufbauen. Meine persönliche Erfahrung aus den vergangenen 15 Jahren Aufbau Ost lautet: Soziale Gerechtigkeit ist auch heute noch eine Frage der materiellen Verteilung – natürlich ist sie das. Aber zugleich ist soziale Gerechtigkeit heute mehr denn je eine Frage der Verteilung von Lebenschancen, eine Frage der aktiven Zugehörigkeit, eine Frage des Mitmachens und des Mitmachen-Könnens. Bildung ist der zentrale Schlüssel Frankreich erlebt eine Rebellion von Menschen, denen die entscheidenden Voraussetzungen für Zugehörigkeit und Mitmachen-Können vorenthalten worden sind. Wir leben heute mitten im Übergang von der Industrie- zur Wissensgesellschaft. Die Anforderungen an die Kenntnisse und Fertigkeiten der Menschen verändern sich. Der entscheidende Schlüssel zur vollwertigen Beteiligung am Leben der Gesellschaft heißt Bildung – und zwar mehr als jemals zuvor in der Geschichte. Deshalb ist es die soziale Gerechtigkeitsfrage des 21. Jahrhunderts schlechthin, ob es uns gelingt, gute und gleiche Bildungschancen für alle zu organisieren. Das gilt erst recht, weil unter den Bedingungen der Globalisierung nur bildungsreiche Gesellschaften auch wirtschaftlichen Wohlstand erzielen und erhalten können. Schon heute sind in Deutschland Armut an Lebenschancen, Armut an Geld und langfristige Arbeitslosigkeit in hohem Maße die Folge davon, dass es Menschen an perspektive21

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[ matthias platzeck ]

zeitgemäßen Qualifikationen und Fertigkeiten mangelt. Wer zu wenig kann und wer zu wenig weiß, der wird in der wissensintensiven Wirtschaft und Gesellschaft immer geringere Chancen haben. Keine noch so gute nachsorgende oder betreuende Sozialpolitik kann das später wettmachen. Genau hier verlaufen die neuen Spaltungslinien zwischen den Insidern und den Outsidern in unserer Gesellschaft. Die einen sind drin, und die anderen sind draußen: Damit werden wir uns nicht abfinden! Das macht gute Bildung für alle zum zentralen Thema der Sozialpolitik. Das macht gute Bildung für alle zu einem zentralen Thema der Wirtschaftspolitik. Das macht gute Bildung für alle zu einem zentralen Thema unserer Demokratie. Das macht gute Bildung für alle zu einem zentralen Thema der Gerechtigkeit. Und das macht gute Bildung für alle – aus allen diesen Gründen – zu einem zentralen Thema unserer Partei. Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten sind es, die eine Gesellschaft mit Lebenschancen für alle wollen. Und darum müssen wir im 21. Jahrhundert die Bildungspartei in Deutschland sein. Schaffen müssen wir es auch, die Partei für Kinder und Familien in Deutschland zu sein. Viel zu oft ist heute in Deutschland die Rede von der angeblichen „Überalterung“ unseres Landes. Ich halte dieses Gerede für Unfug. So etwas wie „Überalterung“ gibt es nicht! Was so beschrieben wird, das ist die steigende Lebenserwartung, das ist die bessere Gesundheit von immer mehr Menschen bis ins hohe Lebensalter. Darüber sollten wir uns doch freuen! Diese Entwicklung ist eine großartige Leistung unserer gesamten Gesellschaft. Nein, unser Problem heißt nicht „Überalterung“, unser eigentliches Problem ist, dass vielen Älteren in unserem Land einfach nicht mehr genügend Kinder nachfolgen. In unserem Land werden viel zu wenige Kinder geboren, in unserem Land gehen viel zu viele Kinderwünsche von jungen Menschen nicht in Erfüllung. Aber eine Gesellschaft ohne Kinder ist eine Gesellschaft ohne Zukunft! Und deshalb müssen wir hinkommen zu einer umfassend verstandenen Politik der Nachwuchssicherung. Deshalb wird die neue Bundesregierung Familien fördern und ihnen das Leben erleichtern, werden wir das Elterngeld einführen, werden wir die Kinderbetreuung steuerlich fördern, werden wir die Angebote zur Tagesbetreuung von Kindern und die Ganztagesbetreuung ausbauen, damit Familie und Beruf besser vereinbar werden. Das alles sind zutiefst sozialdemokratische Themen! Aber wir wollen auch, dass jedes einzelne geborene Kind gute und gleiche Lebenschancen hat. Auch das ist eine Gerechtigkeitsfrage, auch das ist ein zentrales sozialdemokratisches Thema des 21. Jahrhunderts. Viel zu viele Kinder in

IV.

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Deutschland bekommen nicht die Förderung, die sie brauchen. Viel zu viele bleiben ohne Schulabschluss, ohne Qualifikationen, ohne Perspektive. Unser Land kann sich diese Ungerechtigkeit nicht leisten – nicht moralisch und auch nicht ökonomisch! Unser Land braucht jedes einzelne dieser Kinder, jeden einzelnen Jugendlichen, jeden einzelnen Menschen: Das muss die große sozialdemokratische Zielmarke für das 21. Jahrhundert sein! Zufrieden ist, wer anpacken kann Gebraucht zu werden – das ist für Menschen das Entscheidende. Gebraucht zu werden schafft Lebenssinn, gebraucht zu werden schafft Zufriedenheit, schafft sozialen Zusammenhang. Wir alle kennen das aus der eigenen Erfahrung: Man packt mit an, man hilft sich gegenseitig, man nimmt sich Zeit füreinander, man tut sich mit anderen für gemeinsame Zwecke zusammen. Und man verspürt Freude dabei – ganz einfach weil es gut tut, gebraucht zu werden. Wo Bürgerinnen und Bürger handfest erleben, dass sie selbst ihr eigenes Gemeinwesen gestalten, wo Menschen anpacken und sich füreinander engagieren, da wenden sie sich auch dann auch nicht verbittert ab, wenn es einmal schwierig wird. Ich bin sicher: Es sind in Wahrheit nicht nur materieller Erwerb und Besitz, was die Zufriedenheit der Menschen ausmacht. Es ist gerade auch das gemeinschaftliche Zupacken an sich, dass Menschen Befriedigung verschafft. Schon aus diesem Grund müssen wir daran arbeiten, in Deutschland eine neue Grundhaltung des gemeinsamen Zupackens zu entwickeln. Zupackende Menschen sind die zufriedeneren Menschen. Deshalb wünsche ich mir die SPD als eine Partei zupackender und optimistischer Menschen in einem tatkräftigen Land. Das sozialdemokratische Bild von Deutschland ist das Bild eines zupackenden Landes – eines Landes der tatkräftigen Erneuerung für alle und durch alle. Wir tun uns nicht leicht damit, das Neue und die Veränderung als Chance zu begreifen. Da ist der Erneuerungsdruck der Globalisierung. Da ist die Demografie. Da ist die Tatsache, dass erfolgreiches Wirtschaften immer mehr auf Wissen und Qualifikationen angewiesen ist. Ja, das alles ist schwierig, gar keine Frage. Das alles wirkt auch manchmal bedrohlich, auch das ist richtig. Aber gerade wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten dürfen uns niemals falschen Alternativen aufschwatzen lassen. Mein Eindruck ist: Es liegt an diesem Denken in den falschen Alternativen, dass wir Erneuerung und Aufbruch zuweilen so misstrauisch gegenüberstehen. Es

V.

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stimmt aber nicht, dass wir nur die Wahl haben zwischen Pest und Cholera. Es stimmt einfach nicht, dass wir heute nur noch wählen können zwischen ideenloser Beharrung und brutalen marktradikalen Rosskuren à la Maggie Thatcher. Wir Sozialdemokraten haben eine gute, altehrwürdige Tradition des Internationalismus. Wir haben schon immer über Grenzen hinweg die Kooperation gesucht. Wir haben schon immer genau hingeguckt, wie es die anderen machen, um von ihnen zu lernen. Diese internationale Zusammenarbeit will ich fortführen und weiter intensivieren. Wir Deutschen sind heute mehr denn je zuvor in Europa und der Welt zu Hause. Zugleich ist Europa die einzige wirklichkeitstaugliche Antwort auf die Herausforderung der Globalisierung. Wie lassen sich Schutz und Flexibilität verbinden? Nur mit Europa und nur in Europa werden wir erfolgreich sein. Und wir werden unsere Krise überwinden, je mehr wir bereit sind, von den Erfolgen anderer Europäer zu lernen. Ich denke da zum Beispiel an Poul Nyrup Rasmussen, früher dänischer Ministerpräsident, heute Vorsitzender der Sozialdemokratischen Partei Europas. Poul hat in Dänemark mit seinem Konzept der „Flexicurity“ bemerkenswerte neue Wege der Sozial- und Arbeitsmarktpolitik beschritten. Wie kriegen wir es hin, in Staat und Gesellschaft die nötige Flexibilität und den genauso nötigen sozialen Schutz auf produktive Weise miteinander zu verbinden? Es ist die richtige Frage. Sicher, wir müssen unsere eigenen Antworten auf sie finden – aber Antworten finden müssen wir auf jeden Fall. Ich denke auch an Finnland. Ich habe mir die nordeuropäische Wirklichkeit genauer angesehen. Ich wollte genauer wissen: Woher kommen im 21. Jahrhundert gute Arbeitsplätze her, die nicht von Abwanderung bedroht sind? Was schafft Wachstum? Was schafft Wohlstand und soziale Gerechtigkeit unter den Bedingungen der Globalisierung? Finnland ist heute die international wettbewerbsfähigste Volkswirtschaft überhaupt. Finnland schneidet am besten ab in allen internationalen Schul- und Bildungsvergleichen. Der finnische Staatshaushalt ist Jahr für Jahr mindestens ausgeglichen. Finnland erzielt seit Jahren Wachstumsraten weit oberhalb des europäischen Durchschnitts. Und es war in den neunziger Jahren die sozialdemokratische Regierung unseres Freundes Paavo Lipponen, die diese Erfolge möglich gemacht hat. Ich habe Paavo Lipponen gefragt, worin das finnische Erfolgsgeheimnis besteht. Die Antwort ist einfach und kurz: Es gibt kein Geheimnis, kein Rätsel, 12

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[ die zupackende spd ]

kein Mysterium. In Finnland ist allen heute völlig klar: Ganz allein auf die Menschen kommt es an. Ganz allein auf ihre eigenen Potentiale, auf ihre eigenen Ideen, auf ihre eigene Kreativität. Die muss man fördern, die muss man pflegen – von klein auf in jedem Kind und immer wieder neu im Lebensverlauf. Mit sozialen Sicherheitsnetzen, auf die sich die Menschen im Ernstfall ohne Wenn und Aber verlassen können. Ich weiß natürlich: Jedes Land hat seine eigenen Bedingungen. Nicht alles ist ohne weiteres vergleichbar. Aber von den zukunftsweisenden Prinzipien und der zupackenden Grundhaltung der Nordeuropäer können wir lernen: Jeder wird gefördert! Jeder wird gefordert! Niemand darf zurückgelassen werden! Keiner wird aufgegeben! Und das betrifft alle Politikfelder quer durch die Bank. Da geht es um die Bildungspolitik, da geht es um die Familienpolitik, da geht es um Wirtschaftspolitik, um Technologie- und Innovationspolitik. Und ein Rad greift dabei systematisch ins andere. Das muss auch unser Ziel sein! Genau das kann und muss uns auch gelingen! Wir wissen: Gemeinsamkeit, eine Kultur des Vertrauens und des Miteinander machen stark – und zwar jeden einzelnen Menschen und die ganze Gesellschaft! Genau das schafft soziale Gerechtigkeit und wirtschaftliche Dynamik zugleich. Wir wissen: Wenn wir soziale Gerechtigkeit wollen, dann brauchen wir wirtschaftliche Dynamik. Und damit wir wirtschaftliche Dynamik bekommen, brauchen wir soziale Gerechtigkeit. Aus eigener Kraft erfolgreich sein Dynamische Wirtschaft und Innovation auf der einen Seite – sozialer Schutz, Bildungs- und Lebenschancen für möglichst viele Menschen auf der anderen: Beides ist unter den Bedingungen des 21. Jahrhunderts grundsätzlich immer nur miteinander zu haben und nicht gegeneinander. Denn beides gehört zusammen. Beides bedingt sich gegenseitig. Beides darf niemals gegeneinander ausgespielt werden. Genau das ist die Philosophie, mit der wir aus eigener Kraft erfolgreich sein können. Und genau das ist die Leitidee für unsere Zeit, mit der auch die deutsche Sozialdemokratie im 21. Jahrhundert erfolgreich sein kann und erfolgreich sein wird. Ich bin sehr zuversichtlich: Wir werden den Leitgedanken vom fruchtbaren Wechselverhältnis zwischen erneuertem Sozialstaat und innovativer Wirtschaft systematisch und nachhaltig weiterentwickeln. Dann hat unsere Partei alle Chancen, zur prägenden Kraft der kommenden Jahre in Deutschland zu werden. Gewinner werden die Menschen in unserem Land sein. perspektive21

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Nur aus dem funktionierenden Wechselverhältnis zwischen modernem Sozialstaat und moderner Ökonomie wird in Deutschland zugleich neues Vertrauen in die eigene Kraft entstehen. Kaum etwas wird heute in unserem Land so dringend gebraucht wie Vertrauen und Selbstvertrauen. Vertrauen ist der Kitt, der eine intakte Gesellschaft zusammenhält. Vertrauen ist der entscheidende Rohstoff, der Gemeinsamkeit und Solidarität, der Aufbruch und neue Zuversicht überhaupt erst möglich macht. Ohne ein Grundklima des Vertrauens und des Selbstvertrauens kann keine Politik erfolgreich sein. Wo Menschen oder sogar ganze Regionen das Vertrauen verlieren, auf dem richtigen Weg zu sein, da gerät die Demokratie in Gefahr. Und deshalb: Gut für unser Land ist alles, was mehr Vertrauen schafft – und nicht weniger. Gut für unser Land ist alles, was mehr Gemeinsamkeit schafft – nicht weniger. Gut für unser Land ist, was den Zusammenhalt und die Solidarität der Menschen stärkt – und sie nicht schwächt. Und umgekehrt: Schlecht für unser Land ist alles, was Vertrauen, Gemeinsamkeit und Zusammenhalt beschädigt. Schlecht für unser Land ist alles, was Misstrauen schafft, was Menschen gegeneinander aufhetzt und gegeneinander in Stellung bringt. Gemeinsamkeit, Miteinander, Vertrauen zueinander und Vertrauen in die eigene Kraft. Gemeinsamkeit, Miteinander, Vertrauen zueinander und Vertrauen in die eigene Kraft – das sind die Grundvoraussetzungen für alles weitere.

VI.

Mehr als die Summe der Einzelteile Das gilt übrigens auch für unsere eigene Partei. Wie alles im Leben hat auch unsere Fähigkeit, unser Land voranzubringen, ihre Voraussetzungen. Sie hat zur Voraussetzung, dass wir zunächst in unseren eigenen Reihen zu einer Kultur des Vertrauens, eine Kultur der Zusammenarbeit und des Miteinander fähig sind. Daran sind in den vergangenen Wochen gewisse Zweifel entstanden. Und das hat uns allen zusammen nicht geholfen. Darum müssen wir diese Zweifel so schnell wie irgend möglich wieder ausräumen. Nur wenn wir selbst zu Kooperation und Gemeinsamkeit imstande sind, werden wir die Menschen in Deutschland von der Kraft unserer Ideen und Konzepte überzeugen. Ich möchte, dass die deutsche Sozialdemokratie eine lebhafte und diskussionsfreudige Partei ist. Wo sich so vieles ändert wie in unserer Zeit, da gibt es viele, viele offene Fragen. Da ist es nicht nur erlaubt, sondern da ist es dringend nötig, Ideen zu entwickeln und die offene Debatte über Ziele und Mittel zu führen. Nur eine debattierende Partei ist eine lebendige Partei, und nur eine lebendige 14

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[ die zupackende spd ]

Partei entwickelt Strahlkraft. Nur eine lebendige Partei wirkt attraktiv und anziehend auch auf ihre Umwelt. Wo nichts los ist, da geht niemand hin. Eines aber darf uns dabei niemals auch nur für einen einzigen Moment aus dem Blick geraten: Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands ist mehr als die Summe ihrer Flügel und Fraktionen, ihrer Arbeitsgemeinschaften und Gliederungen. Die SPD ist und bleibt die eine und unteilbare Sozialdemokratische Partei Deutschlands. Sie ist eine Partei mit einer offenen Diskussionskultur. Aber sie ist zugleich eine Partei, in der am Ende mit Mehrheit Entscheidungen getroffen und Beschlüsse gefasst werden. Sie ist eine Partei mit einer gewählten Führung. Die heißt übrigens deshalb so, weil von ihr erwartet wird, dass sie die Partei tatsächlich führt. Wir wollen Wahlen gewinnen Auch das ist nicht Selbstzweck, sondern politische Notwendigkeit. Eine Wahl liegt gerade erst hinter uns, die nächsten Landtagswahlen und die hessischen Kommunalwahlen stehen uns schon wieder ins Haus. Alle diese Wahlen sind wichtig, und diese Wahlen wollen wir gewinnen. Wir alle wollen, dass sie diese Auseinandersetzungen gewinnen. Auch dafür brauchen wir ein starkes und geschlossenes Führungsteam. Dazu gehört an erster Stelle Franz Müntefering, der als Vizekanzler und als Arbeitsminister der Großen Koalition dafür sorgen wird, dass die sozialdemokratische Handschrift auch in der neuen Regierung klar und deutlich erkennbar bleibt. In dieses Team gehört auch Hubertus Heil. Ich möchte, dass er Generalsekretär wird, weil ich davon überzeugt bin, dass er diesen Job richtig gut machen wird. Es nützt nichts, darum herum zu reden: In unserer Partei sind in den vergangenen Wochen Fehler gemacht worden, und auch Hubertus hat nicht immer nur alles richtig gemacht. Das weiß er selbst. Aber die Wahrheit ist auch: Wir brauchen mehr junge Leute in der Verantwortung. Die Zahl der jungen politischen Talente in unserer Partei ist übersichtlich. Wir können es uns nicht erlauben, auch nur einen oder eine einzige unterwegs zu verlieren. Wir brauchen sie alle. Und darum sollten wir jetzt einen dicken Strich unter die Turbulenzen der vergangenen Wochen ziehen und nach vorne blicken. Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands ist eine lernfähige und lernende Organisation. Auch Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten machen Fehler – aber sie machen nicht mehrmals hintereinander dieselben

VII.

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[ matthias platzeck ]

Fehler. Die Aufgaben und Auseinandersetzungen werden schwierig genug. Wir werden ihnen nur gerecht, wenn wir uns als die eine Sozialdemokratische Partei Deutschlands immer wieder aufs Neue Klarheit darüber verschaffen, wofür wir stehen. Wer wir sind. Und was uns von unseren Mitbewerbern unterscheidet. Diese Einigkeit brauchen wir. Wir brauchen sie angesichts eines Gegners, der in den vergangenen Monaten zu Unrecht etwas aus dem Blick geraten ist. Das ist der organisierte Rechtsextremismus in unserem Land. Nur auf den ersten Blick geben die mageren 1,6 Prozent für die NPD am 18. September den Verharmlosern Recht. Hat dieses Resultat nicht die ewige Chancenlosigkeit des Rechtsextremismus in Deutschland bewiesen? Und ist dann nicht an der Zeit, Entwarnung zu geben? Die Antwort lautet klar und deutlich: Nein! Demokraten könnten keinen größeren Fehler begehen! Ob eine demokratische Gesellschaft tolerant und lebendig ist, das entscheidet sich nicht allein an Wahltagen. Das entscheidet sich an den Graswurzeln der Gesellschaft, im ganz normalen Alltag der Menschen in den Dörfern und Städten, auf den Schulhöfen und Bahnhofsvorplätzen unseres Landes. Rechtsextremismus schadet Land und Leuten Genau hier setzen die Rechtsextremisten ihren Hebel an. Sie treten nicht mehr in abschreckender martialischer Kluft auf, mit Glatze und Springerstiefeln. Stattdessen präsentieren sie sich oft freundlich und verbindlich. Sie haben ihre Strategie geändert. Es geht ihnen um die Durchdringung unserer Gesellschaft von der Basis her. Hier wächst still und unheimlich eine große Herausforderung für die SPD heran: Wir müssen selbst noch mehr auf die Menschen zugehen. Unsere Genossinnen und Genossen aus Sachsen wissen am besten von allen, wovon ich rede. Hier arbeitet die NPD mit dieser Strategie. Hier sitzt sie im Landtag, hier ist sie bei der Bundestagswahl auf 4,8 Prozent gekommen, in 8 von 17 sächsischen Wahlkreisen sogar über 5 Prozent. Diese Strategie der vermeintlich netten neuen Nazis darf niemals aufgehen – und sie wird auch nicht aufgehen! Es sind dieselben Rechtsextremisten mit derselben rassistischen und antisemitischen Ausgrenzungsideologie wie zuvor. Um es klar zu sagen: Scheinbar nette Rechtsextremisten, die im Seniorenwohnheim zur Gitarre Volkslieder vorsingen oder Schulkindern bei den Hausaufgaben helfen, sind immer noch Rechtsextremisten – Rechtextremisten mit derselben abstoßenden und menschenfeindlichen Blut-und-Boden-Ideologie wie eh und je. Diese Leute wollen wir in Deutschland nicht, sie schaden den Menschen und sie schaden unserem Land! 16

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[ die zupackende spd ]

Aber die bloße Abwehr der Feinde von offener Gesellschaft und freiheitlicher Demokratie reicht noch nicht. Als Sozialdemokraten müssen wir die Auseinandersetzung mit unseren Gegnern und Konkurrenten immer offensiv führen. Wir müssen positiv definieren, wer wir sind, was wir wollen und warum wir es wollen. Zu unseren Prinzipien gehören Ehrlichkeit und Aufklärung. Populistische Parolen jeder Art widersprechen allen Werten, für die wir aus tiefer Überzeugung stehen. Aber es wäre nicht nur moralisch falsch, ebenfalls in den Wettlauf der populistischen Gaukler einzusteigen – es würde uns auch überhaupt nichts nützen. Wir Sozialdemokraten dürfen niemals in einen Überbietungswettbewerb mit Populisten einsteigen. Wir müssen den Menschen immer wieder sehr geduldig, sehr aufklärerisch, aber auch sehr entschieden erklären, was geht und was nicht geht. Wir müssen mit den Menschen in Deutschland darüber reden, vor welchen Schwierigkeiten wir heute stehen; aber vor allem auch darüber, welche Chancen wir gemeinsam haben. Meine ganz persönliche Erfahrung aus den Wahlkämpfen der vergangenen Jahre lautet: Wenn es drauf ankommt, unterscheiden die Menschen sehr genau, wer ihnen das Blaue vom Himmel verspricht und wer an ernsthaften Lösungen für ihre Probleme arbeitet. Für die Volkspartei SPD bedeutet das: Sie kann und sie wird auch in Zukunft nur erfolgreich sein als Partei der linken Mitte. Das heißt zunächst, dass wir den Platz in der Mitte unserer Gesellschaft behaupten und verteidigen müssen. Die Mitte unserer Gesellschaft, das sind die vielen, vielen Millionen von ganz normalen Menschen und Familien unseres Landes. Menschen, die arbeiten gehen und sich an Recht und Gesetz halten. Menschen, die von uns ganz handfeste Lösungen für ihre ganz konkreten Probleme erwarten. Diese Menschen dürfen wir niemals im Stich lassen. Ihnen müssen wir Sozialdemokraten Tag für Tag aufs Neue beweisen, dass wir auf ihrer Seite stehen.

VIII.

Links sein, heißt neugierig und kreativ sein Aber Partei der linken Mitte zu sein heißt zugleich auch, dass wir uns immer im Klaren sein müssen, was „links“ bedeutet – und was „links“ eben nicht bedeutet. Es gibt in Deutschland seit Neuestem eine Partei, die nennt sich „Linkspartei“. Vorher hieß sie PDS. Meine Position zu dieser Umbenennung ist sehr klar: Die sich „links“ nennende Partei ist in Wahrheit alles Mögliche. Sie ist populistisch, sie ist rückwärtsgewandt, sie ist vorgestrig – nur „links“, das ist sie ganz sicher nicht. perspektive21

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[ matthias platzeck ]

Seit wann steht „links“ für Abschottung? Seit wann ist es „links“, gegen „Fremdarbeiter“ zu agitieren? Seit wann ist es „links“, die Wirklichkeit zu ignorieren? Das alles ist das Gegenteil von „links“. „Links“ ist etwas anderes. „Links“ ist ein Begriff von Gerechtigkeit, der sich an Freiheit und an Gleichheit orientiert. „Links“ bedeutet, alles zu tun, um bessere Lebenschancen für mehr Menschen zu schaffen. „Links“ bedeutet Bewegung, Aufbruch, Aufbau, bedeutet neue Ideen, Zuversicht und Neugier, Kreativität und Weltoffenheit. Aber genau deshalb haben sich Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten auf den Weg gemacht, um unser Land auf einen Kurs der inneren Erneuerung zu bringen. Nicht durch Beharrung, nicht durch den nostalgischen Blick zurück entstehen heute neue Lebenschancen für mehr Menschen, sondern nur durch die zeitgemäße Erneuerung unserer Gesellschaft. Darum geht es! Wer verspricht, dass mit den Rezepten der Vergangenheit alles wieder werden könnte, wie es einmal war, der verrät in Wirklichkeit genau die Menschen, die er zu vertreten behauptet. Der verrät sie, weil er ihnen außer Parolen und Feindbildern überhaupt nichts zu bieten hat. „Links“ ist die beharrliche Arbeit daran, unter den neuen Bedingungen dieses Jahrhunderts neue Chancen für möglichst alle zu erreichen. Mit immer besserer Vermittlung und mehr Förderung in der Arbeitsmarktpolitik. Mit immer besserer Betreuung für unsere Kinder, mit immer mehr Ganztagsschulen und mit einer Familienpolitik, die Kinder und Beruf vereinbar macht. Mit hervorragender Bildung für alle Kinder unabhängig von ihrer sozialen Herkunft. Mit international wettbewerbsfähiger Wissenschaft und Forschung, die neue Arbeitsplätze in Deutschland schafft. Und mit einer umfassenden Politik der Nachwuchssicherung angesichts des Umbruchs in der Demografie. Dafür steht die deutsche Sozialdemokratie! Wir sind die Partei der Erneuerung aus eigener Kraft. Darauf können wir stolz sein! Und auf noch etwas sind wir stolz: Wir Sozialdemokraten sind die Partei des Friedens und der Friedenssicherung in Deutschland. Dafür standen Willy Brandt und Helmut Schmidt. Und in genau dieser großen historischen Tradition steht auch Gerd Schröder. Auf diese Leistung kann Gerd Schröder und die ganze Partei stolz sein. Mit Gerhard Schröder und Franz Müntefering an der Spitze hat die SPD diesen richtigen Weg für unser Land entschlossen eingeschlagen. Dazu hat viel Mut gehört. Denn wenn die Erneuerung zu lange hinausgeschoben wird, dann braucht es viel Mut, endlich doch noch damit anzufangen. Wir Sozialdemokraten haben den Mut aufgebracht, den Menschen klar zu sagen, warum das Weiter-so nicht mehr

IX.

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[ die zupackende spd ]

funktioniert. Mit dieser Ehrlichkeit erntet man keine stürmischen Jubelstürme, das haben wir erlebt. Aber wir haben auch erlebt, dass man sich mit dieser Haltung etwas anderes erwirbt: Man erwirbt sich Respekt, Achtung, Anerkennung – und zwar ganz allmählich. Die Menschen erkennen nämlich, dass man es ernst mit ihnen meint, gerade weil man ihnen nicht nach dem Munde redet. Die Menschen sind zu gewinnen. Sie sind dann zu gewinnen, wenn sie spüren, dass man es wirklich ernst mit ihnen meint. Das ist unsere große Chance gegen die Verbalradikalen von rechts bis links. Wir brauchen in Deutschland einen neuen Geist des gemeinsamen Anpackens, einen Geist der Kooperation, des Miteinander, der Zusammenarbeit. Wenn wir diese positive Grundhaltung der Zusammenarbeit hinbekommen, dann ist unsere Lage alles andere als aussichtslos. Die jetzt vereinbarte Große Koalition ist der Ort, an dem sich die Fähigkeit zur Zusammenarbeit über Parteigrenzen hinweg bewähren muss. Ich bin nach den Gesprächen und Verhandlungen der vergangenen Wochen sicher, dass dies gelingen wird. Gebraucht wird in der Großen Koalition vor allem die Fähigkeit zum intelligenten Kompromiss. Manche in unserer Partei befürchten, darüber könnten Identität und Profil der SPD verloren gehen. Ich teile diese Befürchtung ausdrücklich nicht. Denn der Wettbewerb um die besseren Ideen für unser Land wird durch die Große Koalition nicht ausgesetzt. Allein von uns selbst hängt es ab, ob unsere Partei als aktiver Motor der Erneuerung jederzeit erkennbar bleibt. Ich wünsche mir, dass unsere Partei ein Ort ist, in der gute Ideen und Engagement jederzeit eine Anlaufstelle haben. Wenn uns das gelingt, dann braucht uns um unser Profil nicht bange zu sein. Darum will ich, dass wir die Diskussion um unser neues Grundsatzprogramm auch als Wettbewerb der guten Ideen wird, mit dem wir auch neue Strahlkraft in die Gesellschaft hinein entwickeln. Und deshalb lade ich alle Bürgerinnen und Bürger ein: Wer sich mit Ideen und mit Tatkraft an der Erneuerung unseres Landes beteiligen will, dessen Platz ist in der SPD und an der Seite der SPD.

X.

Ärmel aufkrempeln und zupacken Ja, die Zeiten sind schwierig. Und ja, sie werden vorerst auch schwierig bleiben. Wir werden die Ärmel aufkrempeln und zupacken müssen. Es geht um viel. Und deshalb werden in Deutschland in den kommenden Jahren buchstäblich alle perspektive21

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[ matthias platzeck ]

Kräfte gebraucht – ganz sicher auch die Kräfte der Gewerkschaften. Auch im abgelaufenen Bundestagswahlkampf habe ich in jeder einzelnen meiner Reden laut und deutlich einen zentralen Satz gesagt: „Ich kann mir Deutschland ohne Gewerkschaften nicht vorstellen – und ich will es auch nicht.“ Zu diesem Satz stehe ich ohne jede Einschränkung. Mir ist es wichtig, dass die Gewerkschaften aus dem notwendigen Prozess der Erneuerung unseres Landes nicht geschwächt hervorgehen, sondern gestärkt. Deshalb wünsche ich mir eine Erneuerungspartnerschaft zwischen SPD und Gewerkschaften. Die deutschen Gewerkschaften sind keine Dinosaurier. Im Alltag unseres Landes tragen sie längst dazu bei, den Wandel zu gestalten – mit großer Professionalität, mit Ideen und Engagement. Da geht es um effektive Beschäftigungssicherung, da geht es um nachhaltige Qualifikation, da geht es um innovative Tarifpolitik und um vieles andere, was unserem Land nützt. Auf allen diesen Gebieten sind die Gewerkschaften in Deutschland nicht Teil des Problems, sondern sie sind Teil der Lösung! Und deshalb möchte ich, dass wir gemeinsam mit den Gewerkschaften beharrlich nach Wegen suchen, um in der veränderten Arbeitsgesellschaft des 21. Jahrhunderts zu bestehen. Dabei wird es nicht ohne Konflikte abgehen – wo gibt es keine Konflikte? Aber entscheidend ist der gemeinsame Wille, unter sich verändernden Bedingungen Gerechtigkeit herzustellen. Und auch hier gilt: Nicht gegeneinander, sondern nur miteinander wird uns das gelingen. Nicht in der Konfrontation, sondern im Mitgestalten liegt der Schlüssel zu gemeinsamer Stärke. Das historische Bündnis zwischen Sozialdemokratie und Gewerkschaften ist wichtiger denn je. „Nichts kommt von selbst, wenig ist von Dauer“ Ich habe die ersten 35 Jahre meines Lebens in einer vollkommen anders organisierten Gesellschaftsordnung verbracht. Das ist nicht zu ändern. Ich bin darüber auch nicht unglücklich. Ich bin klipp und klar Ostdeutscher sozialisiert. Ich bin das gerne und stehe dazu. 35 Jahre habe ich in Potsdam auf der anderen, der ostdeutschen Seite der Glienicker Brücke gewohnt. Die Glienicker Brücke ist die Brücke zwischen Potsdam und West-Berlin, wo in der Zeit des Kalten Krieges ab und zu bei Nacht und Nebel Agenten ausgetauscht wurden. Ich habe dort natürlich mit dem Gefühl gewohnt, dass ich über diese Brücke nie gehen werde; das war Normalität für mich. Vor fast genau 16 Jahren bin ich über diese Brücke gegangen. Ich schäme mich nicht zu sagen, dass ich noch heute manchmal Sonntag früh, wenn dort kein Betrieb ist, über diese Brücke gehe und das Glücksgefühl immer wieder genieße. Liebe Genossinnen und Genossen, ich möchte nicht, 20

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dass mir das verloren geht. Ich habe in diesem Umbruch erfahren, dass viel dran ist an dem Satz von Willy Brandt, wir müssten uns klar machen, dass nichts von Dauer ist. Ich habe in dem Umbruch erfahren, dass man sich immer den Blick für die Risiken und Chancen einer Gesellschaft offen halten soll. Ich möchte mein Land, ich möchte unser Deutschland gegen kein anderes Land auf der Welt eintauschen. Es ist ein wunderbares Land. Ich bin froh, in diesem Land leben und arbeiten zu können. Aber nichts kommt von selbst. Dieses lebenswerte Land ist kein naturgegebener Zustand. Es ist eine tägliche Aufgabe. Lasst uns diese Aufgabe annehmen. Vergeuden wir jetzt also keine Zeit, sondern fangen wir an zu arbeiten. L

MATTHIAS PLATZECK

ist Vorsitzender der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands und Ministerpräsident Brandenburgs. Dies ist die bearbeitete Fassung der Rede von Matthias Platzeck auf dem Karlsruher SPD-Parteitag vom 15. November 2005. perspektive21

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Vorwärts! WIE DIE SOZIALDEMOKRATIE DIE ZUKUNFT GEWINNEN KANN VON HUBERTUS HEIL

Was hat sich letztlich als seine Sache erwiesen?“ – so fragte jüngst der Tagesspiegel in einem Porträt über den scheidenden Bundeskanzler Schröder und gab sogleich die Antwort: „Die Zukunft ist offen, wenn man nur anpackt, handelt, kämpft.“ Es ist tatsächlich diese optimistische Grundeinstellung, die Gerhard Schröder der SPD vermacht hat. Diese Haltung trug die SPD zuletzt im erfolgreichen Bundestagswahlkampf. Aus der positiven Erfahrung dieses Wahlsommers kann die Sozialdemokratie Selbstvertrauen schöpfen und einiges lernen – vor allem im Hinblick auf kommende Wahlen. Um jedoch im Jahr 2009 den Bundeskanzler zu stellen, muss sich die SPD zudem programmatisch und organisatorisch weiterentwickeln. Ihren jüngsten Wahlerfolg erzielte die SPD unter äußerst schwierigen Bedingungen. Die versammelte Welt der Auguren hatte den Untergang der deutschen Sozialdemokratie auf den 18. September 2005 datiert. Dass die SPD nun doch auf Augenhöhe mit der Union wieder die Regierung bildet, hat sie vor allem ihrem entschlossenen Wahlkampf zu verdanken –

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einem Wahlkampf, in dem die SPD mit Gerhard Schröder an der Spitze die Reformagenda 2010 selbstbewusst vertreten hat. Genau diese geradlinige Haltung hat viele Wählerinnen und Wähler von der sozialdemokratischen Kompetenz überzeugt. Linke Volkspartei in der Mitte Die SPD ist nach wie vor die linke Volkspartei in der Mitte der Gesellschaft. Auch das ist ein Grund für neues Selbstbewusstsein. Über 16 Millionen Bürger haben der Sozialdemokratie ihr Vertrauen geschenkt. Diese Wählerinnen und Wähler sind Frauen und Männer, die hart für sich und ihre Familien arbeiten; es sind junge Menschen auf der Suche nach einer Perspektive; es sind Ältere, die gut und sicher leben wollen; es sind Arbeitsuchende, Arme, Kranke, die von der SPD Unterstützung erwarten. All diese Menschen vertrauen auf diese Partei. Viele von ihnen kann man tatsächlich mit Willy Brandt als „parteilose Sozialdemokraten“ bezeichnen. Die Wahl hat aber auch die Herausforderungen offenbart, vor der die Parperspektive21

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[ hubertus heil ]

tei heute steht. Die FDP hat im Wahlkampf einen radikalen Wirtschaftsliberalismus vertreten, mit dem sich die SPD künftig immer wieder auseinandersetzen muss. Auch die neuerdings umbenannte PDS fordert die SPD heraus. Ihrem Populismus müssen Sozialdemokraten begegnen, indem sie immer wieder betonen: Das PDS-Programm der Abschottung und der Rückwärtsgewandtheit kann nicht im Ernst als links bezeichnet werden. Links bedeutet, weltoffen zu sein, Vertrauen in die Zukunft zu haben, konkret zu handeln für eine solidarische Gesellschaft. Nichts davon beschreibt die PDS. Aus Verantwortung für unser Land arbeitet die SPD nun für den Erfolg der Großen Koalition. Die sozialdemokratische Handschrift ist in dieser Konstellation deutlich erkennbar. Das Ziel für die nächsten vier Jahren steht fest: Die SPD will die maßgebliche politische Gestaltungskraft in Deutschland bleiben und im Jahr 2009 wieder den Bundeskanzler stellen. Die Regierung Schröder hat dafür in den vergangenen sieben Jahren die Voraussetzungen geschaffen; sie hat den Grundstein gelegt für eine zeitgemäße Sozialdemokratie. Zum einen hat der Pragmatiker Gerhard Schröder die SPD zu einer verantwortungsbewussten Partei geformt, die regieren will, um die Wirk-

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lichkeit zu verändern. Die Wünschdir-was-Resolutionen der Vergangenheit sind heute nur noch selten anzutreffen. Zum anderen hat Schröder auf vielen Politikfeldern für notwendige Paradigmenwechsel gesorgt. Das Konzept eines aktivierenden Sozialstaats, ein reformierter Arbeitsmarkt, die kapitalgedeckte Altersvorsorge, eine moderne Familienpolitik oder die gewachsene internationale Verantwortung Deutschlands – dies alles gehört mittlerweile zum Inventar sozialdemokratischer und deutscher Politik. Diese konzeptionellen Neuerungen werden auch das neue Grundsatzprogramm mit prägen, das die SPD zurzeit erarbeitet. Das Berliner Programm wurde im Dezember 1989 verabschiedet. Die gravierenden Veränderungen nach dem Ende des Kalten Krieges konnte es nicht mehr berücksichtigten. Seither haben sich Wirtschaft, Gesellschaft und die soziale Lage der Menschen in Deutschland aber stark verändert. Durch grenzenlose Kapitalmärkte und die geöffneten Volkswirtschaften in Osteuropa und Asien herrscht ein scharfer globaler Standortwettbewerb. Wie alle hoch entwickelten Länder befindet sich Deutschland im Übergang zur Wissensökonomie und muss vor allem die geistigen Ressourcen seiner Gesellschaft mobilisieren. Am Arbeitsmarkt

III.


[ vorwärts ! ]

haben sich Ausgrenzungsprozesse fortgesetzt, viele Menschen sind heute weit stärker von Arbeitslosigkeit bedroht als noch in den achtziger Jahren. Und der demografische Wandel stellt die Grundmechanismen unserer Sozialsysteme in Frage. Der Wandel ist gestaltbar In ihrem neuen Grundsatzprogramm muss die SPD unbedingt zum Ausdruck bringen, dass sie diesen Wandel als große, aber gestaltbare Herausforderung begreift. Grundlage des Programms muss die Erkenntnis sein, dass soziale Inklusion und wirtschaftliche Dynamik heute keine Gegensätze sind, sondern einander mehr denn je bedingen. Ohne den modernen, Zusammenhalt und Inklusion ermöglichenden Sozialstaat kann es unter den Bedingungen des 21. Jahrhunderts keine innovative Wirtschaft mehr geben – und ohne eine wettbewerbsfähige ökonomische Basis rutschen dem Sozialstaat auf Dauer alle Fundamente weg. Die sozialdemokratische Gestaltungsaufgabe besteht nunmehr darin, durch die systematische Verzahnung von Bildungs-, Familien- und Arbeitsmarktpolitik sozialen Aufstieg in Deutschland wieder einfacher zu ermöglichen und gleichzeitig durch vorbeugende, nicht nur „reparierende“

Sozialpolitik den sozialen Abstieg zu verhindern. Jeder Mensch soll immer wieder neu die Chance bekommen, eigenverantwortlich zu leben, zu arbeiten und an den Möglichkeiten der Gesellschaft teilzuhaben – unabhängig von Herkunft, Einkommen oder Geschlecht. Anders formuliert: Das Grundsatzprogramm muss das Profil der SPD als Partei der Lebenschancen für alle schärfen. Diese Ideen wird die SPD verteidigen müssen gegen diejenigen, die jegliche staatliche Tätigkeit auf ein Minimum zurückfahren und das gesellschaftliche Leben vollständig ökonomisieren wollen. Diese Westerwellschen Ideologie liegt ein einseitiger Begriff von Freiheit zugrunde. Weil Freiheit für Sozialdemokraten neben Gerechtigkeit und Solidarität der erste Grundwert ist, müssen wir uns selbstbewusst mit dem Freiheitsbegriff auseinandersetzen. Der Kern einer Debatte über den Begriff „Freiheit“ dreht sich um die klassische Unterscheidung des Philosophen Isaiah Berlin zwischen der negativen Freiheit (die Freiheit von etwas) und der positive Freiheit (die Freiheit zu etwas). Die Wirtschaftsliberalen begnügen sich ganz im Sinne von Friedrich August von Hayek mit der negativen Freiheit. Guido Westerwelle setzte in seiner Antwort auf die Regierungserklärung von Bundeskanzlerin

IV.

perspektive21

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[ hubertus heil ]

Steuererhöhungen mit Unfreiheit gleich. Für ihn bedeutet Freiheit, die radikale Entstaatlichung und die Freisetzung des homo oeconomicus aus allen gesellschaftlichen Verpflichtungen. Freiheit wird so reduziert auf Gewerbefreiheit. Freiheit für viele, nicht für wenige Der konservative Verfassungsrichter Udo Di Fabio hingegen hebt in seinem viel beachteten Buch „Die Kultur der Freiheit“ hervor, dass Freiheit nicht gedacht werden könne, ohne soziale Bindungen und Verpflichtungen mitzudenken. Er nimmt damit eine Gegenposition zum gesellschaftlich verantwortungslosen Ultraliberalismus ein. So weit, so gut. Gleichzeitig ist er aber der Auffassung, der freie Mensch solle zunächst etwas leisten und etwas geben, bevor er etwas von der Gesellschaft verlangen dürfe. Klingt auch gut, aber so wichtig dieser Hinweis von Di Fabio ist, so sehr blendet er die sozialen und ganz praktischen Voraussetzungen von Freiheit aus. Die Einsicht, dass individuelle Freiheit eine zentrale Bedeutung hat, jedoch sowohl in politischer als auch in sozialer Hinsicht nicht voraussetzungsfrei ist, gehört zu den Grundüberzeugungen der Sozialdemokratie. In seiner Abschiedsrede als Vorsitzender der 26

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SPD formulierte Willy Brandt: „Wenn ich sagen soll, was mir neben dem Frieden wichtiger sei als alles andere, dann lautet mei-ne Antwort ohne Wenn und Aber: Freiheit. Die Freiheit für viele, nicht für die wenigen. Freiheit des Gewissens und Meinung. Auch Freiheit von Not und Furcht.“ Für ihn war Freiheit keineswegs reglementiertes Glück, sondern die Freisetzung der schöpferischen Fähigkeiten, die im Menschen angelegt sind. Es war nicht zuletzt die politische Linke, die auf diesem Weg der Freisetzung der schöpferischen Fähigkeiten einiges erreicht hat. Dass jeder Mensch durch eigene Anstrengung seinen Platz in der Gesellschaft finden kann, und dass jeder Mensch die theoretische Chance hat, sein Leben nach eigenen Plänen zu gestalten, ist eine sehr junge Erfahrung der Menschheitsgeschichte. Sie setzte gleiche Freiheiten für Frauen und Männer und die Möglichkeit voraus, soziale Schranken zu überwinden. Wie frei ist also unsere Gesellschaft? Ein Jugendlicher, der in zweiter Generation von Sozialhilfe lebt, in einem Wohnghetto am Stadtrand aufwächst, keinen Hauptschulabschluss schafft, später keine Ausbildungsstelle findet, darf innerhalb der gesetzlichen Grenzen tun und lassen was er will. Aber ist er frei? Natürlich hindert ihn theoretisch niemand daran, neue Dinge zu lernen und sich selbstständig

V.


[ vorwärts ! ]

zu machen. Aber im wirklichen Leben – um das es in der Politik gehen sollte – hat dieser Jugendliche kaum eine Chance, wenn er nicht gezielt gefordert und gefördert wird. Oder nehmen wir ein anderes Beispiel: Ein Unternehmer ist nicht frei darin, seine Beschäftigten nach Gutdünken zu feuern. Gesetze und Verträge verhindern das und schränken seine negative Freiheit ein. Aber wäre die Gesellschaft freier, wenn er es könnte? Solidarische Gesellschaft, aktiver Staat Nicht zufällig steht Freiheit am Anfang des sozialdemokratischen Grundwertekanons. Es geht sowohl um negative Freiheit, das heißt um die Freiheit von Angst, Not, Bevormundung, Bürokra-tie und Benachteiligung. Es geht aber auch um positive Freiheit – also um die Freiheit, selbstbestimmt und eigenverantwortlich seine Lebenschancen wahrzunehmen. Soziale Demokraten sind nicht staatsgläubig. Auch für uns sind eingeengte Überregulierungen und überbordende Statistik- und Berichtspflichten keine politischen Ziele. Wir wissen, dass un-ser Land um seiner Zukunft willen sowohl eine dynamische Ökonomie, eine solidarische Bürgergesellschaft und einen handlungsfähigen Staat benötigt. Der handlungsfähige Staat dient aber nicht nur dazu, Wirt-

schaft und Gesellschaft öffentliche Güter zur Verfügung zu stellen, die der Markt allein nicht hervorbringt. In der Demokratie ist der handlungsfähige Staat unabdingbar, um der Stärke des Rechts und nicht dem Recht des Stärkeren Geltung zu verschaffen. Wir Sozialdemokraten wollen den mündigen und emanzipierten Menschen. Der freie Mensch ist informiert, er stellt sich der Realität, er vertritt seine Interessen, handelt verantwortungsbewusst für sich und andere. Diese emanzipatorischen Potenziale der Freiheit entfalten sich nicht von alleine. Sie zur Entfaltung zu bringen, ist eine aktive und bewusste Leistung der Gesellschaft. Wer heute von Freiheit spricht, sollte von Verantwortung nicht schweigen. Menschenrechte und Menschenpflichten gelten dabei in einem ganz umfassenden Sinne. Wer durch Einkommen und Vermögen Vorteile genießt, hat auch die Pflicht einen angemessenen Beitrag zum Wohle aller zu leisten. Das unterscheidet unseren Freiheitsbegriff von dem der Wirtschaftliberalen, die in der positiven Freiheit eine Gefährdung der negativen Freiheit sehen und damit das Versprechen der Freiheit für einen großen Teil der Menschen nicht einlösen können. Eine Politik der Freiheit setzt eine Befähigung zur Freiheit voraus. Sie muss auf die Gleichheit von Zukunftschan-

VI.

perspektive21

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[ hubertus heil ]

cen setzen, soziale Rechte garantieren und gesellschaftliche Normen und Werte stärken. Dahinter steckt die Erkenntnis, dass die eigene Freiheit immer auch die Freiheit des anderen ist.

Programmatisch erneuert, selbstbewusst gegenüber ihrer Grundwerte, organisatorisch gestärkt und als linke Volkspartei in der Mitte der Gesellschaft – so wird die SPD alle Chancen haben, künftige Wahlen zu gewinnen. L

HUBERTUS HEIL

istist Generalsekretär der SPD und Bundestagsabgeordneter. 28

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„Offen und spannend“ ÜBER DIE ERFAHRUNGEN MIT PETER GLOTZ, DAS GRUNDSATZPROGRAMM UND DIE NEUE SPD SPRACH THOMAS KRALINSKI MIT MARTIN GORHOLT

2005 war ein ereignisreiches Jahr für die SPD: die Wahlniederlagen in SchleswigHolstein und NRW, die vorgezogene Bundestagswahl, die Bildung der neuen Bundesregierung – und zu guter Letzt ein unerwarteter Wechsel an der Parteispitze. Welche Spuren hat das in der Mitgliedschaft hinterlassen? Auch 2005 haben uns noch einmal viele Mitglieder verlassen. Doch die Austrittswelle ist gestoppt. Im Bundestagswahlkampf war unsere Mitgliederbilanz positiv. Und auch seit dem Karlsruher Parteitag ist die Zahl der Menschen, die zu uns kommen größer als die Zahl der Mitglieder, die uns verlassen oder sterben. Wir stabilisieren uns bei knapp 600.000 Genossinnen und Genossen. Damit sind wir immer noch die größte Partei Europas. Ich will, dass wir das bleiben. Dennoch: Wie will die SPD für Mitglieder attraktiver werden? Es geht sowohl um die Mitglieder als auch um Bürger, die uns nahe stehen – und auch unterstützen möchten. Als ich in den achtziger Jahren in

der Bonner Baracke angefangen habe für die Juso-Hochschulgruppen zu arbeiten, war Peter Glotz Bundesgeschäftsführer. Von ihm habe ich viel gelernt. Er hat damals das Wissenschafts- und das Kulturforum gegründet. Damit sollte die SPD spannender gemacht werden für wichtige gesellschaftliche Gruppen. Die SPD hat sich damals erstmals gegenüber Quereinsteigern geöffnet, man denke nur an Ingrid Matthäus-Meier oder Günter Verheugen. Glotz hat auch erstmals eine umfangreiche Studie über die Lebens- und Motivlagen der Menschen in Deutschland anfertigen lassen. Das hat das politische Marketing revolutioniert. Wie sollen denn Unterstützer an die Partei gebunden werden? Was ich mir vorstelle, ist eine Art „Fördermitgliedschaft“. Es gibt viele Menschen, die die Sozialdemokratie einfach nur unterstützen wollen, aber kein Interesse an der eigentlichen Parteiarbeit haben. Die wollen nicht zu Ortsvereinen oder Parteikonferenzen perspektive21

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[ martin gorholt ]

gehen. Meiner Ansicht nach sollten wir diese Sympathisanten stärker ansprechen, ihnen die Möglichkeit geben, sich an die Partei zu binden – und sie aber in Ruhe lassen, wenn sie es so wollen. Wer was verändern will, muss lernen Steht uns also nun eine neue Parteireform ins Haus? Parteireformen wurden von Peter Glotz, von Karlheinz Blessing und von Franz Müntefering angestoßen. Auf dem Karlsruher Parteitag haben wir gerade die Ergebnisse der Beck-Kommission verabschiedet. Deshalb sehe ich erstmal keine Notwendigkeit für eine weitere Runde großer organisatorischer Veränderungen. Gleichwohl gilt: Wenn wir unser Land verändern wollen, brauchen wir eine lernende Partei. Und was bedeutet das? Das heißt, dass wir offener werden müssen. Offener für Menschen, die mitmachen wollen. Und offener für Entwicklungen, die in unserem Land und darüber hinaus stattfinden. Die Öffnung der Partei muss einhergehen mit aktiveren Arbeitsgemeinschaften. Unsere AGs müssen Brückenköpfe in gesellschaftliche Gruppen hinein sein. Und lernende Partei zu sein bedeutet natürlich, dass wir die Bildung und Ausbildung unserer hauptamtlichen, 30

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aber auch unserer ehrenamtlichen Verantwortungsträger verbessern müssen. Dafür ist die Parteischule sehr wichtig. Wird es denn auch eine Mitgliederwerbekampagne geben? Die beste Werbung sind eine aktive und diskutierende Partei sowie eine erfolgreiche Regierungspolitik. Darüber hinaus wird man sehr unterschiedliche Strategien verfolgen müssen. In Ostdeutschland haben wir seit vielen Jahren einen Stillstand bei der Parteienentwicklung. Die älteren Ostdeutschen sind nach wie vor nicht gewillt, sich in Parteien zu engagieren. Größere Chancen haben wir in den neuen Ländern bei den Jüngeren. Im Übrigen sehe ich die größten Wachstumspotentiale in den alten sozialdemokratischen Stammgebieten. In der Fußgängerzone von Dortmund ist es viel einfacher, neue Mitglieder zu gewinnen, als in Halle. Jungen Menschen Wege ebnen Die Mehrzahl der neuen Mitglieder ist unter 40. Was ist deren Motivation, in die SPD einzutreten? Ehrlich gesagt, wir wissen es nicht genau – auch weil mittlerweile die Hälfte der Neumitglieder über das Internet eintritt. Wir wollen regelmäßige Untersuchungen machen, um herauszubekommen, warum Menschen zu


[ offen und spannend ]

uns kommen und wie sie sich für die SPD engagieren wollen. Fest steht: Es ist ein gutes Zeichen, wenn in so schwierigen Zeiten vor allem junge Leute den Weg in eine Partei finden. Von der Beitrittswelle der siebziger Jahre hat die SPD viele viele Jahre profitiert. Ganz so wird es nicht wieder kommen. Aber wer gesehen hat, wie die Jungen Teams sich in fast allen Wahlkreisen engagiert haben, verspürt Mut. Da waren enthusiastische junge Menschen, die für eine Idee gekämpft haben – und nicht immer Mitglied der SPD waren. Diese Leute in unserem Umfeld zu halten, ist sehr wichtig. Gibt es denn eine Chance, dass die SPD ihre Grundsatzdebatte einmal zu Ende bringt? Wer sich das Berliner Programm genau schaut, entdeckt dort Passagen, die nun wirklich nichts mehr mit der Realität zu tun haben. Zum Beispiel steht dort nichts von staatlicher Einheit. Dass wir ein neues Programm brauchen, ist also offensichtlich. Momentan haben wir zwei Programmentwürfe in der Schublade, eins von Olaf Scholz, eins von Franz Müntefering. Das ist eine gute Grundlage. Wahr ist aber auch, dass viele Menschen im Land noch gar nicht mitbekommen haben, dass die SPD eine Grundsatzprogrammdebatte führt. Wir müssen diese Diskussion viel breiter führen. Das ist besonders wichtig, wenn wir

eine wertebezogene Politik wollen. Das heißt, es wird noch ein bisschen dauern mit dem neuen Programm? Wir sollten da nichts übers Knie brechen. Wer die Debatte will, braucht dafür auch Zeit. Da kommt es auf ein paar Monate nicht an. Zumal wenn wir ein Programm diskutieren, dass über den Tag hinaus reicht. Die Partei ist programmatisch ausgehungert. Daraus kann sich ein spannender und nach vorne gerichteter Diskurs ergeben. Ziel ist die Verabschiedung des neuen Grundsatzprogramms im Jahr 2007. Zeit für Grundsatzprogramm lassen Matthias Platzeck hat in seiner Parteitagsrede viel von den Erfolgen sozialdemokratischer Politik in Finnland, Dänemark, Schweden und anderen Ländern gesprochen. Wie werden sich diese Erfahrungen in Deutschland niederschlagen? Ich bin großer Anhänger eines sozialdemokratischen benchmarkings. Die internationale Kooperation zwischen unseren Parteien ist viel wichtiger als der Austausch von Grußbotschaften auf Parteitagen. Wir können viel von anderen Ländern lernen. Auch in Spanien, Großbritannien oder in den Niederlanden haben die Sozialdemokraten gelernt und sich programmatisch erfolgreich auf neue gesellschaftliche Situationen eingestellt. Die Suche nach gemeinsamen sozialdemokratischen perspektive21

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[ martin gorholt ]

Wegen zu einem erneuerten Sozialstaat kann sehr spannend werden. Lässt sich der programmatische Anspruch überhaupt verbinden mit dem Regierungsalltag? Das sind genau die beiden wichtigsten Aufgaben, vor denen wir stehen. Zum einen geht es um professionelles und handwerklich sauberes Regierungshandeln. Dabei müssen wir die Menschen mitnehmen und unser Tun erklären. Wir Sozialdemokraten müssen mehr als bisher argumentieren, um die Menschen zu überzeugen. Wir

müssen offensiv klar machen, um welche Grundwerte und Haltungen es uns geht, statt uns mit zusammengebissenen Zähnen für unsere Politik zu entschuldigen. In Brandenburg haben wir dazu das Prinzip „Mit dem Gesicht zu den Menschen“ entwickelt. Mit dieser zupackenden und offenen Art können wir das Handeln von Regierung, Partei und Fraktion nachvollziehbar machen. Parallel dazu, und das ist die zweite Aufgabe, werden wir über den Tag hinaus denken, unsere langfristigen Ziele, Werte und Überzeugungen deutlich machen. L

MARTIN GORHOLT

war von 1990 bis 1994 Landesgeschäftsführer der Brandenburger SPD, anschließend arbeitete er im Brandenburger Wissenschafts- und Bildungsministerium, zuletzt als Staatssekretär. Seit November ist er 2005 Bundesgeschäftsführer der SPD. 32

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Erfolg dank Erneuerung WIE AUS OLD LABOUR NEW LABOUR WURDE VON OLAF CRAMME

s scheint eine Ironie der europäischen Politik zu sein, dass die britische Labour Party im beginnenden 21. Jahrhundert zusammen mit der schwedischen Linkspartei zum Anziehungspunkt der Sozialdemokratie in Europa geworden ist, obwohl sie im 20. Jahrhundert zu den am wenigsten erfolgreichen sozialdemokratischen Parteien zählte. Eine lange Serie von verlorenen Wahlen führte zwischen 1979 und 1997 zu einer 18-jährigen Herrschaft der Konservativen unter Margeret Thatcher und John Major. Labour schien dagegen fast vollkommen von der politischen Bühne Großbritanniens verschwunden zu sein, weit entfernt auf jeden Fall von der Fähigkeit und dem damit verbundenen Wählervertrauen, die Geschicke des Landes zu leiten (Zentralismus und Mehrheitswahlrecht des britischen politischen Systems sorgten für einen gänzlichen Abschied in der Versenkung). Heutzutage, nach New Labours drittem Wahlerfolg im Mai 2005, hat sich das Blatt gewendet. Während sich Labour fast schon zur „natürlichen“

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Regierungspartei entwickelt hat, scheint die Ära der klassischen Tories zu Ende zu gehen. Unweigerlich stellt sich die Frage: Wie konnte es dazu kommen? Aufschwung allein reicht nicht Nicht wenige Beobachter führen diesen abrupten Wechsel auf zwei Faktoren zurück: Zum einen darauf, dass trotz des wirtschaftlichen Aufschwungs unter Thatcher selbst viele traditionelle Tory-Wähler die konzeptionslose Major-Regierung nicht mehr im Amt sehen wollten und sich ausserdem nach einer sozialpolitischen Kurskorrektur sehnten; zum anderen auf die innere Zerrissenheit der Konservativen, die mittlerweile eine chronische personelle und programmatische Schwäche nach sich gezogen hat. Obwohl aus langfristiger ökonomischer Sicht der Thatcherismus sicherlich von Vorteil gewesen ist, greifen diese Erklärungen viel zu kurz. Weder das Ausmaß der Wahlerfolge noch deren perspektive21

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[ olaf cramme ]

Wiederholungen sind damit zu begründen. Gemäß dem Fußball-Motto „der Gegner ist immer nur so stark, wie man es zulässt“ darf die Rolle und Attraktivität Labours nicht verkannt werden. Den Ursprung des Erfolges findet man dabei in den neunziger Jahren, als das Projekt New Labour entstand. Traditionen mit Erneuerung verbinden Noch Ende der achtziger und dann vor allem zu Beginn der neunziger legten die damaligen Vorsitzenden Neil Kinnock und John Smith die Grundlagen für eine durchgreifende Reform von (Old) Labour. Aber erst nach Smiths plötzlichem Tod 1994 und dem darauf folgenden Aufstieg von Tony Blair und Gordon Brown setzte sich eine Erneuerung durch, die die Partei elementar verändern sollte. Die Argumentation der neuen Führung war im Prinzip recht einfach. Sie fußte auf der Überzeugung, dass ein wirtschaftlicher und sozialer Wandel nicht mit den damaligen Konzepten der Labourpartei bewältigt werden könnte, sowie darauf, dass die Probleme Großbritanniens nicht mit den altbewährten Methoden der NachkriegsSozialdemokratie zu lösen wären – ins-

besondere nicht mit einer ökonomischen Politik, die sich am Keynesianismus orientiert. Dagegen sollten, wie es David Miliband, einer der führenden Köpfe New Labours, beschrieben hat 1, folgende fünf strategische Eckpunkte die neue Ausrichtung der Partei bestimmen: K Labour sollte weiterhin an den sozialdemokratischen Werten festhalten, zugleich jedoch deren Sicherstellung durch innovative Ideen und Konzepte ermöglichen. Dies bedeutete vor allem, dass es die Rolle des Staates in einer modernen Sozialdemokratie neu zu überdenken galt. K Labour sollte einen liberalen Sozialismus entwickeln, in der sozialdemokratisches Engagement und soziale Gerechtigkeit basierend auf gemeinschaftlichem Wirken durch individuelle Freiheiten in der Marktwirtschaft erweitert und verstärkt werden. K Labour sollte die Idee der Wohlstandsentwicklung und der Produktionspolitik mit gerechten Ergebnissen und einer entsprechenden Verteilungspolitik verbinden. K Labour sollte im Rahmen einer fortschrittlichen Neudefinition bestimmte Themengebiete für sich erobern, die die Konservativen bis-

1 David Miliband, New Labour wieder an der Macht – was nun?, Vortrag in der Friedrich-Ebert-Stiftung Berlin, 21. Februar 2002.

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lang für sich beanspruchten, beispielsweise die Bereiche Law and Order oder Verteidigung. K Labour sollte sich mit den aufkommenden dynamischen Tendenzen in der britischen Gesellschaft auseinandersetzen, die sich vom Kommunitarismus zur Reform des Staates bis hin zur Umweltpolitik erstrecken. „Ethischer Sozialismus“ als neue Grundlage Tony Blair selbst formulierte seine Anschauung so: „Die Marx’sche Ideologie litt vor allem daran, dass letztendlich der Einzelne unterdrückt wurde, was in der Unterdrückung der Gesellschaft seinen Anfang fand. Aber erst aufgrund der Bedeutung der individuellen Verpflichtung lässt sich das Gemeinwohl mit den Interessen der Gemeinschaft verknüpfen – ein Prinzip, dass die Kirche im Akt der Kommunion zelebriert.“ 2 Diese Interpretation des Marxismus diente Blair, um seine eigene Alternative des „ethischen Sozialismus“ zu entwickeln. Dieser Ansatz sollte verhindern, dass der Einzelne von der Macht des Staates unterdrückt wird, sondern im Gegenteil dazu führen, dass dieser als „vorrangig“ (paramount) angesehen wird. Während man hier direkte

Linien zum klassischen Liberalismus erkennen mag, unterschied sich Blairs Ansatz dadurch, dass er Individuen als „sozial abhängige Wesen“ betrachtet und dementsprechend „das individuelle Eigeninteresse unvermeidlich mit dem Interesse der Gesellschaft verbunden“ sieht. Diese Perspektive war für Blair der Grundstein seiner politischen Motivation. Die Prinzipien des „ethischen Sozialismus“, wie Blair argumentierte, würden die Hauptaufgabe einer Labour Regierung unterstützen, und zwar „zu intervenieren, um die Fähigkeiten des Einzelnen so auszubauen, dass dieser in der neuen Wirtschaft Erfolg haben kann.“ Verschiedene Anschauungen vereinen Von entscheidender Bedeutung sollte sein, die genannten Eckpunkte und Anschauungen zu einem kohärenten Ganzen zu verschmelzen. Die Entschlossenheit der neuen Führung führte dazu, dass auf dem Parteitag 1995 die Parteiverfassung so geändert wurde, dass von Old Labour nicht mehr viel übrig blieb. In dem neu aufgenommenen „Paragraphen IV“ (clause four) des Labour-Parteiprogramms war nun davon die Rede, dass „wir durch die Kraft unserer gemeinsamen Bemühungen mehr

2 Vgl. Tony Blair, New Britain. My vision of a younger country, London 1996, Seite 59f. (Übersetzung des Autors)

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erreichen als wir jemals alleine erreichen würden. Deshalb müssen für jeden von uns die Mittel geschaffen werden, unser wahres Potential zu verwirklichen, und für uns alle eine Gemeinschaft, in der Macht, Wohlstand und Möglichkeiten in den Händen von vielen und nicht nur einigen wenigen liegen“. Dieser Paragraph sollte jedoch gleichzeitig unter der Prämisse verstanden werden, dass Gleichheitsversprechen für sich allein gesehen als Vorhaben für eine Regierung nicht ausreichen. Vor allem dann nicht, wenn sie sich verpflichtet, im Sinne einer nachhaltigen Sozial- und Umweltpolitik für die allgemeine Sicherheit und eine größere individuelle Freiheit zu agieren. New Labour, New Britain Hierauf folgte dann die eigentliche Debatte um die programmatischen Konzepte der Partei, eng verbunden mit dem theoretischen Konzept des „Dritten Wegs“. Im Zentrum all dessen stand die Entwicklung eines neuen politischen Projekts, das mit Slogans wie New Labour, New Britain eingekleidet wurde 3. Den Grundstock legte das 1996 von Peter Mandelson, dem heutigen Han-

delskommissar der Europäischen Union, und Roger Liddle, langjähriger europapolitischer Berater Blairs, geschriebene Buch „The Blair Revolution“ 4, welches sich in großen Teilen im Wahlmanifest von 1997 wiederfand. Selbst die ansonsten New Labour-kritische FAZ bescheinigte dem Werk damals, es sei „eine Fundgrube neuer politischer Ideen, die visionäre Vorstellungen mit Pragmatismus verknüpft und dabei in den politischen Themen eine intellektuelle Frische ausströmt, die wir in Deutschland alle so sehr vermissen“.5 Dynamik und Gerechtigkeit verknüpfen Die Philosophie New Labours kann am besten mit dem Begriff der „Marktsozialdemokratie“ (Jürgen Krönig) beschrieben werden.6 Ökonomisch ist die Regierung mehr am amerikanischen Wirtschaftsmodell ausgerichtet, zugleich verfolgt sie aber auch eine klassische Sozialpolitik, wie sie eher typisch für den europäischen Kontinent ist. Im Mittelpunkt aller Initiativen steht das Thema Arbeit, welches in das Konzept des enabling state, des „ermöglichenden“ Staates, eingebettet ist.7 Die Grundidee besteht

3 Siehe auch Gero Maass, „Blairs Welten bröckeln – Was bleibt von New Labour, New Britain, New Europe and New World?“, Europäische Politik (06/2004), Friedrich-Ebert Stiftung. 4 Peter Mandelson und Roger Liddle, The Blair Revolution. Can New Labour Deliver?, London, 1996. 5 Frankfurter Allgemeine Zeitung, 2. August 1996. 6 Vgl. Jürgen Krönig, „Das Ende der Armut?“, in: Berliner Republik, 2/2005. 7 Zur weiterführenden Lektüre empfohlen: John Kay, „The Embedded Market“, und Folke Schuppert, „The Ensuring State“, in: Policy Network, „Progressive Futures: New Ideas for the Centre-Left“, London, 2003.

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darin, dass der Staat aktiv Hilfe zur Selbsthilfe fördert, ergänzt durch steuerliche Initiativen, die oftmals in klassischer Umverteilung münden. Ziel war es, ein neues Gleichgewicht zwischen den Imperativen der wirtschaftlichen Dynamik und der sozialen Gerechtigkeit, sowohl der Werte als auch der Maßnahmen, herzustellen. Hinzu kam eine Neudefinition von Gleichheit. Tony Blair und seine Befürworter waren weniger an Ungleichheit als an (gesellschaftlichem) Ausschluss interessiert. Blair redete kaum von Ungerechtigkeit und Gerechtigkeit, sondern vor allem von social exclusion und social inclusion. Sein politisches Interesse zielte darauf, Wege zu finden, um die heute Ausgeschlossenen einzuschließen, und nicht darauf, entstandene Unterschiede mit allen verfügbaren Mitteln auszugleichen. „Dritter Weg“ für neue Sozialdemokratie Die neue marktorientierte MitteLinks-Ideologie in der Wirtschaftsund Sozialpolitik wurde zur gleichen Zeit vom Soziologen Anthony Giddens in die Formel des „Third Way“ gegossen. Giddens argumentierte, dass der „Dritte Weg“ eine erneuerte Sozialdemokratie für eine neue Welt der Globalisierung und des ungezügelten

Individualismus darstellt. Dieser beruht auf dem Bekenntnis zu einer neu ausgerichteten Wirtschaft, in der Märkte durch den Staat (zu einem gewissen Grad) reguliert, aber nicht kontrolliert werden, sowie zu einer neuen Balance zwischen Recht und Verantwortung sowohl für das Business als auch für Individuen. Bürgern helfen, Wege zu finden „Das Gesamtziel der Third Way-Politik sollte sein, den Bürgern zu helfen, ihren Weg durch die großen Revolutionen unserer Zeit zu finden: Globalisierung, Transformationen im privaten Leben und in unserem Verhältnis zur Natur. Die Third Way-Politik sollte die Kernanliegen der sozialen Gerechtigkeit bewahren, und gleichzeitig akzeptieren, dass der Bereich der Fragen, die aus dem klassischen rechts-links Muster herausfallen, größer ist als jemals zuvor […] Nach der Absage an den Kollektivismus sucht Politik des Dritten Weges eine neue Beziehung zwischen dem Einzelnen und der Gemeinschaft, zwischen Rechten und Verpflichtungen“.8 Die Korrektur des Verhältnisses von Staat und Individuum sollte so für New Labour eine wichtige Rolle spielen. Man strebte eine neue Ausgewo-

8 Anthony Giddens, Beyond left and right, in: The Observer, 13. September 1998. (Übersetzung des Autors)

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genheit an, zwischen Rechten und Pflichten, zwischen Ansprüchen an den Staat und der Gegenleistung des Einzelnen für die Gesellschaft. Laut Labour war diese Balance seit den sechziger Jahren verloren gegangen, dem sozialen Individualismus der Linken folgte in den achtziger Jahren der ökonomische Individualismus der neuen Rechten. Zur Verwirklichung dieses Ziels war es natürlich von entscheidender Bedeutung, dass New Labour auch bereit war, dass eigene Menschenbild von der Realität korrigieren zu lassen. Entdeckung der Bildungspolitik Als ein anderes Beispiel lässt sich New Labours Verhältnis zur Erziehung(spolitik) ausmachen. Früher als die meisten anderen sozialdemokratischen Parteien erkannte Blair ihre enorme Bedeutung, basierend auf der Überzeugung, dass nur qualifizierte Arbeitskräfte in der neuen Welt globaler Märkte mithalten können. Daraus folgte unter anderem, dass man konsequent Abschied von den Erziehungsmodellen der sechziger und siebziger Jahre nahm, in denen Begriffe wie Leistung, Disziplin und Prüfung verpönt wurden. Des Weiteren gelang es New

Labour, Themen, die auf den ersten Blick weniger sozialdemokratisch erscheinen, nicht zu vernachlässigen, sondern sie mit gleicher Entschiedenheit anzugehen. Von zentraler Bedeutung war hier das Problem der Verunsicherung. Dabei ging es nicht nur um die Unsicherheit, die durch Arbeitslosigkeit ausgelöst wird, sondern um Verunsicherung, die in der Bevölkerung mit Themen wie Kriminalität, öffentlichem Dienst, Finanzen, Identität und Außenpolitik verbunden sind. Wie es der brillante holländische Vordenker René Cuperus trefflich formulierte, ist die Verwandlung von Old Labour zu New Labour ein „kompliziertes Phänomen“, das drei analytische Ebenen aufweist: K die Neu- und Umorientierung von sozialistischen Denkmustern (clause four); K die Überarbeitung der politischen Kommunikation und Wahlkampftechnik (mit dem Vorbild der New Democrats unter Bill Clinton) und K die Positionierung des Dritten Wegs als Nachwahlerrungenschaft, wobei durch das neue analytische und ideologische Vokabular die sozialliberalen und kommunitären Ideen in das sozialdemokratische Projekt eingebaut wurden.9

9 Vgl. René Cuperus, Der Dritte Weg: Ein intellektuelles Abenteuer, auch für Kontinentaleuropäer! Beobachtungen aus den Niederlanden, Friedrich-Ebert-Stiftung, 2000.

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Eines der wichtigsten Ver.dienste von New Labour war es letztlich auch, das Verhältnis der eigenen Partei, zumindest ihrer großen Mehrheit, mit der Reformpolitik in Einklang zu bringen. Arbeiterinteressen und Verfechter von Old Labour waren lange skeptisch gegenüber „Reformen“. Wie auch bei vielen Linksparteien im kontinentalen Europa ist der Terminus „Reform“ zum Synonym für schlechtere Arbeitsbedingungen, Arbeitslosigkeit, Unternehmungssanierung inklusive Entlassungen und abnehmenden Sozialstandards geworden. Dieser Auffassung zufolge würden die Gewinner im Zeitalter des globalen ökonomischen Wettbewerbs nur auf Kosten der Schwachen vorankommen. Mittel ändern sich, Werte bleiben Die meisten sozialdemokratischen Parteien haben es jedoch bis heute nicht geschafft aufzuzeigen, dass Reformen durchaus mit dem traditionellen Bekenntnis zur sozialen Gerechtigkeit übereinstimmen können.10 Wie Anthony Crosland, der Haupttheoretiker des Reformzweiges der britischen Labour Partei nach dem Krieg, schon sagte, Mittel können sich ändern, aber

Werte bleiben ewig.11 Erst dem Projekt New Labour gelang es, die Partei hinter ihrer Führung und deren reformorientierten Programmatik zu vereinen. Die Erneuerung Labours hatte aber nicht nur programmatische Veränderungen mit sich gebracht, sondern auch strukturelle und personelle innerhalb und außerhalb Partei. Neue Ideen und Ressourcen erschließen Neben einer strafferen, zentraleren Ordnung ist die „Durchlässigkeit“ der Partei zum herausgehobenen Merkmal geworden. Wie kaum eine andere europäische Partei bedient sich New Labour einer Vielzahl von „Ideen- und Personalquellen“, insbesondere der Labour-nahen sogenannten Think Tanks, wie die Social Market Foundation (SMF), Demos, das Institute for Public Political Research (IPPR) oder der Foreign Policy Centre (FPC). Das IPPR war zum Beispiel Anfang der neunziger Jahre gegründet worden, um Blaupausen für eine zukünftige Labour-Regierung zu schreiben.12 Wer sich heute die Namen von Beratern, Staatssekretären und auch Ministern der Blair-Regierung anschaut, stößt auf eine hohe Deckungsgleichheit mit den

10 Vgl. Patrick Diamond, The End of Schröder, in: Progress, Juli 2005. 11 Vgl. C.A.R. Crosland, The Future of Socialism, Cape 1956. 12 Siehe zum Beispiel den Report der Commission on Social Justice: Social Justice. Strategies for National Renewal, IPPR, London 1994.

perspektive21

39


[ olaf cramme ]

Listen der damaligen Institutsmitglieder. Nach fast zehn Jahren in der Verantwortung verfügt New Labour noch immer über eine erstaunlich große Anzahl ministrabler Politiker, gestützt von aufsteigenden Jungparlamentariern und abgesichert durch das kontinuierliche Aufrücken kompetenter und dynamischer Nachwuchskräfte. Was wird nach einem Jahrzehnt der Third Way-Politik kommen? Obwohl der Ausdruck Dritter Weg mitunter mehrdeutig klingen mag, hat Giddens immer unterstrichen, dass es nicht die Aufgabe war, eine unausführbare Synthese zwischen Sozialdemokratie und Neoliberalismus herzustellen, sondern ihn als einen Weg für Erstere, und eine Alternative zu Letzterem zu sehen. Antworten auf Globalisierung und Individualisierung Es ging darum, mit dem alten Sozialismus zu brechen, da weder die Rezepte des Neoliberalismus der achtziger und neun-ziger Jahre (Ideologie des freien Marktes und abnehmender staatlicher Intervention) noch die Rezepte des traditionellen Sozialstaats mit seiner kollektiven staatlichen Regulierung von sozialer Gerechtigkeit und Chancengleichheit sich als effektive Antworten auf die Fragen der Globalisierung

und der Individualisierung erwiesen haben. Nachdem der „Dritte Weg“ als Gesamtkonzept seine Schuldigkeit getan zu haben scheint – seine Nichteinbeziehung in New Labours drittem erfolgreichen Wahlkampf spricht davon Bände – planen die Theoretiker nun ihre nächste Mission. Erneute ideologische Modernisierung Mehrere Veröffentlichungen lassen ein „neues Gewissen“ der wichtigsten Ideengeber New Labours erkennen. Ohne eine erneute ideologische Modernisierung in Angriff zu nehmen, aber auch ohne auf die alten Prinzipien und Methoden des Sozialismus zurückzugreifen, scheint der Moment gekommen zu sein, um an die Fundamente der Sozialdemokratie, insbesondere der „sozialen Gerechtigkeit“, wieder anzuknüpfen. Zwei Publikationen stehen dabei im Mittelpunkt: „The New Egalitarianism“ von Anthony Giddens und Patrick Diamond 13, sowie „Social Justice: Building a Fairer Britain“, herausgegeben von Nick Pearce und Will Paxton 14. Um den Begriff der „Gleichheit“ wieder stärker zu betonen, möchte sich Giddens ganz auf die Tradition des Revisionismus eines Eduard Bern-

13 Anthony Giddens und Patrick Diamond (Hg.), The New Egalitarianism, London 2005. 14 Nick Pearce und Will Paxton (Hg.), Social Justice: Building a Fairer Britain, IPPR, London 2005.

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steins („Primat der Politik über die Wirtschaft“) besinnen. Demnach sind es der soziale Zusammenhalt und die Gleichheit – begriffen als unabdingbare Voraussetzung der individuellen Freiheit – die das Herz der sozialistischen Bestrebungen ausmachen. Für die Revisionisten muss dieses unantastbare Prinzip jedoch ständig mit den sozialen Realitäten konfrontiert werden, um die adäquatesten Mittel für ihre Umsetzung zu definieren. Durch die schwierige und schnelle Anpassung an die wirtschaftlichen und

sozialen Entwicklungen sowie dem „Brechen“ mit Old Labour in den 90er Jahren kam die Herausstellung der alten Werte der Sozialdemokratie zu kurz15. Die beiden Publikationen wollen nun daran anknüpfen. Ob sie und die Politik der Regierung dem gerecht werden, steht noch aus. Aber schon jetzt verdeutlichen sie einmal mehr die intellektuelle und programmatische Beweglichkeit der Labour Party sowie ihres Umfeldes. Revisionismus und Erneuerung gelten hier noch immer als die Mutter aller Erfolge. L

OLAF CRAMME

arbeitet für Policy Network, einem internationalen think tank in London und promoviert derzeit über europäische Außenpolitik. 15 Siehe auch Antoine Colombani, La « troisième voie » vers l’égalité ? A propos de New Egalitarianism d’Anthony Giddens et Patrick Diamond, in: La Vie des Idées, September 2005.

perspektive21

41



Plädoyer für ehrliche Ursachenforschung WILL SIE WIEDER WAHLEN GEWINNEN, DANN MUSS DIE SPD IHRE NIEDERLAGE EINGESTEHEN UND VERARBEITEN VON MICHAEL MIEBACH

enschen behandeln lieber die Symptome eines Problems als seine Ursachen. Wenn der Rücken schmerzt, gehen wir zum Masseur, anstatt uns zum wöchentlichen Rückenkurs anzumelden. Beziehungskrisen lösen wir lieber mit Blumen und einem Rotweinabend als durch Gespräche mit dem Partner über störende Verhaltensmuster. Die Ursachen eines Missstandes anzupacken ist immer anstrengender, langwieriger und ergebnisoffener als das Glätten der Oberfläche. So wurschteln wir weiter wie bisher – bis zum nächsten Kreuzschmerz, zum nächsten Streit. Aus genau diesem Grund hat Angela Merkel nach der Bundestagswahl versucht, innerparteiliche Diskussionen über die Ursachen ihres Stimmenanteils von mageren 35,2 Prozent abzuwürgen. Eine Grundsatzdebatte hätte die Koalitionsverhandlungen erschwert und dann die Regierungsgeschäfte behindert – sie wäre anstrengend geworden. In der SPD kamen Forderungen nach Ursachenforschung

M

gar nicht erst auf. Das ist merkwürdig. Immerhin hatte die Partei nach dem 18. September 2005 den Verlust der Regierungsführung zu verdauen. Aufholjagd in letzter Minute Viele Sozialdemokraten fühlen sich offenbar als die eigentlichen Sieger dieses Wahlsommers, war doch der Weg der Sozialdemokratie gespickt mit unerwarteten Glücksmomenten und positiven Schlagzeilen: Im Wahlkampf gelang die Aufholjagd in letzter Minute; das Wahlergebnis ist angesichts eines monatelangen Umfragetiefs eigentlich ganz passabel; der Führungswechsel an der Parteispitze verlief reibungslos und mündete in einem 99,4-prozentigen Vertrauensvorschuss für Hoffnungsträger Matthias Platzeck; sogar die Regierungsbildung glückte – auf Augenhöhe und mit hochkarätiger sozialdemokratischer Besetzung. Nüchtern betrachtet handelt es sich bei dieser Siegermentalität um eine waschechte Wahrnehmungsverzerrung. perspektive21

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[ michael miebach ]

Die SPD ist die große Verliererin dieser Wahl, und die Ursachen hierfür liegen nicht etwa in der unionsfreundlichen Medienberichterstattung, sondern einzig in der verschlafenen Erneuerung der Partei. Will die SPD mittelfristig wieder auf die Beine kommen, muss sie diese Niederlage akzeptieren und Ursachenforschung betreiben. Am 18. September 2005 erhielt die SPD 4,1 Prozentpunkte oder 2,3 Millionen Zweitstimmen weniger als drei Jahre zuvor, wovon der größte Anteil im Austausch mit anderen Parteien verloren ging. Etwa 1 Million Stimmen netto verlor die SPD an die PDS/Linkspartei, 620.000 an die Union, 370.000 an die Gruppe der Nichtwähler.1 Weil auch die Union Wähler verlor, liegen nun beide Volksparteien wieder

fast gleichauf. Zusammen können die beiden Volksparteien aber nur noch 69,5 Prozent der Zweitstimmen auf sich vereinen. Das ist das schlechteste Resultat seit der ersten Bundestagswahl 1949. Stattdessen stärkten die Wähler die Ränder des Parteiensystems. Historische Zäsur im Parteiensystem Die Wählerströme in Ost- und Westdeutschland ähnelten sich: In beiden Landesteilen büßten die zwei Volksparteien Stimmen zugunsten von PDS/Linkspartei (8,7 Prozent) und FDP (9,8 Prozent) ein. Allerdings sank der Zweitstimmenanteil für die SPD im Osten um ganze 9,2 auf 30,5 Prozent und damit weit stärker als im

1 Alle im Text verwendeten Daten entstammen einer Wahltagsbefragung von Infratest-dimap.

Das Wahlergebnis im Vergleich Zahl der Stimmen

Prozent

2005

2002

2005 - 2002

2002

2005 - 2002

SPD

16.148.240

18.488.668

- 2.340.428

34,3 % 38,5 %

- 4,3 %

CDU/CSU

16.591.120

18.482.641

- 1.071.005

35,2 % 38,5 %

- 3,3 %

B90/Grüne

3.826.194

4.110.355

- 284.161

8,1 %

8,6 %

- 0,4 %

FDP

4.619.519

3.538.815 +1.080.704

9,8 %

7,4 %

2,4 %

Linke.PDS

4.086.134

1.916.702 +2.169.462

8,7 %

4,0 %

4,7 %

REP + NPD

1.010.220

2,2 %

1,0 %

1,1 %

495.903

+514.317

2005

Quelle: Statistisches Bundesamt

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[ plädoyer für ehrliche ursachenforschung ]

Westen. Die meisten Stimmen verlor die SPD an die PDS/Linkspartei, die in den Neuen Ländern mit 25,4 Prozent zweitstärkste Kraft wurde. Das Auftreten einer zusätzlichen linken Partei dieser Größenordnung kommt einer historischen Zäsur gleich. Denn obwohl das heterogene Bündnis aus WASG und Linkspartei die schwierigste Phase seiner Selbstfindung noch vor sich hat – nicht wenige Autoren diagnostizieren heute schon Selbstzerfleischungsgelüste –, könnte sich die PDS/Linkspartei in der deutschen Parteienlandschaft dauerhaft etablieren. Im Osten ist sie fest verwurzelt und sie wird weiterhin von zahlreichen Protestwählern profitieren. Diese tektonische Verschiebung im Parteiensystem ergibt für die Sozialdemokratie eine vollkommen neue Kon-

kurrenzsituation. Die SPD muss sich nicht nur auf unorthodoxe Koalitionsgebilde einstellen. Links von ihr ist eine zusätzliche Front entstanden, an der sie um Wähler kämpfen muss. Sie ist zur einzigen Partei der Mitte in einem Fünf-Parteien-System geworden, mit mehr direkten Konkurrenten, aber auch mehr potenziellen Bündnispartnern als die CDU/CSU. Absturz bei Arbeitslosen Die mit Abstand meisten Wähler verlor die SPD prozentual unter den Arbeitslosen. Von denen machten statt 41 Prozent vor vier Jahren nur noch 31 Prozent ihr Kreuz bei der SPD. Auch viele Beamte (- 7 Prozent), Arbeiter (- 5 Prozent) und Rentner (- 5 Prozent) kehr-

Wahlverhalten nach Tätigkeit zur Bundestagswahl 2005 SPD Differenz in % zu 2002

CDU/CSU Differenz in % zu 2002

Linke.PDS Differenz in %zu 2002

Arbeiter

37 %

-5%

30 %

0%

12 %

+7 %

Angestellte

36 %

-3%

31 %

-4%

7%

+4 %

Beamte

30 %

-7%

38 %

+2 %

7%

+4 %

Selbstständige

21 %

0%

42 %

-6%

6%

+3 %

Rentner

36 %

-5%

42 %

-1%

8%

+3 %

in Ausbildung

40 %

+1 %

24 %

-3%

8%

+4 %

Arbeitslose

31 %

- 10 %

23 %

-5%

24 % +14 %

Gewerkschaftsmitglieder

47 %

-4%

24 %

-3%

24 % +14 %

Quelle: Infratest dimap Wahltagsbefragung

perspektive21

45


[ michael miebach ]

ten der SPD den Rücken, während die PDS/Linkspartei ihre größten Zuwächse unter den Arbeitslosen (+ 14 Prozent) und den Arbeitern (+ 7 Prozent) verzeichnete. Im Osten erreichte die PDS/Linkspartei unter den arbeitslosen Wählern sogar fast 40 Prozent der Zweistimmen. Viele „sozial Schwächere“ wanderten also von der SPD zur PDS/Linkspartei. Um wieder mehrheitsfähig zu werden, muss die SPD einen guten Teil dieser Gruppe zurückgewinnen.

Ausgangslage bei der Ankündigung von Neuwahlen im Mai war katastrophal. Die Partei hatte eine Serie verlorener Landtagswahlen hinter sich, lag in den Umfragen weit hinter der Union und ihr Kanzler wusste die eigene Bundestagsfraktion nicht mehr vollständig hinter sich. Dazu kamen Horrormeldungen aus dem Reformministerium für Wirtschaft und Arbeit („5 Millionen Arbeitslose“). Die SPD gab ein jämmerliches Bild ab. Die einzigartige Chance zur Polarisierung

Es hätte dicker kommen können Jene Sozialdemokraten mit Siegermentalität müssen eine weitere Wahrheit zur Kenntnis nehmen: Es hätte für die SPD viel dicker kommen können. Die

Die Aufholjagd aus diesem Tal der Tränen gelang allein durch Steilvorlagen der Union, die einen dilettantischen Wahlkampf führte. Unter dem Motto „Ehrlichkeit“ bewegten sich CDU und CSU

Wahlentscheidende Themen alle Wähler

SPDWähler

CDU/CSUWähler

Linke.PDS Wähler

Wirtschaftpolitik

38 %

27 %

53 %

23 %

Ausländerpolitik

11 %

10 %

11 %

8%

Arbeitsmarktpolitik

34 %

26 %

42 %

42 %

Innere Sicherheit

9%

9%

11 %

7%

Umweltpolitik

11 %

13 %

3%

6%

Steuerpolitik

19 %

15 %

24 %

17 %

Soziale Gerechtigkeit

33 %

45 %

17 %

59 %

Schul- und Bildungspolitik

12 %

13 %

10 %

16 %

Außen- und Sicherheitspolitik

13 %

23 %

6%

8%

Quelle: Infratest-dimap Wahltagsbefragung

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[ plädoyer für ehrliche ursachenforschung ]

überwiegend auf einer reformpolitischen Sachebene aus Zahlen und Fakten und präsentierten ein Programm, das inhaltlich den Vorstellungen der FDP ähnelte. Weil sie keinen weltanschaulichen Überbau für diese Reformvorschläge lieferte, nicht Rekurs nahm auf die soziale Tradition der Christdemokratie, war die Union dem „Neoliberalismus“-Vorwurf ausgesetzt. Zu allem Überfluss schickte sie mit Paul Kirchhof die personifizierte Form des technokratischen Politikstils ins Rennen, der auf seine mediale Rolle

völlig unvorbereitet war und mit angelsächsischen Kampfbegriffen (flat tax) die Glaubwürdigkeit des Unionsprogramms beschädigte. Diese Selbstdarstellung der Union gab der SPD die einzigartige Chance zur Polarisierung. Nun konnte sie sich als Bastion der sozialen Wärme verkaufen, die den kleinen Mann vor einer Periode sozialer Kälte bewahre. Diese Rolle hatte Franz Müntefering schon vor dem Neuwahlcoup vorbereitet, als er mit populistischen Halb-

Kompetenzen auf wichtigen Politikfeldern

Wohlstand

42 % 28 % 33 % 31 %

Asylpolitik

39 %

Steuern

31 % 36 % 32 %

Gesundheit

38 % 37 %

Familie Arbeit Wirtschaft Bildung

45 % 25 % 51 % 27 % 43 % 31 %

Außenpolitik

28 %

soziale Gerechtigkeit

28 %

36 %

CDU 42 %

SPD Quelle: Infratest-dimap

perspektive21

47


[ michael miebach ]

wahrheiten seine „Heuschreckenkampagne“ betrieb. Geschickt reanimierte die SPD nun den Leitbegriff „soziale Gerechtigkeit“ – und setzte fortan diszipliniert auf den genialen Wahlkämpfer Schröder. In bester Oppositionsmanier diffamierte dieser den „Professor aus Heidelberg“, während Angela Merkel rational-regierungsverantwortlich argumentierte. Hier schien ein Rollentausch vorzuliegen. Gerechtigkeit gab den Ausschlag Aus wahltaktischen Gründen war diese Strategie notwendig, zumindest mobilisierte die SPD weit mehr Wähler, als die Demoskopen vorhergesagt hatten: Rund 24 Prozent der SPD-Wähler nannten als Hauptmotiv für die Wahl-

entscheidung die Person Gerhard Schröder. Und 45 Prozent von ihnen führten die Gerechtigkeitsfrage als einen ausschlaggebenden Faktor für ihre Wahlentscheidung an. So erfolgreich dieser Wahlkampf kurzfristig auch war, er vermittelte ein verschwommenes, ambivalentes Bild von der SPD und verunsicherte die sozialdemokratische Wählerschaft. So stimmten 42 Prozent der SPD-Wähler, aber nur 27 Prozent der Unionsanhänger dem Satz zu: „Die Wahlentscheidung ist diesmal so schwer wie nie.“ Zudem traf der durchschnittliche Wähler der SPD seine Wahlentscheidung deutlich später als der Unionswähler: Rund 51 Prozent aller SPD-Wähler, aber nur 40 Prozent der Unionswähler entschieden sich erst in den letzten Tagen und Wochen vor der Wahl für ihre Partei.

Wähleraustausch zur Bundestagswahl 2005

SPD

H

H

H

H

H

970.000 Linke.PDS

620.000 CDU/CSU

370.000 Nichtwähler

140.000 B90/Grüne

120.000 FDP

Quelle: infratest dimap Wahltagsbefragung

48

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[ plädoyer für ehrliche ursachenforschung ]

Diese Verunsicherung geht auf ein Paradox zurück: Einerseits begründete Gerhard Schröder die vorgezogenen Wahlen mit einem neuen Mandat, das er für seine Reformagenda benötige. Anderseits legte sich die SPD im Wahlkampf einseitig für die Bewahrung des sozialstaatlichen Status quo ins Zeug („Wir stehen für Arbeitnehmerrechte“). Kein Wort darüber, mit welchen Maßnahmen sie die Agenda 2010 eigentlich weiterentwickeln wolle, von dem Konzept der Bürgerversicherung und einigen familienpolitischen Vorschlägen einmal abgesehen. Neue Konkurrenzsituation für SPD Wen wundert es, dass die meisten Wähler der SPD lediglich in den The-

menfeldern soziale Gerechtigkeit und Außenpolitik mehr Kompetenz zutrauten als der Union, die CDU/CSU jedoch bei allen anderen Themen vorne lag, von Wirtschaft über Bildung bis hin zur Steuerpolitik? Dieser Wahlkampf und dieses Wahlprogramm hatten den Wählern die programmatische Leere der Sozialdemokratie offenbart. Mit jeder Wahlkampfwoche war unklarer geworden, was sozialdemokratische Politik im 21. Jahrhundert eigentlich genau sein soll. Kurzum: Das sozialdemokratische Wohlempfinden dieser Tage ist trügerisch. Die SPD hat massiv an Wählern verloren, sie steht vor einer neuen Konkurrenzsituation im Parteiensystem, der Wahlkampf hat ihre Wählerschaft zu Recht verunsichert und die sozialdemokratische Programmatik ist

Wähleraustausch zur Bundestagswahl 2005

CDU

G

620.000 SPD

G

H

H

1.110.000 FDP

290.000 Linke.PDS

H 130.000 B90/Grüne

640.000 Nichtwähler

Quelle: infratest dimap Wahltagsbefragung

perspektive21

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[ michael miebach ]

nur noch verschwommen erkennbar. Diese Partei steckt in einer tiefen Krise. Während sich andere europäische sozialdemokratische Parteien bereits in den neunziger Jahren auf moderne „sozialdemokratische Erzählungen“ (Heinz Bude) angesichts neuer gesellschaftlicher Herausforderungen verständigten, misslang der SPD die Entwicklung eines eigenen Projekts auf der Höhe der Zeit. Deshalb wurde sie nie ausdrücklich für ihr Programm gewählt, sondern stets aufgrund äußerer Umstände: Im Wahljahr 1998 sorgte die Kohl-mussweg-Stimmung für den Sieg, vier Jahre später der Irak-Krieg und das Elbehochwasser, nun wurde Paul Kirchhof zum Retter. Die Krise der SPD liegt in ihrer programmatischen Erschöpfung! Die Agenda 2010 war eine Reaktion auf die schlechten Wahlergebnisse der vergangenen Jahre, und nicht ihre Ursache, wie manche meinen. Schließlich hatte die SPD bereits vor der Ankündigung der Reformagenda im März 2003 schwere Niederlagen bei Landtagswahlen eingesteckt. Kein Weg zurück hinter die Agenda Niemand sollte glauben, hinter das Reformprojekt Agenda 2010 führe irgendein Weg zurück. Man könne wieder Mehrheiten gewinnen, wenn man der PDS/Linkspartei das Wasser abgrabe und nur wieder den traditio50

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nellen, nachsorgenden Sozialstaat gegen „Heuschrecken“ und „neoliberalen mainstream“ verteidige. Ein solches Unterfangen wäre nicht nur inhaltlich falsch und deshalb mittelfristig automatisch zur elektoralen Erfolglosigkeit verdammt. Es würde auch politisch nicht funktionieren. Die von der SPD zur PDS/Linkspartei gewanderten „unteren Schichten“ sind fürs Erste einmal vergrault. Sie sehen nun in der PDS/ Linkspartei das Original, das den westdeutschen Sozialstaat der siebziger Jahre verkörpert. Wirtschaftsdynamik und Gerechtigkeit verknüpfen Die SPD kann künftig nur dann attraktiv für die Wähler auf der Linken und in der Mitte bleiben, wenn sie neue sozialdemokratische Antworten auf die deutsche Krise findet. Ein neues sozialdemokratisches Projekt muss her, das auf der Agenda 2010 aufbaut und im Kern von einer Sozialpolitik handelt, die heutige Lebenswirklichkeiten berücksichtigt – beispielsweise ist alleinerziehenden Müttern heutzutage eher mit Betreuung für ihre Kinder geholfen als mit mehr Alimentation; und Arbeitssuchende und Menschen in prekärer Beschäftigung sind weniger an Arbeitnehmerrechten interessiert als an Arbeit. Dieses Projekt muss – das lehrt der erfolglose Unionswahlkampf – ideenpo-


[ plädoyer für ehrliche ursachenforschung ]

litisch gut fundiert sein. Matthias Platzecks zentrale Botschaft, dass wirtschaftliche Dynamik und soziale Gerechtigkeit sich gegenseitig bedingen, bildet hierfür genau die richtige Grundlage. Das Grundsatzprogramm, das im November 2006 verabschiedet werden soll, bildet den Anlass für die notwendige innerparteiliche Debatte. Nach der Verabschiedung des Programms muss dann „Butter bei die Fische“: Die neue SPD muss sich für die Zeit nach 2009 konkrete Projekte auf die Fahnen schreiben. Matthias Platzeck hat also vollkommen Recht: „Die Partei soll arbeiten!“ Die anderen schlafen nämlich nicht. Auch die Union wird aus dem Wahlkampf ihre Lehren ziehen für den Kampf um die politische Mitte in Deutschland. So schreibt Berthold Löffler im Hausblatt der Konrad-Adenau-

er-Stiftung Die Politische Meinung: „Ohne Not, so scheint es, hat die CDU darauf verzichtet, auf der Grundlage der christlichen Soziallehre die Perspektive einer erneuerten Sozialen Marktwirtschaft zu entwerfen; also die Perspektive einer Wirtschaftsordnung, die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit mit sozialer Gerechtigkeit in Einklang bringt.“ Die Sterne für die Modernisierung der Partei stehen denkbar günstig. Der neue Parteivorsitzende ist ein Reformer mit integrativen Fähigkeiten. Als Ministerpräsident eines ostdeutschen Bundeslandes hat er Erfahrung mit der neuen strategischen Position der SPD als „Partei der Mitte“. Die Regierungsbeteiligung schließlich könnte innerparteiliche Flügelkämpfe abmildern und eine sanfte Erneuerung ermöglichen. L

MICHAEL MIEBACH

ist Redakteur der „Berliner Republik“ und Mitarbeiter der SPD-Landtagsfraktion Brandenburg perspektive21

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Rot-grüne Bilanzen und deutsche Umbrüche NACH DEM WECHSEL IN DER REGIERUNG UND AN DER SPD-SPITZE VON KLAUS FABER

it Matthias Platzeck und anderen ist der Generationswechsel in der SPD jetzt doch früher gekommen als geplant. Er ist inzwischen vom SPDParteitag in Karlsruhe mit einem glänzenden Wahlergebnis für den neuen SPD-Vorsitzenden vollzogen worden. In einer Zwischenphase war die ostdeutsche „Machtübernahme“ durch Angela Merkel und Matthias Platzeck manche Schlagzeile wert. Das ist aber, zu Recht, längst wieder überholt – auch wenn deren integrationspolitische Bedeutung nicht unterschätzt werden sollte. Anhänger des „Netzwerkes“ und Platzeck-Vertraute haben zentrale Positionen im Willy-Brandt-Haus besetzt, Stoiber hat sich angeschlagen nach München zurückgezogen und die Finanzlochthematik beherrscht zunehmend die öffentliche Debatte. Das Vermächtnis der rot-grünen Bundesregierung verblasst demgegenüber schneller als gedacht. Es ist bereits beschädigt worden, wenn auch noch nicht zur Gänze gelöscht. Joseph Fischer, bei aller Distanz wohl weiterhin ein Kanzlerfreund, hat

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Gerhard Schröder einmal als Situationspolitiker bezeichnet. Das, was Fischer wahrscheinlich eher positiv ansprechen wollte, gab anderen Anlass zu deutlich negativer Bewertung. Zu spät und zu wenig angepackt Zu spät und vor allem aus Gründen des eher tagespolitischen Zwangs sei die Reform der Sozialsysteme mit der Agenda 2010 angepackt worden. Zu wenig sei das positive Fernziel – eine gerechte Neuordnung von Staatsstrukturen für eine an Innovation und Bildung orientierte Gesellschaft – glaubwürdig politisch vermittelt worden. Zu zufällig-intuitiv, auf einem Marktplatz im Wahlkampf, sei ein außenpolitischer Akzentwechsel mit erheblichen Fernwirkungen formuliert und verkündet worden. Zu unklar und unentschieden seien wesentliche Zukunftsfragen aufgenommen worden, wie etwa der dramatisch negative Trend in der deutschen demografischen Entwicklung, die überholten perspektive21

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Föderalismusstrukturen oder der deutsche Innovations- und Wissenschaftsrückstand. Die Vorwurfsliste aus den Negativkommentaren ließe sich verlängern. Allerdings sollte man bei diesen Vorhaltungen bedenken, dass bei den meisten (nicht allen) dieser Defizitbehauptungen auch die Vorgängerregierungen Verantwortung trug. Gefahren und Chancen erkennen Die oft kritisierte „situationspolitische“ Neigung des Kanzlers steht andererseits auch für die andere, positive Medaillenseite: Für die politische Sensibilität, die ihn meist früher als andere Gefahren und Chancen erkennen ließ und seine damit verbundene Flexibilität (positiver: seine Lernfähigkeit). Diese Eigenschaft machte ihn für jeden Gegner zu einem gefährlichen Wahlkämpfer und zu einem im eigenen wie im fremden Lager gefürchteten Konkurrenten. Seine Situationskompetenz war es wohl auch, die nach den langen, viel überdeckenden Kohl-Jahren die grundlegenden Verschiebungen, die bereits mit der Wiedervereinigung in der politischen Tektonik angelegt waren, in Wahlergebnissen sichtbar gemacht hat. Deutschland ist 2005, nach den drei Bundestagswahlen seit 1998, erkennbar nördlicher, im politisch-kulturellen Milieu protestantischer, weniger „reli54

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giös“ und weniger „westlich“ orientiert. Auf der Bundesebene wird in dem neuen Fünf-Parteien-System von 2005 die Regierungsbeteiligung für die SPD komplizierter, aber das Regieren ohne SPD auch deutlich schwieriger. Der Regierungsstil hat sich in der Kanzlerzeit Gerhard Schröders entscheidend geändert. An dem von ihm gesetzten Verhaltensmaßstab den Medien gegenüber wird sich künftig nicht jede Kanzlerin und nicht jeder Kanzler messen lassen müssen. Die vom Altkanzler Helmut Schmidt mit anonymer Empfängeradresse immer wieder kritisierte zu starke Ausrichtung an der Talkshow-Fähigkeit wird in den kommenden Jahren vermutlich weniger als in Schröders Zeiten gefragt sein. Die Öffnung vor allem gegenüber den elektronischen Medien wird aber im Grundsatz bleiben. Öffnung zu mehr Modernität Die Schröder überdauernde gesellschaftliche „Öffnung“ betrifft noch ganz andere Gebiete, z.B. die Akzeptanz von Homosexualität (nicht nur in der Gesetzgebung, selbst in relativ hohen Politikpositionen auch im konservativ-bürgerlichen Lager) oder die Annahme der Tatsache, dass Deutschland ein Einwandererland ist und erhebliche, bislang nur unzureichend erbrachte Integrationsanstrengungen zu leisten


[ rot-grüne bilanzen und deutsche umbrüche ]

hat. Dazu gehört möglicherweise auch der neue Konsens, die Kernenergie nicht mehr auszubauen und, wohl weniger deutlich, erneuerbare Energien zu fördern. Manche dieser Aktionsfelder werden überwiegend der grünen Koalitionsseite zugeschrieben – nicht immer zu Recht – oder als bloß formaler Vollzug von in der Gesellschaft bereits längst angekommenen Änderungen verstanden. Das ist eine Beschreibung, die in den meisten Fällen die Lage ebenfalls nicht zutreffend schildert und ohne triftigen Grund die rot-grüne Regierungsleistung schmälert. Kurswechsel in Bildungspolitik Auf der im Kern recht langen PositivListe muss ebenso die enorme Ausgabensteigerung im Wissenschafts-, Forschungs- und Bildungsbereich erscheinen. Sie hat indirekt auch dazu beigetragen, unsere nationalen Defizite zum öffentlichen Thema zu machen, wurde aber andererseits als Leistung und Zieldefinition zu wenig in die politische Veränderungsagenda (etwa nach skandinavischem Muster) eingebaut. Eine stärkere Einbeziehung des Innovations- und Bildungsthemas hätte übrigens Rot-Grün auch ein verbindendes Thema für die dritte Legislaturperiode geben können. Soweit sich dies jetzt beurteilen lässt, sehen die Akteure selbst (Schrö-

der, trotz aller Nuancen im Detail auch Müntefering sowie andere) und die Mehrheit der Kommentatoren in der Agenda 2010 das rot-grüne Hauptwerk. Es war der Bundespräsident, der den dafür nötigen „Mut“ bescheinigte. Dass das Reformdefizit in diesem Punkt von links (Rot-Grün) aufgenommen wurde, bleibt eine Leistung. Über den dauerhaften Erfolg der eingeleiteten Maßnahmen werden aber sowohl die neue Große Koalition als auch andere Faktoren entscheiden, die nur in begrenztem Umfang von nationaler Politik (oder von EU-Politik) gestaltet werden können. Das ist keine Relativierung der Leistung, sondern ein selbstverständlicher Hinweis auf die Umsetzungsbedingungen. Streitkräfteeinsatz als Vermächtnis Ein häufig, wenn auch nicht im Konsens genanntes, Schröder-Vermächtnis kann mit Formel von der „Friedensmacht Deutschland“ umschrieben werden. Damit wird (leider) nicht die politische Großtat angesprochen, dass sich die rot-grüne Regierung für friedenssichernde deutsche Streitkräfteeinsätze (mit und ohne UN-Mandat) entschieden hat. Gemeint ist vielmehr die politische Auseinandersetzung über den IrakKrieg. Ein bekannter deutscher Historiker hat sie etwas abfällig als einziperspektive21

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gen langfristig in Erinnerung bleibenden Aspekt der rot-grünen Regierungszeit bezeichnet und mit der Wertung skizziert, die deutsche Außenpolitik sei damit aus ihrer „sklavischen“ Abhängigkeit von den USA befreit worden. Deutschland wird „Friedensmacht“ Dass (west-)deutsche Politik gegenüber den USA von Adenauer über Brandt, Schmidt und Kohl durch sklavische Abhängigkeit gekennzeichnet gewesen sein soll, kann auch bei freundlicher Interpretation wohl nicht so strikt gemeint gewesen sein. Über die Sache selbst und den Slogan „Friedensmacht Deutschland“ muss aber diskutiert werden. Vielleicht ist Frankreich auch „Friedensmacht“, neuerdings ebenso Spanien. Wer war und ist es nicht? Die USA mit oder auch nach George W. Bush, Blairs Großbritannien, die neuen EU-Länder Polen oder Tschechien? Die schon durch den Begriff selbst angelegte Lagerbildung lässt Zweifel zu, ob dieser Teil des politischen Vermächtnisses positiv überdauern wird. Diese Zweifel hängen nicht davon ab, ob die US-Politik im Irak künftig ganz oder teilweise als verfehlt angesehen wird. Welche Schlüsse hat die SPD aus dem Wahlergebnis und dem Wechsel in der Regierungsverantwortung sowie 56

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an der Parteispitze zu ziehen? Eine verbreitete Meinung geht dahin, erst im Wahlkampf sei (auch dank Müntefering) der soziale Ton, die Verbindung von Erneuerung, Zusammenhalt und Gerechtigkeit, wieder gefunden worden. Von Anfang an müsse in der künftigen Regierungsarbeit dieser Aspekt berücksichtigt werden. Für eine derartige Akzentsetzung bietet die politische Gesamtlage nach den Wahlen – trotz Münteferings Abgang von der Parteispitze und auch nach dem Rückzug Stoibers – eher gute Voraussetzungen (allerdings nicht für die Abkehr vom Reformprozess, wie der Koalitionsvertrag zeigt). Selbst die FDP wird sich nicht nur aus bündnispolitischen Gründen mittelfristig überlegen müssen, wie sie ihr sozialpolitisches Profil künftig gestalten will. Neue Schwerpunkte im Koalitionsvertrag Ähnlich günstige Bedingungen gibt es für das klassische SPD-Thema von Innovation, Wissenschaft und Bildung. Das zeigt sich auch im Koalitionsvertrag (allerdings nicht in seinen Empfehlungen zur Föderalismusreform). Ein derartiger Politikschwerpunkt kann nach dem bereits erwähnten skandinavischen sozialdemokratischen Vorbild in der Gesellschaft die Verzichtleistungen rechtfertigen und der Strukturreform eine positive Ziel-


[ rot-grüne bilanzen und deutsche umbrüche ]

setzung geben. Auch der neue Parteivorsitzende Matthias Platzeck will dieses Thema wieder zu einem SPD-Markenzeichen machen. Überfällige Förderalismusreform Die Föderalismusreform ist nun vereinbart, ob allerdings ihre Richtung stimmt, ist fraglich. Gefahr droht von einem möglichen Bündnis der CDU-, CSU- und SPD-Länderetatisten, die wenig oder kein Verständnis für die unverzichtbaren Ausgleichsaufgaben des Gesamtstaates vor allem auf den Gebieten Wissenschaft und Hochschule haben. Eine Realisierung dieses Gefahrenpotentials zeigt die Koalitionsvereinbarung in der ersten, aber (hoffentlich) nicht abschließenden Phase der Willensbildung für eine Grundgesetzänderung. Sie nimmt mit ihren Vorschlägen für eine Verfassungsänderung dem Bund in einer geradezu anachronistischen Weise die unverzichtbaren Regelungsbefugnisse für die Hochschulen und deren Finanzierung. Diese hatte die erste Große Koalition 1969 eingeführt, um den damals schon vorhandenen deutschen Rückstand in der Wissenschaft auszugleichen. Im Ansatz ist die Föderalismusreform richtig und überfällig. Es war klar, dass die Landesregierungen im Ausglich für reduzierte Bundesratszustimmungen zur Bundesgesetzgebung

Gegenleistungen fordern würden. Dass derartige – im Ursprung süddeutsche – Landesforderungen nahezu vollständig erfüllt werden sollen, war jedoch keine unvermeidbare Kompromissvoraussetzung. Unzutreffende Ausgangsannahmen, für deren Verbreitung und Nicht-Widerlegung auch das reduzierte Reformengagement der rotgrünen Bundesregierung Verantwortung trägt, spielen dabei eine Rolle. Neuordnung kann langfristig schwächen Die Bemerkung der neuen Kanzlerin, nun, nach der Föderalismusreform à la Koalitionsvertrag, fände mehr bildungspolitischer „Wettbewerb“ zwischen den Ländern statt, ist dafür ein Beispiel. Auf dem Markt entscheidet der Dienstleistungsabnehmer oder der Warenkäufer über den Wettbewerbserfolg. Haben Eltern, Schüler oder Studenten auch nur die geringsten Chancen, die Ergebnisse des Länderwettbewerbs maßgeblich zu beeinflussen? Selbst wenn sie – im Sinne der Union – in allen Ländern unionsgeführte Landesregierungen wählen würden, könnten diese die Struktur-, Finanz- und Leistungskraftunterschiede zwischen den Ländern nicht aufheben. Das gilt natürlich auch für den politisch umgekehrten Fall. Jetzt – vielleicht zu spät – protestieren die Vertreter der deutschen Hochperspektive21

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[ klaus faber ]

schulen. Sie sehen einen Zusammenbruch des deutschen, im internationalen Vergleich ohnehin unterfinanzierten Hochschulsystems voraus, wenn sich der Bund aus seiner Verantwortung zurückzieht. Ähnlich äußerten sich (noch in seiner Ministerzeit) Wolfgang Clement und, vor den Wahlen, die SPD-Fraktionsvorsitzenden in den ostdeutschen Ländern. Wissenschaftsminister und -einrichtungen oder insgesamt die ostdeutschen Länder mögen ihre Hauptstärken noch nicht auf dem Gebiet der legitimen Interessenvertretung entfaltet haben. Spielräume für mehr Nachhaltigkeit An derartigen (hoffentlich vorübergehenden) Schwächen darf jedoch eine langfristig wirkende Neuordnung der Bund-Länder-Zuständigkeiten für die Wissenschaft und ihre Finanzierung nicht ausgerichtet werden. Unter Umständen helfen hier der Satz des künftigen Kanzleramtschefs Thomas de Maizière, der Koalitionsvertrag sei „keine Bibel“, sowie der Respekt vor der Unabhängigkeit des Parlaments. In vielen anderen Fragen der SPDBilanz nach den Wahlen und für die neuen Regierungsoptionen wird man, was konkrete Richtungsentscheidungen der Bundespolitik anbelangt, abwarten müssen. Dazu zählen das viel 58

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zu spät aufgenommene Stichwort „Weg vom Öl“, die Familien- und Generationen-Politik sowie der Aufbau Ost. Aus dem Koalitionsvertrag ist nur zum Teil zu erkennen, welche politischen Spielräume die neue Regierungskoalition hier in der Praxis hat und eröffnen will. Schröder-Ära als Übergangszeit? Auf längere Sicht stellt sich selbstverständlich wiederum die in der neuen deutschen Politikkonstellation schwerer zu beantwortende Bündnisfrage. Einige Kommentatoren meinen, in der Opposition würden sich die Grünen nach links bewegen. Die sieben rotgrünen Regierungsjahre haben aber Spuren hinterlassen, die man nicht ohne weiteres beseitigen kann. Das machen erste grüne Abgrenzungsdebatten gegenüber der neopopulistischen Lafontaine-PDS deutlich. Gerhard Schröder hat gelegentlich, wie andere, gesagt, es sei eigentlich die falsche Zeit für das rot-grüne Regierungsbündnis gewesen. Sind die Zeichen der Zeit für oder gegen eine bestimmte Formation aber immer so eindeutig zu interpretieren? Im späteren Rückblick werden diese sieben Jahre und ihr Kanzler vielleicht einmal einer wichtigen politischen Übergangszeit zugeordnet. In ihr wurde die erste Abspaltung links von


[ rot-grüne bilanzen und deutsche umbrüche ]

der SPD – die Grünen – in das politische System integriert. Nach der Wiedervereinigung wurden gesamtdeutsche Versuche zur Orientierungs- und Identitätsfindung, nicht immer mit Erfolg, in die Wege geleitet. Es bildete sich eine neue Parteienlandschaft und öffneten sich andere Politikoptionen – jenseits des Sach- und Personalkonzepts der Alt-68er. Der frühere chinesische Ministerpräsident Chou En-Lai wurde bei einem Besuch in Paris gefragt, wie er die historische Bedeutung der französischen Revolution einschätze. Er ant-

wortete, es sei wahrscheinlich noch zu früh, diese Frage zu beurteilen. Zugegeben, die Bewertungsfälle sind nicht vergleichbar. Vorsicht vor allzu schnell gezogenen Abschlussbilanzen ist dennoch geboten. Für ein abschließendes Urteil über die rot-grüne Bilanz ist es danach, wie es wohl auch Chou En-Lai sehen würde, noch zu früh. Dass wir Zeugen eines weit reichenden, in den Wirkungen eher noch unterschätzten Stimmungs-, Themen- und Personalwechsels in der deutschen Politik sind, lässt sich allerdings ohne großes Prognoserisiko bereits heute sagen. L

KLAUS FABER

ist Rechtsanwalt, Publizist und Staatssekretär a. D. Er ist Vorsitzender des Wissenschaftsforums der Sozialdemokratie in Berlin, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern e. V. sowie Kuratoriumsmitglied des Moses-MendelssohnZentrums für europäisch-jüdische Studien an der Universität Potsdam. Dies ist die gekürzte Fassung eines in der „Neuen Gesellschaft/Frankfurter Hefte“ erscheinenden Artikels. perspektive21

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Zwei schwierige Partner ÜBER DAS VERHÄLTNIS VON SOZIALDEMOKRATIE UND GEWERKSCHAFTEN VON WOLFGANG SCHROEDER

it dem Wahlkampf 2005 und den ersten Signalen, die von der neuen großen Koalition gesendet wurden, hat sich das Verhältnis zwischen Gewerkschaften und SPD etwas entspannt. Vor allem die koalitionsgebundene Bestandsgarantie für die Tarifautonomie und die Mitbestimmung haben dazu beigetragen. Doch wer über die Perspektive dieser Beziehung nachdenken will, kann sich mit dieser Momentaufnahme nicht zufrieden geben. Denn auch wenn es die SPD 2005 geschafft hat, wieder an der Regierung beteiligt zu sein, sind die Probleme der letzten Jahre nicht vergessen: Katastrophale Wahlniederlagen seit der Bundestagswahl 2002, hohe Mitgliederund Wählerverluste gerade im Milieu gewerkschaftlich organisierter Arbeitnehmer und eine gewisse programmatische Orientierungslosigkeit. Aber auch die Gewerkschaften agieren nicht aus einer Position der Stärke. Sie sind politisch in der Defensive. In der Tarifpolitik versuchen sie unter schwierigsten Rahmenbedingungen

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die Verteilungsposition der Arbeitnehmer zu sichern und Arbeitsplätze zu halten. Gleichzeitig greifen Medien, Teile der Arbeitgeber und der Politik die Tarifautonomie an. Dazu kommen hausgemachte Probleme wie Mitgliederverluste, fehlende junge Mitglieder und die bis heute nicht gelungene Verarbeitung des Strukturwandels hin zu einer modernen Wissens- und Dienstleistungsökonomie. Ende der privilegierten Partneschaft? In dieser Situation ist es wenig erstaunlich, dass es eine gewisse wechselseitige Skepsis gibt. Belastend wirkt aus Sicht der SPD vermutlich auch das vergleichsweise starke Engagement aus den Gewerkschaften für die Gründung einer gesamtdeutschen Linkspartei, die nunmehr links der SPD agiert und mit einem stattlichen Bundestagswahlergebnis reüssierte. Damit könnte sich das Parteiensystem mittelfristig verändern; und zwar mit Auswirkunperspektive21

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[ wolfgang schroeder ]

gen für SPD und Gewerkschaften. Aber nicht nur in den Gewerkschaften gibt es Kräfte, die für ein Ende der „privilegierten Partnerschaft“ plädieren und deshalb für eine deutliche Abgrenzung von den Gewerkschaften präferieren, weil sie in der SPD keinen glaubwürdigen Ansprechpartner für gewerkschaftliche Interessen mehr zu sehen glauben. Mehr neben- als miteinander Spiegelbildlich sind die Gewerkschaftsskeptiker in der SPD fest davon überzeugt, dass schon die unterstellte Nähe der Gewerkschaften zur SPD schädlich für deren Mehrheitsfähigkeit sei. Denn das gesellschaftliche Image der Gewerkschaften sei so schlecht und die Mobilisierungsfähigkeiten der Gewerkschaften so schwach, dass die SPD von deren Unterstützung sowieso keinen Nutzen habe. Während diese beiden Gruppen, die Kosten eines Endes der konstruktiven Beziehungen zwischen SPD und Gewerkschaften für gering erachtet, rechnet die Mehrheit mit einer modifizierten Kontinuität, die beiden Vorteile verschafft. Die Beziehungen zwischen SPD und Gewerkschaften haben sich verändert; vor allem sind sie schwächer geworden. Ursächlich sind auf der struk-

turellen Ebene neben unterschiedlichen Arenen (Wählermarkt einerseits industrielle Beziehungen andererseits), in denen die beiden Akteure ihre zentralen Aufgaben zu erbringen haben; die unterschiedlichen sozialstrukturellen Bezugspunkte. Beide Organisationen führen ihr Leben nebeneinander und pflegen Beziehungen meist über gewählte Repräsentanten. Ob das Verhältnis dann besser oder schlechter funktioniert, hängt auch davon ab, wie angesichts vorhandener struktureller und politischer Divergenzen die Spitzen „miteinander können“. Verschärft wird diese Problemlage dadurch, dass hinter den Spitzen häufig ein „Nichtverhältnis“ besteht. Von Grund auf belastbare Strukturen sind am ehesten in den industriellen Zentren vorhanden. Die Situation nach den Neuwahlen 2005 könnte jedoch ein Anstoß sein, das Verhältnis wieder intensiver zu gestalten, um neue Handlungsmöglichkeiten auszuloten. Hoher SPD-Anteil unter Gewerkschaftern Aber auch nach dem Parlamentseinzug der Linkspartei, die als old labour zu identifizieren ist, sind die Beziehungen zwischen Gewerkschaften und Sozialdemokratie immer noch intensiver und umfangreicher als zu jeder ande-

1 Wahltagsbefragung von Intratest dimap für die ARD, September 2005

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ren Partei. So haben 47 Prozent der Gewerkschaftsmitglieder SPD gewählt, 24 Prozent die CDU und 13 Prozent die Linkspartei.1 Die Gewerkschaften haben ihren Einfluss im politischen System ihrer Fähigkeit zuzuschreiben, einen wesentlichen Teil der Arbeitnehmerschaft repräsentieren zu können. Gefährdet werden könnte dies, wenn die Mitgliederverluste und die bis heute unzureichenden Erfolge in Zukunftsbranchen, bei den neuen Berufen, in den kleinen Betrieben und nicht zu vergessen bei den Frauen, nicht abgewendet werden können. Denn die abnehmende Verankerung der Gewerkschaften bei relevanten Teilen der abhängig Beschäftigten kann dazu führen, dass sie sich von wesentlichen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklungen entfernen. Auf Augenhöhe mit Gesellschaft bleiben Die politischen Folgen sind spürbar: Das Vertrauen in die Gewerkschaften nimmt ab. Sie werden zunehmend weniger als professionelle Interessenorganisation noch als „Organisationen der Gemeinwohlvertretung“ angesehen – und dies ist eine klassische Stärke der Gewerkschaften, die sie bis heute von normalen Interessenorganisationen, die nur Klientelinteressen vertreten, unterscheidet. Der Einfluss der

Gewerkschaften wird sich am Ende auch daran entscheiden, ob sie mit den gesellschaftlichen Entwicklungen auf Augenhöhe bleiben. Damit könnte auch ein Negativszenario zur Zukunft von Gewerkschaften und SPD verhindert werden: Denn ob in Schwäche vereint oder getrennt. Beides wäre keine verlockende Perspektive. Das Verhältnis zwischen Gewerkschaften und SPD lässt sich unter den Bedingungen sozialdemokratischer Regierungsbeteiligung in drei Idealtypen einteilen: K Anpassung bzw. Unterordnung der Gewerkschaften: Diese Option besagt, dass die Gewerkschaften auf die Bildung eigener offensiver Akzentsetzungen, die mit der Regierungspolitik nicht vereinbar sind, verzichten. Dies heißt nicht automatisch, dass sie sich unkritisch verhalten. Sie kritisieren und praktizieren einen situativen Lobbyismus. Sie versuchen jedoch nicht, für ihre besonderen Interessen eigenständig gegen die Regierung zu mobilisieren. Diese Variante der Unterordnung kann sich in der Bandbreite vom aktiven Transmissionsriemen in die Gesellschaft bis hin zum still schweigenden Mitspieler bewegen. K Konfliktpartnerschaft: Die Gewerkschaften pendeln zwischen Kooperation und Konflikt. Einmischen und aktive Beteiligung der Gewerkschaften bis hin zur Personalunion wird perspektive21

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von beiden Seiten für wichtig gehalten. Dabei werden auch durchaus aktiv eigene Konzepte öffentlich kommuniziert und dafür geworben. Entscheidend ist jedoch, dass eine grundsätzliche Opposition zu und eine Absage an deren Regierungsfähigkeit nicht angestrebt wird, solange erkennbar ist, dass es sich um eine Politik handelt, die im Rahmen der begrenzten Möglichkeiten gewerkschaftliche Interessen berücksichtigt. K Autonome Gewerkschaftspolitik: Diese dritte Option geht davon aus, dass die beiden großen Parteien, sowohl als „große Koalition“ in der Regierung, wie auch getrennt in Regierung und Opposition auf der inhaltlichen Ebene gewissermaßen einen monolithischen Block bilden. Angesichts unvereinbarer Interessen und Strategien angesichts derart „neoliberal“ sich verhaltender sozialdemokratischer Parteien, seien die Gewerkschaften gut beraten, ihren eigenen Weg zu gehen und über den Umweg gesellschaftlicher Mobilisierung, darauf hin zu wirken, die SPD wieder auf den Pfad der Tugend zurück zuführen. Deshalb konzentrieren sich die Gewerkschaften in diesem Modell auf eine Mobilisierung der Gesellschaft und der Mitglieder durch Demonstrationen bis hin zur Gründung bzw. Unterstützung einer „Linkspartei“, 64

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um ihre Interessen auch jenseits der SPD artikulieren zu können. Bei diesen Optionen handelt sich selbstverständlich um Idealtypen. In der Realität ist das Verhältnis zwischen diesen Idealtypen angesiedelt, mit einer leichten Tendenz zur Konfliktpartnerschaft, wobei auch zwischen den einzelnen DGB-Gewerkschaften sowie für einzelne historische Phasen deutliche Unterschiede festzustellen sind. Verbindungslinien zwischen Gewerkschaften und SPD Zwischen Gewerkschaften und Sozialdemokratie gibt es inhaltliche und programmatische Gemeinsamkeiten, die nicht alleine mit einer ähnlichen Herkunft und einer gemeinsamen politischen Verantwortung zu tun haben. Es bestehen auch tiefgreifende Differenzen, die dazu beitragen können, dass es zu wechselseitigen Blockaden kommt. Ursächlich dafür ist, dass Gewerkschaften und Sozialdemokratie in differenten Arenen agieren und ihre Aktivitäten dort anderen Logiken folgen. Eine positive wechselseitige Bezugnahme wird zudem durch eine unterschiedliche soziale Basis und die daraus resultierenden Interessen erschwert. Beispielsweise steht einem Arbeiteranteil von 60 Prozent in der gewerkschaftlichen Mitgliedschaft einer von 20 Prozent bei der SPD gegenüber. Das sind


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jedoch keinesfalls hinreichende Veränderungen, um einen grundlegenden politischen Entfremdungsprozess zu erzeugen. Denn die realen Interessensunterschiede können durch übereinstimmende Deutungen der Situationen, Instrumente und Strategien des Tauschs- und der Beteiligung zumindest relativiert werden. Von besonderer Bedeutung ist dabei eine flexible Elitenkooperation auf der Basis gemeinsamer Leitbilder. Die Struktur der Einheitsgewerkschaft verbietet eine direkte Unterstützung der SPD. Gleichwohl besteht auf der Ebene der Grundwerte, der Ziele und Instrumente eine traditionell enge Beziehung, die wir durchaus als „privilegierte Partnerschaft“ bezeichnen können. Im Gegensatz zur CDU/CSU spricht die SPD den Gewerkschaften in ihren Programmen eine herausragende Rolle als positiver Faktor gesellschaftlicher Integration und Gestaltung zu, was im Godesberger (1959) und im Berliner Programm (1989) in eigenen Kapiteln herausgestellt wird. Konsens über Leistungen des Sozialstaates Von zentraler Bedeutung ist bisher der weitgehende Konsens zwischen SPD und DGB über die Leistungen und die Leistungsfähigkeit des deutschen Modells von Sozialstaat und industriellen Beziehungen. Damit wird die be-

sondere Rolle der Gewerkschaften auch institutionell anerkannt, was sich auch bei der Reform des Betriebsverfassungsgesetzes von 2001 bewährte und jüngst in den Koalitionsverhandlungen der Großen Koalition, wo die SPD darauf insistierte, dass die Anerkennung von Tarifautonomie und Mitbestimmung fester Bestandteil ihrer Regierungspolitik sei. Agenda 2010 erhöhte Druck Gleichwohl ist dieser normative Konsens durch das Schröder-Blair-Papier von 1999 sowie durch eine sozialdemokratische Regierungspolitik, die auf Privatisierung, Eigeninitiative und eine Reduktion des Staates im Sinne einer neu akzentuierten Aktivie-rungsstrategie setzte, unter starken Druck geraten. Die Agenda 2010 wird seitens der Gewerkschaften als eine angebotsorientierte Politik rezipiert, mit der die soziale Asymmetrie gefährdet wird. Während die Gewerkschaften in ihren Diskursen mit der Sozialdemokratie die Rolle der Verteilungsgerechtigkeit herausstellen, besteht die Mehrheit der SPD-Führung darauf, dass dieses Gerechtigkeitskonzept relativiert werden müsse und Teilhabe-, Chancen-, und Generationengerechtigkeit ebenfalls eine wichtige Rolle spielen sollten. Vor diesem Hintergrund wuchs bei einigen Funktionären der Gewerkschaften die perspektive21

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Bereitschaft, sich nicht nur von der sozialdemokratischen Regierungspraxis zu distanzieren, sondern auch eine eigene Partei links von der SPD aufzubauen. Auch wenn deren Zustandekommen letztlich von einer Vielzahl von Zufällen getragen war, bleibt festzuhalten, dass die handelnden Akteure das nutzten, um eine normative Plattform zu schaffen, die eng an den programmatischen Positionen der beiden großen Gewerkschaften IG Metall und ver.di orientiert sind. Personelle Überlappungen bleiben Gerade angesichts auseinanderfallender Wirklichkeitsdeutungen und Basisstrukturen müssen die Eliten von Partei und Verbänden inhaltliche Schnittmengen und gemeinsame Projekte definieren. Personelle Basis dafür kann das wechselseitige Engagement sein: Gewerkschafter wählen mehrheitlich SPD; ein Teil von ihnen unterstützen sie nach wie vor aktiv. Und SPD-Mitglieder sind auch Gewerkschafter: Etwa ein Drittel aller SPDMitglieder sind gewerkschaftlich organisiert. Quantitativ betrachtet kommt die Majorität der sozialdemokratischen Gewerkschaftsmitglieder aus den Verbänden des öffentlichen Dienstes. So liegt etwa der ver.di- und der GEWAnteil unter den gewerkschaftlich organisierten Sozialdemokraten deutlich 66

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über ihrem DGB-Anteil während die IG Metall in der SPD deutlich unterrepräsentiert ist. Doppelmitgliedschaften, also SPD-Parlamentarier und Gewerkschaftsmitglied zu sein, führen in der Regel nicht zu tiefgreifenden Konflikten, weil es eine klare Rollendefinition gibt, die einen grundlegenden Konflikt in der Regel verhindert. Homogenisierung der Gewerkschaftspositionen Gewerkschaften benötigen einen Zugang zum politischen System. Ebenso kann es für eine sozialdemokratische Partei in Regierung und Parlament, die Konflikte mit der Arbeitnehmerschaft und ihren Gewerkschaften nicht bewusst in Kauf nehmen will, hilfreich sein, eine Rückbindung an die gewerkschaftliche Funktionselite zu haben. Mit dem 1968 unter Willy Brandt gegründeten Gewerkschaftsrat besteht ein Gremium des regelmäßigen Austauschs zwischen Partei- und Gewerkschaftsspitzen, das insbesondere in Phasen des Konflikts den Charakter einer Clearingstelle annehmen kann. Mit Ausnahme des ver.di Vorsitzenden, der das Parteibuch der Grünen besitzt, sind alle DGBVorsitzenden zugleich auch SPD-Mitglieder. Da alle Gewerkschaftsvorsitzenden mit sozialdemokratischem Parteibuch an diesen Gesprächen teilnehmen, kann diese Einrichtung auch zur


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Homogenisierung gewerkschaftlicher Positionen beitragen. Eine andere Form der Kontaktpolitik besteht darin, dass führende Gewerkschafter als Minister in die Regierung eingebunden werden: In Regierungszeiten wurde das Amt des Arbeitsministers immer einem führenden Gewerkschafter übertragen, der auf diese Weise ein spezifischer Ansprechpartner für die Gewerkschaften in der Regierung ist. Erstmals seit die SPD an der Regierung ist, gab es zwischen 2002 und 2005 keinen führenden Gewerkschafter mehr, der ein Ministeramt inne hatte; diese Praxis wurde auch bei der Regierungsbildung 2005 fortgesetzt. Kaum Zielgruppenarbeit im Bundestag Eine weitere Kontaktebene bilden die gewerkschaftlich organisierten Bundestagsabgeordneten. Aus der Sicht der Parlamentarier kann die Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft sowohl normative wie auch instrumentelle Gründe haben. Letzteres meint eine Referenz an die Gewerkschaften als Instanz politischer Ressourcenzuteilung. Dies alles sagt allerdings noch nichts über deren Bereitschaft und Fähigkeit, gewerkschaftliche Interessen im politischen Raum zu vertreten. Gleichwohl hat der hohe Anteil von Gewerkschaftsmitgliedern bei sozialdemokratischen Bundes-

tagsabgeordneten seitens der Unternehmerverbände immer wieder zu dem Vorwurf geführt, es handele sich bei der SPD-Bundestagsfraktion um eine „Gewerkschafts-Fraktion“ (Schmollinger 1973: 229). Tatsächlich spielen die gewerkschaftlich organisierten Bundestagsabgeordneten weder als Adressat entsprechender Zielgruppenarbeit eine wirklich wichtige Rolle noch sind Entscheidungen bekannt, in denen diese Bundestagsabgeordneten als Block – im Konfliktfall – die aktuellen Interessen der Gewerkschaften gegen die Optionen der Fraktions- und Parteispitze verfolgten. Nachlassende Bindung bei Jüngeren Seit 1990 ist bei allen Bundestagsfraktionen mit Ausnahme der PDS ein deutlicher Rückgang hinsichtlich des gewerkschaftlichen Organisationsgrades feststellbar. Die jüngere Generation der Abgeordneten setzt viel seltener als ihre Vorgänger auf das Prinzip überlappender Mitgliedschaften. Mit der Bundestagswahl 1990 sank der gewerkschaftliche Organisationsgrad in der SPD-Fraktion von über 90 Prozent auf rund 74 Prozent, der der CDU/CSU-Fraktion von fast 20 Prozent auf 7,5 Prozent. Auch die emotionale Bindung an die Gewerkschaften hat bei jüngeren Abgeordneten wegen fehlender Erfahrungen nachgelassen, perspektive21

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was vor allem auf andere Herkunft und Optionen hinsichtlich der Organisation von Arbeit, Sozialstaat sowie eines anderen Gerechtigkeitsverständnisses zurückzuführen ist. Der Parlamentseinzug einer gesamtdeutschen „Linkspartei“ kann sehr unterschiedliche Konsequenzen für SPD und Gewerkschaften nach sich ziehen: So lange es die SPD schafft, einen starken Teil der Arbeitnehmerschaft für sich einzunehmen, könnte es sein, dass ihre Position im Parteiensystem durch die Existenz einer zusätzlichen linken Partei gestärkt ist. Wie lässt sich dies erklären? Schlüsselrolle für die SPD Die SPD kann sich in sozialstaatlichen Fragen variabel in der Mitte bewegen sowie in den Bürgerrechtsfragen in den libertären Bereich (Migration etc.) hinein, weil sie auf bestimmte Positionen aus den Gewerkschaften weniger Rücksicht nehmen muss, wenn diese es nicht schaffen sich in der Dienstleistungsund Wissensökonomie zu verankern. Und in den Gewerkschaften könnte in Folge dessen sogar die Bewegung in Richtung Linkspartei eine stärkeren Schub erhalten, den es gegenwärtig weder quantitativ noch qualitativ gibt. Zugleich könnte die SPD in Folge dieser neuen Konstellation in nahezu jeder Situation, die mittelfristig abseh68

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bar ist, eine entscheidende Rolle für die Mehrheitsverhältnisse im Parlament spielen. So ähnlich, wie wir dies gerade bei der Regierungsbildung erleben durften. Dass dies so ist, hängt auch mit den Konsequenzen für die Gewerkschaften zusammen: Denn wenn sich die Gewerkschaften verstärkt an der Linkspartei orientieren würden, wofür vor allem programmatische Nähe sprechen könnte, dann bräuchten sie sich selbst inhaltlich kaum zu verändern, weil sie dann ja einen Partner hätten, der ihre Positionen im Parlament eins zu eins transportieren könnte. Dies brächte zwei Konsequenzen mit sich: K Erstens besitzen diese Positionen unter den gegebenen Bedingungen nur eine geringe machtpolitische Perspektive, um die Verhältnisse im Interesse der Arbeitnehmer beeinflussen zu können. K Zweitens, das Projekt, Gewerkschaft zu sein, die in allen Arbeitnehmergruppen und in allen Wirtschaftsbereichen gleichermaßen vertreten sind, könnte „begraben“ werden, weil die enge Beziehung zur Linkspartei vielen Arbeitnehmern den Weg zur Gewerkschaft versperrt. Die Gewerkschaften wiederum verlören durch eine enge Beziehung zur Linkspartei nicht nur ihre privilegierte Partnerschaft mit der SPD, und eine positive Veränderungsperspektive auf


[ zwei schwierige partner ]

Augenhöhe mit dem gesellschaftlichen Wandel; auch ihr Status als Einheitsgewerkschaft zerfiele mit dieser Option. Für die letzt genannten Entwicklungen wäre allerdings die Voraussetzung, dass die Linkspartei ein stabiler, ja ein wachsender Faktor wird, was derzeit eher unwahrscheinlich ist. Wahrscheinlicher ist, dass sich diese virtuelle Plattform aus verschiedenen

linken Kulturen nicht zu einer längerfristigen, handlungsfähigen Einheit entwickeln kann. Doch verlassen wir diese Spekulationen und konzentrieren uns auf die Arbeit in den Mühen der Ebene, um eine neue Phase der privilegierten Partnerschaft einzuläuten. Und diese ist notwendig, um Deutschland wirtschaftlich zu stärken und das Land zu integrieren. L

DR. WOLFGANG SCHROEDER ist Politikwissenschaftler und Leiter der Abteilung Sozialpolitik beim Vorstand der IG Metall sowie als Privatdozent an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main tätig. perspektive21

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Der Pol der Beharrung WAS DIE „LINKSPARTEI“ FÜR SPD UND PARTEIENSYSTEM BEDEUTET VON TOBIAS DÜRR

as Auftauchen der so genannten Linkspartei als gesamtdeutsches Phänomen bei der vergangenen Bundestagswahl hat viele Menschen überrascht. Wie und warum konnte sich die um den vormalige Sozialdemokraten Oskar Lafontaine und beträchtliche Teile des besoldeten Funktionärsapparats der westdeutschen Gewerkschaften erweiterte PDS etablieren? Wer die Antwort auf diese Frage sucht, darf bei den gängigen Erklärungen nicht stehen bleiben. Diese handeln so stereotyp wie oberflächlich von der Empörung über Hartz IV, von der Enttäuschung über die Agenda 2010, von der Wut auf den „Genossen der Bosse“ Schröder und – bis zur völligen Ermüdung – vom angeblichen „Neoliberalismus“ der bisherigen roten und grünen Regierungsparteien.1 Das alles benennt Phänomene, erklärt aber wenig. Mehr Erkenntnis verspricht es da schon, auf den Wan-

D

del der grundlegenden Konfliktmuster innerhalb der deutschen (und europäischen) Gesellschaft zu achten, der das Aufkommen von Parteien wie die „Linkspartei“ möglich macht. Kraftvoller Anstoß „Kraftvolle Parteien sind das Ergebnis kraftvoller Anstöße, die sich aus historischen Lagen ergeben“, hat der Politologe Wilhelm Hennis geschrieben.2 Damit hat er die Theorie der cleavages, jener kreuz und quer durch die Gesellschaft verlaufenden Konfliktlinien griffig auf den Punkt gebracht. Es mag hier dahinstehen, ob die heute unter dem Namen „Linkspartei“ firmierende erweiterte PDS tatsächlich eine „kraftvolle“ Partei genannt werden kann; ihr äußeres Erscheinungsbild lässt daran gewiss allerhand Zweifel zu. „Wir sind eine überalterte und stark männerdominierte Partei mit einer Kultur, die

1 Der völlig gedankenlose Umgang mit der Totschlagkategorie „Neoliberalismus“ war einer der entscheidenden Gründe für die Blockade und Verarmung der politischen Debatte in Deutschland in den vergangenen Jahren. Zur Aufklärung vgl. etwa David Harvey, A Brief History of Neoliberalism, Oxford 2005. 2 Wilhelm Hennis, Überdehnt und abgekoppelt: An den Grenzen des Parteienstaates, in: ders., Auf dem Weg in den Parteienstaat: Aufsätze aus vier Jahrzehnten, Stuttgart 1998, Seite 69-92, hier Seite 92.

perspektive21

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[ tobias dürr ]

für junge Menschen nicht attraktiv ist“, erklärt etwa der PDS-Vordenker André Brie. „Unsere intellektuellen Impulse sind bisher viel zu gering und strahlen nicht wirklich in die Gesellschaft aus.“3 Dem ist wenig hinzuzufügen. Ebenso klar ist hingegen, dass die erweiterte PDS tatsächlich das Produkt bestimmter „kraftvoller Anstöße“ und einer bestimmten „historischen Lage“ ist – einer neuen Konfigurierung der Kräfteverhältnisse in der Gesellschaft. Von einem „Gezeitenwechsel“, der inzwischen auch das deutsche Parteiensystem erfasse, spricht auch der Publizist Warnfried Dettling. „Die politischen Strömungen“, so seine These, „suchen sich eine neue Richtung.“ 4 Bewegung und Beharrung Das stimmt, ist aber etwas missverständlich formuliert. Tatsächlich entsteht ja nicht eine neue Richtung. Vorerst intuitiv noch oder schon sehr bewusst ordnen sich die Menschen vielmehr einer von zwei großen Strömungen zu: der „Partei der Bewegung“ auf der einen Seite oder der „Partei der Beharrung“ auf der an-deren. Weder die „Partei der Bewegung“ noch die „Partei der Beharrung“ gibt es heute als Organisation oder, unter diesen Namen, auf den

Wahlzetteln. Aber beide Parteien existieren bereits in den Köpfen der Menschen, und die jeweils mit ihnen verbundenen Vorstellungen, Hoffnungen oder Befürchtungen überlagern überkommene Entgegensetzungen. Warum ist das so? Neue Welt mit neuer Form Deutschland, Europa und die Welt haben sich in den vergangenen Jahrzehnten enorm verändert – wirtschaftlich und politisch, gesellschaftlich und kulturell. Jede zeitgemäße Politik muss heute dringend neue Antworten finden: Auf den bevorstehenden demografischen Kladderadatsch, auf die Globalisierung, den Aufstieg von China und Indien zu formidablen ökonomischen Großmächten, den Herbst des Ölzeitalters und die Entstehung einer Ökonomie, die immer mehr auf der Verarbeitung von Wissen und Informationen basiert. „Zu dieser Jahrtausendwende ist eine neue Welt dabei, Form anzunehmen“, hat der Soziologe Manuel Castells schon vor einigen Jahren angesichts der Tiefe der Transformation geschrieben.5 Castells hat Recht. Wir erleben in diesen Jahrzehnten in der Tat einen Umbruch unserer westlichen Gesellschaften, der in seinen Dimensionen

3 „Linkspartei ist überaltert: Vordenker André Brie über Perspektiven seiner Ex-PDS“, in: Berliner Zeitung vom 8.12.2005. 4 Warnfried Dettling, Regierungswechsel? Gezeitenwechsel!, in: Berliner Republik 6 (2005), Seite 6-9. 5 Manuel Castells, Das Informationszeitalter, Bd. 3: Jahrtausendwende, Opladen 2004, Seite 386.

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[ der pol der beharrung ]

und Auswirkungen dem Übergang vom Agrar- zum Industriezeitalter nicht nachsteht – und neue politische Konfliktlinien erschafft. Jeder wirtschaftliche und soziale Wandel kennt Gewinner und Verlierer. Einzelne Menschen, Gewerbe oder Branchen, Dörfer, Städte, Regionen, Nationen, Erdteile steigen auf, andere geraten ins Hintertreffen oder sogar ganz ins Abseits. Historisch ist das nie anders gewesen, und es wird nie anders sein. Nirgendwo steht geschrieben, dass Deutschlands Wohlstand und sozialer Frieden unter diesen Bedingungen gleichsam mit halber Kraft zu sichern sein werden. Dringend zu warnen ist daher vor der Illusion, es könnte sich so etwas wie ein Mittelweg in die neue Welt des 21. Jahrhunderts finden lassen. Mit mittelschnellen und mittelernsthaften Anpassungsmaßnahmen wird es Deutschland nicht weit bringen. Mithalten auf hohem Niveau Wie unlängst Geoffrey Garrett in Foreign Affairs dargelegt hat, sind es weltweit gerade die mittelmäßig wohlhabenden und mittelmäßig modernen Länder, die sich im Prozess der Globalisierung am schlechtesten zurechtfinden: „Auf den heutigen Weltmärkten gibt es nur zwei Wege, um voranzu-

kommen. Menschen und Staaten müssen entweder wettbewerbsfähig in der Wissensökonomie sein, die diejenigen Qualifikationen und Institutionen prämiert, die zu technologischer Innovation auf höchstem Niveau beitragen. Oder sie müssen wettbewerbsfähig sein in der Niedriglohnwirtschaft, die allgemein verbreitete Technik nutzt, um Routineaufgaben zu den niedrigstmöglichen Kosten zu erledigen.“ 6 Wer weder auf dem einen noch auf dem anderen Markt mithalten kann, der hält bald gar nicht mehr mit. Vor dieser Gefahr steht heute Deutschland. Neues Denken Doch diese abstrakte Erkenntnis fällt deutlich leichter als die Einsicht, man selbst, die eigene Gesellschaft könnte hier und jetzt von solchen Prozessen betroffen sein. Dabei ist längst unbestreitbar, dass Deutschlands Wohlstand und sozialer Frieden mit den Denkweisen, den Mentalitäten und Instrumenten der Vergangenheit in den kommenden Jahrzehnten nicht zu erhalten und erneuern sein werden. Nichts kommt von selbst, und nur wenig ist von Dauer – Willy Brandts zeitlose Binsenweisheit stimmt heute womöglich noch ein bisschen mehr als früher. Nur leuchtet dies eben nicht allen ein – und genau hier verläuft deshalb

6 Geoffrey Garrett, Globalization’s Missing Middle, in: Foreign Affairs 83 (2004) 6, Seite 84-96.

perspektive21

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[ tobias dürr ]

die zentrale neue Konfliktlinie innerhalb der deutschen Gesellschaft. Viele wollen es am liebsten weiterhin ruhig angehen lassen, nicht wenige werden auch in Zukunft an denjenigen Institutionen und Üblichkeiten festhalten wollen, die doch schließlich auch früher gut genug gewesen seien. „Die Mentalität der Mehrheit der Deutschen, also der sechzig Millionen Westdeutschen, ist eine erfolgsverwöhnte Mentalität“, schreibt der Historiker Hans-Ulrich Wehler. „Es ist, so gesehen, gerade die verblüffende Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik, die sich unter dem Anprall neuer Erfahrungen als Belastung erweist.“7 Die alte Mitte ist weg Die einen begreifen das, andere verweigern sich. Die alte mentale Mitte der Bundesrepublik als Komplex insgesamt geteilter Grundannahmen und Mentalitäten trägt nicht mehr. Wo es die einen zurück zieht in die idyllisierte Vergangenheit des „Goldenen Zeitalters“ (Eric Hobsbawm), fordert auf der anderen Seite eine „Generation Reform“ (Paul Nolte) mehr Dynamik und Erneuerung. Diese elementare Auseinandersetzung zwischen zwei Generaldeutungen der Wirklichkeit liegt im Grunde schon jetzt sämtli-

chen gesellschaftlichen Debatten in Deutschland zugrunde. Den Druck des Wandels spüren alle – sie regieren nur völlig unterschiedlich auf ihn. Die einen rufen trotzig: „Wir wollen behalten, was wir haben!“ Die anderen erwidern: „Das hat aber Voraussetzungen – Voraussetzungen, die wir erneuern oder überhaupt erst schaffen müssten.“ Eben hier entsteht die zentrale neue Konfliktlinie der deutschen (und europäischen) Gesellschaft von Bewegung und Beharrung. Dafür drei Beispiele: K Bei der Option zwischen Bewegung und Beharrung geht es nicht mehr um den sterilen Streit um „mehr“ oder „weniger“ Staat, um „neoliberale“ oder „soziale“ Politik. Gerade der investive Sozialstaat des 21. Jahrhunderts darf kein entkernter Minimalstaat sein und ist zugleich auf die wirtschaftliche Dynamik angewiesen, wie sie nur eine gut gebildete und qualifizierte Bevölkerung hervorbringen kann. In den Worten von Paavo Lipponen, der in den neunziger Jahren als Ministerpräsident der Architekt des Aufstieg Finnlands zu einem der ökonomisch und sozial erfolgreichsten Länder weltweit organisierte: „Finnland ist nicht trotz seines Wohl-

7 Hans-Ulrich Wehler, Bonn – Berlin – Weimar: Droht unserer Republik das Schicksal von Weimar?, in: ders., Umbruch und Kontinuität, München 2000, Seite 98-113, hier Seite 106.

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[ der pol der beharrung ]

fahrtssystems, sondern gerade wegen desselben international wettbewerbsfähig.“8 K Ebenso quer steht die neue Konfliktlinie zu dem hergebrachten Gegensatz zwischen „materiellen“ und „postmateriellen“ Werthaltungen: Bedeutet etwa materiell geprägte Politik per se Bewegung, postmateriell ausgerichtete hingegen stets Beharrung? Oder ist es doch eher umgekehrt? Die Antwort wird von Fall zu Fall unterschiedlich ausfallen. K Und schließlich geht es auch nicht mehr so übersichtlich wie einst um den alten Kampf zwischen „Kapital“ und „Arbeit“, um die Auseinandersetzung zwischen Unternehmern und abhängig Beschäftigten: Das bedrohliche Phänomen des „Wirtschaftskonservatismus“, wie es treffend der Politologe Helmut Wiesenthal nennt, findet sich heute in Deutschland in beiden Gruppen gleichermaßen, und es schadet allen gemeinsam. Umgekehrt sind, wie Wiesenthal schreibt, „ein großer Teil der Unternehmer und Selbstständigen sowie viele Erwerbstätige in technologisch avancierten Sektoren der Wirtschaft … dagegen weitgehend immun. In Bereichen, die internationalem Wettbewerb ausge-

setzt und darum von stetigem Wandel geprägt sind, zählen die kreativen Aspekte der Unternehmerfunktion zum Allgemeinwissen.“ 9 Kreativität, Dynamik und Offenheit für Veränderung einerseits – Bewahrung, Konservatismus und Festklammern am Bestehenden andererseits: Das existierende deutsche Parteiensystem bildet diese in der Gesellschaft entstehende Hauptkonfliktlinie zwischen Bewegung und Beharrung nicht adäquat ab. Der Bruch verläuft mitten durch die beiden großen Volksparteien und ihre Wähler, ebenso mitten durch die Anhängerschaft der Grünen. Einzig die um die sozial marginalisierten Wählergruppen konkurrierenden Parteien NPD, DVU und PDS lassen sich eindeutig als reine „Parteien der Beharrung“ charakterisieren: In ihrem Populismus und Protektionismus sowie in ihrer nationalsozialen Wohlfahrtsnostalgie eint sie weitaus mehr, als sie ideenpolitisch voneinander trennen mag. Verleugnung der Wirklichkeit Das alles gärt schon lange. Die wirkliche Neuerung der Wahl des Jahres 2005 bestand nun allein darin, dass sich mit der zur „Linkspartei“ umbenannten PDS im deutschen Parteien-

8 Paavo Lipponen, Fortschritt neu denken, in: Perspektive 21, Heft 24, Seite 15-20. 9 Helmut Wiesenthal: Wirtschaftskonservatismus: Das Münchhausen-Dilemma der Reformpolitik, in: Berliner Republik 6 (2005) 4, Seite 54-63.

perspektive21

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[ tobias dürr ]

system ein Pol der reinen Beharrung etabliert hat. Ob diese Partei als Organisation mittelfristig funktionieren kann, ist hochgradig zweifelhaft. Dass indessen für ihr Angebot der nackten Wirklichkeitsverleugnung eine beträchtliche Nachfrage besteht, liegt klar zutage. Das ist im Übrigen nicht bloß rein deutsches Phänomen: Überall in Europa sind erneuerungswillige Parteien – und dabei gerade auch sozialdemokratische – seit den achtziger und neunziger Jahren bei dem Versuch in heftige Schwierigkeiten geraten, den widersprüchlichen Anforderungen von Bewegung und Beharrung gerecht zu werden. Neuartigen Herausforderungen stehen allenthalben die umso mehr am Vergangenen orientierten Erwartungen traditional orientierter Wählergruppen gegenüber. Platz für linke Mitte Allerdings: Je länger und intensiver die Konflikte zwischen Bewegung und Beharrung innerhalb der noch immer großen bestehenden Parteien geführt würden, desto mehr Platz entstünde im deutschen Parteiengefüge frei für eine offene und erneuerungsfreudige Partei der linken Mitte, die die Prinzipien der Gleichheit und Gerechtigkeit dynamisch im Lichte der veränderten ökonomischen und gesellschaftlichen Verhältnisse zu buchstabieren verstünde. Bezogen auf die gesellschaftli76

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che Nachfrageseite erscheint es nicht ganz ausgeschlossen, dass die Grünen in die Rolle einer modernen Partei der progressiven linken Mitte einrücken könnten. Ob die Partei diese „Marktlücke“ erkennt und zu füllen versteht, ist offen. Erste Signale seit der Bundestagswahl deuten darauf hin, dass die Grünen ihr Heil eher in kurzatmigen koalitionstaktischen Suchbewegungen zu finden hoffen als in langfristiger strategischer Selbstverortung im Kontext der gesellschaftlichen Konfliktstrukturen. Viel war in den vergangenen Monaten von den Sinnkrisen der großen Volksparteien in Deutschland zu hören. Dabei könnten gerade die Grünen als kleine Partei die ersten sein, die ins Taumeln geraten, wenn irgendwann niemandem mehr klar ist, wie diese Partei nun links, bürgerlich, ökologisch, fortschrittlich, wertkonservativ et cetera zugleich sein kann. Mit dem taktischen Erfolg des Abschlusses der ersten schwarz-grünen Länderkoalitionen würden die strategischen Probleme der Grünen erst richtig ernst. Bewegung und Beharrung zugleich Noch misslicher erscheint auf Anhieb die Lage der SPD. In der Phase der Agenda 2010 seit dem 14. März 2003 haben die Sozialdemokraten immer wieder versucht, Bewegungs- und Beharrungspartei zugleich zu sein. Da


[ der pol der beharrung ]

innerparteiliche Widerstände die SPD daran hinderten, die Idee der sozialen Demokratie angesichts veränderter Herausforderungen dynamisch und offensiv zu interpretieren, meinten wesentliche Parteiführer immer wieder, Bewegung per se mit „sozialer Kälte“ gleichzusetzen zu müssen. Das mochte für die Zwecke hastig improvisierter Kampagnenpropaganda genügen, demonstrierte aber vor allem das strategische Kernproblem der deutschen Sozialdemokratie: Zum Prinzip ihrer eigenen Bewegungspolitik wollte (oder konnte) sie sich nicht offensiv bekennen, als Partei der Beharrung jedoch hätte sie unweigerlich ihre Problemlösungskompetenz und Mehrheitsfähigkeit verloren. Verweigerung geht nicht Jetzt besteht für die SPD die große Chance, ihr verdruckstes Verhältnis zur eigenen Politik endlich zu überwinden – und zwar gerade aufgrund der gesteigerten Präsenz der erweiterten Exkommunisten im politischen Wettbewerb. In den Worten von Vizekanzler Franz Müntefering: „Mancher Unfug, den die fordern, ist damit für uns tabuisiert.“ 10 Zu hoffen ist, dass sich diese späte, aber umso erfreulichere Einsicht auf der ganzen Linie

durchsetzt. Denn wie Gøsta EspingAndersen bereits vor Jahren festhielt, geraten überall in Europa langfristig gerade diejenigen sozialdemokratischen Parteien auf jeden Fall in den Status permanenter Minorität, „denen es am schlechtesten gelingt, sich von ihrem traditionellen arbeiterlichen Image zu lösen“.11 Mit anderen Worten: Die Verweigerung einer zeitgemäßen sozialdemokratischen Politik der Bewegung ist schlechterdings keine Zukunftsoption. Sollte die SPD je ins Fahrwasser des lafontainistischen Beharrungspopulismus geraten, begäbe sie sich unweigerlich nicht nur auf den Weg ins elektorale Abseits, sie verlöre auch das Vermögen, ihre Gerechtigkeits-, Gleichheits- und Aufwärtsmobilitätsziele jenseits bloßer Posen und Postulate (wie etwa die verunglückte „Heuschreckendebatte“) tatsächlich zu verwirklichen. Bewegung macht erfolgreich Genau das ist aber dringend nötig, denn es gibt viel zu tun. Die SPD hat in der jüngsten Zeit viel Aufhebens vom so genannten Europäischen Sozialmodell gemacht. Als eine einheitliche Konzeption existiert dieses „Modell“ freilich nicht. Die Länder und die Sozialdemokratien Europas kom-

10 Interview mit Franz Müntefering, in: Die Zeit vom 1.12.2005. 11 Gøsta Esping-Andersen, Politics Without Class? Postindustrial Cleavages in Europe and America, in: Herbert Kitschelt u.a. (Hrsg.), Continuity and Change in Contemporary Capitalism, Cambridge 1999, Seite 293-316, hier Seite 311.

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men höchst unterschiedlich gut mit den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts zurecht. Erfolgreich sind jene, die sich in Bewegung gesetzt haben. Und am erfolgreichsten sind unter ihnen sind die nordeuropäischen. Die jüngste Geschichte Skandinaviens deutet darauf hin, dass es tatsächlich möglich ist, gesunde öffentliche Finanzen mit geringer Ungleichheit und hohen Erwerbsquote zu verbinden.12 In diese Richtung sollte sich die SPD daher wenden. Die historische Lage der Gegenwart ist gekennzeichnet durch mächtige Umbrüche. Auf diese Umbrüche reagieren Menschen und Parteien – so oder so. Sie setzen sich ebenfalls in

Bewegung oder sie verweigern sich. Politik bedeutet die Vertretung bereits existierender Interessen, noch viel mehr aber bedeutet Politik getting things done, also die Suche nach neuen Lösungen für neue Probleme. Diese Lösungen kann keine „Partei der Beharrung“ anbieten, ganz gleich, unter welchem Namen sie auftritt. Deshalb wird, wer sich unter dem Banner der Beharrung zusammentut, letztlich immer in umfassendem Sinne scheitern. Die Zukunft gehört den „Partei der Bewegung“. Von der Frage, ob diese gesellschaftliche „Partei der Bewegung“ in den kommenden Jahren zu einer handlungsmächtigen politische Form finden wird, hängt der Weg Deutschlands im 21. Jahrhundert ab.L

DR. DISC. POL. TOBIAS DÜRR geb. 1965, Politikwissenschaftler und Publizist und Chefredakteur der Berliner Republik. 12 Vgl. Anthony Giddens, The World Does Not Owe Us a Living, in: Progressive Politics 4 (2005) 3, Seite 32-38. 13 Anthony Giddens und Patrick Diamond (Hg.), The New Egalitarianism, London 2005. 14 Nick Pearce und Will Paxton (Hg.), Social Justice: Building a Fairer Britain, IPPR, London 2005.

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Die (neue) Mitte im Osten? IN OSTDEUTSCHLAND IST DIE LAGE DER SPD EINE ANDERE ALS IM WESTEN VON THOMAS KRALINSKI

ntscheidend ist, was hinten rauskommt“ – ist als Leitspruch eines ehemaligen Bundeskanzlers überliefert. So betrachtet, ist die ostdeutsche SPD eine Erfolgsgeschichte. Seit 1990 hat sie bei den Bundestagswahlen zugelegt: von 24 Prozent über 32 Prozent (1994) und 35 Prozent (1998) auf 40 Prozent im Jahr 2002. Bei der Bundestagswahl 2002 hat die ostdeutsche Sozialdemokratie sogar die entscheidenden Stimmen für die Wiederwahl der Bundesregierung gebracht. Erst die Wahl von 2005 brachte einen Einbruch. Gleichwohl blieb sie mit 30 Prozent stärkste Partei in Ostdeutschland. Also kein Grund zur Sorge. Oder? Ein Blick auf die Landtagswahlen ergibt bereits ein anderes Bild. In drei der neuen Länder ist die SPD nur drittstärkste Kraft. In Sachsen hat sie zuletzt gerade mal 9,8 Prozent (!), in Thüringen nur 14,5 Prozent erreicht. In einer großen Kraftanstrengung hat die Brandenburger SPD 2004 ihre Führungsrolle verteidigt, im Jahr 2006 stehen die sozialdemokratischen Re-

E

gierungschefs von Berlin und Mecklenburg-Vorpommern vor schwierigen Wahlkämpfen. Immerhin, derzeit regiert die SPD in vier der neuen Länder – und es ist wahrscheinlich, dass Sachsen-Anhalt im Frühjahr nächsten Jahres noch dazu kommt. Dann stände die SPD lediglich in Thüringen nicht in der Verantwortung. Ein Abbild der Zukunft des Westens Und dennoch: Die Basis der ostdeutschen SPD ist schwach. Beim Blick auf die Mitgliederzahlen wird manchem Genossen aus den alten Ländern schummrig vor Augen. 1990 träumten die neuen Sozialdemokraten von einer neuen Volkspartei im Osten. Dieser Traum ist ausgeträumt. Zwar hat die neue SDP/ SPD nach der Wende schnell Mitglieder gewonnen – doch von einer Massenpartei ist weit und breit nichts zu sehen. Noch nicht einmal 7 Prozent der deutschen Sozialdemokraten wohnen in den neuen Ländern und Berlin. In Sachsen, mit perspektive21

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[ thomas kralinski ]

über 4 Millionen Einwohnern das größte Ostland, gibt es nicht mal mehr 5.000 Genossen.

Und trotzdem: Eine Massenbewegung wird die Sozialdemokratie in den neuen Ländern nicht mehr werden. Zwar hat die Regierungsbeteiligung in den Ländern in der Regel zum Aufwuchs der Mitgliedszahlen geführt – wodurch auch die dreimal höhere Mitgliederdichte in Brandenburg gegenüber Sachsen erklärt werden kann. Doch seit einigen Jahren gehen auch in den neuen Ländern die Mitgliederzahlen langsam zurück. Der Landesverband Mecklenburg-Vorpommern hat mittlerweile gerade mal noch 3.000 Mitglieder – eine Zahl über die mancher Stadtverband im Westen nur schmunzeln kann. Doch man sollte sich nicht zu früh freuen. Vielmehr ist es wahrscheinlich, dass die ostdeutsche SPD heute ein Abbild dessen ist, was die Partei in den alten Ländern lang-

Herzkammer mit wenig Blut Und auch in Brandenburg, der Herzkammer der ostdeutschen SPD, sind es nur noch knapp 7.000 Genossinnen und Genossen. Auf 100 Wahlberechtigte kommen im Bund 1,0 SPD-Mitglieder, in Sachsen sind es nur 0,1, in Brandenburg (immerhin) 0,3. Einziges Trostpflaster: Die geringen Mitgliedszahlen werden durch etwas höhere Aktivität der Mitglieder ausgeglichen. Und auch – man höre und staune – gerade im Osten ist der durchschnittliche Mitgliedsbeitrag der Genossen etwa doppelt so hoch wie im Westen. Zahl der SPD-Mitglieder 1990 und 2004 1990

2004

Differenz

Organisationsgrad

Thüringen

3.400

4.800

43 %

0,2 %

Brandenburg

5.700

6.800

19 %

0,3 %

Mecklenburg-Vorpommern

3.100

3.100

-3 %

0,2 %

Sachsen-Anhalt

5.100

4.800

-6 %

0,2 %

Sachsen

5.500

4.500

-19 %

0,1 %

27.100

16.800

-38 %

0,7 %

Bayern

116.300

79.700

-31 %

0,9 %

NRW

287.100

167.500

-42 %

1,3 %

Bund

943.400

605.800

-36 %

1,0 %

Berlin zum Vergleich:

Quelle: SPD; Organisationsgrad: Mitglieder pro Wahlberechtigte in %

80

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[ die (neue) mitte im osten? ]

sam aber sicher auch ereilen wird – die Mitgliederzahl der SPD wird sich in 10 oder 15 Jahren eher bei 300.000 als bei 600.000 bewegen. Klein. Aber fein? Dabei sind nicht so sehr die Austritte das Problem. Vielmehr wird allein die Altersstruktur dazu beitragen, dass die Mitgliedszahlen zurückgehen. Seit 1990 haben die Landesverbände im Norden, Süden und Westen der Republik zwischen 30 und 50 Prozent (!) ihrer Mitgliederzahlen verloren, während die Mitgliedschaft der ostdeutschen Landesverbände zwischen -20 Prozent (Sachsen) und +40 Prozent (Thüringen) schwankt. Es lohnt sich also genauer hinzuschauen.

Die SPD im Osten ist anders. Sie ist erst 1989 gegründet worden, musste neue Kommunikationskanäle aufbauen, konnte auf traditionelle Bindungen und einen eingespielten Parteiapparat nicht zurückgreifen. Sie musste unter großem Druck Politik im Umbruch gestalten, Wahlkämpfe organisieren, Personal für politische Ämter bereitstellen. Zu wenig Leute für zu viele Ämter Die Personaldecke ist extrem dünn bei der SPD im Osten. Einziger Trost – bei den anderen Parteien sieht es auch nicht viel besser aus, eher sogar schlimmer. Ein großer Teil der (aktiven) Mitglieder ist in Funktionen, sei es in verschiedenen Vorständen, in

CDU und PDS in den neuen Ländern

CDU Mitglieder 2004 Thüringen Brandenburg

PDS

Organi1991- sations2004 grad

Mitglieder 2004

Organi1990- sations2003 grad

15.100

- 53 %

0,6

16.000

- 78 %

0,4

7.100

- 48 %

0,3

10.900

- 75 %

0,5

Mecklenburg-Vorpommern

6.700

- 54 %

0,5

7.500

- 77 %

0,5

Sachsen-Anhalt

9.400

- 58 %

0,4

7.600

- 83 %

0,3

Sachsen

13.300

- 51 %

0,4

8.800

- 78 %

0,4

Berlin

12.900

- 17 %

0,5

10.400

- 79 %

0,4

Quelle: Oskar Niedermayer, Parteimitgliedschaften im Jahr 2004, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, Heft 2-2005; Organisationsgrad: Mitglieder in % der Mitgliedsberechtigten

perspektive21

81


[ thomas kralinski ]

kommunalen Wahlämtern, im Kreis-, Land- oder Bundestag. In manchen Wahlkreisen hat die SPD mittlerweile Probleme, Kandidaten zu finden – eine Schwierigkeit, vor der die sächsische SPD bei der vergangenen Landtagswahl stand. So gibt es in einem durchschnittlichen Landkreis in Sachsen gerade mal 100 Mitglieder – aus denen dann eine ganze Reihe von Kandidaten – vom Gemeinderat, über Bürgermeister, Landrat bis zum Landtags- und Bundestagsabgeordneten – nominiert werden müssen. Manche Ortsvereine finden de facto nur als Fraktionssitzung des Gemeinderates statt. Es gibt Ortsvereine, die sind so klein, dass die Kontogebühren die Einnahmen aus den Mitgliedsbeiträgen übersteigen. Drei Parteien im Osten, Vier im Westen Der Blick über den Gartenzaun der Parteienkonkurrenz ergibt ein ganz ähnliches Bild. Zuerst muss man feststellen: Das Parteiensystem im Osten ist ein ganz anderes als im Westen. In den alten Bundesländern haben sich in den vergangenen Jahrzehnten zwei Volksparteien und zwei Milieu- oder Funktionsparteien etabliert (ob die Linkspartei sich im Westen flächendeckend und dauerhaft etablieren wird, ist sicherlich noch offen). Im Osten gibt es hingegen mit SPD, CDU und 82

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PDS drei „große“ Parteien – mit erstaunlich ähnlicher Anhängerschaft und ganz anderer Konkurrenzsituation als im Westen. Die tief reichende Homogenisierung der DDR-Gesellschaft, die heute noch nachwirkt, bildet sich entsprechend im Parteiensystem ab. Daraus erklärt sich die relative politische Nähe der drei großen Parteien – mit entsprechend relativ gering ausgeprägter Konkurrenz untereinander (auch wenn dies die Parteien – oder vielmehr ihre Bundeszentralen – bisweilen nicht wahr haben wollen). „Altparteien“ geht es auch nicht besser Damit erklärt sich auch, dass die Volatilität der Wahlergebnisse in den neuen Ländern so groß und die Wahlbeteiligung im Osten relativ gering ist. Die Leute haben schlicht das Gefühl, dass ihre (Aus-) Wahlmöglichkeiten subjektiv und objektiv geringer sind. Damit fällt der Personenkonkurrenz ganz automatisch eine wichtigere Rolle zu. Das klingt wie ein Vorteil für CDU und PDS, haben die doch große Mitgliederstämme aus der DDR-Zeit in die neue Zeit „gerettet“. Jedoch: Auch CDU und PDS plagen große Mitgliedersorgen. Ähnlich wie die SPD erreichen die „Altparteien“ CDU und PDS in den neuen Ländern bei weitem nicht die Mitgliederdichte, die man von den großen Parteien in den alten


[ die (neue) mitte im osten? ]

Ländern kennt. Mittlerweile sind über zwei Drittel der PDS-Mitglieder über 60 Jahre alt. Zum Vergleich: Die Mitgliederdichte der PDS in Brandenburg ist deutlich geringer als die der SPD in Bayern oder Baden-Württemberg. Die ehemalige SED verliert im Schnitt jährlich etwa 5 Prozent ihrer Mitglieder. Bislang ist nicht zu erkennen, dass die Vereinigung mit der WASG zu einem großen Mitgliederschub führen wird. Das wird dazu führen, dass die PDS bei der nächsten Landtagswahl in Brandenburg etwa gleich „viele“ Mitglieder wie SPD und CDU haben wird. Auch die CDU zehrt noch von ihrem Blockparteienmitgliederbestand – doch auch der geht stetig zurück. Mitgliederfalle als Hypothek für Demokratie Insgesamt laufen alle drei Parteien in den kommenden Jahren in eine „Mitgliederfalle“ – und die Demokratie in schwieriges Fahrwasser. Denn eine der wesentlichen Aufgaben von Parteien – die Bereitstellung von politischem Personal – werden SPD, PDS und CDU in Ostdeutschland immer weniger erfüllen können. Wahlen, gerade Personenwahlen, werden so immer mehr zum Glücksspiel – in der Hoffnung, dass unter den wenigen Kandidaten wenigstens ein guter dabei ist. In Schwedt, einer der größeren Städte Brandenburgs, konnten PDS und

CDU keinen Bürgermeisterkandidaten aufbieten, so dass die SPD ohne ernsthafte Konkurrenz blieb. Für die Legitimation von Demokratie und Parteien, für die Handlungsfähigkeit von Politik insgesamt ist dies kein gutes Zeichen. Entpolitisierung und Personalisierung Insbesondere bei den Kommunal- und Bürgermeisterwahlen ist der Trend zu unabhängigen Kandidaten in den vergangenen Jahren immer stärker geworden. Selbst in den großen Städten – mit einer traditionell größeren Politisierung – haben es die Parteien und ihre Kandidaten schwer. In der Halbmillionenstadt Dresden hatten weder SPD noch PDS einen vermittelbaren OB-Kandidaten, während die CDU ihren unpopulären Amtsinhaber mangels Alternative nicht austauschen konnte. Im Ergebnis wurde ein unabhängiger Kandidat zum Oberbürgermeister gewählt – ähnliche Tendenzen gab es bei OB-Wahlen in Rostock, Cottbus und Görlitz. Im Endeffekt kann dieser Trend jedoch auch dazu führen, dass sich Kommunalpolitik immer stärker von der nach wie vor parteipolitisch dominierten Landesund Bundespolitik abkoppelt – mit schweren Kommunikations- und Verständnisdefiziten für beide Seiten. In diesem Trend zur deutlichen Personalisierung und Entpolitisierung perspektive21

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[ thomas kralinski ]

liegt jedoch auch eine Chance für die Sozialdemokratie. Nämlich genau dann, wenn sie es schafft, in den kommenden Jahren ihr Kräfte auf die Ausund Fortbildung ihrer Mitglieder zu konzentrieren. Allein in Brandenburg werden in den kommenden Jahren über 120 neue Kandidatinnen und Kandidaten für Bürgermeister- und Landratswahlen „benötigt“. Bei noch nicht einmal 7.000 Mitglieder eine unvorstellbar große Zahl. Wettlauf um gute Leute Letztendlich befindet sich die SPD in einem Wettlauf um die beste Qualifikation ihrer zukünftigen Amtsträger. Die Sozialdemokraten haben auch in den kommenden Jahren gute Chancen, weiter aktiv Politik zu gestalten wenn sie diesen Wettlauf annehmen, ihre zukünftigen Kandidaten Schule und miteinander vernetzen. Doch zum Politikgestalten gehört mehr als die Fähigkeit, Behörden zu leiten, Medien zu bedienen, Haushalte zu sanieren und Unternehmer zu umgarnen. Angesichts der tiefen Transformationskrise der ostdeutschen Gesellschaft muss gerade die Sozialdemokratie ihre Programmatik weiter entwickeln und nach neuen politischen Konzepten suchen. Gegenüber den Genossen in den alten Ländern – aber auch gegenüber 84

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den vergangenheitsbelasteten Parteien PDS und CDU – haben die ostdeutschen Sozialdemokraten einen entscheidenden Vorteil: Sie schleppen nicht so viel historischen Ballast mit sich herum. Ohne Ballast zum Problemlösen Weder gibt es Verstrickungen mit dem DDR-System, noch mussten die OstSozis sich mit den Ideologie- und Grabenkämpfen der so genannten 68er herumschlagen. So wundert es auch nicht, dass die ostdeutsche SPD heute vor allem von pragmatischen Leuten geführt wird, denen das unkonventionelle Problemlösen allemal wichtiger ist. Platzeck, Tiefensee oder Bullerjahn stehen für die technische Intelligenz, die nach 1989 den Weg zu den Sozialdemokraten fand – und unterscheiden sich ganz erheblich von den in den Siebziger Jahren aufgestiegenen Arbeiterkindern, von denen die „alte“ SPD so geprägt ist. Was also tun in den kommenden Jahren? Zur Personalentwicklung muss die stärkere Vernetzung der Mitglieder und Mandatsträger kommen. Gerade die Arbeitsgemeinschaften werden dabei eine wichtige Rolle spielen (müssen). Als politische Einheiten sind sie flächendeckend nicht vertreten. Die neben der Partei parallel entstandenen Führungsstrukturen sind kaum


[ die (neue) mitte im osten? ]

legitimationsfähig. Kann eine AG Selbstständiger für die Unternehmen im Land sprechen, wenn sie selber kaum über ein oder zwei Dutzend aktive Mitglieder verfügt? Ein dritter Schwerpunkt der Parteiarbeit ist – auch wenn es paradox erscheint – die konzeptionelle Durchdringung und programmatische Bearbeitung der Lage in Ostdeutschland. Dies mag auf den ersten Blick wie eine Selbstverständlichkeit klingen. Doch angesichts der extremen Ressourcenschwäche der ostdeutschen Landesverbände ist dies eine gewaltige Herausforderung. Neue politische Antworten gesucht Im Zuge dieses Prozesses wird die SPD sich stärker zu einer Parlamentspartei entwickeln – sind doch die Landtagsfraktionen de facto die einzigen, die die Möglichkeit haben, programmatisch arbeiten und dies auch kommunizieren zu können. Think tanks, workshops oder die befristete „Hereinnahme“ von unabhängigen Experten werden diesen Prozess begleiten können. Die schwere wirtschaftliche und soziale Krise im Osten kann eine politische Krise werden – auf jeden Fall braucht sie neue politische Antworten. Was steht bevor? Vier Faktoren werden den neuen Ländern in den kommenden Jahren zu schaffen machen.

K Da ist zum einen die demografische Transformation mit dem fortschreitenden massiven Einwohnerrückgang in einigen Regionen – in Sachsen-Anhalt um ein Drittel (!) zwischen 1990 und 2020. K Bis 2020 werden die Solidarpaktmittel schrittweise auf Null zurückgefahren. Damit gehen die Volumina der Landeshaushalte zurück – in Brandenburg in den nächsten 15 Jahren um fast ein Viertel. Parallel dazu ist derzeit nicht erkennbar, wo der wirtschaftliche Aufschwung, der diesen Rückgang kompensieren könnte, herkommen soll. K Die seit zehn Jahren anhaltende Massenarbeitslosigkeit wird immer stärker zur Belastung – nicht (nur) zur fiskalischen, sondern auch zur sozialen Hypothek in allen Lebensbereichen. K Hinzu kommt der widersprechende Umstand, dass wir in etlichen Branchen im Osten bereits heute einen Fachkräftemangel erleben – bei weiterhin hoher Arbeitslosigkeit. Dieser Trend wird sich in den kommenden Jahren noch verschärfen, denn bald wird den Unternehmen der Nachwuchs fehlen angesichts der nach der Wende halbierten Geburtenrate. Diese Probleme sind insgesamt so gravierend, dass sie eine Parteiformation allein gar nicht mehr lösen könnperspektive21

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te. Sie würde sich programmatisch schwer tun, sie würde aber auch politisch und personell überfordert sein. Zum Streit und Diskurs anspornen Im Osten ist die SPD aufgrund der Drei-Parteien-Konstellation die „Partei der Mitte“. Das ermöglicht ihr mehr Koalitionsoptionen als ihren Konkurrenten. Sie wird die anderen beiden großen Parteien in Zukunft stärker als Bündnispartner brauchen – die einen möglicherweise mehr, die anderen weniger. Auf der SPD lastet die Verantwortung, nicht nur für sich selbst politische Klarheit zu verschaffen. Sie muss die anderen beiden Parteien im Streit und im Diskurs mitnehmen und anspornen, die tiefe gesellschaftliche Krise in Ostdeutschland zu analysieren und Lösungsmöglichkeiten zu eröffnen. Reformbereitschaft und Reformfähigkeit sind keine Selbstverständlichkeiten, sondern müssen erarbeitet werden – nicht nur von Sozialdemokraten, sondern auch von den Christdemokraten als auch den PDSlern. Als Scharnierpartei kommt der SPD im Osten eine wichtige Rolle zu: Sie muss auf der Höhe der Zeit sein – und ihre Zukunftskompetenz stärker ausbauen. In Brandenburg und Sachsen-Anhalt ist das der SPD schon ein Stück weit gelungen. Dort haben die Sozialdemokraten Zukunftsdebatten 86

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angestoßen, die weit über den Tag hinaus wirken werden und weit über die eigene Partei reichen. Sicherlich ist es nicht einfach, unbequeme Wahrheiten unters Volk zu streuen. Für die neuen Länder aber wird es sich auszahlen, wenn es Sozialdemokraten sind, die diese Debatten anstoßen, nach neuen Lösungen suchen – und die die Zukunft bestimmen werden. Spezifische ostdeutsche Interessen integrieren Solche politischen Prozesse in die Wege zu leiten – und dies mit geringen Ressourcen und dünner Personaldecke – wird eine Fähigkeit sein, die die SPD im Osten wird lernen müssen. Wenn dies gelingt, könnten die alten Landesverbände einiges aus dem Osten lernen – denn es ist wahrscheinlich, dass hier Probleme bearbeitet werden, die die alte Bundesrepublik in nächster Zeit auch erreichen werden. Die SPD insgesamt muss in den kommenden Jahren – sowohl als Partei als auch in der Regierungsverantwortung – auf eine bessere Berücksichtigung spezifischer ostdeutscher Interessen achten. Die Menschen in den neuen Ländern wollen das Gefühl haben, dass sie mit ihren spezifischen Problemen wahr und ernst genommen werden. Die seit zehn (!) Jahren andauernde Wirtschaftskrise im Osten


[ die (neue) mitte im osten? ]

führt dazu, dass die Demokratie selbst immer mehr in Frage gestellt wird – und mit ihr auch die SPD. Die Sozialdemokraten sind mithin zum Erfolg

verdammt. Wenn ihr das gelingt, könnte sie auch ihre Vormachtstellung auch bei der nächsten Bundestagswahl behaupten. L

THOMAS KRALINSKI

ist Geschäftsführer der SPD-Landtagsfraktion in Brandenburg und leitender Redakteur der Perspektive 21. perspektive21

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Fliege hoch du Roter Adler … WIE DIE SPD IN DER FLÄCHE AN SICH ARBEITET VON SUSANNE MELIOR

liege hoch du roter Adler, hoch über Sumpf und Sand …“, heißt es in der Märkischen Hymne. Und so ist sie auch die märkische Landschaft mit Städten und Dörfern und Menschen, die gern hier leben. Sie sind wendisch, slawisch oder sorbisch, die Generationen zuvor der Große Kurfürst in das Oderland oder die Mittelmark gelockt hat oder diejenigen, die in der Neuzeit bewusst in das Umland der Großstadt Berlin oder Potsdams gezogen sind. Auf dem Weg zum SPD-Unterbezirksvorstand in Potsdam Mittelmark fahre ich wie immer in letzter Minute los, die Landesstraße 77 entlang, am Bahnhof Michendorf biege ich rechts ab auf die viel befahrene Bundesstraße und an der nächsten Kreuzung wieder links. In den Wintermonaten muss ich auf der Kreisstraße nach Caputh besonders aufpassen: mal ist es ein Wildschwein, dann wieder der Fuchs oder auch ein stattlicher Damhirsch, der die Straße kreuzt und den Autofahrern blitzschnelles Handeln abverlangt. Die Fähre liegt wie so oft auf der Geltower

F

Seite, d.h. geduldig warten und mit Blick aufs Wasser ein bisschen entspannen. Ein Reiher fliegt dicht über den Erlen und landet im Schilf. Urlauber sind unterwegs mit dem Rad, auf dem Boot oder gehen nur spazieren. Idyllisches Brandenburg! Dann kommt die Fähre, ein freundliches Hallo vom Fährmann – man kennt sich, wählt nicht immer die gleiche Partei und ist sich doch sympathisch. Muntere Diskussion um viele Themen Im freundlichen Gasthaus sind die ersten schon angekommen, aber noch ist die Runde nicht beschlussfähig, also zuerst Berichte aus Kreis, Land und Bund und meistens eine muntere Diskussion. Im Laufe des Abends werden wir zahlreicher und können uns auch den Beschlussthemen wie Geld, Mitglieder, Sonderbeiträge, Verkehr oder Parteitagsvorbereitung widmen. Es ist wieder spät geworden. Die Fähre fährt nicht mehr und ich fahre die große Runde um den See nach perspektive21

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[ susanne melior ]

Hause. Die Rehe stehen am Straßenrand und schauen irritiert. Sie hatten noch nicht mit der SPD zu tun. Nicht jeder SPD-Unterbezirk tagt am Ufer der Havel und nicht alle müssen eine Fähre passieren. Der Rest ist wohl übertragbar. Um die Beschlussfähigkeit besser zu gewährleisten, wurde hier und da der Vorstand verkleinert. Aber die Fläche ist groß und alle sollen mitgenommen werden. Wenig Mitglieder auf großer Fläche 6.700 Mitglieder hat die Sozialdemokratische Partei Deutschlands in Brandenburg. In den wenigen großen Städten Brandenburg, Cottbus, Frankfurt/ Oder und Potsdam sind knapp 1.200 Sozialdemokraten organisiert. Mit der Kreisgebietsreform sind aus den vormals kleinen Unterbezirken größere, den neuen Kreisgrenzen angepasste Einheiten geworden. Von den ländlichen Unterbezirken ist Prignitz der kleinste mit 150 Mitgliedern und Potsdam-Mittelmark der größte mit über 700 Mitgliedern. Seit 1990 ist die Sozialdemokratische Partei in Brandenburg die regierungstragende Partei auf Landesebene; in den ersten vier Jahren gemeinsam mit der FDP und dem Bündnis 90, von 1994 bis 1999 mit absoluter Mehrheit und seitdem in großer Koalition mit der CDU. Auf der kommu90

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nalen Ebene sieht es ähnlich aus. Die SPD stellt mit einer Ausnahme alle Landräte. In den kreisfreien Städten gibt es zwei christdemokratische Oberbürgermeister, in Cottbus ist die Oberbürgermeisterin ein ehemaliges SPD-Mitglied, die heute parteilos ist. Nur die Landeshauptstadt Potsdam wird von einem Sozialdemokraten den regiert. Wir stellen einschließlich parteiloser Mitstreiter auf unseren kommunalen Listen ca. 1.200 Gemeindevertreter, Stadtverordnete und Kreistagsabgeordnete. Bei den letzten Kommunalwahlen mussten wir herbe Verluste hinnehmen. So sind in PotsdamMittelmark nur noch fünf Bürgermeister und Amtsdirektoren SPD-Mitglied. In einigen Gemeindevertretungen sind ausschließlich parteilose Abgeordnete für die SPD gewählt worden. In anderen SPD-Unterbezirken zeigt sich ein ähnliches Bild. Von der Luxemburg-Demo bis zur Auswanderwelle Verstehen kann die Sozialdemokratie in Brandenburg nur, wer den Blick zurück wagt in das Jahr 1989. Was war das eigentlich, was mich und viele andere vor 15 Jahren umtrieb und die Entscheidung leicht machte, sich in konspirativen Sitzungen mit sozial und demokratisch gesinnten Menschen zu treffen, immer einer von der Staatssicherheit unter uns, die Tren-


[ fliege hoch du roter adler … ]

nung von Kindern und Familie zu riskieren, notfalls Haft in Kauf zu nehmen, die Gründung der SDP vorzubereiten und sich auf den Weg zu begeben? Die Frage wird jede und jeder nur für sich selbst beantworten können. Ich habe sie im September 1989 für mich gemeinsam mit meinem Mann beantwortet. Die erneute Wahlfälschung vom Mai 1989, die Rosa-Luxemburg-Demonstration, der mit Blut getränkte Platz des Himmlischen Friedens in Peking und die noch immer anhaltende Auswanderungswelle, die auch viele unserer engsten Freunde erfasste, ließen uns keine Wahl. Freiheit und Gerechtigkeit Gerade unsere damals noch sehr kleinen Kinder waren unsere stärkste Motivation. Sie sollten nicht in dieser nicht freiheitlich demokratischen Welt aufwachsen, sie sollten kein indoktriniertes Schulsystem erleben und sie sollten nicht der Willkür von selbsternannten Repräsentanten eines Staates ausgesetzt sein. Wir wollten freie und geheime Wahlen, Pressefreiheit und Gewaltenteilung. Und dafür waren wir bereit, sehr viel zu riskieren. Nun hätte ich dafür auch in alle anderen neu entstandenen Gruppierungen eintreten und mich wie viele Hunderttausende z.B. im Neuen

Forum engagieren können. Die klare Analyse sprach dagegen. Meine persönliche Überzeugung war, dass aus dem Sumpf nur ein gerader, geordneter Weg führen konnte, der nicht noch zusätzlich Kraft kostet für unendliche Satzungsdebatten, der auf die Schwesternschaft der West-SPD und ihre Solidarität hoffen durfte, der in den „gewohnten“ Strukturen des demokratischen Deutschlands verläuft und der nichts mit den DDR-Blockparteien in der Nationalen Front zu tun hatte. Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen, sei hinzugefügt, dass der Friedensnobelpreisträger Willy Brandt mit seiner Ostpolitik mein Herz längst erreicht hatte und ich aus einem christlichen Elternhaus kommend, meine Vorstellungen von Freiheit und Gerechtigkeit nur in der Sozialdemokratie verankert sah. Parteigründung am Küchentisch Wie macht man das nun? Wie gründet man eine Partei? Zum Studieren und Nachlesen blieb wenig Zeit. Also Sprung in das kalte Wasser und learning by doing. Die ersten SPD-Ortsvereine im heutigen Potsdam-Mittelmark wurden zu Hause an meinem Küchentisch verabredet. Es gab so genannte Kontaktadressen und ich war eine davon. Alle, die dabei sein wollten, konnten sich dort melden, Inforperspektive21

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mationen bekommen und den Termin für das nächste Treffen erfahren. Noch Ende 1989 wurden die ersten Ortsvereine der SDP gegründet mit fünf oder zehn Mitgliedern und wohnortbezogen, denn es gab weder Versammlungsräume noch Telefone. Die Älteren besannen sich auf ihre Mitgliedschaft in der Vor-Kriegs-SPD oder in Arbeitervereinen und unterstützten mit Zeit und Kraft die ersten Wahlkämpfe. Hilfe kam im Berliner Umland von den Genossen aus den Bezirken, aber auch aus Partnerkreisen und Regionen in den westlichen Bundesländern. Viele dieser Partnerschaften existieren bis heute, auch wenn sie inzwischen nicht mehr so zweckorientiert sind. Zeitung, Sommerfest und Radtour Die Sozialdemokratie in Brandenburg ist 15 Jahre nach ihrer Gründung eine im ländlichen Raum etablierte Partei. Die SPD-Ortsvereine sind von damals zehn bis zwanzig Mitgliedern kaum gewachsen. Im Berlin nahen Raum und in den großen Städten gibt es Zuwachs, oft umzugsbedingt und damit nur als Umverteilung. Hier gibt es regelmäßig Ortsvereinssitzungen, eine eigene Zeitung, aktive Mitglieder, Stadtteilfeste und viele Ideen. Auf dem flachen Land trifft man sich monatlich, manchmal vierteljährlich, aber 92

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auf jeden Fall zu den Neuwahlen des Ortsvereinsvorstandes. Das alljährliche Kegeln, die Radtour oder das Sommerfest sind wichtig. Jeder Wahlkampf ist eine neue Herausforderung und ganz viel hängt von Einzelpersonen ab. Sie sind zum Teil seit 15 Jahren und damit seit der Gründung im Amt. Niemand hat das wirklich gewollt, aber dann ergab es sich so. „Gründungsstöpsel“ nannte sie der frühere Landesvorsitzende und meinte damit vor allem jene, die derart „charismatische“ Persönlichkeiten waren, dass andere im Dorf schon ihretwegen nicht in die SPD eintraten. Pragmatismus siegt (fast immer) Die wichtigsten Themen sind die dörfliche oder städtische Gemeinschaft. Man diskutiert am häufigsten über Abwasser, Baugenehmigungen, öffentlichen Personennahverkehr, Mobilfunkantennen, den Bürgermeister und den Kindergarten. Dabei geht es schon einmal hoch her. Dann wird kurzerhand die Fraktion aufgefordert, der Kreistag oder besser noch gleich der Landtag. Ein Beschluss wird gefasst, die Presse benachrichtigt und der nächste Parteitag garantiert mit dem Problem konfrontiert. Wenn es dann nicht eins zu eins umgesetzt wird, grollt noch ein wenig der Donner über die märkischen Hügel, aber der Prag-


[ fliege hoch du roter adler … ]

matismus siegt fast immer. Und schließlich sind die aktuellen Probleme immer die wichtigsten. In den Wahlkämpfen wächst in den Ortsvereinen das Interesse an landesund bundespolitische Fragen. Kandidatinnen und Kandidaten werden gern als Gäste begrüßt, nach allen Regeln der Kunst ausgequetscht und mit Aufträgen versehen wieder los geschickt. Die Genossen erwarten von ihnen Anwesenheit bei allen wichtigen Ereignissen im Dorf, besonderen Einsatz für den Wahlkreis, Spendenbereitschaft und gute Artikel im Regionalteil. Unser stabilestes Wählerklientel ist noch immer die Melkerin aus der Uckermark. Nur leider gibt es von ihnen immer weniger – erst recht in Potsdam-Mittelmark. Junge Menschen braucht die Partei In den kommenden Jahren werden wir etwa 300 wichtige Positionen in Kommunal-, Landes- und Bundespolitik zu besetzen haben. Und dabei werden wir nicht jünger. Auch wenn wir ein Jahrzehnt unter dem Altersdurchschnitt der ewigen Ost-Partei, die sich neuerdings Linkspartei nennt, liegen, ist es doch wichtig, Menschen – insbesondere junge Menschen - für unsere Ziele und unsere Arbeit zu gewinnen. Das gemeinsam von Juso-Bundesvorstand und der Arbeitsgemeinschaft

sozialdemokratischer Frauen ins Leben gerufene Mentoringprogramm („alte Häsin“ betreut junge SPD-Frau) ist dabei ein wichtiges Instrument. Gerade jungen Frauen fällt es oft schwer, sich in den noch immer männerdominierten Kommunalvertretungen zurecht zu finden, ihren Weg in der Partei zu suchen und Lust auf die Übernahme von Funktionen zu bekommen. Auf der kommunalen Ebene sind die Sozialdemokratische Gemeinschaft für Kommunalpolitik (SGK) und die FriedrichEbert-Stiftung wichtige Partner. Sie bieten zu den verschiedensten Themen Seminare und workshops an, die auch von Noch-Nicht-Mitgliedern genutzt werden können. Erst schnuppern, dann Mitglied werden Die SPD hat in Brandenburg einen Organisationsgrad (dem Verhältnis von wahlberechtigten Bürgern zu Mitgliedern) von 0,32 Prozent. Das ist zwar der höchste Wert in den neuen Bundesländern, jedoch liegen die alten Bundesländer wesentlich höher. Ihr Spitzenreiter ist das Saarland mit 3,39 Prozent. Das ist mehr als das Zehnfache! Im Bundestagswahlkampf 2005 gab es auch erfreuliche Nebenwirkungen, u.a. allein in Potsdam-Mittelmark 15 Neueintritte, wobei der Altersdurchschnitt bei 25 Jahren lag. Immerhin! Auf absehbare Zeit werden perspektive21

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[ susanne melior ]

wir dennoch auf parteilose Mitstreiter angewiesen sein, die unsere Arbeit vor allem auf der kommunalpolitischen Ebene mittragen. Ich sehe darin auch eine Chance, möglichst viele Menschen zu erreichen, den Kontakt aus den Parteiebenen zu den Bürgerinnen und Bürgern zu gewährleisten und neue Mitglieder zu gewinnen. Meines Erachtens hilft uns hier die auf dem Karlsruher Parteitag beschlossene „Schnuppermitgliedschaft“. Interessierte Bürgerinnen und Bürger können für ein Jahr Gastmitglieder sein, ohne formell Mitglied der SPD zu werden. Damit ist die Zutrittsschwelle erheblich gesenkt. An uns liegt es dann, ob diesen Gastmitgliedern die Mitarbeit in der Partei so attraktiv erscheint, dass sie bleiben möchten. Mehr Bürgerdialog für mehr Vertrauen Jeder Mensch neigt dazu, Veränderungen, deren Sinn und Auswirkungen er nicht beurteilen kann, mit Misstrauen oder Angst zu begegnen. Wenn es gut geht, suchen Menschen dann nach Antworten. Der normale Sterbliche verfügt über ein begrenztes Zeitkontingent hierfür und bezieht daher sein politisches Wissen vorwiegend aus den Medien. Hierbei ist er zum einen der Auswahl ausgesetzt, was angeboten wird und andererseits, was er oder sie aus diesem Angebot auswählt. In der 94

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Regel ist dieser Informationsweg weder umfassend noch differenziert und vor allem ist er eine Einbahnstraße – kein Raum für Probleme, Fragen, Kritik. Programm für das neue Jahrtausend Hier sehe ich eine große Chance für die SPD vor Ort. Sie kann und muss einen Bürgerdialog organisieren, der sich bemüht, sprachliche „Monster“ wie demographische Veränderungen, Globalisierung, dem Übergang zur Wissensgesellschaft in den Alltag zu übersetzen, Möglichkeiten und Gefährdungen konkret zu erläutern und vor allem zu zeigen, dass wir längst nicht so hilflos sind, wie wir manchmal glauben. Wissen und Vertrauen in die eigene Kraft kann manchen dicken Stein bewegen. In den gerade erst begonnenen Zeiten der Großen Koalition auf Bundesebene muss uns gemeinsam ein schwieriger Spagat gelingen, der zugleich auch eine große Chance ist. Die SPD muss sich als Partei neu formieren, zukunftsfit werden und als Mitgliederpartei an Attraktivität gewinnen. Zugleich müssen wir den gesellschaftspolitischen Herausforderungen gerecht werden, ein zuverlässiger Partner in Regierung und Parlament sein und den eigenen Stempel, der zuallererst mehr soziale Gerechtigkeit heißt, aufdrücken. Ganz wichtig dafür ist eine Fortsetzung un-


[ fliege hoch du roter adler … ]

serer Programmdebatte, die die Gesamtpartei in Ost und West mitnimmt, die verschiedenen Strömungen zusammenführt und der SPD ein Programm für das neue Jahrtausend gibt. Die Diskussion bietet viele Möglichkeiten, Mitglieder wieder stärker einzubeziehen, 15 Jahre Erfahrung mit der Deutschen Einheit auszuwerten und Menschen für die Sozialdemokratische Partei Deutschlands zu gewinnen. Für uns in Brandenburg ist die programmatische Diskussion jetzt, wo wir mit

Matthias Platzeck den Bundesvorsitzenden stellen, eine ganz besondere Chance. Wir haben ein „Schwergewicht“, dass uns bei der Umsetzung unserer Ideen und Wünsche hilft. Wenn die SPD in Brandenburg alle Chancen nutzt, in ihrer Wählerschaft fest verankert bleibt, man sich gegenseitig aufeinander verlassen kann, glaubhafte und Vertrauen schaffende Persönlichkeiten die Sozialdemokratie repräsentieren, wird der Rote Adler auch weiterhin hoch fliegen. L

SUSANNE MELIOR

ist Landtagsabgeordnete in Brandenburg und Vorsitzende des SPD-Unterbezirks Potsdam-Mittelmark perspektive21

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Wissenschaftsforum der Sozialdemokratie in Berlin, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern e.V. In Trauer, freundschaftlicher Erinnerung und großer Dankbarkeit nehmen wir Abschied von unserem Vorstandsmitglied

Dr. Ing. Klaus-Dietrich Krüger * 26.10.1936

† 06.10.2005

Dr. Klaus-Dietrich Krüger hat nach 1990 die Arbeitsgemeinschaft Wissenschaft und Hochschulen in der Ost-SPD, später die Projektgruppe Wissenschaft im Wissenschaftsforum der Sozialdemokratie sowie nach 2000 das Wissenschaftsforum der Sozialdemokratie in Berlin, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern e.V. mitgegründet. Fast 15 Jahre lang hat er auch in diesem Rahmen die sozialdemokratische Wissenschaftspolitik programmatisch mitgestaltet und dazu beigetragen, die Hochschul- und Forschungslandschaft im Osten Deutschlands zu erhalten und weiterzuentwickeln. Von 1990 bis 1999 war Dr. Klaus-Dietrich Krüger Mitglied des Landtags Brandenburg und Vorsitzender des Wissenschafts- und Forschungsausschusses im Landtag. In der wichtigen Neugründungsphase hat er im Parlament Weichen für den Auf- und Ausbau der Wissenschaftseinrichtungen im Land Brandenburg gestellt. Wesentlichen Anteil hatte er an der nahezu einmütigen Verabschiedung des ersten Hochschulgesetzes im Land Brandenburg, an der Sicherung der notwendigen Aufbaumittel vor allem für die Hochschulen durch die Haushaltsgesetzgebung und an weiteren wissenschaftspolitischen Strukturentscheidungen. Auf seine Initiative geht zum Beispiel eine mit großer Mehrheit gefasste Entschließung der SPD-Landtagsfraktion zurück, mit der das Finanzministerium gebeten wurde, der in Gründung befindlichen Europa-Universität ihr späteres Hauptgebäude zur Verfügung zu stellen. Vor dem Hintergrund regionaler und überregionaler Widerstände wäre der Aufbau der Universität ohne diese Entscheidung in der ersten Legislaturperiode des neuen Landtags gefährdet gewesen. Dr. Klaus-Dietrich Krüger war für seine Zurückhaltung, aber auch für die Entschiedenheit und Konsequenz bekannt, mit denen er wissenschaftspolitische Ziele verfolgte. Er stand mehr für Gestaltung als für Repräsentation – und damit in vielem für die neue ostdeutsche Politikergeneration nach 1990. Wir werden ihn nicht vergessen.

Die Mitglieder des Vorstands Tilo Braune

Klaus Faber

Andrea Wicklein

Staatssekretär a.D., 1. Vorsitzender

Staatssekretär a.D., Rechtsanwalt, Geschäftsführender Vorsitzender

MdB

Dr. Bert Flemming

Dr. Annette Fugmann-Heesing

MdA

Senatorin a.D., MdA, Vorsitzende des Wissenschaftsausschusses im Abgeordnetenhaus Berlin

Dr. Klaus Lommatzsch

Prof. Dr. Bernd Müller-Röber Universität Potsdam

PD Dr. Andela Zander

Dr. Klaus-Jürgen Scherer

Universität Greifswald

Geschführer Kulturforum, 1990-1999 Geschfäftsführer Wissenschaftsforum der Sozialdemokratie


Das Debattenmagazin Wieviel Einspruch verträgt der Mainstream? Heute regieren die 68er – aber was kommt, wenn sie fertig haben? Die Berliner Republik ist der Ort für eine neue politische Generation: undogmatisch, pragmatisch, progressiv. Weil jede Zeit ihre eigenen Antworten braucht.

Bezug der bereits erschienenen Hefte möglich

www.b-republik.de

Die Berliner Republik erscheint alle zwei Monate. Sie ist zum Preis von 5,- EUR im Zeitschriftenhandel erhältlich oder im Abonnement zu beziehen: als Jahresabo zum Preis von 30,- EUR als Studentenjahresabo zum Preis von 25,- EUR

Jetzt Probeheft bestellen: Telefon 030/255 94-130, Telefax 030/255 94-199, E-Mail vertrieb@b-republik.de


HEFT 28 DEZEMBER 2005 www.perspektive21.de

SPD-Landesverband Brandenburg, Friedrich-Ebert-Straße 61, 14469 Potsdam PVST, DPAG, Entgelt bezahlt, A47550

BRANDENBURGISCHE HEFTE FÜR WISSENSCHAFT UND POLITIK

Seit 1997 erscheint „perspektive 21 – Brandenburgische Hefte für Wissenschaft & Politik“. Wenn Sie Interesse an bisher erschienenen Ausgaben haben, können Sie ältere Exemplare auf unserer Homepage www.perspektive21.de als pdf-Datei herunterladen.

Die neue SPD

Zur Zeit sind folgende Titel lieferbar: Heft 13 Kräfteverhältnisse – Brandenburgisches Parteiensystem Heft 14 Brandenburgische Identitäten Heft 15 Der Islam und der Westen Heft 16 Bilanz – Vier Jahre sozialdemokratisch-bündnisgrünes Reformprojekt Heft 17 Ende der Nachwendezeit. PDS am Ende? Heft 18 Der Osten und die Berliner Republik Heft 19 Trampolin oder Hängematte? Die Modernisierung des Sozialstaates. Heft 20 Der Letzte macht das Licht aus?! Heft 21/22 Entscheidung im Osten: Innovation oder Niedriglohn? Heft 23 Kinder? Kinder! Heft 24 Von Finnland lernen?! Heft 25 Erneuerung aus eigener Kraft Heft 26 Ohne Moos nix los? Heft 27 Was nun, Deutschland?

Die neue SPD MATTHIAS PLATZECK HUBERTUS HEIL

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: Erfolg dank Erneuerung

MICHAEL MIEBACH KLAUS FABER

: Die zupackende SPD

: Vorwärts!

MARTIN GORHOLT

HEFT 28 DEZEMBER 2005

Einzelne Exemplare von bisher erschienenen Ausgaben schicken wir Ihnen gerne auch auf Wunsch kostenlos zu. Senden sie uns bitte eine E-Mail an perspektive-21@spd.de.

DER WEG DER SOZIALDEMOKRATIE NACH DEN WAHLEN

: Plädoyer für ehliche Ursachenforschung

: Rot-grüne Bilanzen und deutsche Umbrüche

WOLFGANG SCHROEDER TOBIAS DÜRR

: Zwei schwierige Partner

: Der Pol der Beharrung

THOMAS KRALINSKI SUSANNE MELIOR

: Die (neue) Mitte im Osten?

: Fliege hoch du Roter Adler


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