perspektive21 - Heft 32

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HEFT 32 OKTOBER 2006 www.perspektive21.de

SPD-Landesverband Brandenburg, Alleestraße 9, 14469 Potsdam PVST, DPAG, Entgelt bezahlt, A47550

BRANDENBURGISCHE HEFTE FÜR WISSENSCHAFT UND POLITIK

Seit 1997 erscheint „perspektive 21 – Brandenburgische Hefte für Wissenschaft & Politik“. Wenn Sie Interesse an bisher erschienenen Ausgaben haben, können Sie ältere Exemplare auf unserer Homepage www.perspektive21.de als pdf-Datei herunterladen.

Auf dem Weg ins 21. Jahrhundert ERARDO UND KATRIN RAUTENBERG TOBIAS DÜRR

GÜNTHER BAASKE MANN

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: Was geschah in Halbe?

: Tafelsilber und Lebenslügen

MATTHIAS PLATZECK

HEFT 32 OKTOBER 2006

Zur Zeit sind folgende Titel lieferbar: Heft 14 Brandenburgische Identitäten Heft 15 Der Islam und der Westen Heft 16 Bilanz – Vier Jahre sozialdemokratisch-bündnisgrünes Reformprojekt Heft 17 Ende der Nachwendezeit. PDS am Ende? Heft 18 Der Osten und die Berliner Republik Heft 19 Trampolin oder Hängematte? Die Modernisierung des Sozialstaates. Heft 20 Der Letzte macht das Licht aus?! Heft 21/22 Entscheidung im Osten: Innovation oder Niedriglohn? Heft 23 Kinder? Kinder! Heft 24 Von Finnland lernen?! Heft 25 Erneuerung aus eigener Kraft Heft 26 Ohne Moos nix los? Heft 27 Was nun, Deutschland? Die neue SPD Heft 28 Zukunft: Wissen. Heft 29 Heft 30 Chancen für Regionen Investitionen in Köpfe Heft 31

Auf dem Weg ins 21. Jahrhundert

DAS NEUE GRUNDSATZPROGRAMM DER SPD Einzelne Exemplare von bisher erschienenen Ausgaben schicken wir Ihnen gerne auch auf Wunsch kostenlos zu. Senden sie uns bitte eine E-Mail an perspektive-21@spd.de.

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: Wir leben in einer neuen Welt

KATRIN BUDDE

CORNELIUS WEISS

HUBERTUS SCHMOLDT GESINE SCHWAN

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CHRISTOPH MATSCHIE

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MICHAEL MÜLLER

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: Neues Miteinander

ULRICH FREESE

: Flexibilität braucht Sicherheit

: Freiheit, Gleichheit und Solidarität

PATRICK DIAMOND

: Für eine neue soziale Gerechtigkeit

GØSTA ESPING ANDERSEN

VOLKER SCHLOT-

: Gute Rentenpolitik fängt mit Babys an


Das Debattenmagazin Wieviel Einspruch verträgt der Mainstream? Heute regieren die 68er – aber was kommt, wenn sie fertig haben? Die Berliner Republik ist der Ort für eine neue politische Generation: undogmatisch, pragmatisch, progressiv. Weil jede Zeit ihre eigenen Antworten braucht.

Bezug der bereits erschienenen Hefte möglich

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Die Berliner Republik erscheint alle zwei Monate. Sie ist zum Preis von 5,– EUR inkl. MwSt. zzgl. Versandkosten als Einzelheft erhältlich oder im Abonnement zu beziehen: Jahresabo 30,– EUR; Studentenjahresabo 25,– EUR Jetzt Probeheft bestellen: Telefon 0 30/2 55 94-130, Telefax 0 30/2 55 94-199, E-Mail vertrieb@b-republik.de


[ vorwort ]

Auf dem Weg ins 21. Jahrhundert n Zeiten, die von einem ökonomischen und politischen Gezeitenwechsel geprägt werden, sind politische Grundsatzdebatten unabdingbar. Keine Partei hat das in den vergangenen Jahren stärker erfahren als die SPD. Als sie 1998 die Bundestagswahl gewann, war relativ schnell zu merken, dass sie zu wenig Antworten hatte auf die nach 1989 eingetretenen Veränderungen: die deutsche Einheit, die beschleunigte Globalisierung, der Weg zu einer wissensbasierten Ökonomie, die neu entstehenden Spaltungslinien innerhalb der Gesellschaft. Gerhard Schröders Initiativen zur programmatischen Erneuerung der Partei – wie etwa das Schröder/Blair-Papier – lösten in der Partei Abwehrreaktionen aus oder waren – wie die Agenda 2010 – technokratisch und gefühllos. Spätestens aber mit der Agenda 2010 gab es innerhalb der SPD einen Bruch zwischen programmatischer Analyse und politischer Praxis. Das hält keine Partei lange aus. Dieser Bruch hat entscheidend zu den Wahlniederlagen in den Jahren 2003 bis 2005 beigetragen. Nach der Bildung der Großen Koalition im Bund nahm darum der damalige SPDVorsitzende Matthias Platzeck die Arbeit an einem neuen Grundsatzprogramm mit Hochdruck auf und legte Leitsätze für ein Grundsatzprogramm vor, die bis heute die Diskussion prägen. Sein Begriff des „vorsorgenden Sozialstaates“ ist von Kurt Beck bewusst übernommen worden. Im Interview mit Perspektive 21 äußert sich Matthias Platzeck das erste Mal seit seinem Ausscheiden aus dem Amt des Parteivorsitzenden zu dieser Debatte. Platzecks Stimme wird auch in den kommenden Monaten bei der innerparteilichen Debatte zu diesem Thema ein entscheidendes Gewicht haben. Am 18. November 2006 wollen wieder etwa 2.000 Nazis aus ganz Deutschland in Halbe aufmarschieren. Ihr Ziel ist es, Geschichte im Sinne ihrer rechtsextremistischen Ideologie umzuinterpretieren. Viele demokratische Parteien und andere Gruppen wollen mit einem „Tag der Demokraten“ ein deutliches Zeichen gegen den Aufmarsch und den wachsenden Rechtsextremismus setzen. Brandenburg Generalstaatsanwalt Erardo Rautenberg schildert in dieser Ausgabe, was sich in den letzten Kriegstagen in und um Halbe wirklich ereignet hat. Ein lesenswerter Beitrag, weil er ein wirksames Gegengift gegen alle Legendenbildung der Nazis ist.

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KLAUS NESS perspektive21

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[ impressum ]

HERAUSGEBER

J SPD-Landesverband Brandenburg J Wissenschaftsforum der Sozialdemokratie in Berlin, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern e.V. REDAKTION

Klaus Ness (V.i.S.d.P.), Thomas Kralinski (Chefredakteur), Ingo Decker, Dr. Tobias Dürr, Klaus Faber, Tina Fischer, Klara Geywitz, Lars Krumrey, Christian Maaß, Till Meyer, Michael Miebach, Dr. Manja Orlowski ANSCHRIFT

Alleestraße 9 14469 Potsdam Telefon: 0331/73 09 80 00 Telefax: 0331/73 09 80 60 E-MAIL

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[ inhalt ]

Auf dem Weg ins 21. Jahrhundert DAS NEUE GRUNDSATZPROGRAMM DER SPD MAGAZIN

— : Was geschah in Halbe? . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Die Rechtsextremisten und die Herausforderung für die Demokraten ERARDO UND KATRIN RAUTENBERG

: Tafelsilber und Lebenslügen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 Über die Ursachen der schweren Krise und der Richtungsdebatte in der CDU TOBIAS DÜRR

THEMA

— : Wir leben in einer neuen Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 Über seine Zeit als SPD-Vorsitzender und das Grundsatzprogramm MATTHIAS PLATZECK

| MICHAEL MÜLLER | : Neues Miteinander . . . . . . . . . . . . . 39 Eine Intervention aus Ostdeutschland zum neuen Grundsatzprogramm der SPD GÜNTHER BAASKE

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KATRIN BUDDE

VOLKER SCHLOTMANN

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CHRISTOPH MATSCHIE

CORNELIUS WEISS

| ULRICH FREESE : Flexibilität braucht Sicherheit . . . . . . 45 Das Modell Deutschland muss zum politischen Raum Europa entwickelt werden HUBERTUS SCHMOLDT

: Freiheit, Gleichheit und Solidarität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 Das neue Programm als Ausgleich zwischen Zivilgesellschaft und Unternehmen GESINE SCHWAN

: Für eine neue soziale Gerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 Ziele des europäischen Wohlfahrtsstaats im 21. Jahrhundert PATRICK DIAMOND

: Gute Rentenpolitik fängt mit Babys an . . . . . . . . . 73 Welchen Wohlfahrtsstaat brauchen wir? GØSTA ESPING ANDERSEN

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Was geschah in Halbe? DIE RECHTSEXTREMISTEN UND DIE HERAUSFORDERUNG FÜR DIE DEMOKRATEN VON ERARDO UND KATRIN RAUTENBERG

„Die neue Regierungskoalition ist sich einig, dass der Bekämpfung des Rechtsextremismus in Brandenburg herausragende Bedeutung zukommt. Der Rechtsextremismus ist eine Gefahr auch für unser Land. Er schadet unserem Land und dem Wirtschaftsstandort Brandenburg. Mit einer offenen, freiheitlichen und demokratischen Gesellschaft sind solche Tendenzen völlig unvereinbar. Sie dürfen und sie werden in der Mitte der Brandenburger Gesellschaft keinen Platz finden. Die Brandenburger Regierung hat in der Vergangenheit mit ihrer Strategie der Repression rechtsextremistischer Tendenzen beträchtliche Erfolge erzielt. Diesen Kurs werden wir entschlossen fortsetzen. Zugleich aber werden wir die gezielte Jugendarbeit verstärken und die politische Aufklärung intensivieren, um alle gesellschaftlichen Abwehrkräfte gegen Intoleranz, Extremismus, Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus und Rassismus zu mobilisieren.“ So heißt es in der Regierungserklärung von Ministerpräsident Matthias Platzeck am 27. Oktober 2004. Diese Regierungserklärung bedeutet vor allem, dass die schon seit vielen Jahren anhaltende konsequente Verfolgung rechtsextremistischer Straftaten im Land Brandenburg unvermindert fortgesetzt wird und alle Möglichkeiten der Prävention ausgeschöpft werden. Nicht vernachlässigt wird auch die Ursachenforschung, die zurzeit das Institut für angewandte Familien-, Kindheits-, Jugendforschung bei der Universität Potsdam (IFK) auf der Grundlage einer seit 1998 bei der Generalstaatsanwaltschaft Brandenburg geführten Auflistung von personenbezogenen Gewalttaten mit rechtsextremistischer, fremdenfeindlicher oder antisemitischer Motivation betreibt. Das Ergebnis dieses wichtigen Forschungsvorhabens wird helfen, die Repression und Prävention in diesem Bereich weiter zu optimieren. Brandenburg wird zudem wie bisher jede Möglichkeit nutzen, um rechtsextremistische Vereinigungen („Kameradschaften“) zu verbieten. Allerdings muss beachtet werden, dass der Staat bei der Verfolgung von Extremisten deren Grundrechte, die diese ihren Gegnern selbst nicht zubilligen, und die Gesetze penibel einzuhalten hat. Denn mit jeder

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[ erardo und katrin rautenberg ]

Grenzüberschreitung wird nicht nur die rechtsstaatliche Grundordnung, die ja gerade verteidigt werden soll, verletzt, sondern man treibt auch – und das ist eine große Gefahr – Sympathisanten dem harten Kern zu. Mit staatlichen Maßnahmen allein vermag jedoch das Phänomen des Rechtsextremismus nicht wirksam bekämpft werden. Hierzu bedarf es vielmehr einer gesamtgesellschaftlichen Anstrengung. Brandenburg hat damit bereits Anfang 1997 mit der Gründung des „Aktionsbündnisses gegen Gewalt, Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit“ begonnen. 1998 hat die Landesregierung das Handlungskonzept „Tolerantes Brandenburg“ beschlossen. Durch intensive Vernetzung und Kooperation aller staatlichen und nichtstaatlichen Stellen sowie bürgergesellschaftlichen Akteure soll eine starke, lebendige Demokratie und Zivilgesellschaft erreicht werden. Kein anderes Bundesland hat sich früher als Brandenburg zu dem Problem des Rechtsextremismus offen bekannt und die erforderlichen Gegenmaßnahmen ergriffen. Erfolge sind bereits festzustellen. Nach dem Ergebnis der Zeitreihenstudie „Jugend in Brandenburg 2005“ des IFK ist im Zeitraum von 1999 bis 2005 die Verbreitung von Rechtsextremismus und Ausländerfeindlichkeit gesunken. Zudem hat die Bereitschaft der Jugendlichen „deutlich zugenommen“, eine „Verantwortung gegenüber der Ermordung von Juden im Dritten Reich einzugestehen“. Auch hat die Mobilisierung der zuvor „schweigenden Mehrheit“ dazu geführt, dass die Rechtsextremisten sich nicht mehr in dem Ausmaß, wie dies früher der Fall war, trauen, ihre menschenverachtende Gesinnung durch dreistes Auftreten im öffentlichen Raum zu bekennen und so dafür bei jungen Menschen zu werben. Halbe ist zum Wallfahrtsort geworden Die „Gegenöffentlichkeit“, die vor zehn Jahren noch nicht vorhanden war, ist also in Brandenburg inzwischen hergestellt worden und zeigt Wirkung. Damit sind die Rechtsextremen auf verdecktes Agieren unter bürgerlichem Anschein zurückgedrängt worden, was allerdings auch Gefahren birgt. Das öffentliche Bekenntnis zu ihrer Ideologie erfolgt in der Regel nur noch auf Großkundgebungen, wo sich die Rechtsextremisten auf das Grundrecht der Demonstrationsfreiheit berufen und deshalb staatlichen Schutz in Anspruch nehmen können. Der Waldfriedhof im brandenburgischen Halbe als größter deutscher Soldatenfriedhof in Deutschland ist zu einem „Wallfahrtsort“ für die Rechtsextremisten der Bundesrepublik geworden. Eine ähnliche Bedeutung haben für sie allenfalls noch Aufmärsche in Dresden am 13. Februar, dem Tag der Zerstörung der Stadt durch alliierte Bomber im Jahr 1945. Der bayrische Ort Wunsiedel, in dem der 6

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[ was geschah in halbe? ]

frühere Hitler-Stellvertreter Rudolf Heß bestattet ist, steht ihnen für Großkundgebungen nicht mehr zur Verfügung, weil Versammlungsverbote auf die 2005 neu in das Strafgesetzbuch eingefügte – vom Bundesverfassungsgericht derzeit aber überprüfte – Vorschrift des § 130 Abs. 4 Strafgesetzbuch gestützt werden. Ein auf diese Modalität der „Volksverhetzung“ gestütztes Versammlungsverbot wäre für Halbe hingegen nur möglich, wenn der Nachweis einer nationalsozialistischen Traditionspflege gelänge. Die Würdigung von angeblichen Heldentaten der Wehrmacht oder der Waffen-SS wird aber noch nicht als Verherrlichung, Billigung oder Rechtfertigung der „nationalsozialistischen Gewalt- und Willkürherrschaft“ im Sinne von § 130 Abs. 4 StGB angesehen und dementsprechend haben die Rechtsextremisten ihre bisherigen Versammlungen in Halbe verharmlosend als „Ehrenbekundungen für die dort begrabenen deutschen Gefallenen“ deklariert. Am 29. August 2006 hat die Landesregierung die Einbringung eines Gesetzes zur Novellierung des Versammlungsgesetzes, für das nach der Föderalismusreform seit dem 1. September 2006 die Länder zuständig sind, beschlossen. Danach sollen öffentliche Versammlungen und Aufzüge auf Grabstätten sowie in deren „unmittelbarer und engen räumlichen Nähe“ verboten sein. Ob man damit künftige rechtsextremistische Aufmärsche in der Nähe des Friedhofs in Halbe wird unterbinden können, erscheint zweifelhaft, zumal das im Mai 2005 mit gleicher Intention verabschiedete brandenburgische Gräbergesetz vom brandenburgischen Oberverwaltungsgericht wenige Wochen später wegen Verstoßes gegen das Grundrecht der Versammlungsfreiheit kassiert wurde. Auf jeden Fall wird man rechtlich nicht verhindern können, dass die Rechtsextremisten den Soldatenfriedhof in Halbe weiterhin für ihre propagandistischen Zwecke missbrauchen, sei es nun auf Demonstrationen in der Nähe oder in einiger Entfernung zu den Grabstätten oder aber in den Medien. Dem muss durch Aufklärung der Öffentlichkeit über die Hintergründe der „Kesselschlacht von Halbe“ entgegengewirkt werden. Am 16. April 1945 begann der Großangriff der Roten Armee an der Oderfront mit dem Ziel der Eroberung Berlins, während sich amerikanische und britische Truppen bereits der Elbe näherten. Der Roten Armee gelang es nach schweren Kämpfen die deutsche Front an mehreren Stellen zu durchbrechen und am 25. April 1945 die Zange um Berlin zu schließen. Währenddessen wurden große Teile der 9. Armee unter dem Oberbefehl von General Busse und Teile der 4. Panzerarmee mit einer Stärke von etwa 200.000 Mann in einem riesigen Kessel im Bereich Halbe/Lübben eingeschlossen.

II.

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[ erardo und katrin rautenberg ]

Hitler hatte zwischenzeitlich den Entschluss gefasst, in Berlin zu bleiben und verfolgte zunächst den völlig unrealistischen Plan, eine neue Front ostwärts der Stadt aufzubauen. Dann verlangte er, die Einschließung der Reichshauptstadt aufzubrechen. Zu diesem Zweck sollte die erst vor kurzem aufgestellte 12. Armee unter General Wenck von der Elbe aus vorrücken, sich mit der 9. Armee im Süden von Berlin vereinigen, um von dort aus die Reichshauptstadt freizukämpfen. Der Grundstock dieser Armee bestand aus 15- und 16-Jährigen, die aus dem Reichsarbeitsdienst rekrutiert worden waren und nur eine kurze militärische Ausbildung erhalten hatten. Von Norden aus sollte die Armeeabteilung des Generals der Waffen-SS Steiner nach Berlin vorstoßen. Obwohl Steiner am 22. April die Ausführung dieses Befehls Hitlers telefonisch als „undurchführbar und sinnlos“ ablehnte, weil die Rote Armee bereits in Oranienburg eingedrungen war, erfolgte am folgenden Tage ein halbherziger Angriff nach Süden, der bald abgebrochen werden musste. 60.000 Opfer kurz vor Ende des Krieges Auch General Wenck hielt es für unmöglich, den Befehl Hitlers auszuführen, ohne dies allerdings dem Generalstab mitzuteilen. Er plante vielmehr, sich mit den von der Roten Armee eingeschlossenen Resten der 9. Armee entsprechend der Befehlslage zu vereinigen, sich dann aber an der Elbe den dort – an der Grenze zur künftigen sowjetischen Besatzungszone – verharrenden amerikanischen Truppen zu ergeben. Da General Busse ebenfalls diesen Plan verfolgte, lehnte er ein Angebot der Roten Armee zur Kapitulation seiner Truppen ab. Nach mehreren fehlgeschlagenen Versuchen und hohen Verlusten gelang bis zum 1. Mai etwa 25.000 deutschen Soldaten und etwa 5.000 Zivilisten 1 mit General Busse an der Spitze der Ausbruch aus dem nach Westen gewanderten Kessel südlich von Beelitz und die Vereinigung mit Teilen der 12. Armee. Während sich die deutschen Soldaten an der Elbe den Amerikanern ergeben konnten, erlaubten die getroffenen Kapitulationsbedingungen den Zivilisten den Übergang an das westliche Elbufer nicht. Dennoch gelang dies einer unbekannten Zahl mit Hilfe der deutschen Soldaten und unter Duldung der Amerikaner. Dem größten Teil der im Kessel von Halbe befindlichen Truppen war der Aus1 Die Angaben in der Literatur über die Zahl der aus dem Kessel durchgebrochenen Menschen weichen erheblich voneinander ab. Gefolgt wird hier der Schätzung, die auch Richard Lakowski, der sich am intensivsten mit der Thematik befasst haben dürfte, in seiner Monographie über den Kessel von Halbe vertritt.

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bruch jedoch nicht gelungen. Etwa 120.000 deutsche Soldaten gerieten nach den Kämpfen im Südosten von Berlin in sowjetische Gefangenschaft. Der Kampf um den Ausbruch aus dem Kessel von Halbe kostete 20.000 Rotarmisten, 30.000 deutschen Soldaten und 10.000 deutschen Zivilisten das Leben. Die deutschen Opfer wurden bis Juli 1945 von Einwohnern der Ortschaften Märkisch-Buchholz und Halbe, deutschen Kriegsgefangenen und sowjetischen Soldaten in den Wäldern, auf den Feldern, an den Wegerändern und sogar in den Gärten der Dorfbevölkerung notdürftig begraben. Vor allem dem Pfarrer Ernst Teichmann (1906 - 1983) ist es zu verdanken, dass die Regierung der DDR im Jahr 1951 die Genehmigung für den Bau eines zentralen Waldfriedhofs in Halbe erteilte. Hier werden bis zum heutigen Tag die auf dem Gelände des früheren Kessels aufgefundenen sterblichen Überreste der deutschen Opfer nach Abschluss von Identifizierungsmaßnahmen bestattet – insgesamt bisher über 23.000. In aller Heimlichkeit und unter Aufsicht des MfS wurden auf den Friedhof in Halbe von März bis Mai 1952 auch 4.620 Opfer des von April 1945 bis zum Februar 1947 bestandenen sowjetischen Speziallagers Nr. 5 des sowjetischen Geheimdienstes in Ketschendorf umgebettet, die zuvor in Massengräbern zwischen dem Lager und der nahe gelegenen Autobahn verscharrt worden waren. „Trauernde“ auf dem Friedhof In Halbe begraben liegen zudem 55 von der deutschen Militärjustiz als „Wehrkraftzersetzer“ verurteilte und hingerichtete deutsche Soldaten sowie 37 1944/ 1945 verstorbene sowjetische Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter aus den umliegenden Gemeinden. Am 22. Juli 2001, 60 Jahre nach dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion und 50 Jahre nach dem Beginn der Bauarbeiten für den zentralen Friedhof in Halbe, trafen sich Überlebende der Kesselschlacht aus Russland, der Ukraine, Belarus und Deutschland. Sie enthüllten auf dem Friedhof einen Abguss der Skulptur „Trauernde“ des russischen Bildhauers Sergej Schtscherbakow, die im Original auf dem russischen Soldatenfriedhof Rossoschka steht. Wesentlichen Anteil an dieser Geste der Versöhnung hatten der damalige erste Vorsitzende des „Förderkreises Gedenkstätte Halbe e. V.“, Edwin Rapp, und der damalige Vizepräsident des Komitees der russischen Kriegsveteranen, Nicolai Quvaiski, die bei einem Treffen 1998 festgestellt hatten, dass beide im Kessel von Halbe gekämpft und Quvaiski den gefangen genommenen Rapp verhört und verbunden hatte. perspektive21

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Im Jahr 2001 hat der „Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e. V.“ die Instandhaltung und Pflege des Waldfriedhofs Halbe übernommen. Seine Satzung verpflichtet ihn das Gedenken an die Opfer von Krieg und Gewalt zu wahren, Frieden unter den Völkern zu halten und die Würde des Menschen zu achten. Dementsprechend verfolgt der Volksbund als Ziel, den Waldfriedhof in Halbe als Ort der Erinnerung, der Mahnung und der Versöhnung zu gestalten. Dabei legt er besonderes Gewicht auf die unter dem Motto „Versöhnung über den Gräbern – Arbeit für den Frieden“ stehende Jugendarbeit. Für die Rechtsextremisten ist die Ehrung der gefallenen deutschen Soldaten des Zweiten Weltkrieges ein wesentlicher Teil ihrer Ideologie. Sie nutzen hierfür zum einen den „Volkstrauertag“ 2, der in der Bundesrepublik seit 1952 zwei Sonntage vor dem 1. Advent und bereits in der Weimarer Republik auf Vorschlag des „Volksbundes Deutscher Kriegsgräberfürsorge“ als Gedenktag für die gefallenen deutschen Soldaten des Ersten Weltkrieges am 5. Sonntag vor Ostern (Reminiscere) stattfand. Die Nationalsozialisten benannten ihn 1934 in „Heldengedenktag“ um, erhoben ihn zum Staatsfeiertag und entzogen dem „Volksbund“ die Zuständigkeit für seine Ausgestaltung. Folglich stand nun nicht mehr das christlich geprägte Totengedenken im Mittelpunkt sondern Heldentum, Opferwille und Kampfbereitschaft. Mit Erlass Hitlers vom 25. Februar 1939 wurde der „Heldengedenktag“ auf den 16. März als Jahrestag der 1935 erfolgten Wiedereinführung der Allgemeinen Wehrpflicht verlegt. Sofern dieser Tag nicht auf einen Sonntag fiel, sollte der „Heldengedenktag“ am Sonntag vor dem 16. März begangen werden. Damit war der christliche Bezug vollständig gelöst und der „Heldengedenktag“ zu einem nationalsozialistischen Feiertag geworden, dessen Zweck offiziell wie folgt zum Ausdruck gebracht wurde: „Die Feiern zum Heldengedenktag sollen nicht im Zeichen der Trauer stehen, sondern Ausdruck der Stärke und des unbändigen Siegeswillens des Deutschen Volkes sein. Unser Heldengedenken an diesem Tage soll weniger vom Tode unserer Gefallenen, als mehr von der Größe ihrer Leistungen und ihrer Opfer zeugen.“ 3 Diese Tradition haben die Rechtsextremisten fortgeführt, indem sie seit 2001 jeweils am Sonnabend vor dem Volkstrauertag Aufmärsche am Waldfriedhof von Halbe zum „Heldengedenken“ unter den schwarz-weiß-roten Farben 4 eines undemokratischen Deutschlands durchgeführt haben. Dieses Jahr haben sie den Bezug

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2 Siehe dazu Thomas Peter Petersen, Die Geschichte des Volkstrauertages. Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge, Kassel 1998; Verfassungsschutz des Landes Brandenburg, Die Glorifizierung des sinnlosen Sterbens. Datum und Bedeutung des „Volkstrauertages“ und des „Heldengedenktags“, Online- Publikation vom 9. März 2006 3 Gauring-Mitteilungsblatt, Propaganda und Kultur,1944, zitiert nach: Fritz Schellack, Nationalfeiertage in Deutschland 1871 bis 1945, Frankfurt a. M. 1990, S. 345

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zum Nationalsozialismus noch deutlicher werden lassen, indem sie sich in Halbe auch an dem Sonnabend vor dem 12. März versammelt haben. Der 12. März ist sowohl der Reminiscere -Sonntag als auch der Sonntag vor dem 16. März. Der Website des „Freundeskreis Halbe“ 5, der die Aufmärsche seit 2004 propagandistisch vorbereitet, ist zu entnehmen, dass auch künftig sowohl zum „Volkstrauertag“ als auch zum „traditionellen Heldengedenktag“ in Halbe marschiert werden soll, womit die Anknüpfung an den nationalsozialistischen Staatsfeiertag deutlich wird. Inhaltlich stehen die Aufmärsche in Halbe ebenfalls in der Tradition des nationalsozialistischen „Heldengedenktags“, bei dessen Begehung die Propaganda nach dem Überfall auf die Sowjetunion 1941 besonderes Gewicht darauf legte, diese als Todfeind des nationalsozialistischen Deutschland zu dämonisieren. Die Deutsche Wochenschau 6 berichtete über die Begehung des Feiertags 1943 wie folgt: „In seiner Rede wies der Führer auf die gigantischen Vorbereitungen hin, die der Bolschewismus zur Vernichtung Europas getroffen hatte. Die Millionen Massen aus den Steppen des Ostens wälzten sich in satanischer Zerstörungswut gegen diesen Kontinent. Dass diese Gefahr von Europa abgewendet wird, ist allein das unvergängliche Verdienst jener Soldaten, derer wir heute gedenken. Heute erfüllt uns allein Liebe zu unserer Heimat, zu unserem Volke und brennender Hass gegen jeden Feind.“ Halbe war ohne Einfluss auf Kriegsverlauf Dieser von den Nationalsozialisten geschürte Hass auf den früheren Feind wird beim „Heldengedenken“ in Halbe weiter gepflegt. Die Deutsche Nationalzeitung berichtete am 13. August 2006, der Kampf der deutschen Soldaten im Kessel von Halbe sei „heldenhaft“ gewesen, weil mit dem geglückten Ausbruch viele deutsche Soldaten vor der „stalinistischen Vernichtungsgefangenschaft“, der „mörderischen Deportation in Todeslager des Gulag“ und „abertausende Frauen und Kinder vor martervoller Schändung und vor Ermordung“ bewahrt worden seien. Während des Aufmarsches in Halbe am 13. November 2004 äußerte sich ein Redner über die im Kessel kämpfenden Soldaten ganz im nationalsozialistischen Geist wie folgt: „Sie kämpften, um das Leben von deutschen Frauen und Kin4 Dazu: Erardo Rautenberg, Schwarz-Rot-Gold, in: perspektive 21, 9. Jg. (2005), Heft 26, S. 87 ff. und Märkische Allgemeine Zeitung, 22.6.2006, abrufbar unter www.aktionsbuendnis.brandenburg.de 5 www.fkhalbe.net (25.9.2006) 6 655/14/1943

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[ erardo und katrin rautenberg ]

dern, von Greisen und Babys zu schützen. Denn sie mussten gegen einen Feind antreten, der vielleicht ein menschliches Antlitz trug, der aber mordete, schändete, brandschatzte, der Kinder vergewaltigte, Greise an Scheunentore nagelte … dem kein Haus, nichts heilig war, keine Kirche, keine Grabstätte. Sie wussten: Hier ging es um die Existenz nicht nur Deutschlands, sondern ganz Europas. Und sie haben doch gesiegt! Denn die Bolschewisten sind nicht über die Elbe hinausgekommen …“ 7 Die Kämpfe um den Kessel von Halbe hatten indes nachweislich keinerlei Auswirkungen auf den Grenzverlauf zwischen dem sowjetischen und dem westalliierten Einflussbereich in Deutschland, denn dieser war auf der Konferenz von Jalta bereits im Februar 1945 festgelegt worden und endete an der Elbe, wo die amerikanischen Truppen bereits längst angelangt waren, als der Ausbruch aus dem Kessel erfolgte. Für die militärische Entscheidung zum Ausbruch war weder der „Führerbefehl“ noch das Schicksal der im Kessel befindlichen Zivilisten maßgeblich, sondern die Verhinderung der Gefangennahme der eingeschlossenen deutschen Truppen durch die Rote Armee. Rechtsextreme ignorieren Greueltaten der Deutschen Der Ausbruch aus dem Kessel war zwar bei isolierter Betrachtung ein militärischer Erfolg, angesichts der Gesamtumstände handelte General Busse jedoch unverantwortlich, als er das Kapitulationsangebot der sowjetischen Truppen nicht annahm. Er tat dies in der Erkenntnis des bereits verlorenen Krieges nämlich nur, um durch einen Ausbruch nicht in sowjetische, sondern in westalliierte Gefangenschaft zu geraten. Dabei dürfte ihm bewusst gewesen sein, dass die Chancen gering waren, gegen die Übermacht der Roten Armee den Ausbruch aus dem Kessel zu erreichen, dies aber auf jeden Fall nur mit hohen Verlusten möglich sein würde. Bedenkt man, dass der größte Teil der aus dem Kessel entkommenen Zivilisten letztlich doch im sowjetischen Einflussbereich verblieben sein dürfte, ist die Überführung von 25.000 deutschen Soldaten in die westalliierte anstatt in die sowjetische Gefangenschaft mit 60.000 Menschenleben bezahlt worden. Da auch die heutige rechtsextremistische Propaganda den „Bolschewisten“ das Menschsein abspricht, wird einfach unterstellt, dass es gegen deutsche Soldaten und Zivilisten bei einer geordneten Kapitulation zu denselben Übergriffen durch die Rote Armee gekommen wäre, wie sie sich nach Überwindung eines fanatisch 7 Rundfunk Berlin-Brandenburg, Brandenburg Aktuell, 13.11.2004

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kämpfenden Gegners bis zum Funktionieren einer geordneten Militärverwaltung ereignet haben. Dabei wird von den Rechtsextremisten damals wie heute unterschlagen, dass die Verbrechen der Roten Armee an deutschen Soldaten und Zivilisten auch nicht annähernd die Anzahl der Verbrechen erreichten, die zuvor von Deutschen an sowjetischen Soldaten und Zivilisten begangen wurden und darin zwar keine Entschuldigung, aber eine Erklärung für die späteren sowjetischen Gräuel zu sehen ist. Unmenschlichkeit gegenüber Sowjetunion Der von Deutschland ausgehende Krieg gegen die Sowjetunion war kein herkömmlicher Eroberungskrieg, sondern ein Vernichtungskrieg mit dem Ziel „Lebensraum im Osten“ für die deutsche „Herrenrasse“ zu schaffen. Ein Teil der heimischen Bevölkerung sollte den deutschen „Herrenmenschen“ als Sklaven dienen, während der hierfür nicht benötigte Teil der „minderwertigen Rassen“ ausgerottet werden sollte. Die nationalsozialistische Vorstellung vom „Herrenmenschen“ erforderte als Gegenstück notwendigerweise den „Untermenschen“, zu denen auch „Slawen“ und „Bolschewisten“ gezählt wurden. Entsprechend wurden sowjetische Zivilisten und Soldaten behandelt. Am 30. März 1941 äußerte Hitler in einer Rede vor Generälen: „Wir müssen vom Standpunkt des soldatischen Kameradentums abrücken. Der Kommunist ist vorher kein Kamerad und hinterher kein Kamerad. Es handelt sich um einen Vernichtungskampf... Wir führen nicht Krieg, um den Feind zu konservieren.“ 8 Für die in die Sowjetunion einmarschierenden deutschen Soldaten der 6. Armee galt die Weisung ihres Oberbefehlshabers, Generalfeldmarschall von Reichenau, betreffend das „Verhalten der Truppe im Ostraum“ vom 10. Oktober 1941. Danach war das „wesentlichste Ziel des Feldzuges gegen das jüdisch-bolschewistische System … die völlige Zerschlagung der Machtmittel und die Ausrottung des asiatischen Einflusses im europäischen Kulturkreis“. Der deutsche Soldat „im Ostraum“ sei „auch Träger einer unerbittlichen völkischen Idee und der Rächer für alle Bestialitäten, die deutschem und artverwandtem Volkstum zugefügt wurden“. Von ihm werde „die erbarmungslose Ausrottung artfremder Heimtücke und Grausamkeit“ erwartet, um der „geschichtlichen Aufgabe“ gerecht zu werden, „das deutsche Volk von der asiatisch-jüdischen Gefahr ein für allemal zu befreien.“ Generalfeldmarschall von Rundstedt, der Oberbefehlshaber der Heeresgruppe Süd, gab diesen Be8 Hans-Heinrich Nolte, Der deutsche Überfall auf die Sowjetunion 1941, Hannover 1991, Dokument 8

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fehl mit Schreiben vom 12. Oktober 1941 seinen Befehlshabern mit dem Bemerken bekannt, dass er sich „mit dessen Inhalt …voll einverstanden erkläre.“ 9 Von den in deutsche Gefangenschaft geratenen 5,7 Millionen sowjetischen Soldaten kamen 3,3 Millionen zu Tode. General Reinecke – Chef des Allgemeinen Wehrmachtsamtes im Oberkommando der Wehrmacht und zuständig für das Kriegsgefangenenwesen – formulierte in „Anordnungen über die Behandlung sowjetischer Kriegsgefangenen …“ vom 8. September 1941, dass der „bolschewistische Soldat jeden Anspruch auf Behandlung als ehrenhafter Soldat nach dem Genfer Abkommen verloren“ habe 10 und General Wagner, Generalquartiermeister im Generalstab des Heeres, ordnete am 13. November 1941 an: „Nichtarbeitende Kriegsgefangene in den Gefangenenlagern haben zu verhungern.“ 11 Hungersnot aufgrund Politik der „verbrannten Erde“ Juden, Staats- und Parteifunktionäre, Kommissare und Gefangene mit akademischer Bildung wurden nach einer Übereinkunft von Reichssicherheitshauptamt und Oberkommando der Wehrmacht vom Juli 1941 systematisch ausgesondert und ermordet, was in der Regel in Konzentrationslagern durch die SS erfolgte. 12 Die Vernichtungsbefehle der Nationalsozialisten bezüglich sowjetischer Kriegsgefangener werden von der rechtsextremistischen Propaganda natürlich ignoriert. Andererseits wird von ihr geleugnet, dass entsprechende Befehle bezüglich deutscher Kriegsgefangener nicht bekannt sind, die „Kriegsgefangenenpolitik der UdSSR nicht von Vernichtungs- und Rachemotiven“ geprägt war, wie dies Jens Nagel, der wissenschaftliche Leiter der Gedenkstätte Ehrenhain Zeithain, dargelegt hat. Damit waren die Überlebenschancen deutscher Kriegsgefangenen bedeutend besser als die der sowjetischen. Viele deutsche Kriegsgefangene wurden allerdings Opfer des Hungers und unzureichender medizinischer Fürsorge. Die meisten Heimkehrer, auch solche aus unserer eigenen Familie, berichteten allerdings, dass ihre Versorgung nicht viel schlechter war, als die der allgemeinen Bevölkerung in der Sowjetunion, die vor allem 1946/1947 unter einer großen Hungersnot litt. Dafür war mitursächlich, dass für die deutschen Truppen während ihres 9 Beide Dokumente sind über www.ns-archiv.de einsehbar 10 Zitiert nach: Niedersächsische Landeszentrale für politische Bildung (Hg.), Sowjetische Kriegsgefangene…, Hannover 1991, S.13 11 Zitiert nach: Rolf Keller, in: Nolte (Fn.8), S.114 12 Die einschlägigen Einsatzbefehle des RSHA (Nrn.8, 9, 14) sind erhalten. Dazu: Reinhard Otto, Wehrmacht, Gestapo und sowjetische Kriegsgefangene im deutschen Reichsgebiet 1941/42. Schriftenreihe der Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, Bd. 77, München 1998, S. 48-57; Justiz und NS-Verbrechen, Lfd.Nr.683, ww1.jur.uva.nl/junsv/

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langen Rückzugs aus der Sowjetunion der Befehl galt, „verbrannte Erde“ zu hinterlassen. Als die sowjetischen Soldaten dann – nach tausenden Kilometern von den Deutschen verwüsteter Heimat – die ersten gepflegten ostpreußischen Vorgärten erreichten, setzten die hinreichend bekannten schlimmen Ausschreitungen gegen die deutschen Zivilbevölkerung ein. Diese Gräuelgeschichten stellte die NS-Propaganda als Beweis für das seit Kriegsbeginn gepredigte „Untermenschentum“ der sowjetischen Menschen dar und schürte so die Angst der Soldaten vor einer Gefangennahme, um deren Kampfeswillen zu stärken. „Männer, die nur nach Hause wollten“ Bei manchen verband sich die „Russenphobie“ mit der – nach Befreiung des ersten deutschen Konzentrationslagers – völlig realitätsfernen Hoffnung, die Westalliierten würden sich in letzter Minute entschließen, der Sowjetunion den Krieg zu erklären und diesen Kampf gemeinsam mit den verbliebenen deutschen Truppen zu führen. Entsprechende Sondierungsversuche unternahm ausgerechnet der Reichsführer SS Heinrich Himmler, der deswegen von Hitler kurz vor dessen Freitod am 30. April 1945 noch verstoßen wurde. Andere fanatische Nationalsozialisten hielten sich an Hitler, für den eine Kapitulation mit der nationalsozialistischen Ideologie unvereinbar war, und der noch in seinem „politischen Testament“ vom 29. April 1945 13 die „Führer der Armeen“ aufgefordert hatte, „mit äußersten Mitteln den Widerstandsgeist unserer Soldaten im nationalsozialistischen Sinn zu verstärken“ und den Kampf bis zum Tod fortzuführen.14 Dies in der Hoffnung, „aus dem Opfer unserer Soldaten und aus meiner eigenen Verbundenheit mit ihnen bis in den Tod, wird in der deutschen Geschichte so oder so einmal wieder der Samen aufgehen zur strahlenden Wiedergeburt der nationalsozialistischen Bewegung und damit zur Verwirklichung einer wahren Volksgemeinschaft.“ Auch wenn General Busse mit seiner Entscheidung zum Ausbruch aus dem Kessel 40.000 deutsche Soldaten und Zivilisten nicht dieser nationalsozialistischen Ideologie sondern der „Russenangst“ geopfert hat, bleiben dies Opfer eines verbrecherischen und bereits verlorenen Krieges. Nur ein von der nationalsozialistischen Ideologie verblendeter Rechtsextremist vermag das Sterben der deutschen 13 Siehe www.ns-archiv.de 14 Dies erwartete übrigens auch Stalin von seinen Soldaten, der in einem Befehl vom 16. August 1941 Gefangenschaft zu Desertion und Verrat erklärte, so dass sowjetische Kriegsgefangene nach ihrer Befreiung in der UdSSR diskriminiert und verfolgt wurden.

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Soldaten im Kessel von Halbe als „Heldentum“ zu glorifizieren. Pfarrer Teichmann fand für sie die folgenden Worte: „Es sind keine Helden, es sind Männer, die nur nach Hause wollten!“ 15 Die Aufklärung über die Hintergründe der Kesselschlacht von Halbe muss von weiteren Reaktionen der Demokraten auf die Demonstrationen der Rechtsextremisten in Halbe begleitet werden, wobei dem Bekenntnis zum „demokratischen Grundkonsens“ wesentliche Bedeutung zukommt. Dazu zählt der am 19. September 2006 erfolgte gemeinsame Aufruf des Vorsitzenden des „Aktionsbündnisses gegen Gewalt, Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit“, des Landtagspräsidenten, des Ministerpräsidenten und des Stellvertretenden Ministerpräsidenten zu einem „Tag der Demokraten“ am 18. November 2006 in Halbe.16 Einen entsprechenden gemeinsamen Entschließungsantrag sollten auch SPD, CDU und Linkspartei.PDS in den Landtag Brandenburg einbringen, wie dies von den Abgeordneten Scharfenberg (Linkspartei.PDS) und Schippel (SPD) in der Sitzung des Landtags am 13. September 2006 gefordert worden ist. Gemeinsame Anträge mit der Linkspartei.PDS lehnt die Führung der brandenburgischen CDU aber bisher grundsätzlich ab, weil sie jener Partei, das heißt der Mehrheit ihrer Mitglieder, die Zugehörigkeit zum demokratischen Spektrum abspricht (und sie insoweit der DVU gleichsetzt). In der CDU mehren sich allerdings die Stimmen, die diese Position 16 Jahre nach dem Ende der SED aufgrund der mit der Linkspartei.PDS gemachten Erfahrungen nicht mehr mittragen und es als unglaubwürdig empfinden, wenn ehemaligen Mitgliedern der SED und der ebenso staatreuen DDR-„Blockparteien“ zwar ein Wandel zu Demokraten in der CDU nicht aber in der PDS abgenommen wird. Daher sollte die CDU-Parteiführung angesichts der Bedrohung durch den Rechtsextremismus nicht länger zur Schwächung des demokratischen Lagers beitragen und einer gemeinsamen Entschließung zustimmen. Andererseits sind aber gerade die „linken Demokraten“ aufgerufen, sich bei Gegendemonstrationen in Halbe von linksextremistischen Trittbrettfahrern abzugrenzen, die unseren Rechtsstaat ebenfalls ablehnen und sich insoweit faschistoid gerieren als sie die Rechtsextremisten als „Schweine“ bezeichnen, denen sie keine Grundrechte zubilligen. Auch die Reaktionen der Demokraten dürfen jedoch den Rahmen des rechtlich Zulässigen nicht überschreiten, worauf Landtagspräsident Gunter Fritsch mehrfach hingewiesen hat.

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15 Zitiert nach: Jörg Mückler und Richard Hinderlich, Halbe – Bericht über einen Friedhof, Woltersdorf/ Schleuse 1997 16 Abrufbar über www.aktionsbuendnis.brandenburg.de

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Daher sollte künftig auf eine – am 18. November 2005 aber erfolgte – Blockade einer gerichtlich genehmigten Demonstration der Rechtsextremen verzichtet werden, auch wenn dies im letzten Jahr in den Medien als „Damm der Demokraten“ oder erforderlicher „ziviler Ungehorsam“ gefeiert worden ist. Tatsächlich wird aber durch eine solche Missachtung einer gerichtlichen Entscheidung unserem demokratischen Rechtstaat Schaden zugefügt und so letztlich den Extremisten in die Hände gespielt. Die Polizei ist verpflichtet, derartige Blockaden nach Möglichkeit zu verhindern, die sogar eine Straftat darstellen können. Nach § 21 Versammlungsgesetz macht sich nämlich strafbar, wer in der Absicht, eine nicht verbotene Versammlung zu verhindern, „Gewalttätigkeiten vornimmt oder androht oder grobe Störungen verursacht“. Eine entsprechende und nicht von vornherein abwegige Strafanzeige des Hamburger Rechtsextremisten Christian Worch gegen die friedlichen Gegendemonstranten am 18. November 2005 in Halbe ist allerdings erfolglos geblieben. Die Entscheidung der Polizei, nicht die Auflösung der Gegendemonstration anzuordnen, wodurch den Rechtsextremisten ihre gerichtlich genehmigte Wegstrecke versperrt wurde, erfolgte zur Vermeidung von Konfrontationen aus präventiven Gründen angesichts einer besonderen Konstellation, auf die die Polizei nicht vorbereitet war. Mehr Demokraten als Rechtsextreme Wider Erwarten war es 2005 nämlich erstmals gelungen, bedeutend mehr Demokraten zu mobilisieren als sich rechtsextreme Demonstranten in Halbe versammelten. Dies sollte entsprechend einer Forderung von Landtagspräsident Fritsch auch dieses Jahr wieder angestrebt werden. Die demokratischen Gegenmaßnahmen in Halbe dürfen sich jedoch nicht in jährlichen Großveranstaltungen erschöpfen, die im Übrigen von den Bewohnern auch als Belastung empfunden werden. Daher hat der Landtagspräsident im Juni 2006 eine aus Angehörigen verschiedener staatlicher und nichtstaatlicher Einrichtungen bestehende Arbeitsgruppe unter Federführung von Superintendent Heinz-Joachim Lohmann, dem Vorsitzenden des „Aktionsbündnisses gegen Gewalt, Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit“, ins Leben gerufen, die ein alle demokratischen Aktivitäten vor Ort einbeziehendes Gesamtkonzept für eine „Gedenkstätte Halbe“ erarbeiten wird. Für den Fall, dass trotz eines novellierten brandenburgischen Versammlungsrechtes weiterhin Demonstrationen der Rechtsextremisten in der Nähe des Waldfriedhofes genehmigt werden müssen, sollten auf jeden Fall Maßnahmen getroffen werden, die die Attraktivität des Ortes für rechtsextremistische Aufmärsche vermindern. perspektive21

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Zuvörderst bietet sich an, rechtsextremistischen Demonstranten den Blick auf den Waldfriedhof als Kulisse für ihre Veranstaltungen zu nehmen. Denn dieses Szenario ist ein wesentlicher Bestandteil ihrer bisherigen Aufmärsche und erklärt ihr großes Interesse, auf der Teichmannstraße in Halbe zum Haupteingang des Friedhofs zu marschieren. Daher sollte der Blick von dem Platz vor dem Haupteingang auf den Friedhof durch einen neu zu errichtenden massiven Eingangsbereich versperrt werden, durch den der Zugang künftig erfolgen müsste und in dem Besucher über den Waldfriedhof und seine Vorgeschichte informiert werden könnten. Erinnerungskultur muss fortentwickelt werden Zudem könnte der noch unbenannte Platz dem Reichstagsabgeordneten und früheren Reichsfinanzminister Matthias Erzberger (1875-1921) gewidmet werden17, der den Nazis besonders verhasst war, weil er sich während des Ersten Weltkrieges für einen Verständigungsfrieden eingesetzt hatte und mit seiner Unterschrift unter den Waffenstillstandsvertrag im November 1918 der Erste Weltkrieg beendet wurde. Deshalb wurde er als erste Symbolfigur der demokratischen Weimarer Republik noch vor dem liberalen jüdischen Reichsaußenminister Walther Rathenau (1867-1922) von Rechtsextremisten ermordet. An der Verwirklichung einer derartigen baulichen Maßnahme sollte das Land Brandenburg mitwirken, weil das Vorliegen eines „wichtigen Landesinteresses“ im Sinne der Landeshaushaltsordnung gegeben sein dürfte. In seiner Rede im Landtag zur ersten Lesung des „Gesetzes zur Ersetzung von § 16 des Versammlungsgesetzes“ am 14. September 2006 hat Innenminister Schönbohm die Gründe für ein wichtiges Landesinteresse hinreichend dargelegt, indem er ausführte, dass die rechtsextremistischen Aufmärsche in Halbe „das Ansehen unseres Landes innerhalb der Bundesrepublik Deutschland“ beschädigen und „das Vertrauen der Menschen in die Handlungsfähigkeit des Staates“ zerstören: „Die Würde der in Halbe ruhenden Opfer von Krieg- und Gewaltherrschaft zu bewahren, ist darum unsere Pflicht und unsere Verantwortung“. Es dürfe als „legitime Aufgabe des Staates verstanden werden“, Gräberstätten vor der Beeinträchtigung ihrer „gesetzlich verankerten Bildungs- und Erziehungsfunktion“ zu schützen. Des Weiteren sollte die Erinnerungskultur in Halbe dadurch fortentwickelt werden, dass die von der Gemeinde Halbe, dem Amt Schenkenländchen und dem Landesverband Brandenburg des „Volksbundes“ getragene, in der sanierungsbedürftigen 17 Dazu: Wolfgang Michalka (Hg.), Mathias Erzberger. Reichsminister in Deutschlands schwerster Zeit, Potsdam 2002. Als erste Gemeinde in Berlin und Brandenburg hat Schorfheide im Dezember 2004 einen Platz nach Erzberger benannt.

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Alten Schule in der Kirchstraße notdürftig untergebrachte „Denkwerkstatt Halbe“ (www.denkwerkstatt-halbe.de) zu einer Jugendbegegnungsstätte für Schüler und junge Soldaten erweitert wird, in der dem rechtsextremistischen „Heldengedenken“ durch friedenspädagogische Projektarbeit entgegengewirkt werden könnte. Eine Jugendbegegnungsstätte an dem Ort des größten deutschen Soldatenfriedhofs im Inland dürfte angesichts der dort stattfindenden rechtsextremistischen Aufmärsche überfällig sein. Die Kultusministerkonferenz hat am 27. April 2006 in den Jahren 1968 und 1988 gefasste Beschlüsse über die „Berücksichtigung der Arbeit des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge e. V. in den Schulen“ bekräftigt und gewürdigt, dass die vom „Volksbund“ unterhaltenen Jugendbegegnungs- und Bildungsstätten „pädagogische Module zur fächerverbindenden und fachübergreifenden historisch-politischen Bildung, zur Gewalt- und Konfliktbewältigung“ anbieten: „Die Kultusminister treten dafür ein, dass die Schulen auch weiterhin an den Aufgaben des Volksbundes mitwirken und damit eine nachhaltige Erziehung zum Frieden fördern“. Mit Schreiben vom 30. März 2006 hat der Präsident des Landtags Brandenburg dem Ministerpräsidenten des Landes Brandenburg ein „Pädagogisches Konzept der Jugendbegegnungsstätte Halbe“ übersandt und um Bereitstellung von Mitteln zur Realisierung des Vorhabens gebeten. Dabei hat der Landtagspräsident darauf hingewiesen, dass damit auch dem dringenden Bedürfnis der Bürger von Halbe entsprochen werden würde, in der Öffentlichkeit mit dem Ort nicht nur Aufmärsche von Rechtsextremisten zu verbinden. Das Land Brandenburg würde mit einer Unterstützung der Errichtung auch baulicher Bollwerke der Demokraten gegen die Aufmärsche der Rechtsextremisten in Halbe einmal mehr beweisen, dass es den Kampf gegen den Rechtsextremismus mit beispielhafter Entschlossenheit führt. L DR. ERARDO CRISTOFORO RAUTENBERG ist Generalstaatsanwalt des Landes Brandenburg und seit 2000 Mitglied im „Aktionsbündnis gegen Gewalt, Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit“. KATRIN RAUTENBERG

ist Pressesprecherin des Landtags und Büroleiterin des Landtagspräsidenten. Die Autoren danken Anita Wedel und Gudrun Baum vom „Volksbund“ (Potsdam), Amtsdirektor Ulrich Arnts (Teupitz), Pastorin Erdmute Labes (Halbe), Helmut Silber von der Landeszentrale für politische Bildung (Potsdam), Richard Lakowski (Erkner), Dr. Rüdiger Niehuus (Kiel), Thomas Peter Petersen (Bad Kleinen), Eleonore Yassine (Berlin) und André Wilksch (Potsdam) für die geleistete Hilfe. perspektive21

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Tafelsilber und Lebenslügen ÜBER DIE URSACHEN DER SCHWEREN KRISE UND DER RICHTUNGSDEBATTE IN DER CDU VON TOBIAS DÜRR

ie CDU war über Jahrzehnte hinweg die „gefühlte“ Staatspartei der alten Bundesrepublik, in ihrer Selbstwahrnehmung, aber auch aus der Außenperspektive. Von Adenauer bis Kohl stellte die Union tatsächlich die authentische politische Verkörperung der rheinischen Republik dar. Als Institution von „Maß und Mitte“ nahm sie ganz selbstverständlich die politische Führerschaft in Westdeutschland für sich in Anspruch. Nachdem die CDU zunächst in den prägenden zwei Gründungsjahrzehnten der Republik den Bundeskanzler gestellt hatte, kehrte sie nach überwundener Schwächephase bereits ab Mitte der siebziger Jahre umso stärker an die Macht zurück, zunächst in den Kommunen und Bundesländern, seit 1982 auch auf der Bundesebene. Begleitet wurden diese Erfolge in den siebziger und achtziger Jahren von grandiosen Mitgliederzuwächsen. Auch organisatorisch wurde die CDU in der Ära Kohl mit den Generalsekretären Kurt Biedenkopf und Heiner Geißler tatsächlich zur „modernen Volkspartei der Mitte“, in der jedoch zugleich traditionelle Orientierungen und Mentalitäten weiterlebten. Mit der deutschen Vereinigung 1989/90 erreichte die Union den Gipfelpunkt ihres Erfolgs – seitdem befindet sie sich in vieler Hinsicht in ständigem Sinkflug. Diese langfristige Erosion ist zugleich strukturell und kulturell bedingt. Matthias Geis hat Recht: „Die Große Koalition ist Ausdruck und Katalysator dieses Abstiegs.“ 1 Denn was vor allem erodiert ist und ständig weiter erodiert, sind die Voraussetzungen der früheren christdemokratischen Vormachtstellung. Wer den Schwund verstehen will, muss deshalb zunächst die Machtressourcen, gleichsam den „Kitt“ der alten, erfolgreichen Union kennen: J Die Christdemokraten knüpften in den Jahrzehnten systematisch an den bereits in Kaiserreich und Weimarer Republik tief verwurzelten Antisozialismus

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1 Matthias Geis, Im Streit liegt die Kraft. Nur eine scharfe Kontroverse über die Krise ihrer Partei wird der Kanzlerin auf Dauer helfen, in: Die Zeit vom 10.8.2006.

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und Antikommunismus in weiten Teilen der westdeutschen Bevölkerung an, den sie in den Jahrzehnten der Bonner Republik – mit Hilfe des Verweises auf die Diktatur der SED in der DDR – zugleich politisch aktualisierten und verstärkten: „Alle Wege des Sozialismus führen nach Moskau.“ J Die Union war eindeutig die Sammelpartei der stabilen bürgerlichen und kleinbürgerlichen Lebenswelten und Orientierungen in Deutschland, also des breiten gesellschaftlichen mainstream. J Und die CDU war eindeutig die Partei der kirchlich geprägten, vor allem der (sozial)katholischen Milieus. Als interkonfessionelle Sammlungsbewegung war die Union nach dem Zweiten Weltkrieg die erste Partei in Deutschland, die katholische und protestantische Christen unter einem breiten Dach versammelte. Die Erfolgsressourcen schwinden dahin Dass sich dabei antisozialistische, (klein)bürgerliche sowie kirchliche Prägungen und Orientierungen überschnitten, wechselseitig stützten und bedingten, liegt auf der Hand. Ebenso klar ist allerdings seit längerer Zeit auch, dass alle diese Voraussetzungen christdemokratischer Dominanz in rapider Auflösung begriffen sind. Es ist ein ganzer Kosmos von Bedingungsfaktoren, der ins Rutschen gekommen ist: J Spätestens seit dem weltweiten „Sieg des Westens“ von 1989/90, dem Ende von deutscher Teilung und realsozialistischer Bedrohung aus dem Osten, ergibt militanter Antisozialismus keinen nachvollziehbaren Sinn mehr und hat damit seine mobilisierende und integrierende Wirkung eingebüßt. J Die alten bürgerlichen und kleinbürgerlichen Milieus sind unter den massiven Druck wirtschaftlicher, gesellschaftlicher und kultureller Modernisierungsprozesse geraten; sie leben fort, sind aber nicht mehr gesellschaftlich dominant und kulturell prägend, sondern geraten mehr und mehr ins nörgelnde Abseits. J Einfluss und Prägekraft der alten kirchlichen Milieus sind in den vergangenen Jahrzehnten immer weiter geschwunden. Zwar werden kurzfristige konstellationsbedingte Bodengewinne der Union auch in Zukunft immer wieder möglich sein – wie überhaupt mit dem Ende der großen gesellschaftlichen Milieus und ideologischen Glaubenssysteme größere politische Sprunghaftigkeit der Wählerschaft einhergeht. Dennoch: Die langfristige Erosion der Erfolgsbedingungen der Union schreitet voran. Vor mittlerweile acht Jahren schon, unmittelbar nach dem Machtverlust Helmut Kohls, haben die Poli22

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tikwissenschaftler Frank Bösch und Franz Walter die zentralen Dilemmata der CDU präzise benannt. Ihre damalige Analyse bleibt weiterhin völlig zutreffend: „Die Anhängerschaft der Union zerfällt in nur noch schwer kompatible Kulturen, Orientierungen und politische Einstellungen. Die europäischen Schwesterparteien können davon schon länger ein Lied singen. Sie haben in allen Tonlagen versucht, zur richtigen Melodie zurückzufinden. Die einen haben es mit sozialkatholischer Überzeugungstreue probiert, die anderen haben mit neoliberalen Rezepten experimentiert, mitunter wurden auch rüde rechtspopulistische Töne angeschlagen. Genutzt hat alles nichts. Was man auf der einen Seite stabilisieren konnte, ging auf der anderen verloren. Zugewinne gab es nirgendwo mehr. Die Integrationskraft der Christdemokraten in Europa, die ihre Stärke in den Aufbaujahren nach dem Zweiten Weltkrieg ausmachte, ist gewiss nicht ganz erloschen, aber doch erkennbar geschwunden. Das goldene Zeitalter der christlichen Demokratie jedenfalls ist vorüber.“ 2 Das beschriebene Verschwinden der christdemokratischen Erfolgsressourcen hat sich dadurch weiter verstärkt und beschleunigt, dass viele Akteure innerhalb der Unionsparteien die Veränderungen der Umweltbedingungen ignorieren und auf voluntaristische Weise die „Lösung“ der Probleme ihrer Partei in der Neuoder Rückausrichtung gemäß diesem oder jenem politischen Patentrezept verlangen. Im Ergebnis ungenügender Analysen stehen einander in der CDU, wie die derzeitigen Auseinandersetzungen innerhalb der CDU zeigen, sowohl allzu simple Diagnosen als auch einander ausschließende Therapievorschläge gegenüber. Wenn auch selbstverständlich nicht jeder Einzelne innerhalb der Union die Orientierung verloren hat, so ist es doch zweifellos richtig, dass in der CDU insgesamt heute kein verbindender Konsens mehr darüber besteht, was diese Partei sein soll und wohin sie will. Eine zutiefst westdeutsche Partei Zwar stammt die heutige Vorsitzende der CDU aus Brandenburg, dies lässt jedoch nicht darauf schließen, dass Ostdeutsche der Union nach 1990 soziologisch oder programmatisch ein neues Gesicht gegeben hätten. Das Gegenteil ist der Fall. Ende 2005 gehörten mit 63.712 der insgesamt 571.881 Mitglieder der CDU nur 11,1 Prozent aller Christdemokraten einem ostdeutschen Landesver2 Frank Bösch und Franz Walter, Das Ende des christdemokratischen Zeitalters?, in: Tobias Dürr und Rüdiger Soldt (Hg.), Die CDU nach Kohl, Frankfurt am Main 1998, S. 46-58, hier S. 58.

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band (einschließlich Berlin) an. Damit sind in Ostdeutschland nur etwa 0,4 Prozent aller zum Parteibeitritt berechtigten Bürger ab 16 Jahre Mitglieder der CDU, während es auf dem Gebiet der alten Bundesrepublik immerhin noch 1,1 Prozent sind.3 Man tritt den Christdemokraten in Ostdeutschland durchaus nicht zu nahe, wenn man feststellt, dass ihr inhaltlicher und personeller Einfluss innerhalb der eigenen Partei sogar noch deutlich unterhalb ihres numerischen Anteils liegen dürfte. Mehr als anderthalb Jahrzehnte nach der deutschen Vereinigung bleibt die CDU eine zutiefst von Westdeutschen und den Konfliktlinien der alten, rheinischen Bundesrepublik geprägte Partei. Die drei Lager der Union Heute setzt sich die Union, typisierend formuliert, in ihrer Wählerschaft wie unter ihren Mitgliedern aus drei Lagern zusammen, die sich – selbst in einzelnen Personen – überschneiden können: erstens aus den marktfixierten Modernisierern, zweitens den Tafelsilberkonservativen und drittens aus den hier rheinische Nostalgiker genannten Christdemokraten, die den untergegangen westdeutschen Verhältnissen nachtrauern. Die beiden zuletzt genannten Kategorien umfassen große Teile der in den siebziger und achtziger Jahren in die CDU eingetretenen Mitglieder. Sie sind vor allem in den Basiseliten der Kreis- und Ortsverbände sowie bei den einfachen Mitgliedern der alten Bundesländer stark vertreten. Das Verhältnis dieser drei Gruppen zueinander ist kompliziert: J Marktfixierte Modernisierer und Tafelsilberkonservative liegen typischerweise dort auf derselben Linie, wo es um ökonomische Fragen, den Rückbau von Sozialstaat und Bürokratie, um mehr individuelle Eigenverantwortung, eine niedrigere Staatsquote und dergleichen geht. J Hingegen sind die marktfixierten Modernisierer in gesellschaftspolitischer Hinsicht sowie in Wertefragen (Ehe und Familie, Abtreibung, Homosexualität, Einwanderung, Gentechnologie, Rechtschreibung, Nation, Glauben etc.) typischerweise agnostisch, stehen diesen Themen und Kategorien also in der Regel herzlich gleichgültig gegenüber. J Die Tafelsilberkonservativen wiederum vermuten gerade auf dem Gebiet der Sitten und Werte das wertvollste christdemokratische „Tafelsilber“ (Jörg Schönbohm), also den Kern bürgerlich-christdemokratischer Identität schlechthin 3 Zu den Zahlen vgl. Oskar Niedermayer, Parteimitgliedschaften im Jahre 2005, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, 37 (2006) 2, S. 376-383.

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und vertreten auf gesellschaftspolitischem Gebiet insofern klar antiliberale Positionen.4 J In Wertefragen befinden sich damit die Tafelsilberkonservativen tendenziell stärker mit den rheinischen Nostalgikern im Einklang, die sowohl in ökonomischer wie in gesellschaftspolitischer Hinsicht im Wesentlichen eine defensive, beleidigte und rückwärts gewandte Haltung („Früher war irgendwie alles besser“) an den Tag legen. In der Ära Merkel gewannen, ermöglicht durch den ruhmlosen Zusammenbruch des Systems Kohl, die marktfixierten Modernisierer in der CDU die Oberhand und setzten sich 2003 auf dem Leipziger Parteitag auf triumphale Weise durch. Die Partei feierte Bierdeckelsteuer, Kopfpauschale und sich selbst. Der buchstäblich einzige offen bekennende Gegner des neuen Kurses war in Leipzig der Sozialstaatskonservative Norbert Blüm, während Tafelsilberkonservative wie Jörg Schönbohm den wirtschaftsliberalen Modernisierungskurs (nicht den gesellschaftspolitischen!) ihrer Parteivorsitzenden stets mittrugen oder sogar aktiv förderten. Im Wahljahr 2005 jedoch fuhr die Union mit eben diesem marktradikalen Modernisierungskurs ihr schlechtestes Wahlergebnis seit 1949 ein. Die Parteiführung hielt es daraufhin für angezeigt, die in den vergangenen Jahren gerade erst gewonnenen Überzeugungen ohne jede Aussprache oder Erklärung wieder zu kassieren, um mit der SPD eine Große Koalition zu bilden – mit der vorhersehbaren Folge, dass nunmehr sämtliche Strömungen innerhalb der CDU desorientiert und unzufrieden sind: J Die marktfixierten Modernisierer sind verbittert, weil sie nunmehr in einer Regierung, die sie nicht wollten, eine „sozialdemokratische“ Politik machen und vertreten müssen, die sie ebenfalls nicht wollten – und immer noch nicht wollen. Die Anhänger dieser Lehre sind der tiefen Überzeugung, mit der Union werde es so lange weiter bergab gehen, wie nicht die zwar bittere (und daher zunächst unweigerlich unpopuläre), aber ihrer Ansicht nach notwendige Reformmedizin verabreicht worden ist. Nach dem Motto „Es gibt kein richtiges Leben im falschen“ hält diese Strömung daher im Grunde jeden Tag der Großen Koalition für einen Tag zu viel. 4 In einem Interview mit der Jungen Freiheit hat Jörg Schönbohm die gängigen Verdrussgründe der Tafelsilberkonservativen vor einigen Jahren einmal umfassend aufgezählt: „Doppelte Staatsangehörigkeit, Zuwanderungsgesetz, Auflösung der Familie, HomoEhe, Erhöhung der Staatsquote, Zurückdrängung des Leistungsgedankens, Negation der Elitenbildung, Minderheitenpolitik zu Lasten der Mehrheit, Begrenzung der Wehrfähigkeit und Destabilisierung des Nato-Bündnisses. Hinzu kommen Ökosteuer, gestiegene Lohnnebenkosten, Rekordarbeitslosigkeit, Pleitewelle und, und, und. Für die Union heißt es deshalb, mit allen Mitteln diesen ideologisch vorgeprägten Weg in die Katastrophe abzuwenden.“ Siehe „Die Union muss auf konservative Werte setzen“, Interview mit Jörg Schönbohm, in: Junge Freiheit vom 15.11.2002 (http://www.jf-archiv.de/archiv02/472yy12.htm).

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J Die Tafelsilberkonservativen wiederum sind vor allem deshalb erzürnt, weil ihnen der Kurs der Großen Koalition in gesellschaftspolitisch-kultureller Hinsicht zu liberal und permissiv erscheint. (Stichworte: Vätermonate beim Elterngeld, Ganztagsschulen, Antidiskriminierungsgesetz). J Und auch die rheinischen Nostalgiker sind unzufrieden. Sie spüren, dass die altbundesrepublikanische „Welt der Westdeutschen“ an ihr Ende gelangt – und schreiben die Veränderungen der ungeliebten Großen Koalition zu (etwa Einschnitte bei Mittelschichtsubventionen wie Eigenheimzulage und Entfernungspauschale, höhere Mehrwertsteuer oder die Debatte um die Ersetzung des Ehegattensplittings durch ein Familiensplitting). Mürrisch regieren, beschleunigt wahren Die Unzufriedenheit der jeweiligen Gruppen über die real existierende Große Koalition ist erklärlich und subjektiv nachvollziehbar. Tatsächlich aber machen sich alle drei Gruppen etwas vor: J Den marktfixierten Modernisierern müsste klar sein: Hätte die Union gemeinsam mit Guido Westerwelles FDP die Bundestagswahl gewonnen und wäre daraufhin der in den Jahren 2003 bis 2005 angekündigte Reformkurs auf ganzer Linie verwirklicht worden, dann würde der öffentliche Gegenwind angesichts radikaler Umbauten in den Sozial- und Steuersystemen heute noch weitaus heftiger ausfallen. Indem sie, aus Verbitterung über die ungewollte „Zwangsehe“ mit der SPD, zum Regieren in der aktuellen Koalition erkennbar keine positive und konstruktive Haltung entwickeln, schaden die marktfixierten Modernisierer eben diesem Bündnis – und damit letztlich wiederum der eigenen Partei, die diese Regierung trägt. Wer mürrisch oder mit schlechtem Gewissen regiert, muss sich nicht wundern, wenn dies dem Publikum irgendwann auffällt. J Den Tafelsilberkonservativen wiederum müsste bewusst sein: Jene Werte, die ihnen am wichtigsten sind, wären niemals so existentiell bedroht wie in den Zeiten einer wirklich marktradikalen Reformpolitik. Es wird stets der unauflösliche innere Widerspruch des Tafelsilberkonservatismus à la Jörg Schönbohm bleiben, dass er einerseits zwar die Bewahrung tradierter sittlicher Werte propagiert, andererseits aber auch die Freisetzung von Individuum und Markt befürwortet – was unweigerlich Tendenzen gesellschaftlicher Beschleunigung, Pluralisierung und Entgrenzung zur Folge hat, die aus wahrhaft konservativer (also tatsächlich bewahrender) Perspektive ganz und gar nicht hinnehmbar sein dürften. Dass Jörg Schönbohm das „christliche Menschenbild“ und die „Freiheit“ 26

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als die zentralen Alleinstellungsmerkmale der CDU bezeichnet, ohne jemals auch nur ansatzweise das Spannungsverhältnis zwischen beidem zur Kenntnis zu nehmen, veranschaulicht das Problem. J Die rheinischen Nostalgiker schließlich müssten längst verstanden haben: So wie es war, wird es nie wieder. Ihr diffuses Unbehagen gilt im Grunde der schwierigen und unübersichtlichen Wirklichkeit des 21. Jahrhunderts in einem ganz umfassenden Sinne. Tatsächlich jedoch hat Deutschland gerade in der von den rheinischen Nostalgikern verklärten Ära Kohl auf entscheidenden, eng miteinander verknüpften Feldern – Bildung, Frühförderung, Wissenschaft, Familie, Bevölkerungsentwicklung, Integration, Arbeitsmarkt, investiver und vorsorgender Sozialstaat – den Anschluss an die Standards erfolgreicher europäischer Nachbarstaaten dramatisch verpasst. Es ist heute und in Zukunft schlechterdings keine Bundesregierung mit Unionsbeteiligung mehr denkbar, in der noch einmal die konservativ-rheinische Version von Kapitalismus und konservativem Sozialstaat aus dem vorigen Jahrhundert zum Leben erweckt werden könnte. Die Voraussetzungen des „Goldenen Zeitalters“ (Eric Hobsbawm) zwischen Währungsreform und erstem Ölschock, deren Andenken nicht nur in der SPD, sondern auch in der CDU noch immer viele Herzen wärmt, sind heute schlechterdings entfallen. Jede Bundesregierung, geführt von wem auch immer, wird in Zukunft mit den bisherigen Üblichkeiten des konservativen deutschen Sozialstaatsmodells brechen müssen, das den Status von Erwerbsinsidern sichert, aber viel zu wenig vorsorgend in Menschen und Zukunft investiert. Jürgen Rüttgers aktuelle Intervention, „dass wir zum Verständnis des Grundsatzprogramms aus den siebziger Jahren zurückkehren sollten“, weckt insofern vor dem Hintergrund der oben beschriebenen Verhältnisse innerhalb der Union vor allem rückwärts gewandte und damit völlig illusionäre Hoffnungen.5 Zu kapitalistisch? Zu sozialdemokratisch? Hier verbirgt sich das eigentliche Problem der Union: Die gesellschaftlichen, ökonomischen und kulturellen Voraussetzungen ihrer vergangenen Erfolge haben sich seit den siebziger Jahren rapide aufgelöst – im Osten Deutschlands bestanden sie seit 1989 ohnehin nie. Dennoch diskutieren und handeln die Parteiflügel und 5 „Manchmal tut mir Frau Merkel leid“, Interview mit Jürgen Rüttgers, in: stern vom 3.8.2006.

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Strömungen der CDU durchweg noch so, als hätten diese Veränderungen gar nicht stattgefunden. Durchweg werden ausschließlich plakative Schlagworte in Umlauf gesetzt. Die Partei ist, wie die gegenwärtige „Debatte“ über den künftigen Kurs der Union eindrucksvoll zeigt, zu einer zugleich zeitgemäßen und substanziellen Erörterung ihres gesellschaftlichen Ortes offensichtlich nicht im Stande. Die sterile Streiterei darüber, ob die CDU nun „zu kapitalistisch“ sei (wie Jürgen Rüttgers meint) oder „zu sozialdemokratisch“ (wie Jörg Schönbohm findet), führt einstweilen nur vor, welches Maß an Desorientierung inzwischen unter dem Dach der deutschen Christdemokratie um sich gegriffen hat. Bedenklich ist es tatsächlich, dass in einer einzigen Organisation so völlig widersprüchliche Selbstbeschreibungen und Problemdiagnosen nebeneinander stehen. Corinna Emundts hat Recht: „Wenn sich die Partei gleichzeitig selbst vorwirft, zu sozialdemokratisch zu sein und andererseits zu kapitalistisch, dann zeigt sich, wie richtungslos die Union derzeit daherkommt.“6 Die Wurzeln der Richtungslosigkeit Diese Richtungslosigkeit hat weit zurück reichende Wurzeln. Ihre Ursachen liegen im oben skizzierten Zerfall der sozialkulturellen Voraussetzungen der „alten Christdemokratie“. Wenn der „Urkitt“ der geteilten Selbstverständlichkeiten zerbröselt, müssen sich Parteien über ihre Identität und ihre Alleinstellungsmerkmale umso mehr diskursiv verständigen – die Verhältnisse verstehen sich eben nicht mehr von selbst. Dieser mühsamen Arbeit ist die Union in den vergangenen Jahren systematisch aus dem Weg gegangen – je nötiger sie wurde, desto mehr. Deshalb stehen sich heute gänzlich unvereinbare Thesen zu den Gründen für das schwere Wahldebakel von 2005 sowie für die gegenwärtig miserablen Umfrageergebnisse völlig unverbunden gegenüber, und die CDU ist unfähig, ihre Lage in präziseren gemeinsamen Begriffen und damit auch auf konstruktivere Weise zu analysieren. Wo Akteure erst einmal dazu übergegangen sind, sich gegenseitig vor allem mit großformatigen Schlagwörtern in Schach zu halten – „christliches Menschenbild“, „Sozialdemokratismus“, „Kapitalismus“, „Freiheit“, „ökonomistische Kälte“ –, da wird es ungeheuer schwer, eine neue und von allen geteilte Grundlage zu erarbeiten. Was der CDU als Gesamtpartei gegenwärtig so außerordentlich zu schaffen macht, ist ihre Unfähigkeit, vor dem Hintergrund veränderter gesellschaftlichen 6 Corinna Emundts, Selbstdemontage. Der CDU gerät im Sommerloch die eigene Identität außer Kontrolle, kurz bevor sie darüber auf ihrem Grundsatzkongress diskutieren will, http://zeus.zeit.de/text/online/2006/32/Briefausberlin.

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und wirtschaftlicher Verhältnisse eine neue konzeptionelle Synthese zu entwickeln, die alle Strömungen der Partei integrieren könnte. Dabei ist es aus der Perspektive des Wohls der Gesamtpartei ziemlich unerheblich, wer nun eigentlich „in der Sache“ richtiger liegt: die marktfixierten Modernisierer, die Tafelsilberkonservativen oder die rheinischen Nostalgiker. Entscheidend ist, dass sie allesamt mit ihrem jeweiligen Beharren auf einmal gewonnenen Überzeugungen eine evidenzbasierte, also an der Wirklichkeit ausgerichtete Weiterentwicklung der CDU verhindern. Ein Politiker wie Jörg Schönbohm etwa, der in einer weitgehend der Kirche entfremdeten Landstrich wie Brandenburg Jahr um Jahr mit derselben Melodie vom „christlichen Menschenbild“ aufwartet, sollte sich nicht ernstlich wundern, wenn seiner Partei in dieser Region die Rolle einer „großen Volkspartei der Mitte“ dauerhaft versagt bleibt. Eines immerhin ist Jörg Schönbohm oder auch den Gralshütern ordnungspolitischer Orthodoxie gewiss nicht vorzuwerfen: Prinzipienlosigkeit. Doch zwischen ausgeprägter Prinzipientreue und elektoraler Erfolglosigkeit kann in der Politik ein ziemlich direkter Zusammenhang bestehen – ein Zusammenhang, der seit dem Wahldebakel von 2005 und verstärkt im gegenwärtigen Umfragetief immer mehr Christdemokraten (übrigens auch in Schönbohms Brandenburg) auffällt und erklärt, warum „das Soziale“, „Werte“ und Kapitalismuskritik in der CDU plötzlich wieder en vogue sind. „Das Lager derjenigen ist weitgehend verstummt, die sich für mehr Freiheit und weniger Steuern einsetzen. Früher wurde dazu auch Angela Merkel gezählt“, lamentiert bereits voller Verbitterung die Welt.7 Zurück in die siebziger Jahre? Ganz so weit gekommen ist es zwar noch nicht, die verärgerten Reaktionen auf Jürgen Rüttgers’ „Lebenslügen“-Interview im Stern haben es gezeigt. Es gibt sie durchaus noch, die knallharten Verfechter von „mehr Freiheit und weniger Steuern“ in der CDU. Richtig ist allerdings, dass es derzeit zunehmend auch diejenigen gibt, die wie Rüttgers „zum Verständnis des Grundsatzprogramms aus den siebziger Jahren zurückkehren“ wollen. Was es dagegen in der Union so gut wie überhaupt nicht gibt, ist ein kluger und zeitgemäßer wirtschafts- und gesellschaftspolitischer Diskurs für das 21. Jahrhundert. Solch ein Diskurs würde nicht auf das ebenso einfältige wie wahlpolitisch erfolglose Mantra „Mehr Freiheit und weniger Steuern“ setzen – aber er würde umgekehrt auch nicht die Wiederkehr 7 Margaret Heckel, Christsozialdemokratisch, in: Die Welt vom 3.8.2006.

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[ tobias dürr ]

der vermeintlich heilen Welt des vergangenen Jahrhunderts beschwören. Schon gar nicht würde er menschliche Freiheit vor allem als Ergebnis niedriger Steuern betrachten, sondern sich stattdessen auf die Frage konzentrieren, welche Voraussetzungen unter den heutigen Realbedingungen vorliegen müssen, damit mehr Freiheit für mehr Menschen überhaupt lebbar wird. Es ist offensichtlich, dass dann heute unbedingt die Themen Lebenschancen und Humanvermögen in allen ihren Facetten auch auf einer zeitgemäßen christlich-demokratischen Tagesordnung ganz oben stehen müssten. Also etwa: gleiche und gute Bildungsmöglichkeiten für alle, Ganztagsschulen, Kindertagesstätten, hervorragende Hochschulen, Frühförderung und lebenslanges Lernen, Vereinbarkeit von Familie und Beruf, bessere Integration, auch die Anerkennung unterschiedlichster Lebensformen. Dies sind allesamt Anliegen, deren Zeit unter Gesichtspunkten von Gerechtigkeit und Ökonomie zugleich gekommen ist, die aber in der CDU nirgendwo eine machtvolle Lobby besitzen – weder bei den marktfixierten Modernisierern noch bei den Tafelsilberkonservativen oder den rheinischen Nostalgikern. Stattdessen hält man diese Dinge wahlweise für sozialdemokratisches Gedöns, für neumodisches Teufelszeug oder für Phänomene eines freiheitsfeindlichen Etatismus. Paradoxerweise führt dies im Ergebnis dazu, dass die CDU gerade auf demjenigen Politikfeld, auf dem sie heute in der Bundesregierung eine angemessene moderne Sozialpolitik betreibt, nämlich dem der Familienpolitik, nicht im Stande ist, ein positives und emphatisches Verhältnis zur Arbeit der eigenen Ministerin zu entwickeln. Kaum etwas illustriert das Problem der Partei so prägnant wie der Umstand, dass Ursula von der Leyens Agieren in der Union gleichzeitig den einen hochgradig verdächtig ist und den anderen ziemlich egal. Richtig stolz auf das tatsächlich segensreiche Tun der eigenen Ministerin ist unter den Christdemokraten eigentlich niemand. Rüttgers’ Lösung ist Teil des Problems Was der CDU demnach heute fehlt, ist nach Jahrzehnten der ideenpolitischen Stagnation eine zugleich wertegestützte und realitätsbasierte eigene Modernisierungsidee. Das gilt im Übrigen gerade auch für Jürgen Rüttgers und andere Christdemokraten, die heute wie er beim beklommenen Blick auf klägliche Umfrageergebnisse die „Lebenslügen“ der Ära Merkel zwischen Leipziger Parteitag 2003 und Bundestagswahl 2005 beklagen. Einzuräumen ist durchaus, dass es in den vergangenen Jahren immer wieder Jürgen Rüttgers gewesen ist, der seine Partei unter dem Motto „Ran an die Wirklich30

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keit“ dazu aufgefordert hat, veränderte gesellschaftlichen Rahmenbedingungen christdemokratischer Politik zur Kenntnis zu nehmen. So akzeptiert Rüttgers inzwischen Gesamt- und Ganztagsschulen ebenso wie die Homo-Ehe. Er sagt auch: „Eine Familie mit geringem Einkommen braucht Solidarität, um sich einen Rest von Freiheit bewahren zu können“ – und kein progressiver Sozialdemokrat würde ihm hier widersprechen. Dennoch ist offensichtlich, dass jedenfalls von Jürgen Rüttgers keine ernst gemeinte und durchdachte, wirklichkeitsgesättigte und zeitgemäße Vorstellung von Christdemokratie für das 21. Jahrhundert zu erwarten ist. Jürgen Rüttgers findet, er jedenfalls habe sich „immer dafür eingesetzt, dass soziale Gerechtigkeit nicht hinten runterfällt“. Doch gute Absichten sind in der Politik nie genug. Auch in anderen deutschen Parteien sind keineswegs immer diejenigen die wirksamsten Vorkämpfer der sozialen Gerechtigkeit, die den Begriff am lautesten im Munde führen. Die eigentliche Frage ist deshalb, ob Rüttgers zeitgemäße Schlüsse aus seinen Bekenntnissen zu ziehen im Stande ist. Gut erinnerlich ist, dass er noch vor wenigen Jahren erste Ansätze zu einer zukunftsträchtigen Einwanderungspolitik für Deutschland mit der Bemerkung „Kinder statt Inder“ kommentierte. Und noch im Sommer 2006 war Jürgen Rüttgers mächtig stolz darauf, seiner Gattin nach 30 Ehejahren erstmals großzügig einen Geschirrspüler spendiert zu haben. Einem Christdemokraten, der sich hinsichtlich seiner Orientierungen ausdrücklich auf das „Verständnis des Grundsatzprogramms aus den siebziger Jahren“ beruft, kommen solche Seltsamkeiten möglicherweise folgerichtig vor. Sie demonstrieren jedoch nochmals drastisch, dass eine zeitgemäße Gerechtigkeits- und Gesellschaftspolitik in der deutschen Christdemokratie heute weder Heimat noch energische Protagonisten besitzt. Jürgen Rüttgers hat durchaus zu Recht auf „Lebenslügen“ seiner Partei hingewiesen. Zu diesen Lebenslügen gehört allerdings auch die Vorstellung, dass sich die Antworten auf die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts mit Hilfe der Denkmuster und Vorstellungen des vorigen entdecken ließen – mittels eben jenen Vorstellungen also, die viele der Schwierigkeiten der Gegenwart mit herbeigeführt haben. Für die CDU in ihrer tiefen Krise ist Rüttgers rheinische Nostalgie deshalb nicht Lösung, sondern Bestandteil des Problems. L

DR. TOBIAS DÜRR ist Politikwissenschaftler und Chefredakteur der Zeitschrift Berliner Republik. perspektive21

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Wir leben in einer neuen Welt ÜBER SEINE ZEIT ALS SPD-VORSITZENDER UND DAS GRUNDSATZPROGRAMM SPRACHEN TOBIAS DÜRR UND THOMAS KRALINSKI MIT MATTHIAS PLATZECK

Nach der fast verlorenen Bundestagswahl haben Sie im November 2005 das Amt des SPD-Vorsitzenden übernommen. Im Rückblick nach fast einem Jahr: Warum haben Sie sich das zugemutet? Nach dem unerwarteten Rücktritt von Franz Müntefering war die SPD in eine gefährliche Lage geraten. Was drohte, war ein Rückzug in die Opposition – mit allen Risiken der Orientierungslosigkeit und der Selbstzerfleischung, die solche Situationen mit sich bringen können. In dieser Konstellation wollte und musste ich Verantwortung übernehmen. Vor allem dafür, dass die SPD geschlossen in die Große Koalition einzieht. Im Rückblick zeigt sich, dass diese Entscheidung richtig war. Inzwischen kann jeder Tag für Tag erleben, dass die sozialdemokratischen Ministerinnen und Minister in der Bundesregierung die stabilisierenden und konstruktiven Faktoren sind. Darum bin ich sehr froh, dass es so gekommen ist. Ich bin mir sehr sicher: Wären wir 2005 in die Opposition geraten, dann stünde

es heute erheblich weniger gut um die deutsche Sozialdemokratie. 1989 war nicht vorherzusehen War es allein der Wunsch, die SPD in der Großen Koalition zu stabilisieren, der Sie dazu veranlasst hat, den Parteivorsitz zu übernehmen? Nein. Es gab noch einen zweiten Grund, der mir genauso wichtig war – und weiterhin genauso wichtig ist. Nach meiner tiefen Überzeugung braucht die SPD unbedingt ein neues Grundsatzprogramm. Das alte Programm stammt aus dem Jahr 1989. Erdacht, entwickelt und geschrieben wurde es vor dem Fall der Mauer. Und zwar aus dem Erleben, aus den Konflikten und Erfahrungen der alten westdeutschen Bundesrepublik heraus. Das ist überhaupt kein Vorwurf – es hätte ja gar nicht anders sein können. Aber die weitere Geschichte verlief dann eben radikal anders. Die Mauer fiel und unmittelbar darauf, im Deperspektive21

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zember 1989, beschloss die SPD ihr lange geplantes Berliner Programm … … als hätte sich überhaupt nichts Grundlegendes verändert. War das im Lichte der historischen Ereignisse nicht ziemlich verrückt? So hart würde ich es nicht formulieren. Die damals Handelnden und Denkenden waren nun einmal mit dem Kaltem Krieg und der deutscher Teilung aufgewachsen, da fiel es natürlich schwer, sich das Ausmaß der bevorstehenden Umbrüche vorzustellen. Vieles war ja im Dezember 1989 tatsächlich noch nicht vorauszusehen, nicht einmal, dass schon im Jahr darauf die deutsche Einheit möglich werden würde. Trotzdem ist im Rückblick klar, dass das beschlossene Berliner Programm nach der Wende in der DDR und in den anderen staatssozialistischen Ländern hinten und vorne nicht reichte. Was oft so harmlos „Wende“ heißt, war ja in Wirklichkeit weit mehr. Eine ganz neue Welt ist entstanden Nämlich? Das war eine ausgewachsene europäische Revolution, die vieles andere mit ins Rollen brachte. In den anderthalb Jahrzehnten seither ist doch buchstäblich eine ganz neue Welt entstanden. Der Aufstieg von China, Indien und anderen asiatischen Staaten, die 34

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gesamteuropäische Einigung, die offenen Grenzen, die internationale Wirtschaftsintegration, die globalen Migrationsströme – das alles hätte es doch in dieser Dynamik niemals geben können, wenn nicht der Kalte Krieg und die globale Systemkonkurrenz zwischen Ost und West zu Ende gegangen wären. Alle diese neuen Herausforderungen und Chancen der Gegenwart tauchen im Berliner Programm schlicht nicht auf, weil dessen Autoren sie noch gar nicht kennen konnten. Nur als Beispiel: Wenn in der alten Bundesrepublik von Terrorismus die Rede war, dann ging es um Baader-Meinhof und um die RAF – heute verstehen wir anderes darunter. Oder: Im Berliner Programm steht der Satz „Wir wollen Frieden“, und natürlich hat sich daran nichts geändert. Aber heute sind es nicht mehr die Atomarsenale und Panzerarmeen von zwei Supermächten, die den Frieden bedrohen, sondern völlig andere Kräfte. Ich sage es mit vollem Ernst: Gegenüber dem Jahr 1988 leben wir heute in einer neuen Welt, und die Veränderungen gehen weiter. Und darauf müssen wir uns programmatisch einstellen, wenn wir wieder mehr Einfluss auf die Richtung des Wandels bekommen wollen. Dann hätte die SPD doch eigentlich viel früher damit anfangen müssen, ihr Programm im Lichte der veränderten Verhältnisse zu erneuern?


[ wir leben in einer neuen welt ]

Sicherlich. Aber das sagt sich natürlich leichter, als es getan ist. Ein Grundsatzprogramm hat ja den Zweck, Orientierung für das zukünftige politische Handeln zu geben. Und zwar erst recht in unübersichtlichen Zeiten – sonst bräuchte man ja kein Programm. Aber andererseits ist es eben furchtbar schwierig, Grundlegendes und Dauerhaftes über Verhältnisse zu Papier zu bringen, wenn diese sich gerade sehr schnell verändern. Das war in den vergangenen anderthalb Jahrzehnten der Fall, nicht nur bei uns, sondern weltweit. Diesen Widerspruch wird man auch nicht auflösen können: Der Wandel der Welt hört ja nicht auf, nur weil sich die deutschen Sozialdemokraten gerne in aller Ruhe ein neues Programm geben wollen. Aber auf jeden Fall erklärt die ungeheure Dynamik der Verhältnisse zu einem guten Teil, warum sich die SPD so schwer damit getan hat, ihre Programmarbeit zum Abschluss zu bringen. Die Bemühungen dazu laufen ja mittlerweile seit sieben Jahren. Meine Position als Vorsitzender der SPD war vom ersten Tag an klipp und klar: Wir müssen diese Arbeit zum Abschluss bringen! Wir brauchen ein Ergebnis. Wir brauchen ein Programmdokument, das unsere bleibenden Grundwerte Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität zu den neuen Verhältnissen in Beziehung setzt, weil wir überhaupt nur auf dieser Grund-

lage mit weiterem Wandel klarkommen können. Programm der mittleren Perspektive Anderswo in Europa waren die Sozialdemokraten mit dieser Einsicht aber schneller. Ja. Und es hat mich auch geärgert, dass die Sozialdemokratien in Europa, in Großbritannien, in Schweden, in Dänemark, den Niederlanden oder in Spanien, zügiger und weiter vorangekommen waren als wir. Natürlich kann man zur Entschuldigung immer anführen, mit der deutschen Einheit hätten wir noch viel mehr Veränderungen um die Ohren gehabt als unsere Nachbarn. Aber das ist letztlich keine überzeugende Ausrede. Ich fürchte, in Deutschland und in der deutschen Sozialdemokratie haben wir immer so ein bisschen das Bedürfnis, den ganz großen konzeptionellen Wurf hinbekommen zu wollen – ein Programm das alles erklärt, das nichts auslässt und möglichst für die nächsten 100 Jahre Bestand hat. Ich habe, gelinde gesagt, meine Zweifel, ob es so funktionieren kann. Wenn man ein Grundsatzprogramm derartig überfrachtet und überhöht, dann lähmt man sich irgendwann selbst: Bevor man etwas Unvollständiges aufschreibt, lässt man es lieber ganz. Aber so ein Programm ist doch kein heiliger Text! Noch einmal: Sein Zweck perspektive21

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besteht darin, politische Orientierung im Wandel zu geben. Dafür braucht man sozusagen ein Programm der mittleren Perspektive. Also kein Rundum-Sorglos-Paket? Das neue Programm muss sich auf die wirklich wesentlichen Fragen beschränken. Es geht um Ziele und Werte und nicht um einzelne Instrumente. Mich hat beeindruckt, wie unsere niederländischen Freunde sich in ihrem neuen Programm konzentriert und auf ein Dutzend Seiten beschränkt haben. Wir reden schließlich über ein Grundsatzprogramm zu den Fragen der Zeit, nicht über einen Gesetzentwurf. Größere Lebenschancen für mehr Menschen Hat denn die SPD jetzt Antworten auf die Fragen, die sich heute stellen? Ja, wenn wir uns auf uns selbst besinnen. Die SPD ist nicht von ungefähr die älteste Partei Deutschlands. Sie hat das Kaiserreich überdauert, die Weimarer Republik getragen, den Nationalsozialismus überlebt, die Republik von Bonn mit geprägt, und sie ist auch heute in der Berliner Republik die große Volkspartei der linken Mitte. Ohne innerlich auszutrocknen so alt werden – das konnte diese Partei nur, weil sich Sozialdemokraten politisch und programmatisch immer wieder 36

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auf neue Verhältnisse eingestellt haben. Dass wir das können, haben wir schon häufig in unserer Geschichte bewiesen. Wenn wir heute für Menschen eine bessere, eine lebenswerte und gerechte Zukunft schaffen wollen, müssen wir ihnen neue Perspektiven erschließen. In historischer Perspektive ist die Sozialdemokratie so etwas wie eine Befreiungsbewegung mit dem einen Ziel, größere Lebenschancen für mehr Menschen zu erschließen. Menschen zu stärken, damit sie ihr Leben so leben können, wie sie es selbst wollen – darum geht es. Die SPD war immer dann am stärksten, wenn sie sich als dynamische Fortschrittspartei begriffen hat. Und deshalb werden wir neue Stärke nur dann gewinnen, wenn wir neue Ideen dafür entwickeln, wie Fortschritt, sozialer Aufstieg und Lebenschancen für alle unter den Bedingungen des 21. Jahrhunderts organisiert werden können. Dann wird die SPD wieder eine Partei mit Vorwärtsdrang, dann wird sie interessant, inspirierend und spannend für neue Leute. Deshalb habe ich mich als Vorsitzender so intensiv für das neue Grundsatzprogramm eingesetzt. Das Ergebnis dieser Bemühungen waren, kurz vor Ihrem Rücktritt, die „Leitsätze auf dem Weg zu einem neuen Grundsatzprogramm“. Auf dieser Grundlage führt die SPD seither ihre programmatische Debatte.


[ wir leben in einer neuen welt ]

Bildungspolitik ist die beste Sozialpolitik

sche Errungenschaft. Ich bin tief davon überzeugt, dass wir ihn im 21. Jahrhundert mehr als je zuvor brauchen werden. Aber der tatsächlich bestehende Sozialstaat ist nicht gut genug. In den Leitsätzen heißt es: „Wir wollen keinen abgemagerten, sondern einen besseren Sozialstaat.“ Deshalb müssen wir mehr als bislang in die Menschen und ihre Potenziale investieren. Heute leistet der Sozialstaat vor allem „Nachsorge“, wenn das Kind schon in den Brunnen gefallen ist. In Zukunft muss es darum gehen, Krankheiten, Arbeitslosigkeit und Armut von Anfang an zu verhindern. Deshalb ist Bildungspolitik heute die wichtigste vorsorgende Sozial- und Arbeitsmarktpolitik überhaupt. Hier liegt dann auch der Zusammenhang zur wirtschaftlichen Wertschöpfung – jede sozialstaatliche Umverteilung muss schließlich erst einmal ökonomisch erwirtschaftet werden. Wer in Bildung investiert, der stärkt die Menschen und schafft zugleich die Voraussetzungen für Wachstum und Wohlstand. Und nur das wiederum ermöglicht es, in Bildung und Menschen zu investieren.

Was soll denn im Mittelpunkt des neuen Programms stehen? Ein ganz zentraler Gedanke ist aus meiner Sicht die Idee des vorsorgenden und aktivierenden Sozialstaats, der Lebenschancen für Menschen schafft. Der Sozialstaat ist eine große histori-

Sie haben einmal gesagt, Sie wünschten sich die SPD als „zupackende Partei“. Was meinen Sie? Hat die Sozialdemokratie Ihren Offensivgeist bereits verinnerlicht? Ich denke schon. Überall wo ich bin, werbe ich jedenfalls dafür. Gehol-

Ich finde, in diesen Leitsätzen wird der neue Offensivgeist erkennbar, den ich mir für die deutsche Sozialdemokratie wünsche. Ich bleibe dabei: Diese Erneuerung nach menschlichem Maß kann nur von Sozialdemokraten ausgehen. Wir sind es, die diese Aufgabe überall offensiv annehmen und schultern müssen, weil es sonst niemand gibt, der es tun wird. Wir sind es, die sich unerschrocken an die Spitze der Erneuerung stellen müssen. Wenn wir davor zurückschrecken und nur versuchen, das Bestehende zu verteidigen, dann werden die Umbrüche dieses Jahrhunderts ohne uns und gegen uns stattfinden – mit Folgen, die sich kein einziger Sozialdemokrat wünschen kann. Mir geht es darum, diese Grundwerte zu vereinen mit den schnellen wirtschaftlichen, sozialen und politischen Veränderungen. Darum geht es in den Leitsätzen. Und deshalb finde ich, dass sie eine gute Grundlage für die weitere Arbeit am neuen Grundsatzprogramm geschaffen haben.

perspektive21

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[ matthias platzeck ]

fen hat im vergangenen Sommer auch Jürgen Klinsmann. Es hat mich begeistert, wie er und die Fußball-Nationalmannschaft uns gezeigt haben, dass man an sich glauben muss und immer in der Offensive spielen muss. Das haben auch die letzten Zweifler verstanden. Wer nicht an der Spitze der

Bewegung steht, muss sonst erleben, wie Veränderungen ohne uns oder gar gegen uns stattfinden. Und dabei würden unsere Grundwerte schnell unter die Räder kommen. Eines ist gewiss: Mit den Rezepten der Vergangenheit können wir die Zukunft nicht gewinnen. L

MATTHIAS PLATZECK

ist Ministerpräsident des Landes Brandenburg und Landesvorsitzender der SPD. 2005/06 war er Bundesvorsitzender der SPD. Die Leitsätze für das neue SPD-Grundsatzprogramm veröffentlichte Perspektive 21 in Heft 30 (Mai 2006). 38

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Neues Miteinander EINE INTERVENTION AUS OSTDEUTSCHLAND ZUM NEUEN GRUNDSATZPROGRAMM DER SPD VON GÜNTER BAASKE | KATRIN BUDDE | CHRISTOPH MATSCHIE | MICHAEL MÜLLER | VOLKER SCHLOTMANN UND CORNELIUS WEISS

ir streben einen Zustand des Friedens in Europa an, in dem das deutsche Volk in freier Selbstbestimmung seine Einheit findet.“ So heißt es im aktuell gültigen Grundsatzprogramm der SPD. Allein dieser Satz zeigt, dass das Berliner Programm ein Programm aus einer anderen Zeit ist. Die deutsche Einheit ist heute vollzogen, auf die neuen Herausforderungen der sich seit 1989/ 90 schnell verändernden Welt hat das alte Grundsatzprogramm jedoch kaum Antworten – wie auch, ist es doch noch vor der Wende in der DDR geschrieben worden. Auf diese Wende können die Sozialdemokraten stolz sein. Die Gründung der Sozialdemokratie in der DDR war ein wichtiger Baustein, um die Herrschaft der SED zu brechen. Sozialdemokraten haben an vorderster Stelle gekämpft, damit Demokratie und Freiheit in der DDR möglich wurden. Und genau diese Wende in Ostdeutschland und Osteuropa war ein wichtiger Grund dafür, dass wir heute ein neues Grundsatzprogramm schreiben.

W

Wir stehen für gleichwertige Lebensbedingungen in Ost und West, Nord und Süd. In den vergangenen Jahren hat sich in Deutschland viel verändert. Besonders markant sind die Veränderungen in Ostdeutschland. Wir haben viel geschafft. In den neunziger Jahren haben wir noch geglaubt, dass der Osten nach zehn, vielleicht 15 Jahren auf einem Niveau mit dem Westen sein könne. Heute wissen wir, dass es noch viel länger dauern wird. Aber das Ziel bleibt: Sozialdemokraten wollen gleichwertige Lebensbedingungen in Ost und West, genau wie in Nord und Süd. Das ist und bleibt das Ziel sozialdemokratischer Politik.

I.

Das Grundsatzprogramm braucht Aussagen zur Deutschen Einheit. Wir wissen auch, dass die sozialen und wirtschaftlichen Veränderungen in Ostdeutschland viele neue Chancen eröffnet haben, viele Menschen aber auch nicht mitgenommen wurden. Und es wird immer deutlicher, dass der demografische Wandel unser Land in einer bis vor

II.

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[ baaske | budde | matschie | müller | schlotmann | weiss ]

kurzem kaum vorstellbaren Weise verändert hat und weiter verändern wird. Auf diese Veränderungen brauchen wir neue Antworten. Neue Antworten auf der Basis unserer Grundwerte. Diese Grundwerte – Solidarität, Freiheit und Gerechtigkeit – sind auch heute noch richtig und gerade in Ostdeutschland besonders tief verankert. Unsere Grundwerte sind und bleiben die Basis unseres politischen Handelns. Gleichwohl müssen wir unsere Antworten, die wir auf die veränderte gesellschaftliche Situation in Ostdeutschland haben, neu definieren. Und genau deshalb braucht das neue Grundsatzprogramm der SPD auch Aussagen zur weiteren Gestaltung der deutschen Einheit. Der „vorsorgende Sozialstaat“ ist das zentrale Konzept, um Regionen nicht abzuhängen. Die ostdeutschen Bundesländer haben in den vergangenen Jahren im Durchschnitt 10 Prozent ihrer Einwohner verloren, in den kommenden fünfzehn Jahren werden es noch einmal so viele sein. Es waren vor allem junge gut ausgebildete Menschen, die aus den neuen Ländern fortgezogen sind, parallel dazu sank die Geburtenrate um die Hälfte. Gleichzeitig haben sich aber auch Entwicklungsinseln herausgebildet – Berlin und sein Umland, Dresden, Rostock, LeipzigHalle oder die Thüringer Städtekette. Die kommenden Jahre und Jahrzehnte werden deshalb auf der einen Seite von

III.

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einer schrumpfenden und alternden Gesellschaft gekennzeichnet sein – während auf der anderen Seite Zukunftsregionen entstehen, die es zweifellos mit den Kraftzentren in Ost- und Westeuropa aufnehmen können. Das stellt die Politik, zumal die der SPD, vor große Herausforderungen. Wie wird es uns gelingen, trotz dieser divergierenden Entwicklung, Lebenschancen für alle zu ermöglichen? Wie werden wir es schaffen, in schrumpfenden Gesellschaften Zufriedenheit und Zusammenhalt zu erhalten? Zu viele Gedanken machen wir uns noch darüber, wie wir Probleme der Vergangenheit lösen. Entscheidend aber wird sein, welches die Herausforderungen der Zukunft sind – und vor allem: Wie wir sie lösen wollen. Das zentrale Konzept wird ein vorsorgender Staat, ein „vorsorgender Sozialstaat“ sein – der in Menschen, in Familien und Bildung investiert. Dieses Konzept muss im Mittelpunkt des neuen Grundsatzprogramms stehen. Stärken stärken und auf Eigeninitiative und Kreativität der Menschen setzen. Speziell für Ostdeutschland werden wir uns darauf konzentrieren müssen, Stärken zu stärken und auf dezentrale Lösungen, Eigeninitiative und Kreativität der Menschen zu setzen. Sozialdemokraten müssen Menschen ermutigen, ihr Schicksal in die eigene Hand zu neh-

IV.


[ neues miteinander ]

men. Langzeitarbeitslosigkeit und Verunsicherung über die zunehmend wissensintensive Wirtschaft haben vor allem dem Staat und der Politik viel Vertrauen gekostet. Verloren gegangen sind dabei Mut und Elan und Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Deshalb brauchen wir eine Politik der sozialen Aktivierung, um Menschen in die Gesellschaft zu integrieren, sie am Leben teilhaben zu lassen, ihnen das Gefühl zu geben, dabei zu sein. Und auf der anderen Seite geht es um eine Debatte, wie wir eine moderne innovative Wirtschaft nach „menschlichem Maß“ gestalten können. Abwanderung junger Menschen, Rückgang der Bevölkerung und Alterung ganzer Regionen sind bisweilen schmerzhafte Prozesse. Der schnelle demografische Wandel ist in Ostdeutschland Realität – und zwar so stark wie nirgendwo in Europa. Dennoch: Wir geben keine Region auf. Wir wollen Menschen vor Ort unterstützen, ihre Heimat weiter lebenswert zu gestalten. Aktives bürgerschaftliches Engagement trägt dazu bei. Ein gutes Beispiel dafür sind die Bürgerbusse, die Mobilität auch in dünn besiedelten Gegenden ermöglichen, die abseits der großen Verkehrsachsen liegen. Gleiche Lebenschancen überall – durch eine neue Kultur der Bildung. Nicht alle Regionen haben im globalen Wettbewerb die gleichen Chancen.

V.

Aber alle Menschen – unabhängig von ihrem Wohnort – sollen die gleichen Lebenschancen haben. Entscheidend dafür ist eine umfassende und neue Kultur der Bildung. Ostdeutschland wird auf Dauer nur eine Chance haben, wenn es sich als lernende Region begreift. Deshalb brauchen wir qualitativ gute Kitas, hervorragende Schulen und leistungsfähige Hochschulen. Dort wird der Grundstein gelegt für Lebenschancen von Kindern. Neben guter Bildung muss eine aktive und aktivierende Familienpolitik stehen. Beide müssen eng ineinander greifen. Familien sollen frühzeitig unterstützt werden, Probleme rechtzeitig behoben werden. Kein Kind darf zurück bleiben. Dies muss das Ziel einer Politik sein, die Familien stärkt und Kindern eine optimale Entwicklung ermöglicht. Aufstieg darf nicht von der sozialen oder regionalen Herkunft abhängig sein. Die Sozialdemokratie muss gerade in Ostdeutschland – mit seinem hohen Anteil an Familien mit Langzeitarbeitslosigkeit – ihr altes Aufstiegsversprechen erneuern und erfüllen. Bildungs-, Familien- und Wirtschaftspolitik müssen wie ein Rad ins Andere greifen. Klar ist: Bildung und Familie sind längst keine „weichen“ Themen mehr. Die angeblich „harten“ Fragen von Wirtschaft, Arbeit und Finanzen hängen immer

VI.

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[ baaske | budde | matschie | müller | schlotmann | weiss ]

mehr von dem ab, was Menschen können und wissen. Und genau so klar ist, dass wir deshalb ganz intensiv in Menschen investieren müssen, damit es in unseren Ländern in Zukunft Arbeit, Wachstum und Wohlstand geben kann. So werden sich Bildungs-, Familien- und Wirtschaftpolitik wechselseitig ergänzen und befruchten. Und so werden sich in Zukunft auch mehr Menschen entscheiden, Kinder zu bekommen. Solide Haushalte, die in Köpfe investieren. Wir brauchen ein hohes Maß an öffentlichen Investitionen – aber intelligent müssen sie sein. Wir sprechen uns deshalb auch dafür aus, öffentliche Investitionen in Zukunft danach zu beurteilen, ob sie tatsächlich wachstumsrelevant und nachhaltig sind – und dazu gehört für uns vor allem Bildung, Wissenschaft und Technologie. Der heute noch verwendete Investitionsbegriff stammt aus dem letzten Jahrhundert. Dabei ist heute jedem klar: Nicht jede Straße führt in die Zukunft. Zu oft haben wir in der Vergangenheit manches Problem dadurch gelöst, indem noch ein Förderprogramm aufgelegt wurde, indem schlicht mehr Geld zur Verfügung gestellt wurde. Diese Strategie ist auf absehbare Zeit vorbei. Die Haushalte der neuen Länder werden zum Beispiel in den nächsten zehn Jahren um etwa ein Viertel schrump-

VII.

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fen. Deshalb ist eine neue Strategie der Zukunftsvorsorge nötig. Jeder weiß, dass Wirtschaftswachstum heute vor allem darauf basiert, dass unser Humanvermögen wächst. Und genau dies muss ein moderner Investitionsbegriff berücksichtigen. Gerade in Ostdeutschland müssen wir die knapper werdenden Mittel in Zukunft nachhaltig einsetzen. Dafür sind auch ausgeglichene Landeshaushalte wichtig. Deshalb werden wir im Osten alles daran setzen, schnellstmöglich ohne Neuverschuldung auszukommen. So wollen wir die Belastung künftiger Generationen verringern und Raum für zukünftige Investitionen schaffen: Investitionen in bessere Bildung, in bessere Hochschulen, in bessere Kinderbetreuung. Sozialdemokratie steht für eine Politik der Ermutigung. Uns Sozialdemokraten geht es um Ermutigung, damit die Erneuerung aus eigener Kraft gelingen kann. Entscheidend ist dabei das Miteinander. Wir können es uns nicht leisten, das Potential von Menschen und ganzen Regionen ungenutzt zu lassen. Das ist unser politischer Maßstab – und das muss der Maßstab der Sozialdemokratie sein. Wir können versprechen: Die Ostdeutschen werden in den kommenden Jahren alles tun, was sie können, um ihre Heimat mit eigenen Kräften zu gestalten und zu entwickeln. Dafür

VIII.


[ neues miteinander ]

jedoch braucht es Voraussetzungen. Diese Voraussetzungen sind mit dem Solidarpakt umrissen – und darauf müssen wir uns verlassen können. Nur mit Hilfe der Solidarität der starken

Bundesländer wird sich Ostdeutschland dauerhaft erneuern können – und davon werden am Schluss alle profitieren. Die SPD muss ein Garant dafür sein. L

DIE AUTOREN

sind die Fraktionsvorsitzenden der SPD in den Landtagen von Brandenburg, Sachsen-Anhalt, Thüringen, Berlin, Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen. perspektive21

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Flexibilität braucht Sicherheit DAS MODELL DEUTSCHLAND MUSS ZUM POLITISCHEN RAUM EUROPA ENTWICKELT WERDEN VON HUBERTUS SCHMOLDT UND ULRICH FREESE

ie Arbeit der SPD an einem neuen Grundsatzprogramm ist unverzichtbar. Wer die gesellschaftlichen Umbrüche in Deutschland, Europa und im globalen Rahmen begleiten und mitgestalten will, muss sie in zeitgemäße Begriffe fassen. Eine zeitgemäße Bestimmung der Grundwerte Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität könnte die gemeinsamen Wurzeln von Sozialdemokratie und Gewerkschaften stärken. Wir befinden uns auf dem Weg in eine Wissens- und Dienstleistungsgesellschaft, die auf dem Fundament einer starken und innovativen Industrie stehen wird. Damit verbunden sind neue Herausforderungen, die wir nicht mehr mit den Mitteln der Industriegesellschaft angehen können. Doch nicht alles muss über Bord geworfen werden. Für den Übergang in die industrielle Wissensgesellschaft sollten wir das Gestaltungspotenzial und die Erfahrungen von Arbeitgebern, Gewerkschaften und Betriebsräten in Deutschland nutzen, um Wohlstand, Beschäftigung und soziale Gerechtigkeit zu erhalten.

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Die soziale Marktwirtschaft als ein zentrales Element des Modells Deutschland muss das Ziel haben, den Wohlstand zu sichern und eine wachsende Zahl von Menschen daran zu beteiligen. Günter Verheugen hat völlig Recht: „Die Schlüsselfrage für die Zukunft unserer Industrien ist die Fähigkeit zur Innovation.“ Ins Zentrum der Wirtschaftspolitik gehören deshalb Innovationen in der Industrie und im Dienstleistungssektor. Unterstützung für die grüne Gentechnik Viele innovative Produkte und Dienstleistungen können das Leben einfacher und angenehmer machen. Innovationen brauchen aber eine gegenüber Neuerungen aufgeschlossene Gesellschaft. Wir könnten im Bereich Biound Gentechnologie weltweit Schrittmacher sein. Unser Gentechnikgesetz wird jedoch bis heute dem Anspruch nicht gerecht, Innovationen zu fördern. Und dass, obwohl Verbraucher neueren perspektive21

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[ hubertus schmoldt | ulrich freese ]

Umfragen zufolge gentechnisch veränderte Lebensmittel nicht mehr grundsätzlich ablehnen. Gewiss, über die Skepsis der Bürger kann man sich nicht einfach hinwegsetzen. Aber widerspruchslos sollten wir die Vorbehalte gegen basistechnologische Entwicklungen nicht hinnehmen. Wenn wir verantwortungsvoll handeln, können wir die Chancen der Bio- und Gentechnologie nutzen. Die jetzige Bundesregierung, aber auch jede weitere, muss die grüne Gentechnik stärker unterstützen. Offensive für Bildung In der industriellen Wissensgesellschaft werden Bildung und Qualifikationen wichtiger. Eine Politik der Innovationen muss von angemessenen Investitionen in Bildung, Forschung und Infrastruktur begleitet werden, doch davon sind wir gegenwärtig noch ein gutes Stück entfernt. Wir brauchen eine Offensive für Bildung auf der Grundlage eines umfassenden Bildungsverständnisses. Die Menschen sollen nicht nur die grundlegenden Kulturtechniken beherrschen, sondern auch selbständig mit kritischen Situationen umgehen können. Das wäre ein Schritt zu mehr Freiheit. Zu den Kernkompetenzen zählt zudem, zum gemeinsamen Handeln fähig zu sein. Damit Freiheit und Solidarität nicht zu einem Privileg wer46

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den, muss es sozial gerechte Bildungszugänge geben. Selbstverständlich muss diese Bildungsoffensive finanzierbar sein. Deshalb müssen wir über eine neue „Finanzarchitektur des Sozialstaates“ nachdenken. Möglich wäre es zudem, den Bürgerstatus gegenüber dem Erwerbsstatus aufzuwerten. Dieser Gedanke muss durch überzeugende operative Lösungen noch an Überzeugungskraft gewinnen. Kein Fortschritt ohne Stromversorgung Die Grundlage des gesellschaftlichen Fortschritts in unserem Land ist eine sichere Stromversorgung. Besonders die geopolitische Dimension der Energiepolitik wurde lange unterschätzt. Die deutsche Gesellschaft muss sich über die Sicherung ihrer Energiegrundlagen mehr Klarheit verschaffen. Die Versorgungssicherheit muss der Staat gewährleisten, wir dürfen diese Aufgabe nicht den Märkten überlassen. Weil für die SPD der Ausstieg aus der Atomkraft derzeit unverzichtbar ist, denkt sie über einen „neuen Energiemix“ aus Energieeinsparung, Energieeffizienz, der intelligenten Nutzung von Kohle und Gas und Erneuerbaren Energien nach. Jedoch hat der G8Gipfel in Sankt Petersburg gezeigt, dass ein internationaler Konsens für einen Atomausstieg in Frage gestellt


[ vom modell deutschland ]

ist. Deshalb wäre es klug, sich die Option für eine Fortentwicklung der Kernkrafttechnologie offen zu halten. Soziale Sicherheit zu garantieren ist zu einer wachsenden politischen Herausforderung geworden. Wirtschaftliches Wachstum führt nicht mehr automatisch zu einem hohen Beschäftigungsstand und zu Beschäftigungssicherheit. Auch der Staat kann keine absoluten Sicherheiten bieten. Die Gewerkschaften können einen Beitrag dazu leisten, wenn sie mit Hilfe einer modernen Tarifpolitik Standorte sicherer machen und durch die betriebliche Weiterbildung Arbeitnehmer in die Lage versetzen, wachsende Arbeitsanforderungen besser zu erfüllen. Deshalb ist es durchaus diskussionswürdig, wenn ein „vorsorgender Sozialstaat“ stärker als bisher soziale Risiken wie Arbeitslosigkeit, Bildungsmängel und Krankheiten schon in ihrer Entstehung vereiteln will, indem er die Handlungsmöglichkeiten der Menschen stärkt und ihre Mithilfe fördert. Flexibilität braucht Sicherheit Dabei müssen mehrere Klippen umschifft werden. So dürfen die Risiken nicht einseitig zu Lasten der Arbeitnehmer gehen. Wer mehr Flexibilität verlangt, muss neue Sicherheiten bieten. Ein Aufweichen des Kündigungsschutzes steht allerdings im krassen Wider-

spruch zu diesem Ansatz. Zudem müssen wir weiterhin schnelle, effektive Hilfe in Notlagen ermöglichen. Menschen werden immer in kritische Situationen geraten, die sich durch Prävention nicht vermeiden lassen. Die Vorsorge und die Unterstützung in Notlagen müssen einander ergänzen. Dabei verlangt das Vorsorgeprinzip in der Praxis klare Verhaltensnormen. Wer beispielsweise das lebenslange Lernen propagiert, weckt damit Erwartungen an eine dauerhafte Weiterqualifizierung für alle. Solche Maßnahmen dürfen aber nicht zu einem sozialen Abstieg derjenigen führen, die zu den Risikogruppen auf dem Arbeitsmarkt gehören. Europäische Projekte mit klarem Nutzen Wir müssen Europa zu einem politischen Raum ausgestalten. Die anhaltende Stagnation im europäischen Verfassungsprozess zeigt allerdings, dass es hier viele Hürden gibt. Einige Erfahrungen könnten weiterhelfen, die nicht aus dem Bereich der Europapolitik im engeren Sinne stammen. So haben die Tarifparteien eine Europäische Bildungspolitik auf den Weg gebracht: Die Europäische Föderation der Bergbau-, Chemie- und Energiegewerkschaften (EMCEF) hat sich im Jahr 2004 mit dem Chemiearbeitgeberverband (ECEG) auf eine gemeinsame Initiative für Bildung, berufliperspektive21

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[ hubertus schmoldt | ulrich freese ]

che Ausbildung und lebenslanges Lernen verständigt. Ein weiteres Beispiel ist die nationale Task Force „Pharma“. Sie hat beschrieben, warum eine Strukturreform im Gesundheitswesen und der Ausbau der medizinischen und pharmakologischen Spitzenforschung notwendig sind. Diese Initiative könnte zum Ausgangspunkt einer europäischen Pharmapolitik werden – mit dem Ziel, die europäische

Pharmaindustrie im Wettbewerb mit der leistungsstarken amerikanischen Pharmaindustrie zu unterstützen. Die Europäisierung braucht solche Projekte, die einen klaren politischen Nutzen haben. Industriepolitik muss national fundiert sein und dann europäisch erweitert werden. Dies kann übrigens auch dazu beitragen, Europaskeptiker vom Gegenteil zu überzeugen. L

HUBERTUS SCHMOLDT

ist Vorsitzender der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie IG BCE. ULRICH FREESE

ist stellvertretender Vorsitzender der IG BCE. Von 1994 bis 2004 war er Landtagsabgeordneter der SPD in Brandenburg. 48

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Freiheit, Gleichheit und Solidarität DAS NEUE PROGRAMM ALS AUSGLEICH ZWISCHEN ZIVILGESELLSCHAFT UND UNTERNEHMEN VON GESINE SCHWAN

In Deutschland herrscht nach wie vor keine Aufbruchstimmung. Der Kern dieser gegenwärtigen Haltung, die viele Menschen zwischen Protest und Resignation schwanken lässt, liegt in der tiefen Verunsicherung der europäischen Gesellschaften durch die Herausforderungen der globalisierten Wirtschaft. Sie geht mit einer Vertrauenskrise gegenüber den jeweiligen Eliten und insbesondere den politischen Führungen einher. Die Menschen sind enttäuscht, weil sie keinen langfristigen Ausweg aus der Krise erkennen können und die Machtlosigkeit der Politik gegenüber den ökonomischen Prozessen spüren. In den meisten europäischen Staaten herrscht eine hohe Arbeitslosigkeit, die ganz wesentlich auf ein zu geringes Wirtschaftswachstum und eine zu geringe Binnennachfrage zurückzuführen ist. Hinzu kommen – ebenfalls im Zusammenhang mit der ökonomischen Globalisierung – verstärkte Arbeitsmigrationen, die die Verunsicherung steigern. Damit wachsen soziale

I.

Konfliktherde, deren Befriedung durch wachsenden Wohlstand gegenwärtig nicht in Sicht ist. So droht ein Negativzirkel zu entstehen, der die nationalstaatlichen Demokratien ebenso wie die Europäische Union in ihrer Substanz gefährdet. Politik der kleinen Schritte Die so kurz skizzierte Situation enthält Analogien zur Zeit der Entstehung der Sozialdemokratie im 19. Jahrhundert. Die rasante Entwicklung der kapitalistischen Wirtschaft hat damals soziale Missstände und Krisen, zum Beispiel die große Depression in den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts, im Gefolge gehabt, auf die die Arbeiter und Handwerker mit Protest und mit konstruktiven Gegenprogrammen reagiert haben. In der Folge gab es innerhalb der Sozialdemokratie Jahrzehnte lang einen Streit darüber, wie man die reformistische Politik der kleinen Schritte mit der grundsätzlichen Kritik am perspektive21

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[ gesine schwan ]

Kapitalismus vereinbaren könnte. Ein erheblicher Teil der Sozialdemokratie, auch außerhalb Deutschlands, glaubte nicht an die Möglichkeit, unter dem Dach des demokratischen Staates eine soziale Demokratie herstellen zu können, welche die scharfen sozialen Gegensätze einer ungeregelten kapitalistischen Wirtschaft zugunsten von Ausgleich und demokratischer Teilhabe aller Bürger dauerhaft überwinden könnte. Dass dies in der Tat bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts nicht gelungen ist, hat Deutschland, Europa und die Welt in eine Katastrophe mit Millionen von Toten gestürzt. Versöhnung mit der sozialen Marktwirtschaft Nach dem Zweiten Weltkrieg hat die Welt daraus Lehren gezogen. Eine der wichtigsten ist der Zusammenschluss der europäischen Staaten. Eine weitere Lehre ist das von der Sozialdemokratie im Jahre 1959 verabschiedete Godesberger Programm, das zum ersten Mal in ihrer Geschichte eindeutig auf die Fähigkeit des demokratischen Staates setzte, die wirtschaftliche Dynamik des Kapitalismus zu nutzen und die sozialen Schäden in seinem Gefolge durch die „soziale Marktwirtschaft“ auszugleichen. Diese Politik hat der Sozialdemokratie eine hohe Zustimmung eingebracht und die unteren Schichten der Gesellschaft über Ar50

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beits- und Mitbestimmungsgesetze zu gleichberechtigten Bürgern des demokratischen Staates gewandelt. Damit wuchs auf der Grundlage eines wachsenden Wohlstands ein verantwortlicher Grundkonsens heran, der in Begriffen wie „Sozialpartnerschaft“ oder „antagonistische Kooperation“ seinen Ausdruck fand. Der systematische Rahmen dieser Politik war der Nationalstaat, in Deutschland die westdeutsche Bundesrepublik. Der nationale Rahmen ist verloren gegangen Der Globalisierungsschub nach 1989 hat dieses komplizierte Politikmodell nach und nach aus den Angeln gehoben. Nach dem Ende der Systemkonkurrenz und infolge der gleichzeitigen technologischen Globalisierung ging die nationalstaatliche Demokratie als gemeinsamer normativer Bezugspunkt und legitimer Handlungsrahmen verloren. Das Ende der Sowjetunion machte auch dem Appell an die gemeinsame politische und sozial stabilisierte Freiheit in der Demokratie ein Ende. Stattdessen wurden die politische Freiheit und ihre Verankerung in der Würde aller Menschen mehr und mehr auf die wirtschaftliche Handlungsfreiheit, insbesondere der Kapitaleigentümer eingeschränkt. Auch das Ziel der sozialen Marktwirtschaft trat in den Hintergrund.


[ freihheit, gleichheit und solidarität ]

Das Modell der „sozialen Marktwirtschaft“, das den Wettbewerb durch politische Regeln sichern, Konjunkturkrisen einebnen und unsoziale Auswüchse des Marktes eindämmen soll, verlor aber auch deshalb an Boden, weil es in seiner nationalstaatlichen Grundlegung gegenüber der globalen Marktwirtschaft nicht mehr ohne weiteres „greift“. An seine Stelle ist zunehmend ein Denken getreten, das den ungeregelten, den „entfesselten“ Markt als Modell für eine gelingende Wirtschaft propagiert und staatliche Regelungen grundsätzlich als Störfaktoren betrachtet. Wenn die Sozialdemokratie über ein neues Grundsatzprogramm diskutiert, muss sie diese drei Faktoren – den Machtverlust des Nationalstaates, die wirtschaftliche Globalisierung und den Siegeszug einer neoliberalen Ideologie – zum Ausgangspunkt ihrer Debatte machen. Gefragt ist tatsächlich ein neues Godesberg in dem Sinne, dass in der Analyse das Verhältnis von wirtschaftlicher Marktdynamik, individueller Freiheit und sozialer Gerechtigkeit in der globalisierten Welt in eine neue Balance gebracht werden muss. Die historisch angelegte Grundfrage der Sozialdemokratie war: Wie können die sozialen Gegensätze und Ungerechtigkeiten der sich entwickelnden kapitalistischen Industriegesellschaft überwunden werden, so dass alle Men-

II.

schen ein freies, sinnvolles Leben führen können, eines, das sie in Solidarität, also als gemeinschaftlich lebende und verantwortliche Personen führen? Diese Frage hat die Sozialdemokratie im Lauf der Zeit immer wieder neu und anders beantwortet. An der Grundfrage allerdings hat sich nicht viel geändert. Spannungsverhältnisse werden immer bleiben Wir sind mit dem Widerspruch konfrontiert, dass die Wirtschaft aus ihrer Logik heraus den Menschen nur als Produktionsfaktor, als Mittel zum Zweck begreift, während die Politik den Menschen als Selbstzweck begreifen muss, um seiner selbst willen für ihn Politik machen muss. Wenn dieses Spannungsverhältnis, wie im Moment bei sehr vielen Neoliberalen, zugunsten einer reinen Instrumentalisierung der Menschen aufgelöst wird mit dem Scheinargument, das sei einfach wegen irgendwelcher Sachzwänge nötig, damit die Wirtschaft floriert, dann müssen wir Sozialdemokraten wissen, dass es gerade dieses Spannungsverhältnis immer geben wird. Und wir lassen uns nicht darauf ein, den einen Pol einfach wegzudiskutieren und dem anderen Pol die Herrschaft zu überlassen. Wenn wir das klar aussprechen und diskutieren, haben wir eine breite Mehrheit der Gesellschaft hinter uns. Denn niemand will im Ernst der Ökoperspektive21

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[ gesine schwan ]

nomie wirklich die alleinige Gestaltungsmacht überlassen. Ich denke, dass es in der momentanen Situation darauf ankommt, den Ausgangspunkt unserer Programmatik von dem folgenden Punkt aus zu bestimmen: Sozialdemokraten kommt es auf jede einzelne Person an, auf jeden einzelnen Menschen, nicht nur auf soziale Gruppen, nicht auf besondere Schichten, sondern auf jeden einzelnen Menschen, und zwar so wie er im lokalen, regionalen, nationalen, europäischen und globalen Zusammenhang steht und lebt. Natürlich können wir nicht für jeden Menschen in Afrika sorgen, aber dass das einzelne Individuum und sein Schicksal für uns wichtig sind und uns bewegt, ist trotzdem gültig. Dies sollte unser Fokus sein und das auf allen Ebenen, wo Politik gemacht wird. Damit ist zugleich klar, dass sozialdemokratische Politik nicht irgendwo anfängt und dann plötzlich endet, sondern das es – im positiven Sinne – um eine SisyphusArbeit geht: Der Stein muss immer erneut den Berg hinaufgerollt werden.

hang zu den vorangegangenen, wobei das Godesberger Programm mit seinem Übergang von der Arbeiter- zur Volkspartei und seinem klaren Bekenntnis zum demokratischen Staat die entscheidende Zäsur im Vergleich zu allen anderen sozialdemokratischen Grundsatzprogrammen brachte. Der Bestimmung der Herausforderungen, denen wir uns stellen müssen, schließe ich mich auch im wesentlichen an. Ebenso den Leitlinien, vor allem dem Prinzip der Inklusion, das heißt dem Grundsatz, Menschen oder Kontrahenten nicht von vornherein oder achtlos auszugrenzen, sondern, wo immer möglich, mit ihnen die Probleme gemeinsam zu lösen. Im Zentrum der bislang vorliegenden Leitlinien stehen drei politische Projekte. Es geht J darum, die Globalisierung zu gestalten und zugleich Europa politisch zu stärken und sozial weiterzuentwickeln, J um das Ziel, die soziale Marktwirtschaft weltweit zu erneuern, und J darum, einen vorsorgenden Sozialstaat aufzubauen.

In diesem Sinne sind die von Matthias Platzeck, Kurt Beck und Hubertus Heil vorgelegten Leitlinien unter dem Titel „Kraft der Erneuerung“ eine gute und hilfreiche Grundlage für die kommende Programmarbeit. Sie stellen das angestrebte neue Programm in einen klaren Zusammen-

Diese Schwerpunkte scheinen mir richtig gesetzt. Einzig der Begriff des „vorsorgenden Sozialstaats“ klingt für mich noch etwas schwammig, beschreibt aber, worum es gehen muss: Von der nachträglichen Korrektur von Schieflagen müssen wir zur Vorbeugung insbesondere durch Bildung

III.

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[ freihheit, gleichheit und solidarität ]

kommen. In einer immer unübersichtlicheren Welt müssen die Menschen sich so weit wie möglich instand setzen können, ihr Leben eigenständig und zusammen mit den Mitbürgern in die Hand zu nehmen. Der Sozialstaat nur begrenzt handlungsfähig Allerdings suggeriert das Festhalten am Begriff des „Sozialstaats“, dass Aktivierung und Sicherung der Menschen weiterhin vom Nationalstaat ausgehen könnten. Das ist wegen der globalisierten ökonomischen Rahmenbedingungen nur noch sehr begrenzt der Fall. Zwar fordern die Leitsätze zu Recht „die umfassende Hinwendung zur europäischen Dimension der Politikgestaltung“. Das überschreitet geografisch schon den Nationalstaat. Für die Gestaltung der ökonomischen Globalisierung und die Regelung von fairem weltweitem Wettbewerb aber bleiben die in den Leitsätzen genannten Akteure unzureichend und in ihrem Zusammenspiel unprofiliert. Ich plädiere ausdrücklich dafür, in Zukunft neben den – weiterhin unverzichtbaren – traditionell legitimierten politischen Akteuren die Unternehmen und die organisierte Zivilgesellschaft als Mitgestalter einzubeziehen. Das gilt von der globalen bis zur kommunalen Ebene: Wenn Umweltstandards in der Wirtschaft ausgehandelt

und dann auch kontrolliert werden sollen, brauchen wir die Kompetenz, die Verantwortungsbereitschaft und die Fantasie von Gewerkschaften, Umweltverbänden, Unternehmen und Parteien, um zu einem nachhaltigen Ergebnis zu kommen. Die Unternehmen müssen angesichts ihrer oft weltweiten Macht über ihre legitime betriebswirtschaftliche Sicht hinaus unbeirrt auf ihre „Bürgerverantwortung“ hin angesprochen und in die Pflicht genommen werden. Und die zivilgesellschaftlichen Zusammenschlüsse sollten von der SPD nicht nur als ehrenamtliche Helfer, die Gutes tun, in den Blick genommen werden, sondern auch als organisierte Partner, deren Sachverstand und Engagement notwendig, um die politische Willensbildung voranzubringen. Regieren durch Inklusion Dabei kann es zu Konflikten kommen und dafür muss sich auch die organisierte Zivilgesellschaft noch weiter qualifizieren: zum Beispiel durch Transparenz ihrer Ziele und Finanzierungen und durch den Abgleich ihrer Vorhaben mit anderen gesellschaftlichen Interessen. Deshalb müssen die letzten Debatten und Entscheidungen im Parlament bleiben. Aber: Die SPD sollte mutig zukünftige sozialdemokratische Politik als perspektive21

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[ gesine schwan ]

good governance genauer entwerfen und praktizieren. Sie wäre dann auf der Höhe der diesbezüglichen wissenschaftlichen Diskussion und hätte die Chance, Zugang zu einem riesigen Potenzial politisch engagierter Menschen weltweit zu finden, deren intelligenter Teil längst eingesehen hat, dass es umgekehrt ohne Parteien und legitime Parlamente und Regierungen nicht geht. Das verlangt von vielen in der Partei und in den Gewerkschaften einen neuen – offenen und zugleich kritischen – Blick auf ihre Konkurrenten von gestern, entspräche aber dem propagierten Ziel der „Inklusion“, das sich ja nicht nur auf die Integration von Ausländern beziehen kann. Ein Grundkonsens besteht heute nicht mehr Sehr gut gefällt mir die Forderung der Leitlinien, zu einer „neuen sozialen Übereinkunft“ zu kommen. In der Tat hat der neue Schub der ökonomischen Globalisierung nach 1989 radikal die Frage nach der Möglichkeit und nach den Voraussetzungen von Politik gestellt, wie sie in den „Gesellschaftsverträgen“ im 17. und 18. Jahrhundert paradigmatisch formuliert worden sind und eine zentrale Voraussetzung des demokratischen Rechtstaats bis heute darstellten. Eine solche grundlegende soziale Übereinkunft – ich nenne sie nach Ernst Fraenkel einen „Grund54

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konsens“ – haben wir derzeit nicht mehr, weder in Deutschland noch in den anderen fortgeschrittenen Demokratien. Die mentale Zerrissenheit der USA bietet dafür ein prägnantes Beispiel. Gleichheit als Würde und Gleichberechtigung Zu solch einer Übereinkunft gehört aber zentral und heute ganz besonders – neben der Entscheidung über die (zum Beispiel für die EU) wesentlichen verfassungsmäßigen Institutionen – die Grundlage der kulturellen Gemeinsamkeit, das also, was wir die demokratische politische Kultur nennen. Alle politischen Hebel helfen nicht, wenn die entsprechende Haltung der Menschen, ihre Initiativbereitschaft, Zuversicht, Vertrauensfähigkeit – also die politische Kultur dazu fehlt. Die Bildung in Finnland ist viel erfolgreicher, weil die Menschen grundsätzlich freundlich zueinander sind (die Freundschaft wird schon bei Aristoteles als wichtige politische Tugend gepriesen), weil sie von einem fundamentalen Gefühl der Gleichheit als gleicher Würde und als Gleichberechtigung ausgehen, weil sie ermutigen und stärken (empowerment), anstatt zu demütigen, weil sie neugierig und offen sind und sich nicht in erster Linie an ihren Vorurteilen festhalten wollen, weil sie inklusiv handeln und fühlen. Hier mangelt es


[ freihheit, gleichheit und solidarität ]

empfindlich in Deutschland. Hier liegt auch eine Verantwortung unserer so genannten Eliten, die oft noch – vor allem wo sie Macht haben – sehr autoritär eingestellt sind und ihre Vorurteile pflegen (mit all den negativen politischkulturellen Konsequenzen). Andererseits können wir jeden Tag erkennen, dass wir in Deutschland auch starke aufgeschlossene und zukunftgerichtete Potenziale haben. Eine Partei kann für sich allein keine politische Kultur produzieren, aber sie kann das Bewusstsein dafür (auch in den eigenen Reihen) unterstützen und sie gerade auch durch eine gelungene Praxis von good governance, die eben Zivilgesellschaft und Unternehmen einbezieht, stärken. Wenn das neue Grundsatzprogramm sich dieser Erkenntnis öffnet, ist ihm ein zukunftsweisender Charakter sicher. Die soziale Demokratie in Europa verankern Auch die Europäische Union wird bei den Bürgern in dem Maße Zustimmung finden, wie es ihr gelingt, solche good governance-Strukturen zum Wohl der Menschen herauszubilden. Gegenwärtig lassen die Bürger ihre Enttäuschung über ihre soziale Verunsicherung an der Europäischen Union aus. Denn noch ist nicht deutlich genug geworden, dass sich soziale Demokratie, als sozial fundierte und für alle Bürger geöffnete politische Freiheit, heute nur noch ver-

wirklichen lässt, wenn sie in europäischen und globalen governance-Regeln verankert ist. Der große französische Liberale Charles de Montesquieu hat in seinem berühmten Buch „Vom Geist der Gesetze“ nicht nur gegen überflüssige Gesetze gesprochen, sondern vor allem die politische Freiheit als die geistige Ruhe definiert, die jeder Bürger aus seinem Gefühl der Sicherheit gewinnt. Er bezog sich dabei auf die rechtsstaatliche Sicherheit vor obrigkeitsstaatlicher Willkür. Die Sozialdemokratie hat aus ihrer Erfahrung der sozialen Verwerfungen im 19. und 20. Jahrhundert diese Sicherheit auf die „Sicherheit vor Not und Furcht“ erweitert. Ich finde, am Ende eines Grundsatzprogramms sollte eine Vision nach dem großen Vorbild von Martin Luther Kings I have a dream stehen, ein starkes und ansprechendes Bild vom guten, gelungenen und sinnvollen Leben. Es gibt natürlich kein Paradies auf Erden. Die Politik kann auch nicht persönliches Leid aufheben. Aber der Traum von einer Gesellschaft, in der wir die Haustür offen lassen können, in der wir von anderen freundliche Antworten bekommen und ihnen auch freundlich begegnen, in der wir uns um andere kümmern, in der wir das Gefühl haben, wir fallen nicht hinten runter, wenn es mal schlecht geht, eine Gesellschaft, in der wir unsere Talente entfalten können, in der wir die

IV.

perspektive21

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[ gesine schwan ]

vielfältige Kultur als Chance gelungener menschlicher Begegnungen begreifen können und in der wir uns wohl fühlen, gebraucht werden und anerkannt

sind – das wäre so ein Traum einer Gesellschaft, in der ich leben möchte und von der ich denke, dass die Sozialdemokratie sie erstreben sollte. N

PROF. DR. GESINE SCHWAN ist Präsidentin der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder) und Mitglied der Grundwertekommission der SPD.

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Für eine neue soziale Gerechtigkeit ZIELE DES EUROPÄISCHEN WOHLFAHRTSSTAATS IM 21. JAHRHUNDERT VON PATRICK DIAMOND

ie Erneuerung der sozialen Demokratie und die Revitalisierung der europäischen Wohlfahrtsstaaten für das 21. Jahrhundert sind große Aufgaben. Um diese Ziele zu erreichen, müssen Sozialdemokraten die Werte der Gerechtigkeit und der Gleichheit neu interpretieren. Zugleich müssen sie neue politische Instrumente schaffen. Denn die traditionellen Ziele und Mittel sind nicht mehr angemessen. Europäische Sozialdemokraten sollten eine Strategie egalitärer Modernisierung verfolgen. Dies bedeutet im Kern eine doppelte konzeptionelle Verschiebung. Zunächst müssen die Ideale der an Gleichheit ausgerichteten Sozialdemokratie neu interpretiert werden. Sodann ist eine Begründung für einen europäischen „Sozialstaat der Möglichkeiten“ zu formulieren. Das europäische Sozialmodell sollte nicht mehr ausschließlich darauf ausgerichtet sein, Armut und Ungleichheit zu bekämpfen oder Menschen gegen vorhersehbare Risiken abzusichern. Dies sind die Ziele des traditionellen Sozialstaates.

D

Stattdessen muss es zukünftig darum gehen, neue Möglichkeiten zu schaffen. Es kommt darauf an, dass alle Menschen die Chance erhalten, ihre Potentiale voll zu entwickeln. Der früher auch im Deutschen anstelle des Begriffs „Sozialstaat“ übliche Begriff „Wohlfahrtsstaat“ enthielt noch diesen Sinngehalt von „Wohlergehen“ und „Wohlstand“. Der in diesem Sinn aktive Wohlfahrtsstaat muss ein Trampolin sein, der Erfolg ermöglicht, kein Sicherheitsnetz, das Menschen für den Rest ihres Lebens vor dem Scheitern schützt. Sein Ziel ist es, individuelle Freiheit für alle zu gewährleisten. Genau das ist die historische Mission der europäischen Sozialdemokratie seit Mitte des 19. Jahrhunderts. Die Erneuerung muss in einer Zeit bewältigt werden, in der sich in den kapitalistischen Staaten die neue Orthodoxie ausgebreitet hat, der Wohlfahrtsstaat stecke in der Krise. Seit den frühen neunziger Jahren haben führende Mitgliedsstaaten der EU begonnen, ihre Sozialsysteme neu auszurichten. Manche reformistischen Schritte perspektive21

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[ patrick diamond ]

sind gemacht, noch mehr bleibt zu tun. Alle Wohlfahrtsstaaten müssen mit den neuen Ungleichheiten eines Zeitalters der Individualisierung, der Globalisierung und des beschleunigten demografischen Wandels fertig werden. Bestehen bleibt der gesellschaftliche Konsens, dass Bürger nötigenfalls vor den Unbilden des Marktgeschehens geschützt werden müssen. Doch wenn die europäischen Wohlfahrtsstaaten wirklich revitalisiert werden sollen, ist eine Fundamentalrevision der traditionellen sozialdemokratischen Grundsätze nötig. Wo sich Gesellschaften wandeln, müssen ihre Grundlagen überprüft werden. Die linke Mitte in Europa muss eine neue Welle der programmatischen Erneuerung in Gang setzen. Ideale von Solidarität und Gerechtigkeit Der Wohlfahrtsstaat verkörpert die Ideale der Solidarität und der Gerechtigkeit, doch im Laufe der Zeit ist die genaue Bedeutung dieser Werte verloren gegangen. Im Westeuropa des 20. Jahrhunderts hielten Sozialsysteme die vom Markt geschaffenen Ungleichheiten in Grenzen und schützten zugleich die Schwachen vor dem Druck des industriellen Kapitalismus. Gleichwohl ging es dem Wohlfahrtsstaat mehr um Sicherheit als um soziale Gerechtigkeit. 58

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Die Geschichte des Wohlfahrtsstaates hilft, die Wurzeln der gegenwärtigen Krise zu erkennen. Im Laufe des 20. Jahrhunderts führte von Interessengruppen ausgeübter Druck zu einer Explosion der Ansprüche gegenüber dem Sozialsystem. Allzu leicht vergessen wird, dass Sozialisten den Wohlfahrtsstaat nicht als Mittel zur Verringerung von Ungleichheit betrachteten, sondern als Instrument, um „die Solidarität der Arbeiter durch ihren Schutz vor der Peitsche des Marktes zu ermöglichen“ (Daniel Wincott). Die noch Schwächeren mit ihren Bedürfnissen wurden zunehmend an den Rand gedrängt. Zugleich geriet in den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts auch die normative Philosophie der sozialen Gerechtigkeit, die den Wohlfahrtsstaat begründet, unter Dauerbeschuss. Der Neoliberalismus erschuf eine intellektuell ernstzunehmende Rhetorik gegen den sozialdemokratischen Staat. Davon hat sich dieser in Großbritannien und der angelsächsischen Welt kaum erholt. Auf dem europäischen Kontinent hingegen war der Einfluss des Neoliberalismus geringer. Es lohnt sich, über das Wesen der neoliberalen Kritik an der Sozialdemokratie und deren Bekenntnis zu sozialer Gerechtigkeit und größerer wirtschaftlicher Gleichheit nachzudenken. Genau diese Kritik hat die Verwirrung von Zielen und Mitteln ausgelöst, die heute zu besichtigen ist.


[ für eine neue soziale gerechtigkeit ]

Was war der Neoliberalismus? „Eine mächtige Rhetorik der Reaktion“, schreibt der Philosoph Raymond Plant. Erst „vor dem Hintergrund einer ziemlich matten moralischen Begründung der sozialen Demokratie“ habe die neoliberale Kritik „moralische Kraft und politischen Scharfsinn entwickelt“. Die neoliberale Position – am schärfsten herausgearbeitet bei Friedrich von Hayek – besteht darin, soziale Gerechtigkeit als moralische und politische Illusion zu beschreiben. Die Rechte schloss daraus, der Sozialstaat solle kein Mittel zur Verwirklichung größerer Gleichheit sein, sondern nur ein Sicherheitsnetz für jene, die sich nicht selbst zu helfen wüssten. Dies war nicht nur eine Folge tatsächlicher Schwächen des Sozialstaats, sondern auch eine Konsequenz seiner wackeligen moralischen und philosophischen Rechtfertigung. Wohlfahrtsstaat statt Klassenkampf Intellektuell behäbige Sozialdemokraten haben die Dauerhaftigkeit des kollektivistischen Nachkriegsstaates unterstellt. Liberale Theoretiker der europäischen Industriegesellschaft wiederum tendierten oft dazu, den Wohlfahrtsstaat als ein Phänomen zu betrachten, das die stabile liberale Ordnung des Kapitalismus im späten 20. Jahrhundert stütze. Er wurde als

die Vervollständigung der jahrhundertealten Bewegung hin zu voller und gleicher Bürgerschaft betrachtet. Nach dieser Lesart löste der Wohlfahrtsstaat den Klassenkampf, wie Marx ihn verstanden hatte, zugleich ab und auf. Kontinuierliche Weiterentwicklung Es ist jedoch zutreffender, dass Wohlfahrtsstaaten den Klassenkampf nicht beenden, sondern fortwährend in diesen verwickelt sind. Der Wohlfahrtsstaat ist, so gesehen, eine fragile Institution, hochgradig anfällig für ideologische Verschiebungen und Veränderungen des innerstaatlichen Machtgleichgewichts. Er erwies sich als zunehmend labil, als in den achtziger und frühen neunziger Jahren die Debatte mit den Neoliberalen verloren ging. Wenn also ein reformierter Wohlfahrtsstaat neue Ungleichheiten bekämpfen soll, muss daher zunächst die soziale Demokratie als moralisches und politisches Projekt wieder instand gesetzt werden. Soziale Gerechtigkeit neu zu verstehen erfordert eine Gegenkritik an der neoliberalen Position. Von Hayek hatte beispielsweise Unrecht, als er behauptete, die Kategorie der sozialen Gerechtigkeit sei von geringer Bedeutung, da die Ergebnisse des Marktes unbeabsichtigt seien und deshalb auch nicht ungerecht genannt werden könnten. Vielmehr entsteht soziale Ungeperspektive21

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rechtigkeit unabhängig davon, ob das zu ihr führende Handeln vorhergesehen oder beabsichtigt war. Werte und Philosophie neu begründen Nicht überzeugend ist auch die Behauptung, dass Freiheit die Hintanstellung sozialer Gerechtigkeit erfordere. Für die politische Rechte geht es um die Freiheit von Menschen, ein Leben entsprechend den eigenen Ziele und Interessen zu führen. Aber wenn Freiheit nur die Freiheit von Zwang und Behinderung ist, in welchem positiven Sinn ist sie dann wertvoll für uns? Es ist offensichtlich, dass Freiheit und „Fähigkeit“ miteinander verbunden sind. Exakt die Fähigkeit, zu tun und zu sein, macht Freiheit erst wertvoll. Im Kontext dieser neoliberalen Kritik müssen Sozialdemokraten ihre Werthaltungen und ihre egalitäre Philosophie auf neue Weise interpretieren. Ein Regierungsprojekt ist nicht lebensfähig oder nachhaltig, wenn Umverteilung und Sozialstaat allein aus pragmatischen Gründen aufrechterhalten werden. Eine explizite ideenpolitische Begründung ist nötig, damit die hier befürwortete doppelte konzeptionelle Verschiebung gelingen kann. Es gibt einen Unterschied zwischen moralischen und mechanischen Reformern in der Politik. Die Sozialdemokratie hat für bloß mechanische Refor60

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men seit 1945 einen hohen Preis entrichtet. Wo man versucht, eine politische Strategie zu verfolgen, die nicht eng an die Werte der Bevölkerung anknüpft, wird diese Strategie schnell zusammenbrechen, sobald sie von einem schlüssigeren und selbstbewusst vertretenen Glaubenssystem herausgefordert wird. Den Wohlfahrtsstaat zu revitalisieren erfordert eine als moralische und nicht bloß mechanische Strategie begriffene Erneuerung. Verteilung ohne Effektivität ? Aber die philosophische Begründung muss besser herausgearbeitet werden. Notwendig ist es, politische Argumente explizit so zu formulieren, dass sie zum gesellschaftlich geteilten Verständnis von Fairness und gerechtem Verdienst passen. Wir sollten uns in Acht nehmen vor allgemeinen Ideen, die bei näherer Betrachtung ohne präzisen Inhalt sind. Hochgradig grundsätzliche Begriffe von Gerechtigkeit und Gleichheit sind weniger nützlich, nachdem die empirischen Analysen von Armut und sozialer Exklusion seit den neunziger Jahren präziser geworden sind. Wie also sollten Gerechtigkeit und Gleichheit neu interpretiert werden? Traditionell haben die europäischen Sozialstaaten egalitär verstandene soziale Gerechtigkeit darin gesehen,


[ für eine neue soziale gerechtigkeit ]

die gerechte Verteilung von Gütern und Dienstleistungen zu verlangen – ganz gleich, ob sich damit für die betroffenen Menschen effektive Ergebnisse erzielen ließen. Dies aber reicht schlicht und einfach nicht aus, und es demonstriert das ungenügende sozialdemokratische Verständnis für Konzepte der Gerechtigkeit. Bemühungen, wirtschaftliche Ergebnisse einander anzugleichen, stärken nicht unbedingt auch die Lebenschancen der Menschen, denn die Bedürfnisse der Individuen sind höchst unterschiedlich. „Gleiche Fürsorge ist nicht identische Fürsorge“ Wie der Entwicklungsökonom Amartya Sen betont, sind Menschen mit gleichen finanziellen Ressourcen dennoch ungleich hinsichtlich ihrer Fähigkeiten. Ein Konzept des Wohlfahrtsstaates als Wächter der Gleichheit verdeckt die Notwendigkeit, die verschiedenen Fähigkeiten von Individuen zu berücksichtigen. Der britische Soziologe R. H. Tawney brachte dies bereits in den dreißiger Jahren auf den Punkt: „Gleiche Fürsorge bedeutet nicht identische Fürsorge. Sie wird nicht erreicht, indem unterschiedliche Bedürfnisse über einen Kamm geschert werden, sondern indem gleiche Mühe darauf verwandt wird, diese jeweils in angemessener Weise zu befriedigen … Je mehr sich eine Gesellschaft bemüht, allen ihren Mitgliedern gleiche Beachtung zu wid-

men, desto differenzierter wird … die Berücksichtigung der je besonderen Bedürfnisse von Gruppen und Individuen ausfallen.“ Unterschiedliche Bedürfnisse anerkennen Die Voraussetzung für eine erneuerte Vorstellung von sozialer Gerechtigkeit ist die Anerkennung unterschiedlicher Bedürfnisse. Uniformität schafft Gleichheit bestenfalls dem Namen nach. Das Individuum und nicht der Staat ist die beste Vertretungsinstanz eigener Interessen. Politik muss die Autonomie und Selbstachtung der Menschen stärken, ihre Integration in die Gesellschaft fördern und die Fähigkeit stärken, mit sich wandelnden wirtschaftlichen Bedingungen zurechtzukommen. Der Wohlfahrtsstaat bedarf passgenauer, individuell zugeschnittener Maßnahmen, die präzise und effizient denjenigen helfen, die Hilfe am dringendsten brauchen. Aktive Wohlfahrt muss den einheitlichen und interventionistischen Staat der Nachkriegszeit ersetzen. Diese auf Amartya Sen und den amerikanischen Philosophen John Rawls zurückgehende Konzeption hat mehrere Vorteile. Sie betrachtet den einzelnen Menschen als Ausgangspunkt und berücksichtigt damit die Individualisierung von Werten und Lebensstilen in den postindustriellen Gesellschaften des 21. Jahrhunderts. Rawls meinte, dass seine egalitären perspektive21

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Prinzipien eher durch eine Form von „Eigentümerdemokratie“ oder „Liberalsozialismus“ zu verwirklichen seien als durch einen kapitalistischen Wohlfahrtsstaat. Nachträgliche Umverteilung der Einkommen lässt große Ungleichheiten des Eigentums und des Humanvermögens unberührt und perpetuiert auf diese Weise die wirtschaftliche Ungleichheit, wie auch der Ökonom James Meade bestätigt. Rawls’ und Sens Vorstellungen von Gerechtigkeit betonen die Freiheit des Einzelnen, den Schutz der Menschen vor autoritären oder paternalistischen Eingriffen durch Staat und Gesellschaft. Zugleich erfordert Rawls’ in seiner Theorie der Gerechtigkeit entwickeltes „zweites Prinzip“ beträchtliche Umverteilung, indem es gleiche und faire Lebenschancen für die am wenigsten Privilegierten verlangt. Wie also sollte soziale Gerechtigkeit definiert werden? Der Politikwissenschaftler Wolfgang Merkel hat eine Rangliste der Prioritäten sozialer Gerechtigkeit in der postindustriellen Gesellschaft aufgestellt: J Den Kampf gegen die Armut – nicht nur wegen ökonomischer Ungleichheit selbst, sondern weil Armut (und besonders dauerhafte Armut) die Fähigkeit von Menschen zu Autonomie und Selbstachtung einschränkt. J Die Schaffung höchstmöglicher Standards in Bildung und Ausbil62

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dung, verbunden mit gleichen und fairen Zugangsmöglichkeiten für alle. J Die Gewährung von Beschäftigung für alle, die arbeiten wollen und arbeiten können. J Ein Wohlfahrtsstaat, der Schutz bietet und Würde sichert. J Die Begrenzung der Ungleichheit von Einkommen und Besitz, sofern sie die Verwirklichung der ersten vier Ziele behindert oder den Zusammenhalt der Gesellschaft gefährdet. Diese Formel liefert eine gute ideenpolitische Grundlage für die hier entwickelte egalitäre Modernisierungsstrategie. Sie stellt die Wirklichkeit einer hochgradig ausdifferenzierten Gesellschaft ebenso in Rechnung wie wirtschaftliche Notwendigkeiten. Sie macht auch klar, weshalb der Kampf gegen Kinderarmut absolut entscheidend ist. Natürlich gibt es innerhalb der Linken noch immer mit Leidenschaft geführte philosophische Auseinandersetzungen über das Wesen der Gleichheit. Die traditionelle Lesart der Chancengleichheit (als Gegenstück zur Ergebnisgleichheit) steht, wie sowohl Rawls als auch der britische Theoretiker und Politiker C. A. R. Crosland meinten, gedanklich auf schwachen Füßen. Chancenbasierte Gleichheitspolitik achtet zu wenig auf ungleiche Startvoraussetzun-


[ für eine neue soziale gerechtigkeit ]

gen wie den familiären Hintergrund oder die genetische Veranlagung. Individuelle Einkommensunterschiede haben ihre Ursachen zu großen Teilen in Umständen, auf welche die Menschen keinen Einfluss haben; folglich sind solche Unterschiede kaum je gerecht. Klar ist, dass Chancen und Ergebnisse untrennbar miteinander verbunden sind. Perverserweise haben manche kontinentalen Staaten Sozialleistungen beibehalten, die eine tückische Vorstellung von negativer Freiheit befördern. Das ist die vermeintliche Freiheit, zu möglichst günstigen Einkommensbedingungen außerhalb des Erwerbslebens zu bleiben. Dies untergräbt aktive Teilhabe: die Voraussetzung für Würde und Lebenszufriedenheit. Und es verhindert die tatsächliche Freiheit des eigenen Handelns und Entscheidens. Die sozialen Grundlagen des Selbstrespekts, wie es Rawls nennt, müssen gleich verteilt sein. Unterstützung über gesamten Lebenszyklus Diese Neuinterpretation führt zu einem auf Freiheit fokussierten Ideal sozialer Gerechtigkeit: Es geht um die Förderung und die Pflege individueller Fähigkeiten, zugleich um die Neutralisierung der Nachteile, die sich aus der Geburt in benachteiligte Verhältnisse hinein ergeben. Es geht weniger darum, wo sich ein Mensch zu einem bestimmten Zeitpunkt auf der Einkommensskala befin-

det, mehr hingegen um die individuelle Weiterentwicklung und die Vermeidung von Armut. Niemand sollte gezwungen sein, sein Leben in der Sackgasse kumulativer Benachteiligung, prekärer und unsicherer Arbeit verbringen zu müssen. Erforderlich ist eine Theorie der Verteilungsgerechtigkeit, die darauf abzielt, das Individuum über den gesamten Lebenszyklus zu unterstützen und zugleich besondere Bedingungscluster der Benachteiligung zu beseitigen. Chancen für alle schaffen Wenn egalitäre Prinzipien radikal revidiert werden, wird der Wohlfahrtsstaat des 21. Jahrhunderts effektiver helfen, die soziale Vererbung von Unterprivilegiertheit zu bekämpfen und zugleich Chancen und Gerechtigkeit für alle zu schaffen. Die eigentliche Frage ist heute nicht, ob wir in Zukunft einen Wohlfahrtsstaat haben werden, sondern welche Art von Wohlfahrtsstaat dies sein wird. Zu ihrer Beantwortung braucht die revisionistische Sozialdemokratie eine rigorose Wahrnehmung des sozialen und wirtschaftlichen Wandels. Drei Trends sind von enormer Bedeutung. Die erste Gruppe von Trends betrifft den demografischen Wandel. Die Bevölkerungen der westlichen Industriegesellschaften werden immer älter. Das Verhältnis von erwerbsaktiven zu nicht erwerbsaktiven Erwachsenen wird in perspektive21

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vielen EU-Mitgliedsstaaten ungünstiger. In den meisten Ländern Europas existiert heute umfangreicher Schutz gegen die Risiken des Alters, hingegen gibt es zu wenig Schutz vor den neuen sozialen Risiken in früheren Lebensphasen, etwa irreguläre Beschäftigung, familiäres Scheitern, Depression oder fehlende Qualifikation. Es gibt überwältigende Gründe, den Sozialvertrag zwischen den Generationen neu zu schreiben. Ganz besonders hängt die Zukunftsfähigkeit des Wohlfahrtsstaates im 21. Jahrhundert davon ab, ob es gelingt, gleichzeitig die Erwerbsbeteiligung von Frauen und deren verwirklichte Kinderwünsche zu steigern. Diese Trends spiegeln die wachsende gegenseitige Isolation von Arbeitswelt, Sozialstaat und Familie wider. Hierdurch sind in vielen EU-Ländern die Geburtenraten gefallen, während zugleich die Kinderarmut wuchs. Kinderarmut ist langfristig schädlich Die gesamte Einkommensverteilung eines Landes wird stark dadurch beeinflusst, wie viele Mitglieder der Haushalte wirtschaftlich aktiv oder inaktiv sind. Eine aktuelle Studie zur Einkommensverteilung in Finnland hat ergeben, dass die Zusammensetzung des Haushalts (also: ein Verdiener oder zwei, Anzahl der Abhängigen) für die Höhe des verfügbaren Einkommens 64

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wichtiger ist als die Schichtzugehörigkeit. Von der Schichtzugehörigkeit hingen die Unterschiede im individuellen Einkommen nach Steuern und Transfers nur zu 15 Prozent ab, während die Zusammensetzung des Haushalts 25 Prozent ausmachte. Gleichfalls belegen empirische Untersuchungen in Großbritannien, dass der Anstieg der Ungleichheit zwischen 1979 und 2004 in beträchtlichem Umfang auf demografische Faktoren zurückzuführen ist: auf Veränderungen der Haushaltszusammensetzung, Fertilitätsmuster und das Altern der Bevölkerung. Andere Untersuchungen belegen, dass hohe Geburtenraten und hohe weibliche Erwerbsbeteiligung sehr wohl zusammengehen können, wo eine integrierte Sozialpolitik betrieben wird. Zwischen der Höhe der Erwerbsbeteiligung von Frauen mit Kindern und Frauen ohne Kinder besteht in den nordischen Staaten kein Unterschied, sie liegt in beiden Fällen über 75 Prozent. Der Anstieg der Kinderarmut mit ihren vielen langfristigen Folgen ist ein weiterer schädlicher Trend. Die früheste Lebensphase ist für die Entwicklung des individuellen Humanvermögens von entscheidender Bedeutung. Es gibt einen wachsenden Berg von Belegen für die Bedeutung frühkindlicher Erfahrungen – von der Ernährung über die elterliche Pflege und Erziehung bis hin zur kognitiven Entwicklung in Kindergarten und Schule


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– für die spätere Leistungsfähigkeit. In Ländern wie Deutschland, Spanien, Italien und den Niederlanden übersteigt die Rate der Kinderarmut mittlerweile die Rate der Altersarmut. Erosion nationalstaatlicher Politik Bedeutsam ist zweitens der Einfluss der Globalisierung auf den Nationalstaat. Die Erosion wirtschaftlicher Souveränität hat traditionelle Formen von Nachfragemanagement obsolet gemacht und die Wirkung antizyklischer Maßnahmen geschwächt. Die schwindende Leistungskraft der kontinentalen Volkswirtschaften und ihr Scheitern im Kampf gegen die Arbeitslosigkeit haben diese Schwächen seit dem Beginn der neunziger Jahre zusätzlich hervorgehoben. Höhere Wachstums- und Beschäftigungsraten in der europäischen Wirtschaft erfordern mehr als nur bescheidene Korrekturen am Wachstumsund Stabilitätspakt. Fundamentale Reformen der regulativen Strukturen und Institutionen sind gefragt, ganz besonders auf den Arbeitsmärkten. Die Grundannahmen des Nachkriegssozialstaates erscheinen zunehmend fragwürdig. Versuche, sozialdemokratische Politik in einzelnen Nationalstaaten zu betreiben, haben sich als wirkungslos erwiesen. Zugleich aber sind interne soziodemografische Faktoren weit wichtigere Gründe für den Umbau

von Wohlfahrtsarrangements als die der Globalisierung zugeschriebene ökonomische Macht. Eine dritte Gruppe von Variablen betrifft die Nachfrage nach Arbeit. Die Barriere zum Einstieg in die Wissensökonomie liegt heute höher als zuvor. Das erforderliche Maß kognitiver Fähigkeiten wie Lesen, Schreiben und Rechnen ist seit den siebziger Jahren gestiegen. Die neue Wirtschaft hebt das Niveau der Fertigkeiten und Kompetenzen, die Menschen benötigen, um sichere und gut bezahlte Beschäftigung zu finden. Für die schlechter Qualifizierten wird es immer schwieriger, dauerhafte Arbeitsplätze zu erlangen, wie sie in der industriellen Wirtschaft der Nachkriegsjahrzehnte die Regel waren. Zugleich wächst das Risiko, im Zustand dauerhafter Armut zu verharren. Einkommensungleichheit wächst überall Bis in die frühen neunziger Jahre hinein galt es als ausgemacht, dass steigende Einkommensungleichheit allein Großbritannien, die Vereinigten Staaten, Neuseeland und Australien betreffe. Das deregulierte angelsächsische Modell ermöglicht die Preisbildung der Löhne am Markt. Dies schafft Arbeitsplätze, nicht aber Gerechtigkeit. In der übrigen EU verhinderten höhere Sozialleistungen und schärfere Arperspektive21

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beitsmarktregeln steigende Ungleichheit. Neueste Daten deuten jedoch darauf hin, dass die angelsächsischen Länder überhaupt keine Ausnahmen sind. Die neue Ungleichheit ist ein struktureller Bestandteil fast aller fortgeschrittenen kapitalistischen Gesellschaften. Die meisten von ihnen erlebten eine lange Periode der Einkommensangleichung zwischen 1945 und 1973 aufgrund verbesserter Bezahlung einfacher Arbeit sowie umverteilender Sozialpolitik. Gesellschaft der zwei Geschwindigkeiten Die Forschung zeigt jedoch, dass die meisten Länder seit den frühen neunziger Jahren einen deutlichen Anstieg der Ungleichheit verzeichnen. Die Schere zwischen hohen und niedrigen Einkommen hat sich geöffnet. Diese Trends sind in Deutschland, Frankreich, den Niederlanden, Dänemark und Norwegen am dramatischsten. In Frankreich etwa hat sich das Verhältnis, zwischen den Einkommen am oberen und am unteren Ende der Skala seit 1991 von 1:8 zu 1:16 verändert. Großbritannien hingegen weist – abweichend von der verbreiteten Annahme, dass die Einkommensunterschiede hier besonders groß seien – durchschnittliche Werte auf; diese liegen niedriger als in Frankreich. Einkommensunterschiede sind exponen66

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tiell gestiegen, weil niedrigere Einkommen am unteren Ende der Skala zusammenwirken mit der Schwächung verschiedener Schutzmechanismen wie Mindesteinkommen, gewerkschaftlicher Organisationsgrad oder Flächentarif. Dies schafft enorme soziale Dualismen: Heute sprechen selbst die Franzosen von der societé de deux vitesses und die Deutschen von der Zweidrittelgesellschaft. Schließlich gibt es die Europäisierung. Hier geht es um die umkämpfte politische Sphäre, in der sich Regierungen um stärkere wirtschaftliche, soziale und institutionelle Koordination bemühen könnten. Die Entwicklung der EU bleibt jedoch dominiert von Argumenten negativer Integration, also dem neoliberalen Glauben an einen größeren Binnenmarkt oder Freihandel, während die positive Integration in Form der Stärkung der sozialen Dimension Europas weniger Gewicht besitz. Die Debatten hierüber dürften noch lange andauern. Neue Lebenschancen, neue Risiken Wie effektiv haben die europäischen Wohlfahrtsstaaten auf diese Herausforderungen reagiert? Der sozioökonomische Umbruch und die Transformationen der Wirtschaft eröffnen ein Szenario größeren Wohlergehens, besserer Lebenschancen und neuer Freiheiten in Europa. Aber zugleich tauchen neue soziale Risiken auf:


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J die Unvereinbarkeit von Arbeit und Familie, J fehlender Zugang zu Bildung, J die Überflüssigkeit traditioneller Fertigkeiten, J und das Risiko des Ausschlusses aus den Zusammenhängen der Gesellschaft insgesamt. Den üblichen Reflex in den traditionelleren Wohlfahrtsstaaten beschreibt Maurizio Ferrara so: „Rückgriff auf kompensatorische Maßnahmen, die darauf abzielen, den Schaden für die betroffenen Menschen oder Gruppen zu verringern, nachdem dieser bereits eingetreten ist.“ Erst wenn ein unerwünschtes Ergebnis vorliegt, wird das soziale Sicherheitsnetz aktiviert. Zu den Maßnahmen dabei gehören Transferzahlungen, Umschulungen, Lohnsubventionen für benachteiligte Arbeitnehmer sowie Instrumente zur Bekämpfung von Exklusion. Solche Maßnahmen federn die Folgen von Armut und Arbeitslosigkeit jedoch bestenfalls ab, statt die Risiken zu antizipieren, die Menschen in diese Lage bringen. Notwendig sind daher proaktive und vorsorgende Strategien, die sich auf die schwächsten Gruppen konzentrieren, etwa auf Frauen, junge Familien und Kinder. Solche Systeme müssen aus der Sackgasse der „fürsorglichen Nachsorge“ herausführen. Der sozialdemokratische Wohlfahrtsstaat sollte sich darauf konzentrieren, Lebenschancen

zu schaffen, statt Kompensation anzubieten, nachdem das Kind schon in den Brunnen gefallen ist. Das erfordert die Verschiebung der Aufmerksamkeit von alten zu neuen sozialen Risiken sowie die gerechtere Verteilung von sozialen Schutzvorkehrungen, als sie die europäischen Sozialstaaten bislang zugelassen haben. Der neue Wohlfahrtsstaat muss die Anforderungen der Effizienz und der wirtschaftlichen Modernisierung in Einklang bringen mit den Erfordernissen der Verteilungsgerechtigkeit und der Chancengleichheit für alle. Wie gut sind die Wohlfahrtsstaaten ? Wie gut sind unter diesem Gesichtspunkt die europäischen Wohlfahrtsstaaten? Wolfgang Merkel hat das Niveau der sozialen Gerechtigkeit für eine Anzahl von OECD-Staaten anhand von fünf besonders wichtigen Indikatoren untersucht: Armut, Bildung, Beschäftigung, Sozialstaat und Einkommensverteilung. Es überrascht nicht, dass die vier skandinavischen Wohlfahrtsstaaten mit Blick auf die soziale Gerechtigkeit am besten abschneiden. Die kontinentaleuropäischen Staaten liegen in der Mitte. Deutschland beispielsweise schneidet hinsichtlich der – für die individuellen Lebenschancen entscheidenden – sozialen Investitionen schlecht ab. Dies schadet zugleich der Gleichheit unter den perspektive21

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Generationen und Deutschlands langfristigen wirtschaftlichen Aussichten. Ebenfalls beeinträchtigt die Struktur des deutschen Sozialstaats massiv Fortschritte auf dem Gebiet der Geschlechtergerechtigkeit. Was Wolfgang Merkel die konservative Orientierung des bismarckschen Sozialversicherungsstaates nennt, dient nicht dazu, Gerechtigkeit zu ermöglichen und Chancen der Aufwärtsmobilität zu eröffnen, besonders nicht für Frauen, Junge und Arbeitslose. Mehr Gerechtigkeit durch mehr Flexibilität Oft übersehen wird das britische „anglo-soziale“ Modell, das jedoch bemerkenswerte Stärken besitzt. Seit Labour 1997 die Regierung übernahm, sind verschiedene Maßnahmen am Arbeitsmarkt eingeführt worden, die die britische Erwerbsquote auf 78 Prozent gesteigert haben – gegenüber durchschnittlich 70,3 Prozent in der EU. Mehr als zwei Millionen Menschen zusätzlich haben Arbeit gefunden, die Arbeitslosigkeit liegt so niedrig wie nie zuvor in den vergangenen drei Jahrzehnten. Die Instrumente zur Steigerung der Beschäftigung umfassen konditionierte Sozialleistungen, zusätzliche Kinderbetreuungsplätze und Maßnahmen für mehr Flexibilität und Teilzeitarbeit, was die weibliche Erwerbsbeteiligung deutlich gesteigert hat. Auch im Kampf gegen die Armut 68

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im Allgemeinen hat Großbritannien deutliche Fortschritte gemacht. Die Zahl der Menschen, denen die Mittel fehlen, ihre Wohnungen zu heizen, hat sich halbiert. Die Säuglingssterblichkeit liegt niedriger denn je. In wichtigen Punkten hat sich Großbritannien vom amerikanischen Modell gelöst. Der britische Wohlfahrtsstaat kombiniert wirtschaftliche Dynamik und hohe Erwerbsbeteiligung mit steuerfinanzierten öffentlichen Dienstleistungen und aktiver Sozialpolitik. Der Welfare-to-work-Ansatz der LabourRegierung beispielsweise ist eher von Skandinavien als von den Vereinigten Staaten beeinflusst. Durch kompetente Wirtschaftspolitik wird so das Fundament für eine deutlich gerechtere Gesellschaft gelegt. Trotzdem große soziale Lücken Einige bedeutende Probleme bleiben jedoch bestehen. Der Sockel wirtschaftlicher Inaktivität in Großbritannien ist noch immer hoch. Über sieben Millionen Menschen partizipieren nicht am Arbeitsmarkt. 1997 gab es in jedem fünften Haushalt (20,1 Prozent) keine erwerbstätige Person; bis 2003 fiel diese Rate nur geringfügig auf 17 Prozent. Auch Kinderarmut bleibt ein tief sitzendes Problem der britischen Gesellschaft. Sehr viele trotz Erwerbsarbeit Arme (working poor) sind auf negative Steuern


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(tax credits) angewiesen, um Einkommen zu erzielen, von denen sie leben können. In gewisser Hinsicht hat Großbritannien seit 1997 Gleichheit und Gerechtigkeit hintangestellt, um Wachstum zu erzielen. Auch sozialräumlich betrachtet ist die Lücke zwischen den ärmsten Vierteln und den übrigen Gebieten gewachsen. Konflikte mit post-industrieller Wirtschaft Zugleich entstehen bedeutsame neue Parallelwelten am oberen Ende der Gesellschaft, die Teile der Mittelschichten von den öffentlichen Gesundheits- und Bildungssystemen ausschließen. Beispielsweise besuchen mehr als eine halbe Million Kinder private und unabhängige Schulen außerhalb des staatlichen Systems; mehr als ein Fünftel der Schüler in London besucht Privatschulen. Auf den Zusammenhalt der Gesellschaft wirkt sich dies schädlich aus. Der Philosoph Michael Sandel schreibt: „Die neue Ungleichheit hindert nicht nur die Armen daran, an den Früchten des Konsums teilzuhaben und ihre Ziele selbst zu wählen; sie bringt Reiche und Arme auch dazu, zunehmend separat voneinander zu leben. Dies alles zerstört die Idee der Bürgerschaft.“ Die Herausforderungen für die kontinentalen Wohlfahrtsstaaten sind ganz anders gelagert. Ihre Schwierigkeiten

liegen nicht so sehr in verbreiteter Armut und fehlenden Fertigkeiten, sondern in der chronischen Unfähigkeit, steigende Erwerbstätigkeit zustande zu bringen. Die wesentliche politische Antwort auf die Massenarbeitslosigkeit hat bis jetzt darin bestanden, Menschen zum Ausstieg aus der Erwerbsbevölkerung zu bewegen, was jedoch zu einem noch ungünstigeren Verhältnis von Arbeitenden zu nicht Arbeitenden führt. Zum einen leiden die kontinentalen Sozialstaaten an Finanzierungsformen, die unmöglich aufrechtzuerhalten sein werden, weil sie die Staatshaushalte überfordern und zu höherer Arbeitslosigkeit führen. Zweitens bestehen in diesen Ländern scheinbar unlösbare Insider-Outsider-Trennlinien. Maurizio Ferrera zufolge sind diese Systeme „in hohem Maße charakterisiert durch das Syndrom der Segmentierung ihrer Arbeitsmärkte … es gibt übermäßige Versicherungsvorteile für Erwerbstätige auf ‚garantierten‘ Arbeitsplätzen, die geradezu Eigentümer ihrer Jobs sind; andererseits fehlt es am angemessenem Schutz für jene, die in den schwächeren und randständigeren Sektoren beschäftigt sind.“ Hohe Anteile unbefristeter Erwerbstätigkeit behindern zugleich die Schaffung neuer Arbeitsplätze. Das Haupthindernis für mehr Jobs im privaten Sektor liegt im bestehenden hohen Gehaltsniveau. Zugleich fehlt es dem öffentlichen Sektor an Mitteln, neue perspektive21

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Beschäftigung zu schaffen, weil der Staat außerordentlich große wirtschaftlich inaktive Bevölkerungsgruppen finanzieren muss. Nach Gøsta EspingAndersens Einschätzung „kommen die kontinentalen westeuropäischen Wohlfahrtsstaaten in Konflikt mit den Erfordernissen der entstehenden postindustriellen Ökonomie“.

und Entwicklung, für Bildung sowie für Innovation auf dem Gebiet der Informations- und Kommunikationstechnologien haben die Skandinavier ihre größeren europäischen Nachbarn klar überholt.

Sozialsysteme mit Anreizen verbessern

Wenn es der Sozialdemokratie gelingen soll, intellektuell und politisch in Europa wieder Fuß zu fassen, dann müssen sowohl ihre fundamentalen Grundsätze als auch die politischen Instrumente, mit denen sie ihre Ziele verfolgt, gründlich überprüft werden. Dabei muss der moderne Wohlfahrtsstaat so eingerichtet sein, dass er sozialen Schutz in einer Welt des Wandels und der Unsicherheit bieten kann. Dazu gehört mehr als nur die Schaffung zusätzlicher Einrichtungen für lebenslanges Lernen. Flexibilität am Arbeitsmarkt und ein stärker pro-aktiv ausgerichtetes Bildungssystem schaffen allein noch keinen angemessenen Schutz in der weltweit im Wettbewerb stehenden Wirtschaft. In vielen Ländern und Sektoren entstehen neue und sichere Jobs nicht schnell genug, um diejenigen aufzunehmen, die in Landwirtschaft, Industrie oder Handwerk ihre Arbeit verlieren. Zudem erfordern moderne Arbeitsplätze typischerweise moderne Qualifikationen, die viele Beschäftigte in traditionellen Berufen nicht besitzen.

Anders steht das sozialdemokratische Modell der skandinavischen Staaten da. Diesen Ländern scheint die schwierige Kombination von sozialer Gleichheit und ökonomischer Effizienz gelungen zu sein. Es handelt sich um kleine, offene Volkswirtschaften, die in hohem Maße von wettbewerbsfähigen Exporten abhängen. Besonders Schweden wird immer wieder als paradigmatisches Beispiel einer zeitgemäßen sozialen Demokratie genannt. Hier sorgt der hohe Anteil von Doppelverdienerhaushalten für geringe Kinderarmut. Ebenfalls erfolgreich sind die skandinavischen Methoden der Aktivierung auf dem Arbeitsmarkt. Die nordischen Staaten haben ihre Sozialsysteme durch fein abgestimmte Anreize verbessert. Sie haben Teilzeitarbeit und Produktmärkte liberalisiert. Und sie haben ihre Investitionen in zukünftiges Wachstum beträchtlich ausgeweitet. Hinsichtlich ihrer Aufwendungen für Forschung 70

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Flexibler Arbeitsmarkt und Bildung kombinieren


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Zwar ist das langfristige Ziel einer wissensintensiven Wirtschaft in hohem Maße erstrebenswert. Schließlich würden so viele der Konflikte und Probleme gelöst, die dem Wohlfahrtsstaat seit den siebziger Jahren zu schaffen machen. Aber dieses Endziel zu erreichen ist schwierig. Nur eine Minderheit der Bevölkerung ist damit beschäftigt, international gehandelte Güter und Dienstleistungen zu schaffen. Zugleich erfordert internationale Wettbewerbsfähigkeit steigende Produktivität – zur Herstellung eines bestimmten Gutes sind immer weniger Arbeitskräfte nötig. Mit anderen Worten: Strategien zugunsten höherer Qualifikation schaffen nicht unbedingt mehr Arbeitsplätze. Mehr Wohlfahrtsstaat und nicht weniger Heute braucht die EU nicht weniger Wohlfahrtsstaatlichkeit, sondern mehr. Zugleich jedoch schafft die Formulierung einer neuen Sozialpolitik sehr handfeste Spannungen. Möglicherweise reicht das Wirtschaftswachstum in Europa nicht aus, um einen aktiven Wohlfahrtsstaat zu finanzieren. Eine Aktivierungspolitik, die oft jenen gelten muss, die am schwierigsten zu erreichen sind, ist notwendigerweise teuer. Hinzu kommt: Die gesellschaftliche Koalition, die einen universellen Wohlfahrtsstaat unterstützt, ist brüchig. Bestimmte politische Instrumente sind heute weniger brauchbar als in den

sechziger und siebziger Jahren. Daraus folgt nicht, dass traditionelle sozialdemokratische Werte über Bord geworfen werden müssen, wohl aber, dass sie neu zu interpretieren sind. Der sozialdemokratische Wohlfahrtsstaat ist das Ideal der Linken – unberührbar darf er jedoch nicht sein. Überwunden werden müssen die psychologischen Barrieren gegen den Revisionismus. Gesundheit ist Thema der Zukunft Die Geschwindigkeit des Wandels in Europa bedeutet auch, dass sich die Aufmerksamkeit innerhalb der nächsten 15 Jahre völlig neuen Problemen zuwenden wird, die Sozialdemokraten heute noch kaum wahrnehmen. Die soziale Immobilität von Menschen in gering bezahlten und niedrig qualifizierten Dienstleistungsjobs wird sich verstärken. In der EU steigt der Anteil der Haushalte ohne erwerbstätige Mitglieder. Gleichzeitig wird der Zusammenhang zwischen schlechter Gesundheit und sozialer Exklusion immer deutlicher erkennbar. Auch die multiplen Nachteile, die Mitglieder ethnischer Minoritäten in Europa erleiden, geraten klarer in den Fokus. Hier sind Kontroversen über Fragen der Kultur und Familienstruktur unausweichlich. Die Probleme, vor denen die Politik steht, befinden sich in schnellem Umbruch; das Gesamtbild ist heute komperspektive21

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plexer, als es noch vor einem Jahrzehnt wahrgenommen wurde. Es umfasst zunehmend Fragen des individuellen Verhaltens und der Kultur ebenso wie wirtschaftliche Gesichtspunkte. Als Folge der notwendigen Neuinterpretation von Gerechtigkeit und Gleichheit muss der europäische Wohlfahrtsstaat neue Ziele anpeilen. Genau darum geht es bei der doppelten konzeptionellen Verschiebung, die dieser Aufsatz beschrieben hat. Stillstehen bedeutet Scheitern Die europäischen Sozialdemokraten des späten 19. Jahrhunderts waren ebenso mutig wie radikal darin, im Gefolge von Industrialisierung und Urbanisierung die traditionellen Werte der Gemeinschaft und Gerechtigkeit, der Solidarität und Sicherheit neu zu definieren. Ihre Bereitschaft, kühn und inno-

vativ zu sein, hat den europäischen Wohlfahrtsstaat des 20. Jahrhunderts ermöglicht. Die Aufgabe für das 21. Jahrhunderts besteht darin, genauso ambitioniert auf die doppelte Herausforderung von Globalisierung und post-industrieller Wirtschaft zu reagieren. Dazu bedarf es eines neuen Revisionismus – einer an Werten und Lebenschancen orientierten erneuerten Konzeption von Sozialdemokratie und Wohlfahrtsstaat. Für Optimismus bleibt genug Grund. Politische Reformen, ethische Visionen, ökonomische Ideen und Sozialpolitik müssen – als Kern jedes Revisionismus – sorgfältig neu miteinander verwoben werden müssen, wenn soziale Demokratie und Wohlfahrtsstaat erneuert werden sollen. Aber wie Donald Sassoon zu Recht festgestellt hat: „Voranzuschreiten verschafft keine Erfolgsgarantie. Aber stillzustehen bedeutet sicheres Scheitern.“ N

Aus dem Englischen von Tobias Dürr. PATRICK DIAMOND

ist Direktor des progressiven Think Tanks Policy Network in London. Zuvor arbeitete er im Amt des britischen Premierministers. 72

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Gute Rentenpolitik fängt mit Babys an WELCHEN WOHLFAHRTSSTAAT BRAUCHEN WIR? VON GØSTA ESPING ANDERSEN

enn es um die Diagnose der Missstände unseres gegenwärtigen Sozialsystems geht, dominiert folgende Analyse: Die Alterung unserer Gesellschaften stellt uns vor ein großes Problem, nämlich das der Nachhaltigkeit. Wie können wir das ganze Wohlfahrtsstaats-Gebäude, das wir in der Nachkriegszeit errichtet haben, künftig finanzieren? Problemverschärfend wirkt die Tatsache, dass für die Jungen in Zukunft wenig übrig bleiben wird, wenn die Alten einen immer größeren Anteil unserer Ressourcen verbrauchen. Ich möchte diese Standardformel umkehren. Wie ich die Dinge sehe und, bisher ohne allzu großen Erfolg, den Politikern nahe zu bringen versuche, müsste unser Slogan etwa so lauten: Eine gute Rentenpolitik beginnt mit Babys. Das mag banal klingen, aber der Punkt ist ziemlich wichtig. Ich bin überzeugt, dass jeder Versuch, unsere Sozialpolitik zu erneuern und zu einer Neukonzeption des Wohlfahrtsstaats zu kommen, mit einer konsistenten Lebensverlaufsanalyse beginnen muss. Wer eine solide

W

Sozialpolitik für das 21. Jahrhundert entwickeln will, muss über Lebenszyklen nachdenken und darüber, was sich in unserem Lebensablauf verändert. Nach dieser Methode werde ich verfahren, um zu zeigen, dass jede gute Politik mit Babys anfängt. Das ist im Grunde nichts Neues. Der Gedanke stammt von Plato, und eigentlich wiederhole ich nur, was dieser vor Tausenden von Jahren sagte. Wenn wir vom Lebensverlauf ausgehen, lässt sich die Zukunft unserer Gesellschaften von zwei entgegengesetzten Enden her anpacken. Da meiner Auffassung nach alles mit Babys anfängt, lassen Sie mich mit den Alten beginnen. In demografischer Hinsicht und im Blick auf unsere Ressourcen, das Bruttoinlandsprodukt (BIP) insgesamt, ist die Geschichte bereits gelaufen. Ich glaube nicht, dass wir uns ernstlich vormachen können, wir würden die Lebensstandards der Alten in den kommenden 40 Jahren wesentlich senken. Wenn wir aber ein mehr oder weniger konstantes Lebenshaltungsniveau für die Alten ins Auge fassen, so perspektive21

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wird uns allein die Demografie gewaltige Zusatzausgaben abverlangen. Renten und Pensionen werden ungefähr 50 Prozent zusätzlich kosten, und – darüber wird weniger gesprochen, aber es ist vielleicht sogar noch wichtiger – wenn wir uns auch um Altenpflege kümmern wollen, werden wir ungefähr vier oder fünf Prozent des BIP zusätzlich dafür aufwenden müssen. Neue Verteilungskonflikte Die demografischen Daten besagen, dass der Bevölkerungsanteil der Alten um etwa 50 Prozent anwachsen wird. Allerdings vergessen wir oft, dass die Anzahl der Hochbetagten sich ungefähr alle 20 Jahre verdoppelt. Ob die Finanzierung nun eher über Staatshaushalte, Pensionsfonds oder sonst wie erfolgt: In jedem Fall kommen enorme Mehrausgaben auf uns zu. Insofern ist die Geschichte, wie ich schon sagte, gelaufen. Es geht also im Kern nicht darum, ob und wie wir die Aufwendungen für die Alten vermindern. Die Schlüsselfragen handeln von den verteilungspolitischen Konsequenzen, welche die eine oder andere Finanzierungsweise nach sich zieht. Zwei Verteilungsfragen stehen hier zur Debatte.1 Einmal die intergenerationelle Fairness: Wer wird für den Löwenanteil des erhöhten Finanzie-

rungsbedarfs aufkommen? Werden es die Jungen sein, indem wir für alle Zukunft am Umlagesystem festhalten, oder, im Falle der Umstellung auf ein Fondssystem, die Alten? Ich denke, weder die eine noch die andere Lösung würde irgendwelche Zustimmung finden, weil sie die ganze Last schlicht der einen oder anderen Gruppe aufladen und deshalb ungerecht sein würde. Aus diesem Grund werden wir ein System festgelegter Anteile entwickeln müssen. Die viel bedeutsamere Verteilungsfrage ist intra-generationeller Natur: In allen OECD-Ländern beruht die Rentenfinanzierung gegenwärtig nicht auf Gegenseitigkeit, sondern sie ist degressiv. Je mehr sie auf den Lohn- und Gehaltszahlungen beruht, desto degressiver ist sie. Denn man darf nicht vergessen, dass Langlebigkeit und Sterblichkeit nicht gleichmäßig verteilt sind. Die sozial gehobenen Schichten leben durchschnittlich etwa fünf bis sieben Jahre länger als die Durchschnittsarbeiter. Und diejenigen, die die Sonnenseite des Alterns genießen werden, sind eben jene, die das privilegierteste Leben geführt, die größten Einkommen und die meiste Lebenszeit akkumuliert haben. Es werden die Reichen sein, die sowohl hinsichtlich der Altersbezüge als auch hinsichtlich der Altenpflege profitieren.

1 Vgl. Gøsta Esping-Andersen, Why We Need a New Welfare State, Oxford 2002.

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Bei dem Finanzierungssystem, wie wir es in Ländern wie Deutschland haben, handelt es sich um ein rein degressives Verfahren, das über die nächsten 30, 40 Jahre hin den Alterungstrend finanzieren soll. Das gilt insbesondere für die Altenpflege. Und wenn wir uns in den kommenden Jahrzehnten nicht in Richtung auf ein System progressiver Finanzierung des Alterns hin bewegen, wird unser eigentliches Problem nicht in der (mangelnden) Nachhaltigkeit, sondern in der Legitimationskrise eines Systems bestehen, dass unausgewogen und ungerecht ist. Und dieses würde sich im Verlauf der Alterskurve der nächsten 20, 30 Jahre erheblich verschärfen. Wir sollten deshalb unsere Ökonomen nachdrücklich darum bitten, über dem buchhalterischen Blick auf gegenwärtige Finanzierungsfragen die verteilungspolitischen Konsequenzen des Alterns in den kommenden Jahren nicht zu vergessen. Die glücklichen Babyboomer Konzentrieren wir uns also auf den Lebensverlauf. Nehmen wir diejenigen, die heute Renten oder Pensionen beziehen. Das sind in der Regel unsere Väter und Mütter oder in manchen Fällen die Großeltern. Diese Generation ist auf historisch beispiellose Weise vom Glück begünstigt worden. Es handelt sich um die Ende der dreißi-

ger Jahre Geborenen, die während des Nachkriegsbooms erwachsen wurden, um dann von den stabilen Arbeitsplätzen und der jahrzehntelang anhaltenden Steigerung der Realeinkommen profitieren zu können. Diese Generation verfügt jetzt im Alter über enorme Ressourcen. Generation und Qualifikation Jetzt befassen wir uns mit einer Rentenreform und mit Entwürfen für einen Wohlfahrtsstaat, die 2040 oder 2050 zum Tragen kommen. Was wissen wir über das Glück oder das mögliche Schicksal derjenigen, die heute Kinder sind? Wird es ihnen eher so ergehen wie unseren Vätern, die heute im Ruhestand leben, oder eher wie jener unglücklichen Generation, deren Angehörige gerade rechtzeitig geboren wurden, um im Ersten Weltkrieg Soldat zu werden? Dies ist eine Rechnung mit vielen Unbekannten. Und doch braucht man keine Kristallkugel, denn wir kennen bereits eine Reihe Faktoren, die wir für eine Projektion oder eine Vorstellung davon, wie das weitere Leben der heutigen Kinder aussehen wird, heranziehen können. Wir wissen erstens, dass die Ansprüche an Fähigkeiten und Fertigkeiten gewaltig wachsen und weiter wachsen werden. Wir befinden uns im Übergang zu einer überaus wissensintensiven Wirtschaftsweise, in der alle Leperspektive21

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benschancen entscheidend von der Qualifikation abhängen. Wer heute über keine hohe Qualifikation verfügt, wird sich morgen im B-Team wiederfinden. Wir können also festhalten, dass Jugendliche, die heute ohne Oberschulabschluss oder vergleichbares die Schule verlassen, aller Wahrscheinlichkeit nach die prekären Stellen und Niedriglohnjobs von morgen haben werden – und dies ihr ganzes Leben lang. Das bedeutet auch, dass sie in der Regel arm sein werden, wenn sie gegen 2040 vom Arbeitsleben in den Ruhestand überwechseln. Mindestrente für alle Eine Rolle spielen wird zweitens auch die Tatsache, dass die steigende Einkommensungleichheit kein vorübergehendes Phänomen unserer Tage, sondern ein dauerhafter Trend ist. Wie dramatisch sie ausfallen wird, lässt sich nicht vorhersagen. Viel wird von Konjunkturzyklen und anderen Faktoren abhängen, aber fest steht, dass unserer Wirtschaftsweise ein Trend zu verstärkter Einkommensdifferenzierung innewohnt. Das bedeutet natürlich auch mehr Ungleichheit bei den lebenslang akkumulierten Einkommen, was sich ebenfalls auf die Situation im Ruhestand 2040 auswirken wird. Drittens gehört auch der „Job fürs Leben“ mehr oder weniger der Geschichte an. Es wird viel mehr prekäre 76

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Beschäftigungsverhältnisse geben. Diese mögen gut oder schlecht sein, jedenfalls werden sie ein mehr oder weniger stabiles Beschäftigungsmuster in unserem Lebensverlauf bilden. Wenn das so ist, wäre es meines Erachtens mehr als gewagt, in Sachen Altersversorgung heute radikale Strategiewechsel vorzunehmen, ohne dabei die Tatsache in Betracht zu ziehen, dass wir in 50 Jahren eine ziemlich große Klientel haben könnten, die bettelarm sein und kaum über Ressourcen verfügen wird. Was würden Sie in dieser Lage tun? Eines ganz sicher nicht: Sollten Sie schon irgendeinen Anspruch auf Grundversorgung oder eine Mindestrente haben, würden Sie ihn heutzutage wohl kaum aus dem Fenster werfen. Natürlich hängt es von der Bevölkerungsgröße ab, und es macht einen großen Unterschied, ob der Prozentsatz der Kinder oder Jugendlichen, die die Schule vorzeitig verlassen, heute nur 10 Prozent beträgt wie in einer durchschnittlichen skandinavischen Statistik oder 30 Prozent wie gegenwärtig in Spanien. Aber mögen es nun 10 oder 30 Prozent sein, voraussagen lässt sich vermutlich, dass zumindest einer beträchtlichen Minderheit langfristige Lebensrisiken drohen – und zwar in hohem Maße. Das ist ein starkes Argument dafür, dass wir irgendeine Art garantierter Mindestrente für alle Bürgerinnen und Bürger brau-


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chen, wenn es im Alter künftig zumindest eine Grundsicherung geben soll. Je mehr wir die Altersversorgung unter der Voraussetzung, dass sie bezuschusst wird, dem privaten Rentenmarkt überlassen, desto klarer lässt sich hieraus ein vorzügliches Grundprinzip ableiten: Für jeden Prozentpunkt, um den die aus Steuermitteln bezuschussten Privatpensionen wachsen, sollte es auch ein Prozent Wachstum bei der garantierten Mindestrente für alle geben. Dieses Prinzip könnte das Herzstück eines Systems langfristiger Rentensicherung sein. Nun hängt das Ausmaß des Problems, vor dem wir morgen stehen werden, von dem ab, was wir heute tun, und dies nicht so sehr im Hinblick auf Renten und Pensionen, sondern darauf, was wir heute mit unseren Kindern machen. Wie viel werden wir in sie investieren? Das ist die Schlüsselfrage und der Grund, warum eine gute Rentenreform bei den Kindern anfängt. Kinderwunsch ist weiter groß In Kinder zu investieren, hat zwei Seiten. Einerseits geht es um quantitative, andererseits um qualitative Dimensionen. Bei der quantitativen Seite kann ich mich kurz fassen. In allen entwickelten Ländern wünscht sich der typische erwachsene Bürger heute ungefähr 2,2 oder 2,3 Kinder. Zwischen Mann

und Frau gibt es in dieser Hinsicht keinen großen Unterschied. Es spielt auch keine große Rolle, ob man hoch- oder unqualifizierte Frauen fragt. So sieht die Kinderzahl aus, die der typische Europäer gern hätte. Die Anzahl der Kinder, die ein typisches europäisches Paar tatsächlich bekommt, liegt in manchen Ländern hingegen bei der Hälfte der Wunschzahl. Insgesamt ist die Kinderlücke enorm, weniger ausgeprägt in Nordeuropa, in Skandinavien, Großbritannien und Frankreich, drastischer in Süd- und geradezu dramatisch in Mitteleuropa. Geburtenrate mit großer Wirkung Nun ist die Kinderlücke aus meiner Sicht wahrscheinlich der beste Indikator dafür, dass mit unserem Wohlfahrtsstaat etwas grundlegend falsch läuft. Wenn die Leute nicht in der Lage sind, sich die Familie zu schaffen, die sie wirklich wollen, ist mit unserer Gesellschaft etwas ernstlich nicht in Ordnung, und ein Teil des Problems steckt möglicherweise in der Art Wohlfahrtsstaat, die wir heute haben. Vielleicht liegt das Problem auch in der Art Arbeitsmarkt, den wir haben, und vielleicht ebenso im dramatischen, geradezu revolutionären Wandel der weiblichen Biographien. Tatsächlich liegt es an allen dreien. Eine kurze Bemerkung zur Bedeutung der Geburtenrate. Nehmen wir perspektive21

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zur Veranschaulichung den Unterschied zwischen einer Geburtenrate von rund 1,3, dem deutschen Niveau, und einer Rate von 1,9. Wenn die deutsche Rate so bleibt, wie sie heute ist, wird die Bundesrepublik am Ende dieses Jahrhunderts nur noch 25 Prozent seiner gegenwärtigen Bevölkerungszahl haben. Bei einer Geburtenrate von 1,9 betrüge der Verlust nur etwa 15 Prozent der gegenwärtigen Bevölkerungszahl. Auf lange Sicht bewirkt eine kleine Veränderung also gewaltige demografische Unterschiede. Kosten steigen, Hilfe nicht Man muss kein Naturapostel sein, um sich über geringe Fertilität Sorgen zu machen. Die wichtigsten Argumente dafür habe ich vorgetragen. Aber was ist die eigentliche Ursache des Phänomens? Ich denke, sie besteht darin, dass die Kosten dafür, Kinder zu haben, rapide gestiegen sind, die finanzielle Unterstützung dafür jedoch nicht. Andererseits ist aber parallel zum Anstieg der Kosten, die Kinder verursachen, auch der allgemeine gesellschaftliche Wert des Kinderhabens rapide gewachsen. Nehmen Sie nur mich als Beispiel: In etwa 15 Jahren werde ich wahrscheinlich in den Ruhestand gehen, und wenn wir heute nicht produktiv sind und eine Menge Kinder bekommen, die meine Rente bezahlen werden, habe ich morgen ein 78

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Problem. Es liegt in meinem persönlichen Interesse, dass es heute gesunde, produktive Kinder gibt. Kinderbetreuung ist Schlüssel Das ist ein externer Effekt, mit dem vermutlich alle einverstanden sein können. Der wahre Preis, den Kinder kosten, hat weniger mit den Pampers-Preisen zu tun, als vielmehr damit, mit welchen Zusatzkosten Frauen rechnen müssen, die Kinder bekommen. Diese Kosten können enorm hoch sein, je nach dem Ausmaß, in dem Frauen sich gezwungen sehen, Unterbrechungen ihrer Karrieren in Kauf zu nehmen. Wir alle kennen die Grundausstattung, die eine mütter- oder familienfreundliche Politik ermöglichen kann. Der Schlüssel liegt – welche Überraschung! – im Zugang zu bezahlbarer und qualitativ hochwertiger Kinderbetreuung. Kinderbetreuung allein wird im Hinblick auf die Steigerung der Fertilität keine Wunder bewirken, aber eine gewisse Zunahme steht schon zu erwarten. Man rechnet mit einer um 0,1 bis 0,3 Punkte erhöhten Geburtenrate. Und auf diesem Felde haben, worauf ich bereits hinwies, schon geringfügige Veränderungen enorme Folgen. Gäbe es in der Bundesrepublik eine Kinderbetreuung, die die Geburtenrate um etwa 0,3 Punkte steigerte, könnte Deutschland in dieser Hinsicht mit Dänemark gleichziehen.


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Es gibt aber noch eine andere Dimension, und aus diesem Grunde ist Kinderbetreuung eine zentrale, aber keine hinreichende Erfolgsbedingung. Die einschlägige Forschung zeigt immer deutlicher, dass ein zweiter Schlüssel in den wirtschaftlichen Verhältnissen liegt. Manche Arbeitsplätze sind frauenfreundlich und manche nicht. Arbeitsplatzsicherheit ist fundamental. Zeitverträge haben erhebliche Auswirkungen auf die weibliche Geburtenrate. In bestimmten Ländern, wo Zeitverträge üblich sind, wie etwa Spanien, lassen sich geradezu dramatische Folgen beobachten. Ein dritter Aspekt betrifft die Männer. Wollte man den Wandel der Lebensverläufe kartographieren, der sich in den vergangenen 50, 60 Jahren vollzogen hat, so würde sich zeigen, dass all diese Veränderungen die Frauen betreffen, während die Männer sich fast überhaupt nicht gewandelt haben. Nach meiner Überzeugung ist die Logik der postindustriellen Gesellschaft vor allem weiblich bestimmt, vorangetrieben von den Veränderungen im Lebensverlauf der Frauen. In vielen Ländern ist der weibliche Lebensverlauf wahrscheinlich „maskulinisiert“ worden – ganz gewiss in Nordamerika und in Nordeuropa. Der Lebensverlauf der Männer hat sich demgegenüber fast gar nicht verändert. Es gibt immer mehr Belegmaterial dafür, dass Geburten, besonders bei den gebilde-

teren Frauen, zunehmend davon abhängen, ob sie eine Garantie oder die begründete Erwartung haben, dass ihr Ehemann oder Partner Mitverantwortung übernimmt, sich also an der Betreuung des Babys beteiligen wird, an der Hausarbeit etc. Das wird mehr und mehr zur Vorbedingung der Geburten, besonders unter den gebildeteren Paaren. Wahrscheinlich ist es zur Erhöhung der Geburtenrate auf lange Sicht erforderlich, dass die Männer anfangen, Teile ihres Lebensverlaufs zu „feminisieren“. Politik der Entfamilisierung Schließlich wirken die Kosten der Kinderbetreuung wie das Äquivalent einer degressiven Besteuerung berufstätiger Frauen. Das gilt besonders, wenn ausschließlich kommerzielle Kinderbetreuungseinrichtungen den Zugang zu derartigen Dienstleistungen eröffnen, denn die verlangen hohe Preise und nehmen dabei keine Rücksicht darauf, ob jemand viel oder wenig Geld hat. Deshalb wirkt dieses System degressiv, als eine enorme Belastung weiblicher Berufstätigkeit. Wenn Sie zwei kleine Kinder haben, die sie in einem kommerziellen Kinderbetreuungszentrum unterbringen müssen, dann frisst das mehr als 50 Prozent des mittleren Fraueneinkommens auf, egal in welchem europäischen Land Sie leben. Das ist eine gewaltige perspektive21

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Steuer und überaus regressiv. Zusammengefasst handelt es sich bei der quantitativen Seite des Themas Kinder in der Tat um ein Problem der traditionellen familialistischen Annahmen der Sozialpolitik. Die gehen davon aus, dass Familien das Thema Kinder intern regeln und es deshalb darauf ankommt, die Verantwortung innerhalb der Familie selbst zu stärken. Da dieser Ansatz offensichtlich unwiderruflich gescheitert ist, benötigen wir jedoch ein anderes Konzept: Um die Familie zu retten, brauchen wir paradoxerweise eine Politik der Entfamilialisierung. Wir müssen Praktiken einführen, die traditionellerweise von den Familien selbst erbrachte Leistungen nach und nach übernehmen und externalisieren. Hindernisse für Familien Wir stimmen vermutlich alle darin überein, dass eine Rückkehr der Frauen in die Haushalte während der nächsten Jahrzehnte ebenso wenig möglich wie wünschenswert ist. Es lohnt nicht einmal, darüber auch nur zu diskutieren. Jedenfalls würden wir, käme es doch so, an unserer Rentenhöhe wenig Freude haben. Gehen wir also zu der qualitativen Seite des Themas über, die ich für die entscheidende halte. Hier gilt zunächst einmal, um einen Ausdruck der Pokerspieler zu verwen80

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den, dass die Einsätze steigen. Was etwa die Qualifikationen angeht, die man heute braucht, um gut leben zu können, steigen die Einsätze unaufhörlich. Noch in der Generation meines Vaters konnte man gut leben, auch wenn man nur gering qualifizierte Tätigkeiten ausübte. Morgen wird das nicht mehr gehen. Es steigen die formalen Anforderungen an Ausbildungsgänge und Abschlüsse, aber wohl noch wichtiger sind die steigenden Anforderungen an Qualifikationen, von denen in der Vergangenheit kaum die Rede war. Ich denke an Stichworte wie emotionale Intelligenz und Sozialkompetenz, vor allem aber kognitive Fähigkeiten. Unsere Ökonomie ist zunehmend wissensintensiv. Sie verlangt die Fähigkeit, Wissen aufzunehmen, es schöpferisch anzuwenden und produktiv umzusetzen. Genau darum geht es, wenn wir von kognitiven Fähigkeiten reden, und eben deshalb werden diese immer wichtiger. Wenn sie Leute einstellen, testen amerikanische Firmen heutzutage erst einmal deren kognitive Kompetenz. In Europa dürfte künftig ähnlich verfahren werden. Wie dem auch sei: Kognitive Kompetenz ist jedenfalls das sine qua non. Nun liegt, wenn man Psychologen fragt, ein wesentlicher Aspekt kognitiver Fähigkeiten darin, dass diese auf die allerersten Phasen der Kindheit zurückgehen. Der kritische Lebensab-


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schnitt liegt vor dem Einschulungsalter, also bevor die Kinder mit der Schule überhaupt in Berührung kommen. Von Null bis Sechs – in dieser Spanne liegt den Psychologen zufolge ein „Fenster“, von dem sehr viel abhängt. Das ist aber genau das Alter, in welchem Kinder traditionellerweise privatisiert werden. Ihre wichtigsten Anregungen erhalten sie während dieser Zeit innerhalb der familiären vier Wände. Anstieg der Kinderarmut Die zweite grundlegende Tatsache ist die zunehmende Einkommensdifferenzierung. Wir werden künftig mehr und mehr Einkommensungleichheit haben. Dies geht einher mit einer Verschlechterung der Lage junger Familien, besonders solcher mit Kindern. Ein Blick auf die Armutsstatistiken der letzten zehn Jahre zeigt, dass es in fast allen Ländern einen Anstieg der Kinderarmut gibt. Familien mit Kindern passiert das Gleiche: Sie geraten in einen relativen Rückstand zu anderen Teilen der Bevölkerung. Familien mit Kindern schwimmen also gegen den Strom, während die Kosten für das Aufziehen von Kindern steigen. Hier zeichnet sich ein alarmierendes Spannungsverhältnis ab. Die strukturelle Transformation unserer Gesellschaften zeigt sich drittens auch in dem stark zunehmenden

Streben nach „Bildungshomogenität“ in der Partnerschaft, das heißt danach, einen Partner gleichen Bildungsstands zu finden. Anders ausgedrückt: Die Menschen suchen ihre Partner zunehmend unter dem Aspekt des Humankapitals aus, über das sie verfügen. Das gilt besonders für die oberen Ränge der Gesellschaft und hat auf lange Sicht massive, tendenziell polarisierende Konsequenzen. Wenn zwei YuppieManager sich zusammentun und heiraten, versprechen sich beide davon eine Stärkung ihrer Position. Auf der anderen Seite wird man, spiegelbildlich, zwei Menschen mit sehr begrenzten Ressourcen sehen, weniger gebildete und weniger gut ausgebildete Leute, die auch dazu tendieren, untereinander zu heiraten. Entscheidend sind die Eltern Das hat offensichtlich große Konsequenzen für die Fähigkeit von Familien, in ihre Kinder zu investieren. Das Investitionspotential von Eltern wird die Ungleichheiten, die unterschiedlichen Ressourcen unter den verschiedenen Elterngruppen ziemlich genau widerspiegeln. Zwei beruflich erfolgreiche Menschen mit Vollzeitstellen und zwei vollen Einkommen besitzen, sofern sie Kinder haben, enorme Ressourcen, sich um diese zu kümmern und in sie zu investieren. Das Problem besteht darin, dass wir am anderen perspektive21

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Ende die Arbeitslosenhaushalte finden, wo beide Elternteile ohne Job sind. Diese haben nur sehr geringe Ressourcen, die sie ihren Kindern weitergeben und mit denen sie deren Entwicklung sicherstellen können. Je weiter diese Polarisierung geht, desto ungleicher werden die Kinder sich entwickeln. Ein letzter Punkt: Es wird immer deutlicher, dass Bildungsreformen das Problem nicht lösen können, ebenso wenig lebenslanges Lernen oder Aktivierungsmaßnahmen oder sonstige Interventionen im Nachhinein. Sie bewirken nicht viel, weil alles davon abhängt, stark zu starten, und die Zeit für einen starken Start liegt im frühen Kindesalter. Spätere Korrekturversuche bleiben im Allgemeinen wirkungslos und kosten viel. Wenn überhaupt, liefern sie nur sehr bescheidene Ergebnisse. Deshalb müssen wir unser Denken umstellen und uns stärker auf die frühe Kindheit konzentrieren anstatt, wie bisher, auf aktive Arbeitsmarktpolitik für Erwachsene, seien sie jung oder alt. Soziale Vererbung Aber was wissen wir über die Vermittlung von Lebenschancen an Kinder? Nun, wir kennen beispielsweise den Zusammenhang zwischen sozialer Vererbung und Einkommensmobilität. Je höher die Kennziffer der Sozialvererbung ausfällt, desto weniger Mobilität gibt es. In Großbritannien ist die Ein82

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kommensverteilung unter den Kindern zu etwa 50 Prozent von der Elterngeneration ererbt. Soziale Vererbung spielt also eine gewaltige Rolle. In Dänemark werden die niedrigsten intergenerationellen Korrelationen verzeichnet. Das verblüfft, denn in Dänemark gibt es die im Vergleich zu allen anderen europäischen Ländern wahrscheinlich heftigste öffentliche Debatte über das, was man bei uns „negative Sozialvererbung“ nennt. Das ist eines der heißesten Themen in der dänischen Diskussion. Dabei schneidet Dänemark hier international am besten ab. Auch wenn wir uns den Einfluss der sozialen Herkunft auf das Bildungsniveau anschauen, finden wir Dänemark wiederum unter den Besten, während Länder wie Großbritannien oder die Vereinigten Staaten – und übrigens auch Deutschland – ziemlich schlecht abschneiden. Je ungleicher die Einkommensverteilung ist, die wir in einer Gesellschaft haben, desto ungleicher investieren die Eltern in das Leben und die Zukunft ihrer Kinder. Nun würde man annehmen, dass es in Ländern mit einem hohen Maß an Gleichheit auch ein hohes Maß an sozialer Vererbung gibt. Mehr Ungleichheit … Überraschenderweise schneidet jedoch das Land, das für Mobilität und Lebenschancen steht wie kein anderes –


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die USA mit einem Rockefeller, der als Schuhputzjunge beginnt und als Millionär endet – gerade im Hinblick auf die Mobilität mit am schlechtesten ab. … weniger Mobilität Das Folgende möchte ich deshalb viermal unterstreichen: Je mehr Ungleichheit wir haben, desto weniger soziale Mobilität und Einkommensmobilität können wir erwarten. Gleiches gilt auch auf anderen Gebieten, etwa bei der Langlebigkeit von Armut oder von Niedrigeinkommen. Wo immer Sie hinschauen, finden Sie ziemlich genau die gleiche Korrelation. Was steckt nun hinter diesem Sozialvererbungs-Effekt und der Auswirkung elterlicher Ressourcen auf den Weg der Kinder? Wir kennen zwei Grundquellen der Ungleichheit. Die eine könnten wir als das „Geld-Problem“ bezeichnen, die andere als das „Kultur-Problem“. Wir wissen, dass wirtschaftliche Unsicherheit und Armut im Kindesalter potentiell verheerende Konsequenzen für die Entwicklung von Kindern haben. Forschungen aus den USA zeigen, dass, wenn ein Kind in Armut geboren wird oder aufwächst, sich die frühkindliche Armut besonders schlimm auswirkt. Ein armes Kind wird im Durchschnitt zwei Jahre weniger auf der Schule verbringen. Amerikanische Forschungen kommen in der Regel zu dramatischeren Ergebnissen als europäische, aber auch

hier bestätigt sich überall mehr oder weniger dieselbe Geschichte: Kinderarmut und wirtschaftliche Unsicherheit sind außerordentlich schädlich für das schulische Vorankommen und die allgemeine Entwicklung der Kinder. Das erzeugt natürlich das ganze Leben des Kindes hindurch Folgewirkungen. Wird jemand beispielsweise in den USA arm geboren, so wird er oder sie höchstwahrscheinlich später ein armer Vater oder eine arme Mutter sein. Wir übertragen die Ungleichheit von Generation zu Generation. Armutsbekämpfung ist billig Die gute Nachricht für Politiker, die das Armutsproblem lösen wollen, lautet, dass dies in makroökonomischer Perspektive kaum etwas kosten muss. Makroökonomisch gesehen, entspricht der Aufwand etwa den Kosten, wenn wir nachmittags ausgehen und uns eine Extratasse Kaffee gönnen. In Ländern wie den skandinavischen ist die Abschaffung der Kinderarmut geradezu ein Kinderspiel, ganz einfach deshalb, weil es so wenig Kinderarmut gibt und auch die Einkommensunterschiede recht bescheiden sind. In Ländern wie Großbritannien fällt Kinderarmut viel schwerer ins Gewicht, aber auch hier müssten lediglich 0,26 Prozent des BIP zusätzlich aufgebracht werden, um das Übel auszurotten. Das ist wirklich sehr wenig. perspektive21

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Und es gibt eine noch bessere Nachricht: Der Preis geht sogar gegen Null – jedenfalls unter dänischen Umständen –, wenn die Mütter arbeiten. Die Wahrscheinlichkeit, dass in Familien Kinderarmut auftritt, schrumpft um den Faktor 3 oder 4, wenn die Mütter berufstätig sind. Die sich abzeichnende lebenslange Berufstätigkeit von Frauen und Müttern ist daher unter dem Aspekt sehr positiv zu beurteilen, dass sie zur Lösung des Kinder- und des Entwicklungsproblems beiträgt. Hier handelt es sich um echte Lebenschancen. Kulturelle Faktoren Damit kommen wir zu der kulturellen Seite der Medaille. Die Beweislage verdichtet sich, dass dieses vergleichsweise unbestimmte Phänomen, das wir Kultur nennen, vielleicht wichtiger ist als das greifbare Phänomen namens Geld. Um dieser Frage nachzugehen, kann man beispielsweise die PISA-Daten untersuchen. Die PISA-Studien enthalten eine Reihe von Kriterien, die das kulturelle Niveau und die Intensität kultureller Stimulierung in der Eltern-Kinder-Beziehung erfassen: J die Zahl der Bücher, die die Eltern besitzen, J ob Eltern ihren Kindern vorlesen, J ob in der Familie regelmäßig miteinander über kulturelle Angelegenheiten gesprochen wird. 84

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Nehmen wir nur die Korrelation zwischen der Zahl der Bücher im elterlichen Haushalt und dem Abschneiden der Kinder in den von PISA untersuchten Schulen unter dem Aspekt kognitiver Leistungen. Diese Korrelation ist viel stärker als die zwischen dem Einkommen der Eltern und der schulischen Leistung der Kinder. Es gibt eine Menge Studien hierzu, die alle zu dem gleichen Ergebnis kommen. Zwischen Kultur und Geld gibt es interessanterweise keine unmittelbare Korrelation. Wer Lehrer ist, weiß, dass er unterbezahlt ist, aber er verfügt über jede Menge Kultur. Andererseits gibt es all diese Leute in der Baubranche, die eine Menge Geld haben, aber null Kultur. Zwischen Geld und Kultur gibt es eben kaum einen, zumindest keinen direkten Zusammenhang. Kindern beim Start helfen Das klingt zunächst einmal schlecht, denn wie könnten wir gesetzlich verordnen, dass Eltern ihren Kindern vorlesen oder dass sie Bücher kaufen oder ganz allgemein die kognitive Entwicklung ihrer Kinder stimulieren? Wir haben es eben mit der privatisierten Welt hinter den vier Wänden der Familie zu tun. Aber indirekt können wir im Hinblick auf die Lösung des Stimulationsproblems eine Reihe von Lehren aus


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den PISA-Studien ziehen. Das wahrscheinlich berühmteste Beispiel ist das amerikanische Headstart-Programm. Über dieses Programm wird seit mittlerweile 40 Jahren geforscht und wir wissen heute ziemlich genau, worauf es ankommt und worauf nicht. Wir wissen, dass Programme einer frühen Intervention in der Kindheit potentiell außerordentlich wirksam sein können, indem sie den Kindern beim Start helfen oder sozusagen die Startlinie angleichen, von der aus Kinder, wenn sie in die Schule kommen, loslegen. Das Problem ist Folgendes: Wenn Kinder mit niedrigen kognitiven Fähigkeiten und schlechter Lernmotivation in die Schule kommen, kann die Schule an dieser frühen Ungleichheit nicht wirklich etwas ändern. Das System der Leistungsbewertung reproduziert sie ganz einfach immer weiter, von Jahr zu Jahr. Es ist deshalb sehr hilfreich zu wissen, dass Programme zur frühzeitigen Intervention diese Ungleichheiten in früher Kindheit wirkungsvoll korrigieren können. Das scheint sowohl bei Headstart als auch bei anderen Programmen dieser Art sehr gut zu funktionieren und besonders den Kindern, die aus den mit Blick auf ihre ökonomischen und kulturellen Ressourcen schwächsten Familien kommen, zu nutzen. Und wir wissen, dass es möglich ist, kognitive Fähigkeiten oder kognitive Entwicklung anzugleichen.

Eine besondere Rolle kommt bei hochwertigen Stimulierungsprogrammen der Kinderbetreuung zu. Der wirkungsvollste Teil der Start-Programme, auch in den USA, besteht in pädagogisch intensiver, sehr hochwertiger, kognitiv stimulierender Kinderbetreuung. Hier dürfte auch der Grund dafür liegen, dass in Skandinavien die soziale Vererbung eine wesentlich geringere Rolle spielt als irgendwo sonst. Vorbild Skandinavien Wenn Sie sich die Zahlen anschauen, sehen sie, dass die Reduzierung der Sozialvererbung auf dramatische Weise mit den um 1970 geborenen Alterskohorten einsetzt. Dabei handelt es sich zufälligerweise um genau den Zeitraum, in dem die skandinavischen Länder die frühzeitige Kinderbetreuung auf qualitativ hohem Niveau landesweit zu realisieren begannen. Die Tatsache, dass seit Mitte der achtziger Jahre so gut wie alle Kinder vom ersten Lebensjahr an Vollzeitkinderbetreuung erhielten, dürfte die Ursache dafür sein, dass Skandinavien die Auswirkungen der sozialen Herkunft auf die Bildungserfolge eines Kindes drastisch reduziert hat. Nun könnten Sie sagen, das ist ja alles gut und schön – wir könnten zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen, indem wir ganz einfach ein allgemeines Kinderbetreuungssystem einführen. Das würde das Problem der perspektive21

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Doppelbelastung lösen helfen und wäre zugleich eine gute Investition in die Entwicklung der Kinder. Im ersten Jahr bei den Eltern Wenn beide Eltern einer Vollzeitbeschäftigung nachgehen, braucht man ein wenig Glück im Hinblick auf die Folgen: Wenn sie ihre Berufstätigkeit nur sehr kurz in der allerersten Zeit nach der Geburt unterbrechen, hat dies möglicherweise negative Auswirkungen auf die Entwicklung des Kindes. Diese Frage ist in der Forschung ziemlich umstritten. Es gibt Belege pro und contra. Die meisten sprechen dafür, dass eine Berufstätigkeit der Mutter keine negativen Konsequenzen hat, aber das hängt von mehreren Faktoren ab. Erstens vom Alter des Kindes: Es ist mittlerweile ziemlich klar bewiesen, dass es Kindern schaden kann, wenn sie während ihres ersten Lebensjahrs ohne Vater oder Mutter auskommen müssen. Was daraus zu lernen ist, liegt auf der Hand. Wir müssen dafür sorgen, dass das System des Eltern- plus Erziehungsurlaubes garantiert, dass das Kind in seinem ersten Lebensjahr oder zumindest während seiner ersten neun Monate mit den Eltern zusammenlebt. Ein zweiter Punkt ist, dass wir zwar negative Auswirkungen mütterlicher Berufstätigkeit auf kleine Kinder kennen, aber wenig darüber wissen, wie 86

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die je spezifischen Auswirkungen sind, wenn man Jungen und Mädchen separat betrachtet. Wenn irgendjemand unter der Berufstätigkeit der Mutter leidet, sind es nicht die Mädchen. Die kommen gut zurecht, was wahrscheinlich mit dem Rollenmuster zusammenhängt, das die Mutter für die Mädchen ausübt – das Modell einer erfolgreichen, unabhängigen Frau. Weniger klar ist, inwiefern und warum Jungen unter mütterlicher Berufstätigkeit leiden können. Dagegenzuhalten wäre, dass man dem schwedischen Vorbild folgen kann. Wenn es immer mehr Anreize für die Männer gibt, einen großen Teil des Eltern- bzw. Erziehungsurlaubs zu nehmen, dann würde das den Vätern ermöglichen, die Vaterrolle gegenüber den Jungen stärker auszufüllen und auf diese Weise zu kompensieren, was an mütterlicher Präsenz wegfällt. Das würde den Effekt auf die Kinder ausgleichen. Aber das ist alles noch ziemlich spekulativ, muss ich einräumen. Es kommt hinzu, dass sehr viel von der Qualität des Jobs der Mutter abhängt. Natürlich bleibt es nicht ohne Auswirkungen, wenn die Beschäftigung der Mutter stressig und extrem fordernd ist. Hier stoßen wir wieder auf ein Thema, das auch für die Fertilität sehr wichtig ist: Einigermaßen angenehme Jobs, stressfreie und sichere Beschäftigungen sind unter beiden Aspekten von entscheidender Bedeutung.


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Hier stehen wir vor einer der größten Herausforderungen, und zwar nicht in einem traditionellen Bereich der Sozialpolitik, sondern in dem, was wir herkömmlicherweise Arbeitsmarktpolitik nennen. Nun kann ich mir nicht vorstellen, dass wir irgendjemanden dazu bringen könnten, zwei Arbeitsmärkte zu schaffen, einen für Mütter und einen für den Rest der Bevölkerung. Die Frage lautet deshalb: Wie können wir die Qualität der Arbeitsstellen und eine Gleichartigkeit der – auf die Lebenszeit berechneten – Beschäftigung für Frauen und Männer gewährleisten? Wie gut wir diese Dinge unter einen Hut bringen, hat entscheidende Auswirkungen auf die Berufstätigkeit der Mutter. Anfang und Ende verbunden Hier kommt die Qualität der Kinderbetreuung ins Bild. Wir brauchen aber nicht lange darüber zu diskutieren, weil wir schon wissen, dass hochwertige Kinderbetreuung zugleich eine gute Investition in die kognitive Entwicklung der Kinder ist, besonders im Hinblick auf die Korrektur kognitiver Defizite bei unterprivilegierten Kindern. Eine Reihe von Untersuchungen zeigt, dass der Staat später alles zurückbekommt, was er heute zur Subventionierung von Kinderbetreuungsplätzen ausgibt, weil sie erheblich längere Lebensarbeitszeiten und damit

auch -einkünfte für Frauen ermöglichen. Ich habe nicht über den Wohlfahrtsstaat gesprochen, sondern über die Wendungen des Lebensverlaufs, besonders über seinen Anfang und sein Ende. Ich habe versucht zu zeigen, dass und wie die beiden Enden miteinander verbunden sind. Meiner Meinung nach sollten wir unsere politischen Analysen zur Reform des Wohlfahrtsstaates darauf ausrichten und die wechselseitigen Verknüpfungen innerhalb von Lebensverläufen berücksichtigen. Abschied von der Familie Es ist sehr schwer vorherzusagen, welche globalen Krisen eintreten werden, aber in der Sozialpolitik lässt sich für gute Analytiker recht einfach vorhersehen, wie die Lebenszyklen der Menschen sich gestalten. Es gibt dafür viele gute Instrumente, also auch viele Instrumente dafür, gute Politik zu machen. Diese Instrumente werden aber zu selten benutzt. Ich möchte daher auch dazu einladen, von diesen Instrumenten der Lebensverlaufsanalyse viel intensiver Gebrauch zu machen. Meine Geschichte handelt davon, was Plato einmal auf ziemlich kühle Weise angesprochen hat: Kinder von dummen Eltern, sagte er, solle man ihren Eltern wegnehmen, damit sie gute Bürger werden können. Es gibt perspektive21

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einen freundlicheren Weg, der auch philosophisch begründet ist, nämlich Kindern aus den am meisten benachteiligten Familien zu helfen. Eine allgemeine Kinder- und Tagesbetreuung kann dies, wenn sie nur energisch genug betrieben wird, auf gesamtgesellschaftlicher Ebene leisten. Ich denke, soweit es um die Stimulation der Kinder geht, an eine Art nationales Kibbuz-System, allerdings mit dem Unterschied, dass die Kinder den größten Teil ihres Lebens weiterhin mit den Eltern zusammen verbringen. An dieser Stelle widersprechen allerdings viele sozial konservative Bürgerinnen und Bürger und politisch Verantwortliche. „Sie wollen unsere Kinder in die Vorschule oder in den Kindergarten zwingen“, sagen sie, „aber wir sind für stärkere Familien!“ Doch die Wirklichkeit sieht anders aus: Nimmt man die Daten der letzten 15 Jahre, sowohl amerikanische wie skandinavische, so zeigt sich, dass die Zeit, die die Eltern zusammen mit ihren Kindern verbringen, de facto gestiegen und nicht etwa zurückgegangen ist –

und dass, obwohl die meisten Frauen heute vollzeitberufstätig sind. In Dänemark verbringen Eltern heute mehr Zeit zusammen mit ihren Kindern als in den sechziger Jahren. In den guten alten Zeiten der traditionellen Familie, mit Hausfrau und alledem, widmete die Familie den Kindern also viel weniger Aufmerksamkeit, als sie das heute tut – und dies unter den Umständen des beschriebenen Szenarios, das vielen Konservativen so wenig behagt. Hier haben wir also weiteres Beweismaterial, das unter den konservativen Gegnern des vorgeschlagenen Reformpakets vielleicht doch viele davon überzeugen könnte, dass die Sache nicht so übel ist, wie sie denken. Das überzeugendste Argument jedoch dürfte darin liegen, dass wir uns, wenn wir den vorgeschlagenen Weg nicht akzeptieren, vermutlich gänzlich von der Familie werden verabschieden müssen. Die Entwicklung wird nicht so verlaufen, wie die Bürgerinnen und Bürger es sich wünschen, wenn wir nicht zu einer umfassenden Neugestaltung unserer Familienpolitik finden. N

PROF. DR. GØSTA ESPING ANDERSEN

ist Soziologe und lehrt an der Universität Barcelona. Wir danken den Blättern für deutsche und internationale Politik für die freundliche Unterstützung bei der Veröffentlichung des Beitrages. 88

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