perspektive21 - Heft 35

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HEFT 35 OKTOBER 2007 www.perspektive21.de

BRANDENBURGISCHE HEFTE FÜR WISSENSCHAFT UND POLITIK

10 Zehn Jahre Perspektive 21 MATTHIAS PLATZECK, PEER STEINBRÜCK, FRANK-WALTER STEINMEIER: HUBERTUS HEIL, KAI WEBER: GERHARD SCHRÖDER: KLAUS NESS:

Auf der Höhe der Zeit

Zur Idee des sozialen Rechtsstaates

Ein neues „Modell Deutschland“

Selbstbewusste Offensive

KLAUS FABER:

Wer sind die Brandenburger?

THOMAS FALKNER:

Sozialisten im Abseits?

MATTHIAS PLATZECK:

Zukunft braucht Herkunft

ALEXANDER GAULAND: TOBIAS DÜRR:

Die Wunder der Streusandbüchse

Brandenburg und das finnische Modell

GÜNTER BAASKE:

Neue Leitern braucht das Land

RICHARD FLORIDA, IRENE TINAGLI: THOMAS KRALINSKI:

Technologie, Talente, Toleranz

Ostdeutschland gibt es nicht


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Matthias Platzeck / Frank-Walter Steinmeier / Peer Steinbrück (Hg.)

Auf der Höhe der Zeit Soziale Demokratie und Fortschritt im 21. Jahrhundert

kdgl~gih WjX] Auf der Höhe der Zeit Mit Beiträgen zur Sozialen Demokratie und Fortschritt unter anderem von Doris Ahnen, Jens Bullerjahn, Sigmar Gabriel, Anthony Giddens, Klaas Hübner, Jürgen Kocka, Paavo Lipponen, Christoph Matschie, Martina Münch, Klaus Ness, Tim Renner, Renate Schmidt, Hubertus Schmoldt, Ulrich Freese, Olaf Scholz, Gesine Schwan, Wolfgang Tiefensee, Christian Ude, Christina Weiss, Brigitte Zypries.

ISBN 978-3-86602-629-2, 340 Seiten, Euro 14,80


vorwort

10 Jahre „Perspektive 21“ it dieser Ausgabe begeht die Perspektive 21 ihren 10. Geburtstag. Gegründet wurde diese Zeitschrift mit Unterstützung des damaligen SPD-Landesvorsitzenden und Wissenschaftsministers Steffen Reiche, um einen Dialog zwischen (sozialdemokratischer) Politik und Hochschulangehörigen zu organisieren. Der Gründungsredaktion gehörten mit Dr. Harald L. Sempf und Harald Geywitz zwei Angehörige der Potsdamer Universität an, die auch heute noch der Zeitschrift verbunden sind. Wer sich das Blättersterben der theoretischen, politisch anspruchsvollen Zeitschriften der vergangenen Jahre vergegenwärtigt, dem wird klar, dass zehn Jahre eine vergleichsweise lange Zeit sind. Zehn Jahrgänge dieser kleinen, aber feinen Zeitschrift bedeuten 35 Hefte und gut 3.000 bedruckte Seiten politische Publizistik von Machern eines Blattes, die sich – bei allen Änderungen im Layout und der redaktionellen Zusammensetzung – einer Idee von moderner, undogmatischer Sozialdemokratie verbunden fühlen. Die Besonderheit des Blattes war und ist aber auch der spezifische Blick einer jüngeren Generation von Brandenburger Sozialdemokraten, die – ob ursprünglich gebürtig in Ost oder West – die Transformationserfahrungen der ostdeutschen Gesellschaft nach der Wende als wichtigen Bezugspunkt ihres Denkens deutlich machen. Für diese Linie stehen heute besonders die beiden Redaktionsmitglieder Thomas Kralinski und Dr. Tobias Dürr, aber auch ein Autor wie etwa Toralf Staud. In dieser Ausgabe wollen wir einige Beiträge aus den vergangenen zehn Jahren noch einmal abdrucken – so manches Thema ist nach wie vor aktuell. Dass in zehn Jahren viel passieren kann, zeigt ein Blick auf den Werdegang einiger Autoren. Bereits in der 2. Ausgabe der Perspektive 21 befasste sich beispielsweise ein junger Student der Potsdamer Uni und Juso-Aktivist mit der Debatte um den Sozialstaat. Heute ist der Autor Hubertus Heil bereits zwei Jahre Generalsekretär der SPD und verantwortet in der Grundsatzprogrammdebatte die Diskussion um den Vorsorgenden Sozialstaat mit. In dieser Ausgabe haben Sie noch einmal Gelegenheit nachzulesen, was der heutige SPD-General vor zehn Jahren dachte. Und damit sind wir schon fast bei der Antwort auf die Frage, welches „Megathema“ diese Zeitschrift in den zehn Jahren ihres Bestehen hat. Vielleicht kann es

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vorwort

so umschrieben werden: Wie kann, wie muss eine moderne und progressive Sozialdemokratie programmatisch aufgestellt sein, die die Veränderungen, die mit den Vokabeln Globalisierung, demografische Veränderungen und Auflösung der bipolaren Welt nur unzureichend umschrieben sind, nicht länger ignoriert? Insbesondere in den Jahrgängen seit 1999 drängt die Diskussion über die programmatische Aufstellung der Sozialdemokratie immer mehr in den Vordergrund. Ein Beitrag von mir dazu, entstanden zum Jahrtausendwechsel 1999/2000, wird in diesem Heft noch einmal dokumentiert. Schnell wurde in dieser Debatte deutlich, dass die SPD bei ihrer programmatischen Neuaufstellung über den deutschen Tellerrand hinausschauen muss. Mit großem Interesse wurde deshalb auch in dieser Zeitschrift verfolgt, was die Sozialdemokraten Großbritanniens, insbesondere aber auch in Nordeuropa diskutierten. Besonders die Ansätze und die Erfolge unserer Freunde in Finnland haben uns dabei sehr inspiriert. Ein in dieser Ausgabe dokumentierter Beitrag von Dr. Tobias Dürr macht dies noch einmal sehr deutlich. Auf diesem Weg möchte ich mich auch bei Ihnen, unseren Leserinnen und Lesern, für die wohlwollende und kritische Begleitung bedanken. Wir freuen uns auf die nächsten zehn Jahre. KLAUS NESS

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inhalt

10 Jahre „Perspektive 21“ MAGAZIN MATTHIAS PLATZECK, PEER STEINBRÜCK,

Auf der Höhe der Zeit ....................................... 7 Die Sozialdemokratie muss sich auf ihre ursprünglichen Ideen und Ziele besinnen FRANK-WALTER STEINMEIER:

THEMA

.......................................................................... 17 Inhalts- und Autorenverzeichnis 1997-2007 10 JAHRE „PERSPEKTIVE 21“

HUBERTUS HEIL, KAI WEBER:

Zur Idee des sozialen Rechtsstaates (1997) ........ 27

Eine Annäherung Ein neues „Modell Deutschland“ (1998) ..................... 35 Politische Gestaltung oder Primat der Ökonomie GERHARD SCHRÖDER:

Selbstbewusste Offensive (1999) ............................................... 43 Soziale Gerechtigkeit als Kernpunkt der Konkurrenz zwischen SPD und PDS KLAUS NESS:

KLAUS FABER:

Wer sind die Brandenburger? (2001) ....................................... 51

Sozialisten im Abseits? (2002) .......................................... 65 Die Krise der PDS ist mehr als nur eine Krise der PDS THOMAS FALKNER:

Zukunft braucht Herkunft (2003) ............................... 77 Unser Weg für Brandenburg MATTHIAS PLATZECK:

Die Wunder der Streusandbüchse (2004) ................... 85 Brandenburg zwischen Zukunft und Vergangenheit ALEXANDER GAULAND:

Brandenburg und das finnische Modell (2004) ........................ 89 Warum regionale Entwicklung einer strategischen Vision bedarf TOBIAS DÜRR:

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inhalt

Nue Leitern braucht das Land (2005).................................. 97 Über die Aufgaben der Sozialdemokratie in den nächsten Jahren GÜNTER BAASKE:

RICHARD FLORIDA, IRENE TINAGLI:

Technologie, Talente, Toleranz (2006) .. 105

Europa im Kreativen Zeitalter Ostdeutschland gibt es nicht (2007) ............................. 127 In den neuen Ländern sind parallele Gesellschaften entstanden THOMAS KRALINSKI:

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Auf der Höhe der Zeit IM 21. JAHRHUNDERT MUSS SICH DIE SOZIALDEMOKRATIE AUF IHRE URSPRÜNGLICHEN IDEEN UND ZIELE BESINNEN VON MATTHIAS PLATZECK, PEER STEINBRÜCK UND FRANK-WALTER STEINMEIER

ein, die Erde wird nicht zur Scheibe. Der amerikanische Journalist Thomas L. Friedman, der seinen internationalen Bestseller über die Auswirkungen der Globalisierung Die Welt ist flach genannt hat, übertreibt bei weitem. Auch im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts bleiben enorme kulturelle und materielle Ungleichheiten und grotesk unterschiedlich verteilte Lebenschancen der Menschen an der Tagesordnung – weltweit und auch innerhalb unserer eigenen Gesellschaft. Die mächtige Kraft der Globalisierung ist eine weltweite Tatsache, zugleich jedoch ist die Welt weit entfernt von einem Zustand, in dem die Lebensumstände und Sichtweisen aller Menschen in allen Weltgegenden einheitlich geworden wären. Dennoch ist das 21. Jahrhundert das erste Jahrhundert der „einen“ Welt, und in diesem Sinne ist die Welt in der Tat „flacher“ geworden. Nach dem Zusammenbruch des Kommunismus, nach der Herstellung der deutschen Einheit und parallel zur fortschreitenden Vereinigung Europas erleben wir den tiefsten geschichtlichen Umbruch seit der industriellen Revolution – politisch und wirtschaftlich, sozial und kulturell. Es gibt nicht einen einzigen Lebensbereich, der von den Umwälzungen ausgenommen wäre. Jeder Erdteil ist heute mit jedem anderen Erdteil in Echtzeit miteinander verbunden. Auf die Wucht der Veränderungen reagieren viele Menschen verunsichert. Wir leben in einer Zeit voller Widersprüche und mit offenem Ausgang. Die Zukunft verheißt ungeheure Chancen – und birgt zugleich beträchtliche Gefahren. Dies alles schafft für Sozialdemokraten in Deutschland und anderswo eine grundlegend veränderte Situation, in der sie aufs Neue beweisen müssen, dass sie über einen gut geeichten Kompass und geeignete Instrumente verfügen, um ihren bleibenden Werten der Freiheit, der Gerechtigkeit und der Solidarität Geltung zu verschaffen. Selbstverständlich ist keineswegs, dass dies gelingen wird. Viele politi-

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sche Kräfte sind in der Vergangenheit entstanden – und wieder von der Bildfläche verschwunden. Die Sozialdemokratie gehört nicht zu ihnen. Aber nirgendwo steht geschrieben, dass eine politische Bewegung mit historischen Wurzeln tief im 19. Jahrhundert auch noch zwei Jahrhunderte später notwendigerweise zu den prägenden politischen Kräften ihrer Zeit gehören muss. „Nichts kommt von selbst, und nur wenig ist von Dauer“ – Willy Brandt wusste es sehr genau. Nicht alles ist neu Die Sozialdemokratie muss also hellwach sein. Wo sich die Rahmenbedingungen und Probleme umfassend verändern, muss sie klar machen können, dass sie dennoch auch weiterhin einen bedeutsamen Beitrag zu leisten vermag. Allerdings gibt es gute Gründe, weshalb die deutsche Sozialdemokratie in der Vergangenheit niemals zu denjenigen Parteien gehörte, die irgendwann sang- und klanglos wieder von der Bildfläche verschwanden. Tatsächlich ist es schon mehrfach in ihrer Geschichte die Sozialdemokratie gewesen, die sich am besten auf veränderte Umstände einzulassen und zeitgemäße neue Wege aufzuzeigen verstand, um bessere Lebenschancen und größeren Zusammenhalt für mehr Menschen zu schaffen. Wiederholt fand sich die Sozialdemokratie in historischen Verhältnissen, die der heutigen Lage durchaus vergleichbar waren. Die Globalisierung in ihrer gegenwärtigen Form ist zweifellos ein historisch beispielloser Prozess. Aber nicht alles ist neu. Hinsichtlich der politischen Kontroversen, Hoffnungen und Befürchtungen, die die Globalisierung heute auslöst, lassen sich durchaus historische Parallelen ziehen. Tatsächlich können die aktuellen Auseinandersetzungen um die Globalisierung sehr wohl als die lediglich aktuellste Variante der schon seit Beginn der Industrialisierung immer wieder geführten Debatten darüber interpretiert werden, wie sich Kapitalismus, Demokratie und sozialer Zusammenhalt vereinbaren lassen – und ob dies überhaupt gelingen kann. Schon in der Vergangenheit hieß die einzige wirklich überzeugende Antwort auf diese Herausforderung: Soziale Demokratie. Bereits vor mehr als 100 Jahren, an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert zeichnete sich ab, dass der Kapitalismus keineswegs kurz davor stand, an seinen inneren Widersprüchen zugrunde zu gehen, wie es die orthodoxen Marxisten vorausgesagt hatten. Im Gegenteil: Die internationalen Märkte boomten, die Schlote rauchten, die Weltwirtschaft wuchs und schuf für viele Millionen Menschen in Deutschland und der Welt neuen Wohlstand. Zugleich aber schufen Industrialisierung und Urbanisierung enorme gesellschaftliche Verwerfungen, Verunsicherungen und neue Ungleichheiten. Kritiker 8

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beklagten die unkontrollierte Ausbreitung von Egoismus, Gier und Individualismus, den Zerfall traditioneller Werte und überkommener lokaler Gemeinschaften, soziale Erosion und emotionale Entwurzelung. Auf diese widersprüchlichen Entwicklungen fanden weder orthodoxe Marxisten noch Wirtschaftsliberale überzeugende Antworten, wenngleich aus unterschiedlichen Gründen. Während die Marxisten mit ihrer deterministischen Ideologie des historischen Materialismus vergeblich auf den großen Zusammenbruch des Kapitalismus warteten, standen die meisten Liberalen den negativen Nebenwirkungen freier Märkte gleichgültig und ratlos gegenüber. Vertrauen schaffende und für die große Mehrheit der Menschen ganz praktisch brauchbare Lösungen in Zeiten verunsichernder Umbrüche hatte weder die eine noch die andere politische Strömung im Angebot. Reform und Fortschritt, Kompromiss und Interessenausgleich In jenen Jahren entstand die nichtmarxistische Soziale Demokratie als neue, ganz eigene Idee und Haltung, als originäres Konzept und fortschrittliche politische Bewegung. Dem jeweils schmalspurigen ökonomistischen Denken der orthodoxen Marxisten auf der einen wie der Liberalen auf der anderen Seite stellten „revisionistische“ Sozialdemokraten um den Theoretiker Eduard Bernstein sowohl den Vorrang der Politik als auch die Prinzipien von Reform und Fortschritt, Kompromiss und Interessenausgleich über die Klassengrenzen hinweg entgegen. Wo andere auf den Selbstlauf wirtschaftlicher und historischer Kräfte vertrauten, setzten Sozialdemokraten auf die aktive und pragmatische Gestaltung des Wandels. Die Dynamik der Märkte wollten sie offensiv mit sozialer Reform und gesellschaftlicher Erneuerung verbinden, um auf diese Weise Wachstum und Wohlstand systematisch allen Bevölkerungsgruppen zugänglich zu machen. Marktwirtschaft, Demokratie und sozialen Zusammenhalt nicht nur vereinbar zu machen, sondern mit politischen Mitteln sogar in ein Verhältnis der positiven Wechselwirkung zu setzen – genau darin bestand der historisch völlig neue und beispiellose Fortschrittsentwurf der Sozialen Demokratie zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Es sollte zwar in Europa noch mehrere katastrophale Jahrzehnte dauern, bis diese Konzeption in der politischen Wirklichkeit durchgesetzt werden konnte. Und auch dieser Prozess blieb nach 1945 auf den Westen unseres Kontinents beschränkt. Jedoch verdankte sich der enorme Erfolg der westeuropäischen Nachkriegsordnung in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts zweifellos der erfolgreichen Durchsetzung der sozialdemokratischen Grundidee. Erstmals wurde praktisch und mit beispiellosem Erfolg miteinander versöhnt, was historisch stets perspektive21

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als unvereinbar gegolten hatte und gegeneinander ausgespielt worden war: dynamische Marktwirtschaft, lebendige Demokratie und sozialer Zusammenhalt. Völlig zu Recht hat der Soziologe Ralf Dahrendorf daher den Begriff vom „sozialdemokratischen 20. Jahrhundert“ geprägt. Über weite Strecken der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts war die Sozialdemokratie als gestaltende Kraft auf der Höhe ihrer Zeit. Westeuropas ökonomischer Aufstieg nach dem Zweiten Weltkrieg war in hohem Maße das Ergebnis des historischen Triumphs der Idee der sozialen Demokratie über ihre Widersacher. Auch die Ausstrahlung des westeuropäischen Wirtschafts- und Sozialmodells auf die Menschen hinter dem Eisernen Vorhang hatte ihre Ursache in der attraktiven Verbindung von wirtschaftlicher Dynamik, freiheitlicher Demokratie und sozialem Zusammenhalt, wie sie im Westen Europas praktiziert wurde. Auch das ist inzwischen Geschichte. Heute muss aufs Neue klar und deutlich daran erinnert werden, wie mühsam der Sieg der sozialen Demokratie gegen deren Kontrahenten erkämpft wurde – und wie gefährdet die Früchte dieses Erfolgs im 21. Jahrhundert sind. Sie sind gefährdet, weil heute auf vielen Gebieten völlig neue Herausforderungen zu bewältigen sind. Viel bedrohlicher jedoch ist, dass heute allzu viele Menschen die einst bahnbrechende sozialdemokratische Synthese aus dynamischen Märkten, stabiler Demokratie und sozialem Zusammenhalt entweder gedankenlos für selbstverständlich halten oder als unmaßgeblich abtun. Das Funktionieren dieses Zusammenspiels versteht sich aber keineswegs von selbst – und es ist alles andere als irrelevant. Dringend nötig ist daher, dass sich eine selbstbewusste Sozialdemokratie darauf besinnt, wie immens bedeutsam und wegweisend ihre ursprünglich in der Auseinandersetzung mit marxistischer Orthodoxie und liberalem Laissez-faire entwickelte Erfolgsidee für die Welt des 21. Jahrhunderts noch immer ist. Denn an dem grundlegenden inneren Spannungsverhältnis zwischen Märkten, Demokratie und Gesellschaft hat sich in Zeiten der Globalisierung nichts geändert. Das Navigationssystem sind die Prinzipien der Sozialen Demokratie Und tatsächlich stehen sich auch in den heutigen Globalisierungsdebatten prinzipiell wieder dieselben Gruppen unversöhnlich gegenüber, die schon vor einem Jahrhundert über die Zukunftsperspektiven des Kapitalismus stritten: hier die liberalen Verfechter ungezügelter Märkte, dort die orthodoxen Linken alter Schule, denen Märkte per se mindestens verdächtig sind. Und wiederum gilt: Für die große Mehrheit der ganz normalen Menschen in unserer Gesellschaft haben weder die Marktverächter noch die Marktgläubigen attraktive Angebote und Perspektiven im 10

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Gepäck. Heute wie vor einhundert Jahren wissen die meisten Menschen, dass der Markt als effizienter Mechanismus zu Wertschöpfung und Wachstum völlig unersetzbar ist. Heute wie damals wünschen sie sich, am marktwirtschaftlich hervorgebrachten Wohlstand teilhaben. Heute wie damals fürchten sich zugleich viele vor den sozialen und politischen Folgen einer regellosen Marktwirtschaft. Und heute wie damals bieten die Prinzipien der Sozialen Demokratie in dieser schwierigen Gemengelage das mit weitem Abstand beste und verlässlichste Navigationssystem für politisches Handeln. In Wirklichkeit weht der Zeitgeist sozialdemokratisch Diese Behauptung wirkt geradezu überraschend. Nicht wenigen gilt die Sozialdemokratie nach dem Ende des „sozialdemokratischen Jahrhunderts“ als mehr oder weniger verbrauchte Kraft. Wo Sozialdemokraten ungeachtet veränderter Umstände allzu defensiv an bestimmten Instrumenten und institutionellen Arrangements der Vergangenheit festhalten, statt offensiv neue Lösungen für die Verhältnisse des 21. Jahrhunderts zu propagieren, bestätigen sie diesen Eindruck. Dasselbe gilt, wo Sozialdemokraten wortreich über die vermeintliche Hegemonie lamentieren, die ein angeblicher „neoliberaler Mainstream“ heute ausübe. Nicht selten anzutreffen ist unter Sozialdemokraten zudem beträchtliche Verunsicherung über die Ziele und den Auftrag der Sozialdemokratie im 21. Jahrhundert. Die SPD habe „weniger links als die PDS“ zu sein, heißt es dann etwa vage, aber auch wieder „nicht so rechts wie die CDU“. Doch mit solchen Kategorien der Gesäßgeografie sind noch keine positiven eigenen Orientierungen verbunden. Schon gar nicht lässt sich auf dieser Grundlage ein inhaltliches Projekt beschreiben, das an die Hoffnungen, Wünsche und Befürchtungen der ganz normalen Menschen unserer Zeit anknüpft. In Wirklichkeit gibt es den mächtigen neoliberalen „Mainstream“ innerhalb der deutschen und europäischen Gesellschaft eben nicht, genauso wenig eine gesellschaftliche Mehrheit gegen die zeitgemäße Erneuerung unseres Wirtschafts- und Sozialmodells. Es gibt keinen Weg zurück in die Zeit der alten Industriegesellschaft und in den Nationalstaat des 20. Jahrhunderts, und die allermeisten Menschen in Deutschland wissen das längst. Was sie brauchen und zu Recht erwarten, ist in Wahrheit die zeitgemäße Erneuerung der sozialen Demokratie für unsere Zeit. Gefragt ist deshalb eine Sozialdemokratische Partei, die den Wunsch der breiten gesellschaftlichen Mitte nach einer erneuerten Verbindung von marktwirtschaftlicher Dynamik, Demokratie und Zusammenhalt für unsere Zeit erkennt und aktiv perspektive21

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verarbeitet, statt die siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts als gute alte Zeit zu verklären. Der „Zeitgeist“, den viele Sozialdemokraten allzu oft noch beklagen, ist in Wirklichkeit auf unserer Seite. Nicht die neoliberale und konservative Weltsicht hat sich gesellschaftsweit durchgesetzt, sondern – im Gegenteil – eine latent sozialdemokratische und kulturell offene Haltung, die auch die sozialen und kulturellen Voraussetzungen ökonomischen Erfolgs mitdenkt. Es wird Zeit, dass wir das merken und entsprechend agieren – die breite Mitte unserer Gesellschaft erwartet nichts anderes von uns. Sozialdemokraten tun daher gut daran, sich der breiten, zur Solidarität bereiten Mitte unserer Gesellschaft zuzuwenden, damit der dort wehende Zeitgeist in Zukunft wieder verstärkt sozialdemokratische Segel füllen kann. Die sozialdemokratische Grundordnung Dafür jedoch müssen sich Sozialdemokraten auf ihre eigenen politischen Gestaltungsziele besinnen, auf die kontinuierliche Erneuerung des produktiven Verhältnisses zwischen dynamischen Märkten, lebendiger Demokratie und sozialem Zusammenhalt. Dies muss unter den veränderten Bedingungen des 21. Jahrhundert wiederum zum Kern sozialdemokratischer Identität werden. In der Tat kommt es auf die SPD an, wenn es in Deutschland um den zeitgemäßen Neuentwurf einer Gesellschaft geht, die wirtschaftliche Dynamik, Lebenschancen für alle, ökologische Verantwortung und sozialen Schutz intelligent miteinander verbindet. Weit und breit ist keine andere Partei zu erkennen, die diese Aufgabe wahrnehmen und schultern würde. Allein eine Sozialdemokratie auf der Höhe ihrer Zeit kann und wird das tun. Die sozialdemokratische Grundhaltung muss daher auch heute durchgängig aktives Drängen auf Fortschritt und positive Gestaltung sein. Die eigenen Werte und Ziele ernst zu nehmen heißt, wo immer möglich, Verantwortung zu übernehmen. Genau diesen Weg hat die SPD in den vergangenen Jahren beschritten. Es war die sozialdemokratisch geführte Bundesregierung unter Gerhard Schröder, die mit den Arbeitsmarkt- und Sozialreformen der Agenda 2010 die entscheidende Grundlage dafür gelegt hat, dass inzwischen Hunderttausende von Menschen neue Arbeitsplätze gefunden haben. Und es war auch die Regierung Schröder, die in Deutschland den überfälligen Paradigmenwechsel zu einer nachhaltigen Familienpolitik eingeleitet hat, die mehr Menschen als zuvor die Chance gibt, sich ihre Kinderwünsche zu erfüllen. Kräftiges Wirtschaftswachstum, gestiegene Wettbewerbsfähigkeit, deutlicher Rückgang der Erwerbslosigkeit, Stabilisierung der öffentlichen Haushalte, bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf, größere 12

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Internationalität und kulturelle Offenheit – keiner dieser unbestreitbaren (und unbestrittenen) Erfolge unseres Landes wäre ohne entschiedene sozialdemokratische Regierungspolitik möglich gewesen. Der konsequente Erneuerungskurs der Regierung Schröder war ein guter Anfang. Er hat uns Sozialdemokraten wieder auf Augenhöhe mit der Wirklichkeit gebracht. Diesen Weg müssen wir deshalb entschlossen weitergehen, wenn wir die positive Wechselwirkung zwischen dynamischer Wirtschaft, stabiler Demokratie und sozialer Sicherheit weiter stabilisieren und verstetigen wollen. Gelingen wird dies nur, wenn wir unser Wirtschafts- und Sozialmodell systematisch und kontinuierlich erneuern. Klar ist: Gerade wer eine dynamische Wirtschaft will, der muss unter den Bedingungen des 21. Jahrhunderts mehr denn je für den Sozialstaat eintreten. Aber nicht jeder Sozialstaat ist gleich wirksam. Deshalb muss der Sozialstaat der Zukunft anders funktionieren als der Sozialstaat der national begrenzten Industriegesellschaft in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Der überkommene Sozialstaat, der allzu oft „reparierend“ erst dann eingreift, wenn soziale Schadenfälle wie chronische Krankheit, Bildungsmangel oder langfristige Arbeitslosigkeit schon eingetreten ist, ist nicht mehr auf der Höhe unserer Zeit – und er gerät unter dem Druck von Demografie und hoher Staatsverschuldung auch an die Grenzen seiner Finanzierbarkeit. Effizienter und zugleich sozial gerechter ist der vorsorgende Sozialstaat, der in die Menschen, in Bildung, Qualifikation, Gesundheit, Lebenschancen und die soziale Infrastruktur investiert. Dabei müssen alle wesentlichen Politikbereiche wie ein Rad ins andere greifen: die Bildungspolitik, die Familienpolitik, die Gesundheitspolitik, die Wirtschafts- und die Arbeitsmarktpolitik. Gute und gleiche Lebenschancen für alle Kein Missverständnis: Selbstverständlich ist, dass allen Bedürftigen auch in Zukunft „nachsorgend“ geholfen werden muss; kein Sozialstaat, der diesen Namen verdient, wird jemals ausschließlich vorsorgend sein können. Aber ein ausdrückliches Ziel sozialdemokratischer Politik kann das Abhängigsein von sozialstaatlichen Leistungen niemals sein. Deswegen setzt der vorsorgende und investive Sozialstaat darauf, wo immer nur möglich gute und gleiche Lebenschancen für alle Menschen zu schaffen, damit sie ihr Leben aus eigener Kraft und nach den eigenen Vorstellungen leben können. Dies bleibt auch im 21. Jahrhundert zuallererst eine Forderung der sozialen Gerechtigkeit. Zugleich aber entscheidet sich im Zeitalter des Wissens an der Frage der sozialen Durchlässigkeit unserer Gesellschaft mehr denn je auch die Fähigkeit unseres Landes zu wirtschaftlicher Wertschöpfung und techperspektive21

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nologischem Vorsprung. Nur wenn wir dem ursozialdemokratischen Versprechen des individuellen Aufstiegs durch Leistung zukünftig wieder massiv Geltung verleihen, kann unsere Gesellschaft als ganze gedeihen. Und nur wenn die Perspektive sozialen Fortschritts und gleicher Freiheit grundsätzlich allen unabhängig von ihrer Herkunft offen steht, werden wir die Zukunft gewinnen. Der vorsorgende Sozialstaat, der präventiv in die Menschen investiert und die Vererbung sozialer Nachteile von Generation zu Generation verhindert, bedeutet einen dringend notwendigen Paradigmenwechsel. Er knüpft aber ideenpolitisch an die ursprünglichen emanzipatorischen Ziele der Sozialdemokratie an. Deshalb ist der Vorsorgende Sozialstaat eine handfeste sozialdemokratische Vision für das 21. Jahrhundert. Deshalb dürfen progressive Sozialdemokraten im 21. Jahrhundert niemals Konservative sein, niemals störrische Beharrer, die ohne Weitsicht am Status quo festhalten. Vielmehr sollten Sozialdemokraten überall die Ersten sein, wenn es darum geht, unser Wirtschafts- und Sozialmodell im Interesse der Menschen zu erneuern. Auf uns selbst kommt es jetzt an Zugleich dürfen sich Sozialdemokraten niemals in die Rolle derjenigen drängen lassen, die allein die Verteilung von Wohlstand im Blick haben, nicht aber die Frage nach der Wertschöpfung. Denn es bleibt dabei: Dynamische Wirtschaft, lebendige Demokratie und ein funktionierender Sozialstaat, der gesellschaftlichen Zusammenhalt ermöglicht, gehören auch im 21. Jahrhundert eng zusammen und bedingen einander. Deshalb müssen es Sozialdemokraten sein, die für dieses Zusammenspiel moderne Konzepte entwickeln. Wir sollten sehr viel Wert darauf legen, nicht allein als Partei der sozialen Gerechtigkeit wahrgenommen zu werden, sondern zugleich auch als Partei einer dynamischen „Ökonomie für den Menschen“ (Amartya Sen). Sozialdemokraten müssen auch im 21. Jahrhundert Gerechtigkeitspartei und Wirtschaftspartei zugleich sein, damit das Versprechen des Fortschritts mit neuem Leben erfüllt werden kann. Das wird uns aber nur dann gelingen, je mehr wir neben Sachzwängen und Notwendigkeiten auch die positiven Ziele unserer Politik in den Vordergrund stellen. Unter den grundlegend veränderten Bedingungen unserer Zeit gewinnt das Leitbild der sozialen Demokratie neue Dringlichkeit – und neue Attraktivität. Heute steht unsere Gesellschaft vor der Wahl: Entweder wir finden uns damit ab, dass sich die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Nachteile der einen ebenso von einer Generation zur nächsten weiter vererben wie die Privilegien, Fertigkeiten 14

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und Vermögen der anderen. Oder wir schaffen die Voraussetzungen dafür, dass möglichst alle Menschen von Anfang an und immer wieder aufs Neue die Gelegenheit erhalten, durch eigene Leistung voranzukommen, auf ihren eigenen Füßen zu stehen und ihre eigenen Ziele zu verwirklichen. Welchen Weg wir einschlagen – genau das wird über die Lebensqualität, den Wohlstand und den Zusammenhalt unserer Gesellschaft im 21. Jahrhundert entscheiden. Unsere Entscheidung ist klar: Der sozialdemokratische Weg ist der Weg der Lebenschancen für alle. Angesichts dieser Situation haben Sozialdemokraten zu Kleinmut nicht den geringsten Anlass. Die gesellschaftliche Nachfrage nach einer zeitgemäß erneuerten Variante von Sozialdemokratie wächst. Gerade jetzt erleben wir einen historischen Augenblick, in dem die gesellschaftlichen Erwartungen an die Politik kaum sozialdemokratischer geprägt sein könnten. Die Menschen wollen wirtschaftliche Dynamik, demokratische Stabilität und gesellschaftlichen Zusammenhalt zugleich. Wir haben nicht den geringsten Zweifel: Unter den veränderten Bedingungen der globalisierten Gegenwart wird sich das Leitbild der sozialen Demokratie aufs Neue als attraktiv und mehrheitsfähig erweisen – wenn die Sozialdemokratie als Partei der entschlossenen Erneuerung auf der Höhe ihrer Zeit ist und Lösungen für Probleme anbietet, die Menschen in unserer Gesellschaft wirklich haben. Tun wir das, kann das 21. Jahrhundert zum zweiten großen Zeitalter der sozialen Demokratie werden. Auf uns selbst kommt es jetzt an. ■

MATTHIAS PLATZECK

ist Ministerpräsident des Landes Brandenburg und ehemaliger Vorsitzender der SPD. PEER STEINBRÜCK

ist Bundesfinanzminister und stellvertretender Vorsitzender der SPD. FRANK-WALTER STEINMEIER

ist Bundesaußenminister und als stellvertretender SPD-Vorsitzender designiert. Im September 2007 haben die drei Autoren gemeinsam ein Buch unter dem Titel „Auf der Höhe der Zeit. Fortschritt und soziale Demokratie im 21. Jahrhundert“ herausgegeben. Der Beitrag entstammt diesem Buch. perspektive21

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10 Jahre „Perspektive 21“ INHALTS- UND AUTORENVERZEICHNIS ALLER AUSGABEN SEIT 1997 Heft Nr. 1 (1997) Zukunft der Brandenburgischen Hochschulpolitik 2 (1997) Sozialer Rechtstaat 3 (1998) Informationsgesellschaft 4 (1998) Verwaltungsreform 5 (1998) Arbeit und Wirtschaft 6 (1998/99) Rechtsextremismus 7 (1999) Brandenburg – die neue Mitte in Europa 8 (1999) Was ist soziale Gerechtigkeit? 9 (2000) Bildungs- und Wissensoffensive 10 (2000) Zukunftsregion Brandenburg 11(2000) Wirtschaft und Umwelt 12 (2000) Frauenbilder 13 (2001) Kräfteverhältnisse. Zukunft des brandenburgischen Parteiensystems 14 (2001) Brandenburgische Identitäten 15 (2002) Der Islam und der Westen. Streit um Zivilisation und Sicherheit nach dem 11. September 16 (2002) Bilanz. 4 Jahre sozialdemokratisch-bündnisgrünes Reformprojekt 17 (2002) Ende der Nachwendezeit. PDS am Ende? 18 (2003) Der Osten und die Berliner Republik 19 (2003) Trampolin oder Hängematte? Die Modernisierung des Sozialstaates 20 (2003) Der Letzte macht das Licht aus?! Demographie, Abwanderung und Politik in Ostdeutschland 21/22 (2004) Entscheidung im Osten. Innovation oder Niedriglohn? 23 (2004) Kinder? Kinder! Politik für Familien und Kinder 24 (2004) Von Finnland lernen?! Dokumentation 25 (2004) Erneuerung aus eigener Kraft. Die Landtagswahl in Brandenburg 2004 26 (2005) Ohne Moos nix los? Haushaltspolitik zwischen Konsolidierung und Aufbau Ost 27 (2005) Was nun, Deutschland? Die Herausforderungen der nächsten Jahre 28 (2005) Die neue SPD. Der Weg der Sozialdemokratie nach den Wahlen 29 (2006) Zukunft: Wissen. Innovation, Wirtschaft und Wissenschaft in Brandenburg 30 (2006) Chancen für Regionen. Zwischen Zentrum und Peripherie 31 (2006) Investitionen in Köpfe. Neue Strategien in der Bildungspolitik 32 (2006) Auf dem Weg ins 21. Jahrhundert. Das neue Grundsatzprogramm der SPD 33 (2007) Der Vorsorgende Sozialstaat. Wie der neue Sozialstaat aussehen soll 34 (2007) Brandenburg in Bewegung. Wie wir die Zukunftsaufgaben bewältigen

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thema – 10 jahre „perspektive21“

A Matthias Artzt, Willkommen im virtuellen Dorf. Brandenburg auf dem Weg in die Informationsgesellschaft, 3 (1998) Jörg Aßmann, Das Gespenst des Mezzogiorno. Welches Entwicklungsszenario erwartet Ostdeutschland?, 21/22 (2004) B Günter Baaske, Zur sozialen Lage in den neuen Bundesländern, 19 (2003) ders., Brandenburg – ein Land für Familien, 23 (2004) ders., Neue Leitern braucht das Land. Über die Aufgabe der Sozialdemokratie in den nächsten Jahren, 27 (2005) ders., Aufbruch in die Wissenswirtschaft. Wie die sozialdemokratische Wirtschaftspolitik der Zukunft aussieht, 29 (2006) ders., Politik muss sagen, was ist. Sieben Wahrheiten über den Fall Potsdam, 30 (2006) Günter Baaske/Katrin Budde/Christoph Matschie/Michael Müller/Volker Schlotmann/ Cornelius Weiss, Neues Miteinander. Eine Intervention aus Ostdeutschland zum neuen Grundsatzprogramm der SPD, 32 (2006) Stefan Behrens/Holger Schmidt, Die unendliche Geschichte. Anmerkungen zum morschen Generationenvertrag, 2 (1997) Christine Bergmann, In Sachen Chancengleichheit besteht dringender Handlungsbedarf, (Interview), 12 (2000) Heiner Bielefeld, Muslimische Minderheiten im säkularen Rechtsstaat, 16 (2002) Wolfgang Birthler, Perspektiven der Umweltpolitik in Brandenburg (Interview), 11 (2000) Thorsten K. Bork, „Durch Beispiel lernen“ Über das Risiko der Verantwortung und die Qualifikation von Auszubildenden (Interview), 31 (2006) Hans-Otto Bräutigam, Sozialer Rechtsstaat. Utopie oder Realität? (Interview), 2 (1997) ders., Brandenburg in der Europäischen Union, 7 (1999) Ludwig Georg Braun, Familie? Ja bitte! Warum sich Familienpolitik für die Wirtschaft lohnt, 23 (2004) Tilo Braune/Klaus Faber, Die Wissenschaftsregionen in Nordostdeutschland vor strukturpolitischen Herausforderungen, 12 (2000)

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Rolf Brodbeck, Venture Capital: „Hefe“ für Innovative, 5 (1998) Jens Bullerjahn, Die Zukunft im Blick. Warum die neuen Länder schon heute über das Jahr 2020 hinaus denken müssen, 34 (2007) Jens Bullerjahn/Matthias Platzeck, Mehr Lebenschancen für mehr Menschen. Warum wir den Sozialstaat für das 21. Jahrhundert neu formieren müssen, 33 (2007) Christoph Butterwegge, Sozialpolitik unter Anpassungsdruck. Wohlfahrtsstaat, Wiedervereinigung und Weltmarktentwicklung, 2 (1997) ders., Rechtsextremismus, Rassismus und (Jugend-)Gewalt, 6 (1998/1999) C Wolfgang Cezanne, Arbeitsmarkpolitik für Ostdeutschland. Wieviel Staat für neue Arbeitsplätze?, 5 (1998) Wolfgang Clement/Edelgard Bulmahn/ Manfred Stolpe/Gabriele Behler/Jürgen Zöllner/Willi Lemke, Bildung entscheidet über unsere Zukunft. Für eine neue Bildungsinitiative, 9 (2000) Olaf Cramme, Erfolg dank Erneuerung. Wie aus Old Labour New Labour wurde, 28 (2005) D Patrick Diamond, Für eine neue soziale Gerechtigkeit. Ziele des europäischen Wohlfahrtsstaats im 21. Jahrhundert, 32 (2006) Irene Dieckmann, Kurzer Abriss der Geschichte der Juden in Brandenburg von den Anfängen bis zur Gegenwart, 6 (1998/1999) Christiane Dienel, Zwischen Familien- und Karriereplanung. Abwanderung von Frauen aus Ostdeutschland, 30 (2006) Mike Dietze, Verwaltungsreform. Reform des Haushaltsrechts und der Haushaltswirtschaft, 4 (1998) Jürgen Dittberner, Brandenburg neu erfinden. Betrachtungen der märkischen Parteienlandschaft, 13 (2001) Petra Dobner, Wer rettet den Sozialstaat?, 3 (1998) Irene Dölling, Geschlechtsverhältnisse in Veränderung. Herausforderungen für Frauen- und Geschlechterforschung, 12 (2000) Burkhard Dreher, Die Investition in Köpfe muss sich mehr rechnen als die Investition in Beton (Interview), 5 (1998)


autorenverzeichnis 1997-2007

Katrin Düring, Auf dem Weg zu mehr Leistungsfähigkeit. Über die ersten Erfahrungen mit den Schulevaluationen in Brandenburg, 31 (2006) Tobias Dürr, Abschied von der rotgrünen Mentalität. Wie die Bundestagswahl auch ausgeht: Die deutsche Sozialdemokratie muss sich ihrer eigenen Werte und Ziele vergewissern, 16 (2002) ders., Brandenburg und das finnische Modell. Warum regionale Entwicklung einer strategischen Vision bedarf, 21/22 (2004) sowie 24 (2004) ders., Die Arbeitslosen von Senftenberg. Warum der Aufstand der Ostdeutschen im Sommer 2004 scheiterte, 25 (2004) ders., Sparen mit Speer – und was noch? Wie man ein Produkt verkauft, das eigentlich niemand haben will, 26 (2005) ders., Der Pol der Beharrung. Was die „Linkspartei“ für SPD und Parteiensystem bedeutet, 28 (2005) ders., Tafelsilber und Lebenslügen. Über die Ursachen der schweren Krise und der Richtungsdebatte in der CDU, 32 (2006) ders., Vom Nutzen der Zuversicht. Warum wir gerade die Geburt einer Neuen Ostdeutschen Mitte erleben, 33 (2007) ders., Warum Österreich jetzt? Keine Region ist Brandenburg so ähnlich wie das Bundesland Niederösterreich, 34 (2007) Tobias Dürr/Thomas Kralinski, Weder links noch frei. Der grassierende Lafontainismus droht Deutschland weit zurückzuwerfen, 27 (2005) Hasso Düvel, Ohne Tarif geht’s schief. Warum wir in Deutschland auch künftig Flächentarifverträge brauchen, 5 (1998) E Christoph Egle/Christian Henkes/Tobias Ostheim/Alexander Petring, Sozialdemokratische Reformpolitik in Europa, 19 (2003) Benjamin Ehlers, Wohnungswirtschaftlicher Strukturwandel in Ostdeutschland, 14 (2001) Gosta Esping Anderson, Gute Rentenpolitik fängt mit Babys an. Welchen Wohlfahrtsstaat brauchen wir?, 32 (2006) F Klaus Faber, Wer sind die Brandenburger?, 14 (2001) ders., Gefährdung der Zivilisation. Zur Glaubwürdigkeit der westlichen Politik gegenüber dem Islam, 15 (2002)

ders., Rot-grüne Zwischenbilanz für Bildung und Forschung. Modernisierung und Erneuerung unter den Bedingungen der föderativen Politikverflechtung, 16 (2002) ders., Vertreibung, Flucht und ethnische Säuberung. Europäische und amerikanische Orientierungsprobleme gegenüber Nationalitätenkonflikten, 17 (2002) ders., Verfassungsreform und ostdeutsche Interessen, 19 (2003) ders., Innovationsinitiative und Ostdeutschland. Regionale Probleme und Chancen der deutschen Strukturreform, 21/22 (2004) ders., Islamischer Antisemitismus. Ursachen und Handlungsstrategie in einem alt-neuen Konflikt, 27 (2005) ders., Rot-grüne Bilanzen und deutsche Umbrüche. Nach dem Wechsel in der Regierung und an der SPD-Spitze, 28 (2005) ders., Nach der Föderalismusreform. Die Wissenschaftspolitik braucht auch in Zukunft den Bund, 33 (2007) Thomas Falkner, Sozialisten im Abseits? Die Krise der PDS ist mehr als nur eine Krise der PDS, 17 (2002) ders., Reicht die Kraft der sozialen Demokratie? Die Brandenburgische Politik und die PDS nach der Landtagswahl vom September 2004, 25 (2004) Tina Fischer, Grips statt Beton. Warum die aktuelle Diskussion um den Solidarpakt zur richtigen Zeit kommt, 26 (2005) dies., Verwaltung der Zukunft. Eine Zielvorstellung zur Quadratur des Kreises, 34 (2007) Heiner Flassbeck, Wie schaffen wir die Wende bei der Arbeitslosigkeit, 5 (1998) Richard Florida/Irene Tinagli, Technologie, Talente, Toleranz. Europa im kreativen Zeitalter, 31 (2006) Udo Folgart, Stadt und Land gehören zusammen. Beide gewinnen – und die Landwirtschaft gehört dazu, 30 (2006) Hans-Jürgen Förster, Die rechtsextremistische Szene in Brandenburg und Strategien zu ihrer Bekämpfung, 6 (1998/1999) Jochen Franzke, Brandenburg und die EUOsterweiterung, 10 (2000) Tim Frericks/Moritz Karg, Studiengebühren als Allheilmittel?, 2 (1997) Martin Frielingshaus, Chancen des ländlichen Raums, 5 (1998)

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thema – 10 jahre „perspektive21“

G Alexander Gauland, Die Wunder der Streusandbüchse. Brandenburg zwischen Zukunft und Vergangenheit, 21/22 (2004) Klara Geywitz, Wissenschaftsland Brandenburg. Wie aus dem Nichts ein beachtliches Hochschulnetz entstand, 29 (2006) dies., So früh wie möglich anfangen. Wie mit präventiver Förderung Chancen für Kinder und Familien entstehen, 31 (2006) Anthony Giddens, Vom negativen zum positiven Sozialstaat. Zur Zukunft des europäischen Sozialmodells, 33 (2007) Peer Giesecke, Das Geheimnis des Erfolges. Wie der Kreis Teltow-Fläming zum deutschen Wachstumsstar wurde, 27 (2005) Norbert Glante, Europäische Wirtschaft in der Informationsgesellschaft. Die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Industrie für Informations- und Kommunikationstechnologien, 3 (1998) ders., Die EU ist keine Sparkasse, wo man sein Geld hinträgt und es nach einem Jahr wieder abholt (Interview), 7 (1999) ders., Brandenburger und Polen am Vorabend eines europäischen Aufbruchs, 18 (2003) Klaus Gloede, Studierende als Wirtschaftsfaktor?, 1 (1997) Martin Gorholt, Der Weg aus dem PISA-Loch. Erfolgreiche Schritte für die Brandenburger Schulen, 19 (2003) ders., Offen und spannend“ Über die Erfahrungen mit Peter Glotz, das Grundsatzprogramm und die neue SPD (Interview), 28 (2005) Magdolna Grasnick, Migrantinnen im Land Brandenburg, 12 (2000) Lissy Gröner, Frauen gestalten Europa. GenderMainstreaming in der Europäischen Union – Gleiche Rechte und Chancen für die Frauen in der EU, 12 (2000) Manfred Güllner, Die PDS ohne Zukunft?, 17 (2002) H Kurt Häge, Hat Lausitzer Braunkohle Zukunft? Braunkohlebergbau im 21. Jahrhundert – Stand und Perspektiven in der deutschen Energiewirtschaft, 11 (2000) Volker Hauff/Matthias Machnig, Parteien des 21. Jahrhunderts, 13 (2001) Hubertus Heil, Vorwärts! Wie die Sozialdemo-

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kratie die Zukunft gewinnen kann, 28 (2005) Hubertus Heil/ Kai Weber, Zur Idee des sozialen Rechtsstaates. Eine Annäherung, 2 (1997) Volker Heller, Outsourcing, 4 (1998) Eberhard Henne, Das System der Großschutzgebiete Brandenburgs. Ein Beitrag zur nachhaltigen Entwicklung im ländlichen Raum, 11 (2000) Ruth U. Henning, Die brandenburgisch-polnische Grenzregion. Einige Überlegungen zum Thema Demokratie und Partizipation über Grenzen hinweg als gemeinsame Herausforderung, 7 (1999) Oliver Höbel, Von Luxemburg lernen, heißt siegen lernen. Mindestbesteuerung von Unternehmensgewinnen in der EU, 26 (2005) Wolfgang Hoffmann-Riem, Neue Medien in der Demokratie, 3 (1998) J Jann Jacobs, Jugendhilfe und rechte Jugendgruppen. Chancen und Risiken der Jugendarbeit, 6 (1998/1999) Madeleine Jakob/Andreas Büchner, Wieviele Menschen werden im Jahr 2010 in BerlinBrandenburg leben?, 10 (2000) Jan C. Joerden/Bettina Weinreich, Die Einrichtung eines ständigen Internationalen Strafgerichtshofs durch das Statut von Rom, 7 (1999) K Johannes Kahnt/Ralf Kemmer/Myrian Nowara/Katja Apelt, Mit Platzeck auf Platz eins Ein Blick hinter die Kulissen einer Agentur im Wahlkampf, 25 (2004) Pavel Karolewski, Chancen des Zusammenwachsens in Europa. Übergang zu einer Europäischen Identität?, 14 (2001) Hendrik Karpinski/Solveig Reinisch/ Simone Weber, Von Anfang an gesund aufwachen. Das „Netzwerk Gesunde Kinder“ ist ein Beispiel für vorsorgende Familien- und Kinderbetreuung, 33 (2007) Joachim Katzur, Bergbausanierung. Eine volkswirtschaftlich notwendige Investition, 11 (2000) Ulrike Kielhorn/Manfred Krauß/Wilfried Lücking/Sibylle Rosenkranz, Das Märchen vom guten Binnenschiff, 11 (2000) Heiderose Kilper/Hans Joachim Kujath, Zwischen Metropole und Peripherie. Brandenburg im Sog metropolitaner Entwicklungen, 30 (2006)


autorenverzeichnis 1997-2007

Ulrich Klotz, Die Innovation der Innovationspolitik. Von der Technikplanung zur Förderung der Innovatoren, 29 (2006) Gerd Köhler, Wissenschaftsstandort Brandenburg. Entwicklung mit Zukunft?, 1 (1997) Thomas Kralinski, Zwischen halb voll und halb leer. Wie die Bevölkerungsentwicklung Land und Leute prägt und verändern wird, 20 (2003) ders., Wachsen wie die Sachsen? Eine kritische Bilanz der Nachwendezeit, 21/22 (2004) ders., Die demografische Transformation. Eine kleine Einführung in die Brandenburger Bevölkerungsentwicklung, 26 (2005) ders, Die (neue) Mitte im Osten? In Ostdeutschland ist die Lage der SPD eine andere als im Westen, 28 (2005) ders., Ostdeutschland gibt es nicht. In den neuen Ländern sind parallele Gesellschaften entstanden, 33 (2007) ders., Das Echo kommt. Zur Bevölkerungsentwicklung in Brandenburg bis 2030, 34 (2007) Thomas Kralinski/Klaus Ness, Zwischen Strategie und Taktik Der Wahlkampf der SPD in Brandenburg 2004, 25 (2004) Rolf Kreibich, Eine zukunftsfähige Energiestrategie für Brandenburg, 11 (2000) Raimund Kropp, Zensur im Internet, 3 (1998) Lars Krumrey, Elitentransformation auf kommunaler Ebene am Beispiel der PDS Brandenburg, 15 (2002) ders., Die rot-grüne Regierungsbilanz in Stichworten, 16 (2002) ders., „Wir sind das Bauvolk der kommenden Welt“. Chancen für eine Sozialdemokratie in Ostdeutschland, 17 (2002) ders., Märkischer Widerstreit. Die Brandenburgwahl, ihre widersprüchlichen Ergebnisse und die Herausforderungen an die Parteien, 25 (2004) Eva Kunz/Susanne Melior, Gleichberechtigt und gleichgestellt? Warum Anschlüsse keine reine Männersache mehr sind, 18 (2003) L Mordechay Lewy, Orient und Okzident. Schuldzuweisung gegen Schuldbekenntnis, 17 (2002) Jutta Limbach, 5 Jahre Verfassung des Landes Brandenburg, 2 (1997) Jürgen Linde, Babelsberg wird international vorne mitspielen. Zur Medienpolitik (Interview), 3 (1998)

Heike Lipinski, Familie beginnt vor Ort. Familienfreundlicher Umbau von Kommunen, 23 (2004) Paavo Lipponen, Fortschritt neu denken. Die Sozialdemokraten stehen vor der Herausforderung, einen neuen gesellschaftlichen Konsens zu organisieren, 24 (2004) Wolfgang Loschelder, Voraussetzungen für eine zukunftsfähige Hochschullandschaft im Land Brandenburg, 1 (1997) Albrecht von Lucke, Das Verschwinden der PDS, 17 (2002) Kirsten E. Lüddecke, Die Erweiterung der Europäischen Union. Komplexer Prozess mit hohen Einsätzen?, 7 (1999) M Christian Maaß, Von Konzepten zu wirklichen Veränderungen. Erfahrungen mit der Einführung des neuen Steuerungsmodells in Brandenburgs Modellkommunen, 4 (1998) ders., Zonenfunktionäre. Eine ostdeutsche Generation als Avantgarde oder ein egoistisches Manifest, 17 (2002) Christian Maaß/Madeleine Jakob, Kämpfen für den Traum von Tüffelland. Gedanken über Identität und Sozialdemokratie in Brandenburg, 14 (2001) Christian Maaß/John Siegel, Verwaltung und Politik in der schrumpfenden Mark. Ein Diskussionsbeitrag, 20 (2003) Anton Maegerle, „Junge Freiheit“-Autoren und ihr politisches Umfeld, 18 (2003) ders., Thorsten Thaler (Jg. 1963) – eine politische Biografie, 18 (2003) Anne Mangold/Sylka Scholz, Können Frauen nicht kampfschwimmen? Die Konstruktion von Männlichkeiten und Weiblichkeiten in der Bundeswehr, 12 (2000) Aila-Leena Matthies, Wo ein Rad ins andere greift. Wie sich Wirtschaft, Bildung und Familienpolitik in Finnland gegenseitig auf die Sprünge helfen, 24 (2004) Ulf Matthiesen, Das Ende der Illusionen. Regionale Entwicklung in Brandenburg und Konsequenzen für einen neuen Aufbruch, 21/22 (2004) Ulf Matthiesen/Hendrik Gasmus, Von Krafträumen und Speckwürfeln. Was ist der engere Verflechtungsraum von Berlin mit Brandenburg wirklich?, 27 (2005)

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thema – 10 jahre „perspektive21“

Eugen Meckel, Die Grünen und der deutsche Osten, 16 (2002) Markus Meckel, Zentrale Fragen der Zukunft der transatlantischen Beziehungen und der europäischen Sicherheit. Anhang zum Generalbericht des Politischen Ausschusses der Parlamentarischen Versammlung der NATO, 15 (2002) Susanne Melior, Frauenförderung in Brandenburg, 12 (2000) dies., Fliege hoch du Roter Adler. Wie die SPD in der Fläche an sich arbeitet, 28 (2005) Till Meyer, Wider die Ideologie. Studiengebühren lassen viele Fragen offen, 29 (2006) ders., Mehr Demokratie wagen. Neue Wurzeln müssen wachsen, damit die Demokratie nicht ihre Bürger verliert, 33 (2007) Michael Miebach, Plädoyer für ehrliche Ursachenforschung. Will sie wieder Wahlen gewinnen, dann muss die SPD ihre Niederlage eingestehen und verarbeiten, 28 (2005) Lothar Mikos/Dieter Wiedemann, Die Zukunft der Medienlandschaft in Brandenburg, 4 (1998) Thomas Mirow, Wer still steht, fällt zurück. Über Hamburg und die Chance einer Metropolregion Berlin-Brandenburg (Interview), 30 (2006) Hans Misselwitz, Definitionsfragen, Standortprobleme und die Gerechtigkeitslücke, 9 (2000) Rainer Müller, Perspektiven für die Lausitz. Wie die Internationale Bauausstellung neue Chancen für eine Region eröffnet, 30 (2006) Rita Müller-Hilmer, Brandenburg im Wandel. Politik und Gesellschaft sind in Bewegung geraten, 34 (2007) Martina Münch, Ist doch alles Cottbus! Wie eine Hochschule eine Region bewegen kann, 29 (2006) dies., Ursachen behandeln, nicht Symptome. Für eine neue Familienpolitik müssen sich auch die Männer ändern, 33 (2007) Matthias Munke, Verfassung und institutionelle Entwicklung der Europäischen Union, 7 (1999) N Bernhard Nagel, Studiengebühren im Vergleich. Wer über Studiengebühren redet, sollte ihre Auswirkungen genau kennen, 29 (2006) Klaus Ness, Soziale Gerechtigkeit als Kernpunkt der Parteienkonkurrenz zwischen SPD und PDS in Ostdeutschland, 8 (1999)

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ders., Verrückte Welt in Potsdam? Zur Parteienkonkurrenz in der brandenburgischen Landeshauptstadt, 17 (2002) ders., Eine Idee haben und Probleme lösen. Ist die Parteiendemokratie in Ostdeutschland nur eine tapfere Illusion?, 19 (2003) Klaus Ness/Klaus Faber, Aufstieg für alle. Das „Schüler-BAföG“ entwickelt den Vorsorgenden Sozialstaat weiter, 34 (2007) Gero Neugebauer, Die PDS in Brandenburg. Wohin des Wegs?, 13 (2001) ders., Die Perspektiven der PDS nach der Bundestagswahl 2002, 17 (2002) Peter Neugebauer, Ausbau des Wasserstraßennetzes im Bereich der WSD Ost, 11 (2000) Leonardo G. Noto, Wirtschaftförderung für Brandenburg, 5 (1998) O Anne-Kathrin Oeltzen, „Uns ist etwas anderes versprochen worden!“ Was jungen Frauen heute die Familiengründung erschwert, 23 (2004) Volker Offermann, Sozialstaat und soziale Gerechtigkeit, 8 (1999) Manja Orlowski, Gelehrte oder gelebte Demokratie? Sind Brandenburgs Politiklehrkräfte in der Lage, demokratische Werte zu vermitteln?, 31 (2006) P Stefan Pinter, Was müssen wir wissen? Komplexität erfordert kommunizieren, kooperieren und experimentieren, 29 (2006) Matthias Platzeck, Überleben großer Städte bedeutet auch Sicherheit für Umlandgemeinden (Interview), 10 (2000) ders., Warum der Westen genauer in Richtung Osten schauen sollte. Bei der Modernisierung Deutschlands sitzen Ost und West im selben Boot, 18 (2003) ders., Zukunft braucht Herkunft. Warum es ohne starke Traditionen kein modernes Brandenburg gibt, 20 (2003) ders., Zukunft, Arbeit und Familie. Unser Weg für Brandenburg, 21/22 (2004) ders., Finnland ist mehr als Pisa. Oder: Das finnische Regine-Hildebrandt-Prinzip, 23 (2004) sowie 24 (2004) ders., Erneuerung aus eigener Kraft. Zehn Thesen zur Zukunft Brandenburgs, 25 (2004)


autorenverzeichnis 1997-2007

ders., Demografie und Zukunft. Nicht nur in Ostdeutschland wird die Bevölkerungsentwicklung das Land verändern, 26 (2005) ders., Glücklich schrumpfen? Warum gerade die schrumpfende Gesellschaft eine erneuerte Gerechtigkeitspolitik braucht, 27 (2005) ders., Die zupackende SPD. Miteinander statt gegeneinander – Für soziale Demokratie im 21. Jahrhundert, 28 (2005) ders., Land in Bewegung. Brandenburg zwischen Zukunft und Vergangenheit, 29 (2006) ders., Soziale Gerechtigkeit für das 21. Jahrhundert. Leitsätze für ein neues SPD-Grundsatzprogramm, 30 (2006) ders., Wir leben in einer neuen Welt. Über seine Zeit als SPD-Vorsitzender und das Grundsatzprogramm (Interview), 32 (2006) ders., Brandenburg: Land der Lebenschancen. Wie wir die Idee des Vorsorgenden Sozialstaates in die Tat umsetzen, 34 (2007) R Joachim Ragnitz, Grips und Beton. Für einen neuen Investitionsbegriff in der Ausgabenpolitik der Länder, 31 (2006) Christa Randzio-Plath, „Uns kriegen sie nicht klein“. Zur Lage der Frauen in Afrika, Asien und Lateinamerika, 12 (2000) Erardo Christoforo Rautenberg, SchwarzRot-Gold. Das Symbol für die nationale Identität der Deutschen, 26 (2005) Erardo und Katrin Rautenberg, Was geschah in Halbe? Die Rechtsextremisten und die Herausforderung für die Demokraten, 32 (2006) Christoph Reichard, Die Modernisierung der deutschen Verwaltung. Zwischenbilanz der aktuellen Reformbestrebungen, 4 (1998) Steffen Reiche, Profil schärfen. Über mehr Mitbestimmungsrechte an den Hochschulen (Interview), 1 (1997) ders., Neue Herausforderungen pragmatisch angehen (Interview), 9 (2000) ders., Die Hauptstadtregion zur gemeinsamen Zukunftsregion entwickeln! Vorschläge für den Weg zu einem gemeinsamen Land, 10 (2000) ders., Finnische Inseln. Was Brandenburg aus Finnlands Bildungserfolgen lernen kann, 24 (2004) ders., Das Wettrennen hat begonnen. Wer eine Hochschulkrise vermeiden will, muss Studiengebühren einführen, 29 (2006)

Uta Reichel, „Augen zu und durch“. Sozialdemokratische Politik in Zeiten knapper Kassen am Beispiel der Kita-Kürzungen, 12 (2000) Rolf Reißig, Ostdeutschland – ein Zukunftsprojekt der „Berliner Republik“?, 18 (2003) Bodo Richard, Weiterentwicklung der Qualität schulischer Arbeit, 9 (2000) Stefan Rink, Das Raumordnerische Leitbild der dezentralen Konzentration. Richtschnur oder Korsett für die Landesentwicklung?, 10 (2000) Kartin Rohnstock, Andere Frauen – andere Themen, 12 (2000) Jochen Röpke, Ostdeutschland in der Entwicklungsfalle. Oder: die Münchhausen-Chance, 21/22 (2004) Nils Rosemann, Die sozialen Menschenrechte. Notwendige Voraussetzung der Demokratie, 2 (1997) Martin T.W. Rosenfeld, Perspektiven von Berlin-Brandenburg. Die Metropolregion und ihre wirtschaftlichen Chancen, 30 (2006) Ulf Rosner, Europe isn´t working. Das Beschäftigungskapitel im Vertrag von Amsterdam, 2 (1997) Martin Rost, Die Modernisierung des Wissenschaftsdiskurses, 3 (1998) Bert Rürup/Sandra Gruescu, Familienpolitik ist Wachstumspolitik, 23 (2004) Werner Ruhnke, Produktivitätspotential in den Köpfen der Beschäftigten, 4 (1998) Holger Rupprecht, Sich kümmern statt wegsehen. Plädoyer für eine Erziehung nach Grundsätzen, 31 (2006) S Sebastian Sass, Kinder im Mittelpunkt. Neuvola als Modell des aktivierenden Sozialstaates in Finnland, 23 (2004) Uwe Scheffler, Johann Jakob Moser und die aktuelle Hochschulreform. An der Viadrina wurde mit dem „starken Präsidenten“ schon vor über einem Vierteljahrtausend experimentiert, 3 (1998) Klaus-Jürgen Scherer, Kann Politik die ostdeutschen Erwartungshaltungen erfüllen?, 8 (1999) ders., Wertewandel aus dem Osten? Zur kulturellen Debatte über die Zukunft der Berliner Republik, 18 (2003) Michael Scheske/Klemens Schmitz/Olaf Gründel, Auswirkungen der demographischen Veränderungen auf kommunale Finanzen. Das Beispiel Uckermark, 20 (2003)

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thema – 10 jahre „perspektive21“

Rolf Schmachtenberg, Hat das Politikziel Vollbeschäftigung in Ostdeutschland noch eine Chance? Bestandsaufnahmen und Perspektiven der ostdeutschen Arbeitmarktpolitik, 8 (1999) Helmut Schmidt, To be or not to be? Wie geht es weiter mit den Hochschulen in Brandenburg?, 1 (1997) Renate Schmidt, Perspektiven für Familien. Wie nachhaltige Familienpolitik Deutschland verändern kann, 27 (2005) Reiner Schmock-Bathe, Die CDU Brandenburgs im Aufwind – nach langer Durststrecke, 13 (2001) Hubertus Schmoldt, Der Mensch im Mittelpunkt. Deutschland braucht eine sozial gerechte Reformpolitik, 27 (2005) Hubertus Schmoldt/Ulrich Freese, Flexibilität braucht Sicherheit. Das Modell Deutschland muss zum politischen Raum Europa entwickelt werden, 32 (2006) Rolf Schneider, Realistische Utopie, 10 (2000) Julius H. Schoeps, Zweckmäßigkeit und Staatsräson. Die Herausbildung des Toleranzbegriffs in Brandenburg-Preußen, 14 (2001) Ottmar Schreiner, Zur Zukunft der SPD. Thesen zur Debatte über den „Dritten Weg“, 8 (1999) Esther Schröder, Wirtschaftspolitik in Brandenburg. Probleme und Perspektiven, 21/22 (2004) Gerhard Schröder, Politische Gestaltung. Oder: Primat der Ökonomie, 5 (1998) ders., Chancengleichheit, Qualität und Selbstverantwortung, 9 (2000) Gerhard Schröder/Tony Blair, Der Weg nach vorne für Europas Sozialdemokraten, 8 (1999) Hartmut Schröder, Internet und Multimedia. Kulturwissenschaftliche Anmerkungen, 3 (1998) Wolfgang Schroeder, Zwei schwierige Partner. Über das Verhältnis von Sozialdemokratie und Gewerkschaften, 28 (2005) ders., Ein Erfolgsmodell unter Druck. Zur Vergangenheit und Gegenwart des deutschen Berufsbildungssystem, 31 (2006) ders., Vorsorge ist besser als Nachsorge. 10 Thesen zur Leistungs- und Legitimationsweise des alten Sozialstaates, 33 (2007) Karl-Heinz Schröter, Schule aus einem Guss. Dem neuen Grundsatzprogramm müssen beherzte Schritte in der Bildungspolitik folgen, 33 (2007)

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Klaus-Peter Schulze, Wissenstransfer für die Märkte der Zukunft. Wie für die Wirtschaft neue Chancen entstehen, 34 (2007) Gesine Schwan, Freiheit, Gleichheit und Solidarität. Das neue Programm als Ausgleich zwischen Zivilgesellschaft und Unternehmen, 32 (2006) Helmut Seitz, Demographischer Wandel und Infrastrukturaufbau in Berlin-Brandenburg bis 2010/15. Herausforderungen für eine strategische Allianz der Länder Berlin und Brandenburg, 14 (2001) Norbert Seitz, Ist Rot-Grün ein unvollendetes Projekt? Versuch einer Zwischenbilanz, 16 (2002) Harald L. Sempf, Bedingungen und Anforderungen an die regionale Wirtschaftspolitik und Voraussetzungen für ein erfolgreiches Standortmarketing, 5 (1998) ders., Demographische Entwicklung der Nachwende und ihre Auswirkungen in Brandenburg, 20 (2003) John Siegel, Verwaltung und Politik in der schrumpfenden Mark, 20 (2003) Ernst Sigmund, Wissenschaftliche technische Entwicklung und Leitbild für die Infrastrukturpolitik, 14 (2001) Wilma Simon, Neue Herausforderung für die Brandenburger Finanzpolitik, 10 (2000) dies., Ideologie und Wirklichkeit. Frauen- und Familienpolitik nach Schönbohms Art, 23 (2004) Rainer Speer, Finanzpolitik für Brandenburg. Warum das Land sparen und gleichzeitig investieren muss, 26 (2005) Toralf Staud, Nicht aus 40, sondern aus 14 Jahren! Was der Westen vom Osten lernen kann – und was nicht, 23 (2004) Peer Steinbrück, Zur Zukunft der sozialen Demokratie. Acht Thesen über die Rolle des Staates, 31 (2006) Carsten Stender, Personalisierung und Wahlerfolg. Forcierte Kandidatenorientierung als Kampagnenstrategie, 25 (2004) ders., Bürokratieabbau für Brandenburg. Anwendungsfreundliche Rechtssetzung statt Flucht vor Gemeinwohlpflichten, 26 (2005) Manfred Stolpe, Die Anonymität der Täter aufheben (Interview), 6 (1998/1999) ders., Erfahrungen der Menschen als wichtiges Potenzial. Zu Auswirkungen der Bevölkerungsveränderungen auf Kommunen und Aufbau Ost (Interview), 20 (2003)


autorenverzeichnis 1997-2007

Richard Stöss, Wahlgeschichten und Wettbewerbssituation der SPD in Brandenburg, 13 (2001) ders., SPD und soziale Gerechtigkeit, 19 (2003) Matthias Strunz, Strukturkrise und Strukturveränderungen. Auswirkungen auf die Fabrik- und Arbeitsplatzentwicklung in Deutschland, 3 (1998) Dietmar Sturzbecher, Rechtsextremismus in Brandenburg aus der Perspektive der Jugendforschung, 6 (1998/1999) T Peter Tauch, Der Studiengang „Wirtschaft und Recht“ an der Technischen Fachhochschule Wildau, 4 (1998) Jens Tessmann, Zusammenarbeit von Landkreisen. Möglichkeiten und Grenzen kooperativer Aufgabenwahrnehmung in der Region, 30 (2006) Wolfgang Thierse, Arbeit und Beschäftigung in der Informationsgesellschaft, 3 (1998) Thomas Thrun/Bärbel Winkler-Kühlken, Sicherung von Infrastrukturangeboten in dünn besiedelten Regionen. Eine besondere Herausforderung des demographischen Wandels, 20 (2003) Bassam Tibi, Der islamische Fundamentalismus und die Moderne. Zwischen Islam-Reform, religöser Orthodoxie und dem islamischen Traum von der halben Moderne, 15 (2002) V Günter Verheugen, Die gemeinsame Außenpolitik der Europäischen Union, 7 (1999) Hans-Jochen Vogel, Glaubwürdigkeit im Reden und Handeln. Über Willy Brandt, die Achtundsechziger und die Reformen in Deutschland (Interview), 27 (2005) Jörg Vogelsänger, Zusammenwachsen der Regionen durch Infrastrukturausbau, 10 (2000) Nikolaus Voss, Umbau Ost statt Weiter-soAufbau-Ost. Die neuen Länder brauchen mutige politische Entscheidungen, 26 (2005)

Roy Wallenta, Zwischen Hoffen und Bangen. Über den Umbruch in der Stadt Premnitz (Interview), 30 (2006) Franz Walter, Plädoyer für eine Große Koalition zur Sanierung des deutschen Sozialstaats, 19 (2003) Mark F. Watts, London and the South East, 10 (2000) Hans N. Weiler, Die Zukunft darf nicht abhanden kommen. Wissenschaft und Wirtschaft in einem neuen Brandenburg, 2 (1997) ders., Hochschulen und Industrie in den USA. Lehren aus Silicon Valley, 5 (1998) Norman Weiß, Schutz von Frauenrechten im Rahmen der Vereinten Nationen. Insbesondere durch das Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung, 12 (2000) Paul J. J. Welfens, Wirtschaftspolitik in der EU, 7 (1999) Andrea Wicklein, Die Hochschulen brauchen den Bund. Ein Plädoyer für Korrekturen der Föderalismusreform, 31 (2006) Hugh Williamson, Reformschrittmacher Ostdeutschland. Über Mentalitätswandel und Aufbruch in den neuen Ländern, 30 (2006) Z Alwin Ziel, Besserer Service für die Bürger und die Wirtschaft. Zur Verwaltungsreform (Interview), 4 (1998) ders., Die Starken helfen sich schon selber (Interview), 8 (1999) Nils-Eyk Zimmermann, Profilneurose. Hochschulentwicklungsplan und Praxis, 1 (1997)

W Georg Wagener-Lohse, Nachhaltige Energiepolitik für Brandenburg in einem wettbewerblichen Umfeld, 11 (2000) Bernd Wagner, National Befreite Zonen? Ein Diskussionsbeitrag, 6 (1998/1999) Dieter Wagner, Personalmanagement statt Personalverwaltung im öffentlichen Dienst, 4 (1998)

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thema – 10 jahre „perspektive21“

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Zur Idee des sozialen Rechtsstaates EINE ANNÄHERUNG VON HUBERTUS HEIL UND KAI WEBER

Dies ist der erste Text, der von Hubertus Heil 1997 in der Perspektive 21 erschien. Zusammen mit Kai Weber analysiert er die Entstehungsgeschichte des Begriffes vom „sozialen Rechtsstaat“ im Grundgesetz. Angesichts der aktuellen Debatten – 1997 als auch 2007 – eine nach wie vor aktuelle Diskussion: Wie stark ist ein moderner Sozialstaat durch das Grundgesetz abgesichert?

ls zentrales Merkmal für die staatliche Verfasstheit der Bundesrepublik findet der Begriff „sozialer Rechtsstaat“ Verwendung. In Artikel 20 des Grundgesetzes heißt es: „Die Bundesrepublik ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat.“ Und in Artikel 28 ergänzend: „Die verfassungsmäßige Ordnung der Länder muss den Grundsätzen des republikanischen, demokratischen und sozialen Rechtsstaates im Sinne dieses Grundgesetzes entsprechen. (...)“ Artikel 79 des Grundgesetzes stellt den Grundsatz des Artikel 20 neben Artikel 1 sogar in den Rang einer unabänderlichen Verfassungsnorm. Die Formulierung „sozialer Bundesstaat“ beziehungsweise „sozialer Rechtsstaat“, die im Wesentlichen auf die Vorschläge des Sozialdemokraten Carlo Schmid im Parlamentarischen Rat zurückgehen,

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basieren auf Vorstellungen des Staatsrechtlers Hermann Heller in der Weimarer Republik. Im Weiteren soll eine Annäherung an diesen Begriff vor dem Hintergrund folgender Fragen versucht werden: Welche Staatsvorstellung war der Hintergrund für Hellers Begriff eines sozialen Rechtsstaates? Weshalb fand dieser Begriff seinen Niederschlag im Bonner Grundgesetz? Was waren die zentralen Positionen in der Sozialstaatskontroverse der fünfziger und sechziger Jahre und welche Aktualität hat diese Debatte heute? Hermann Heller behandelt das Thema „Staat“ in einem komplexen Bezugsrahmen. Er setzt sich mit dem Thema im Rückblick auf die europäische staatstheoretische Tradition und die politische Geschichte sowie aufgrund seiner zeitgeschichtlichen perspektive21

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Erfahrung und seiner Parteinahme für den Sozialismus auseinander. Dabei sind liberale Positionen einerseits und marxistische andererseits seine Angriffspunkte. Geht es dem Liberalismus darum, Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen und sieht die marxistische Auffassung als Wirkung sozialistischer Revolution das Absterben des Staates voraus, so lautet Hellers Grundfrage: „Wie ist Staat als objektive und wirkliche, in der gesellschaftlichgeschichtlichen Welt tätigen Einheit zu begreifen?“ Für Heller ist der Staat für Ordnung und Gestaltung von Gesellschaft grundsätzlich notwendig. Dazu kommt Heller aus historischen und anthropologischen Annahmen. Voraussetzung sei ein hoher Grad gesellschaftlicher Arbeitsteilung und dadurch bedingt eine gewisse Stetigkeit und Dichte der gesellschaftlichen Verkehrsbeziehungen und gegenseitigen Abhängigkeiten. Der Staat hat also eine einheitliche Ordnung der gesellschaftlichen Beziehungen durch eine gemeinsame Ordnungsgewalt, die zugleich gezwungen ist, sich nach außen durchzusetzen, zu garantieren. Der Staat sichert die Individuen vor physischen Auseinandersetzungen und vor Angriffen äußerer Feinde. Er schafft Bedingungen für die Entfaltung und Erhaltung seelisch-geistiger Individualität im Zusammenwirken mit anderen. Der Staat ist notwendige Friedens- und Ordnungseinheit. Um 28

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diesen Aufgaben gerecht zu werden, muss der Staat als Entscheidungseinheit konstituiert werden. Souveränität ist deshalb ein zwingendes Merkmal des Staates. Staat ist für Heller weiterhin demokratisch organisierte Entscheidungseinheit; an die Stelle der Sanktion des Staates von oben tritt die Sanktion des Staates von unten. Volkssouveränität und Staatssouveränität bedingen einander. Die Frage nach der Entscheidungs- und Machteinheit wird zur Frage, wie sich aus einer Vielheit (Volk) eine souveräne Entscheidungseinheit bildet. Liberale Demokratie und sozialer Rechtsstaat Heller hält die zwei technischen Mittel Majoritätsprinzip und Repräsentation für entscheidend. Das Volk kann so als Vielheit zur Einheit werden und als diese Einheit über sich als Vielheit herrschen und so zum Subjekt der staatlichen Souveränität werden. Dabei erkennt er an, dass es keinen einheitlichen Volkswillen volonté generale, sondern einen Pluralismus von politischen Willensrichtungen gibt. Jedoch ist ein bestimmtes Maß an sozialer Homogenität nötig, damit politische Einheitsbildung überhaupt möglich ist. In der bürgerlichen Demokratie wird für Heller die politische Herrschaft nicht durch die Nation, sondern nur durch einen ihrer Teile legitimiert.


hubertus heil, kai weber – zur idee des sozialen rechtsstaates (1997)

Eine solche Herrschaft ist nicht gerechtfertigt, da Gleichheit und Freiheit für alle Menschen gelten. Er erkennt daher nur das solidarische Gesamtvolk als Rechtfertigungsgrund der Herrschaft an. Aufgrund seiner staatstheoretischen Position kann die angestrebte ökonomische Vergemeinschaftung nur durch und über den Staat erfolgen. Heller setzt sich vom Liberalismus ab, da er nicht an die Selbstregulation gesellschaftlicher Beziehungen glaubt. Er setzt sich vom Marxismus ab, weil er nicht annehmen kann, dass sich Gesellschaft nur aufgrund der sich notwendig ergebenden Veränderungen des Produktionsverhältnisses umgestaltet. Heller plädiert deshalb für eine Reform der Weimarer Reichsverfassung. Er wollte sie, da sie einen liberalen Rechtsstaat begründete, nicht abschaffen, sondern weiterentwickeln. Auch hier begab er sich in einen Gegensatz zu marxistischen Staatsvorstellungen. Auf der anderen Seite sah er in seinem Einsatz für den sozialen Rechtsstaat nicht nur die Basis für den Aufbau eines demokratischen Sozialismus, sondern auch ein Mittel gegen die zunehmende Aushöhlung der bürgerlichen Verfassung. Diese vollzog sich seit Mitte der zwanziger Jahre vor allem durch eine interpretatorische Ent- und Umwertung durch Staatsrechtler wie Carl Schmitt. Kernthese der Schmitt´schen Ideen, die an den Begriff der „materiellen Rechtsstaatlichkeit“ anknüpften,

war der Vorrang des „Existenziellen“ vor dem „Normativen“. In Folge dessen unterschied Schmitt die „echten“ Grundrechte „als bürgerlich-rechtsstaatliche Bestandteile der Verfassung“ und Institute (wie dem privatrechtlichen Rechtsinstitut auf Eigentum) auf der einen, und „bloße Verfassungsgesetze“ auf der anderen Seite. Neuanfang nach dem Zweiten Weltkrieg Heller wollte dieser Bewegung vor allem eine verfassungsrechtliche Legitimation einer in den Wirtschaftsablauf eingreifenden Staatlichkeit entgegenstellen. Seinem Demokratieverständnis folgend, hielt er den liberalen Rechtsstaat aufgrund der „Anarchie der Produktion“ für ständig vom Totalitarismus gefährdet. Entsprechend trug die Schrift, in der er 1929 den Begriff des „sozialen Rechtsstaates“ in seinem Sinne prägte, den Titel „Rechtsstaat oder Diktatur“. Bereits 1924 formulierte er als Grundlage für seine Staatsvorstellung: „In unserer Darstellung sind Liberalismus und Sozialismus zwei historische Ausformungen der Demokratie: in ihrer politischen Funktion die liberale Demokratie die Emanzipation des Bürgertums, die soziale Demokratie Emanzipation des Proletariats.“ „Diese soziale Idee ist die folgerichtige Fortführung der politischen zur wirtschaftlichen Demokratie. Die erste hat die poperspektive21

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litischen Stände beseitigt, die letztere wendet sich gegen die wirtschaftlichen Klassen.“ Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg bestand, zumindest verbal, ein weitgehender Konsens zwischen den sich neu- beziehungsweise wiedergründenden großen politischen Parteien, dass für einen Neuanfang in Deutschland sowohl in bezug auf die staatliche Ordnung als auch im Hinblick auf die Wirtschaftsverfassung ein Bruch mit der Weimarer Republik notwendig sei. Offenbar traf die von Heller bereits 1930 geäußerte Befürchtung, dass der liberale Rechtsstaat allein keinen ausreichenden Schutz vor Totalitarismus bot, ex post auf offene Ohren. Der soziale Rechtsstaat im Grundgesetz Übereinstimmend finden bei fast allen Parteien die Begriffe „Demokratie“ und „Sozialismus“ Verwendung. Dieses wird durch die ersten programmatischen Dokumente von SPD, CDU und KPD belegt. Das Zerbrechen dieses Konsenses hatte eine Fülle von Ursachen, die an dieser Stelle nicht im Einzelnen beleuchtet werden können. Festzuhalten bleibt aber, dass vor allem die Einflüsse der Siegermächte und der sich bereits abzeichnende Ost-West-Konflikt hierfür von wesentlicher Bedeutung sind. Für Westdeutschland zeichneten sich die zentralen Konflikte über die zukünftige Gesellschaft30

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struktur und Wirtschaftsverfassung zwischen CDU und SPD spätestens im Frankfurter Wirtschaftsrat 1948 ab. Dissens bestand über das Verhältnis zwischen Planung und Markt sowie über die Eigentumsfrage für die Schlüsselindustrien im Montanbereich. Trotz dieser Konflikte blieb die grundsätzliche Diskussion über die zukünftige Wirtschaftsverfassung bei der Beratung über das Grundgesetz im Parlamentarischen Rat weitestgehend ausgeklammert. Eine wesentliche Begründung dafür findet sich in dem Hinweis, dass das Grundgesetz lediglich „für eine Übergangszeit“ bis zur Vollendung der deutschen Einheit Geltung habe, die allgemein für die absehbare Zukunft erwartet wurde. Die Sozialdemokraten vermieden auch deshalb eine Fixierung ihrer sozial- und wirtschaftspolitischen Forderungen, weil sie glaubten, diese nach einer gewonnenen Bundestagswahl im Bundestag und als Bundesregierung umsetzen zu können. Die CDU hoffte offenbar auf die normative Kraft der Währungsreform von 1948 und die präjudizierende Politik der westlichen Alliierten, um die von MüllerArmack postulierte „Soziale Marktwirtschaft“ als liberale Wirtschaftsordnung durchzusetzen. Der Parlamentarische Rat beschränkte den Grundrechtskatalog weitgehend auf die klassisch-liberalen Freiheitsrechte. Bestimmungen über die wirtschaftliche Ordnung und soziale Grundrechte finden sich nur in begrenztem


hubertus heil, kai weber – zur idee des sozialen rechtsstaates (1997)

Maße. Lediglich in den Artikeln 14 (Eigentum, Erbrecht, Enteignung), 15 (Sozialisierung) sowie 20 und 28 werden Fragen der sozialen und wirtschaftlichen Ordnung angesprochen. Der Grundgesetzentwurf des Herrenchiemseer Konvents sah eine grundsätzliche Charakterisierung des Staates, wie wir sie heute vor allem in Artikel 20 finden, überhaupt nicht vor, obwohl das Adjektiv „sozial“ zur Staatscharakterisierung zuvor schon in einer Reihe von Landesverfassungen Eingang gefunden hatte. Erst im Verlauf der Beratung einigte sich die Mehrheit auf die Formulierung „Die Bundesrepublik ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat“. Der Begriff „sozial“ wurde während der Beratung so gut wie überhaupt nicht problematisiert. Lediglich die KPD formulierte dagegen ihren fundamentalen Einspruch. Der Abgeordnete Renner (KPD) erklärte: „Ich spreche außerdem dem Parlamentarischen Rat bzw. der Mehrheit, die hier herrscht, das Recht ab, eine solche absolut irreführende Bezeichnung in die Verfassung hineinzuarbeiten. Der Staat, den Sie hier bilden, ist kein sozialer Staat, sondern das Gegenteil.“ Blieb im Parlamentarischen Rat eine grundsätzliche Kontroverse, mit Ausnahme des KPD-Protestes, aus, so wurde sie bezüglich der Interpretation der entsprechenden Grundgesetzartikel umso heftiger geführt. Als einer der ersten kritisierte Hans Peter Ipsen in einer vielbeachteten Universitätsrede bereits

am 17. November 1949 die aus seiner Sicht mangelnde „Sozialität“ des Grundgesetzes, die in weiten Teilen hinter die Weimarer Reichsverfassung zurückgefallen sei. Ipsen führte aus: „Das Staatsgebilde des Grundgesetzes ist – Artikel 20 und 28 – ein sozialer Rechtsstaat. In der Ausgestaltung dieser Staatszielbestimmungen unterscheidet sich das Grundgesetz zweifach von der Weimarer Verfassung; in seiner Rechtsstaatlichkeit überhöht es die denkbare Verfassungsgewährleistung für die Stellung und den Schutz des einzelnen bis zum vorstellbaren Maximum und in seiner Intensität, die die Weimarer Verfassung weit hinter sich lässt. Nur eine vorläufige Verfassung? In seiner Sozialität, seinem Bekenntnis zu einer Sozialverfassung, genügt es sich im proklamierten Verfassungsgrundsatz ohne Aktualisierung und bleibt es seinerseits hinter der Weimarer Verfassung selbst dann zurück, wenn der sehr unterschiedliche Rechtsund Realwert mancher Weimarer Grundrechtsvorschriften in Rechnung gestellt bleibt.“ Den Einwand, dass das Grundgesetz nur vorläufigen Charakter habe, und weitergehende Regelungen von einer gesamtdeutschen Verfassung zu treffen seien, lässt Ipsen nicht gelten. Gerade eine „Verfassung echter Vorläufigkeit“ müsse sich eingehend mit Kriegsperspektive21

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opfern, Raumnot, Zerstörung der Städte, Flüchtlingen und Vertriebenen befassen und „selbst in der Hintansetzung rechtsstaatlicher Gewährleistung des status quo Beiträge zur Realisierung seiner proklamierten Sozialstaatlichkeit“ leisten. Darüber hinaus kritisiert er, dass das Grundgesetz die soziale Funktion der Freiheitsrechte (Artikel 1 bis 17) im Wesentlichen unerwähnt ließe. Er folgert, dass im allgemeinen Interesse der vorläufige Charakter dieser Verfassung unterstrichen werden müsse, da die Sozialstaatlichkeit nicht durch Verfassungsgebote bezüglich der Sozial- und Wirtschaftsverfassung untermauert sei. Die Sozialstaatdebatte in den fünfziger und sechziger Jahren Auf der Staatsrechtslehrertagung im Herbst 1951 konstatiert er aufgrund dieses Mangels gesetzgeberischen Handlungsbedarf: „Wenn die Entscheidung des Grundgesetzes zum Sozialstaat etwas Wesentliches und Tieferes sein will als nur einer wohlfeile Formel aus Kompromiss oder Konzession oder auch nur eine unverbindliche Verheißung, so bedeutet sie Bereitschaft und Verantwortung, Aufgabe und Zuständigkeit seines Staates eine solche Deutung wird der besonderen gegenwärtigen Lage (...) gerecht. Soweit das Grundgesetz Idee und Rechtsförmigkeit des liberalen Rechtsstaates lediglich restauriert und damit seiner eigenen Sozialstaats-Bestimmung etwa Hindernisse 32

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in den Weg gelegt hat, gilt es, jenen Auftrag zur Gestaltung der sozialen Ordnung gleichwohl nicht zu vernachlässigen.“ In der Folge machten sich eine Reihe bekannter Staatsrechtler Ipsens Kritik zu eigen. Es war dem Schmitt-Schüler Ernst Forsthoff vorbehalten, mit seinem Referat „Begriff und Wesen des sozialen Rechtsstaates“ auf der Staatsrechtslehrertagung im Oktober 1953 einen „Wendepunkt“ für die Kritik und Interpretation der Sozialstaatlichkeit des Grundgesetzes zu markieren. Für Forsthoff hatte das Grundgesetz keinerlei sozialen Charakter. Er machte deutlich, dass das staatsbestimmende Adjektiv „sozial“ durch das Grundgesetz nicht konkretisiert werde. Das Soziale sie damit eine Aufgabe, die außerhalb des verfassungsrechtlichen Bereiches angesiedelt werden müsse. Für Forsthoff trägt das Wort „sozial“ darüber hinaus die Gefahr der Unbestimmtheit für den Rechtsstaat“ in sich. Wie Carl Schmitt sieht er die soziale Frage lediglich als eine Frage nach der Verteilung des Sozialproduktes an. Das Soziale könne deshalb den Rechtsstaat zur „Beute von Interessengruppen“ machen. Der Rechtsstaat sei immer an den Status quo gebunden und seine Funktion sei es, ein sichtbares Wertesystem zu schützen. Man könne nicht gleichzeitig beides: „jedermann in seinen Rechten schützen und zugleich in der Verfassung das Tor für soziale Umwälzung offenhalten, die immer nur zugunsten der einen und auf Kosten der anderen realisierbar sind“.


hubertus heil, kai weber – zur idee des sozialen rechtsstaates (1997)

Eine zentrale Rolle spielt in Forsthoffs Thesen demzufolge die Behauptung, dass eine Verschmelzung von Rechtsstaat und Sozialstaat schlechterdings nicht möglich sei: Ein halber Rechtsstaat und ein halber Sozialstaat ergäben keinen sozialen Rechtsstaat. Für ihn gebietet der Artikel 20 deshalb den Vorrang des Rechtsstaates. Ähnlich argumentiert Schnorr, der das Soziale seinem „ureigensten Wesen nach ein Phänomen des Seins und nicht des Sollens“ nennt; damit ist für ihn der Sozialstaat primär kein rechtliches, sondern ein „geistesgeschichtliches-politisches Phänomen“. Antipode zu Forsthoff in der Debatte um die Bedeutung des grundgesetzlichen Sozialstaatspostulats ist Wolfgang Abendroth. Wie bei Hermann Heller und Carl Schmitt offenbart sich bei diesen beiden ein klarer Kontrast hinsichtlich ihres ideengeschichtlichen Hintergrunds, der jeweils von entscheidender Bedeutung für ihre Biographie war: Forsthoff als Schmitt-Schüler mit starker Affinität zu den Machthabern in der Zeit des Nationalsozialismus auf der einen, und Abendroth als demokratischer Sozialist, anknüpfend an die Ideen und Begrifflichkeiten Hellers, auf der andern Seite. Abendroth sieht zwar in den in Artikel 20 und 28 verankerten drei Elementen „demokratisch“, „sozial“ und „Rechtsstaat“ für sich noch keinen positiven Rechtssatz, da hierfür die individualisierenden Bestimmungen fehlten, wohl aber eine andersförmige Bedeutung:

Für ihn bildet dieser Dreiklang ein Programm, an dem sich jede künftige Rechtsgestaltung messen lassen müsse. Zur Untermauerung dieser These führt er an, dass der Verfassungsgeber bewusst auf die Herller’sche Formulierung „sozialer Rechtsstaat“ in Abgrenzung zum „liberalen Rechtsstaat“ zurückgegriffen habe. Zwischen Formalkompromiss und Strukturprinzip Diese Abgrenzung des Grundgesetzes zum liberalen vom Bürgertum über die ihm entstammenden Richter geprägten Rechtsstaat und der daraus hervorgehenden faschistischen Diktatur sei somit ein Gebot für die Schaffung einer sozialstaatlichen Demokratie. Das Sozialstaatgebot in den Artikeln 20 und 28 habe unter anderem den Zweck, das liberal-konservative „Missverständnis des Grundgesetzes“ auszuschließen, „dass der Grundrechtsteil als starre Garantie der bestehen Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung missverstanden wird“. Für Abendroth bieten vor allem die Artikel 2 (persönliche Freiheitsrechte), 14 (Eigentum, Erbrecht, Enteignung) und 15 (Sozialisierung) vor dem Hintergrund der programmatischen Bedeutung der Artikel 20 und 28 die Gelegenheit, die herrschende ökonomische und soziale Ordnung im Rahmen der Verfassung grundlegend umzugestalten. Wie Heller sieht Abendroth den sozialen Rechtsstaat also als Basis an, auf dem ein demokratischer Sozialismus erperspektive21

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richtet werden könne. Aufbauend auf Forsthoff beziehen 1965 Werner Faber bezüglich angeblicher verfassungsrechtliche Grenzen sozialstaatlicher Forderungen und Hans Carl Nipperdey, der die ausschließliche Legitimierung der sozialen Marktwirtschaft durch das Grundgesetz behauptet, exponiert Gegenpositionen. Die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichtes zu den Bereichen „Mitbestimmung“ und „Aussperrung“ belegen, dass die Thesen Abendroths in der Staatsrechtslehre zur Mindermeinungen zählen. Festzuhalten bleibt aber, dass bis heute der Begriff „Sozialer Rechtsstaat“ die unterschiedlichsten Wertungen erfährt. Diese differieren zwischen Bezeichnungen wie „formelhafter Kompromiss“, „Strukturprinzip der Verfassungsordnung“ (Abendroth), „Auftrag zur staatlichen Gestaltung“, oder als einfache Abqualifizierung wie „kein Rechtsbegriff“ (Forsthoff). Manchem Zeitgenossen mögen die Betrachtungen über den sozialen Rechts-

staat in der Weimarer und früheren Bonner Republik als rein historisch erscheinen. Angesichts der radikalen Veränderungen, die das Ende der Systemauseinandersetzungen zwischen Ost und West und die Globalisierung der Märkte für unsere Gesellschaft mit sich bringen, gewinnen eine Vielzahl dieser Ideen an Aktualität: Heute wie in den fünfziger und sechziger Jahren stehen wir – wenn auch unter anderen politischen Vorzeichen – vor der Frage, welche Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung das Grundgesetz erlaubt. Erneut ist zu klären, was sich überhaupt juristisch normieren lässt, was Politik überhaupt noch zu beeinflussen vermag und in welchem Spannungsverhältnis Freiheit und soziale Gerechtigkeit stehen. Abstrahiert lautet daher die Frage: Welche Zukunft haben das Soziale und das Politische im Prozess der radikalen Veränderungen, denen alle bestehenden Gesellschaftordnungen heute unterworfen sind? ■

HUBERTUS HEIL

studierte 1997 Politikwissenschaft an der Universität Potsdam. 1998 wurde er Bundestagsabgeordneter, 2005 Generalsekretär der SPD. KAI WEBER

studierte damals ebenfalls Politikwissenschaft an der Universität Potsdam. Heute ist er Mitarbeiter einer Landtagsabgeordneten in Potsdam. 34

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Ein neues „Modell Deutschland“ POLITISCHE GESTALTUNG ODER PRIMAT DER ÖKONOMIE VON GERHARD SCHRÖDER

Dieser Text erschien in der Perspektive 21 im Frühjahr 1998, kurz nachdem Gerhard Schröder Kanzlerkandidat der SPD wurde. Er stellt darin die Grundlinien seiner Wirtschafts- und Sozialpolitik dar, implizit werden darin auch die später aufbrechenden Konfliktlinien mit Oskar Lafontaine deutlich. Schröders Analyse von 1998 ist heute noch richtig: Die SPD darf ihre politische Strategie nicht allein auf die sozial Schwachen ausrichten, sondern muss das Bündnis mit den Leistungsträgern der Gesellschaft suchen. Nur eine Politik, die die ökonomischen Realitäten anerkennt und für Wachstum sorgt, könne auch mehr für soziale Gerechtigkeit tun.

n vielen OECD-Staaten, insbesondere auch in Ländern mit langer sozialdemokratischer Tradition, hat sich in den achtziger und neunziger Jahren ein Paradigmenwechsel von der „Sicherung der Vollbeschäftigung“ hin zur „ Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit“ vollzogen. Dieser Paradigmenwechsel reflektiert grundlegende ökonomische und gesellschaftliche Veränderung, so zum Beispiel die sinkende konjunkturpolitische Steuerungsmöglichkeiten der Nationalstaaten. Sie sind gekennzeichnet durch ■ die abnehmende Fähigkeit der Nationalstaaten, ihre Arbeitsmärkte gegen die Einflüsse der von ihnen selbst forcierten internationalen

I

Integration und Liberalisierung der Märkte abzuschirmen, das Primat der Geldwertstabilisierung in internationalen Finanzund Kapitalmärkten gegenüber der Erreichung eines hohen Beschäftigungsstandes, die langanhaltende und sich europaweit verfestigende Arbeitslosigkeit und die Schwächung konventioneller staatlicher und tarifpolitischer Regulierungsmöglichkeiten gegenüber immer „mobileren“ Unternehmen.

Klassisch makroökonomische Maßnahmen zur Nachfragebelebung über Staatsaufgaben oder Zinssenkungen perspektive21

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sind in erforderlichem Umfang nicht finanzierbar oder angesichts der Globalisierung der Finanzmärkte nicht durchführbar. Außerdem haben sie in einem veränderten binnen- und außenwirtschaftlichen Umfeld empirisch feststellbar an Wirksamkeit verloren. Diese Entwicklungen werden in der politischen Arena als „Terror der Ökonomie“ aufgenommen, dem die einen mit „neoliberalen Konzepten“ defensiv und unter Aufgabe politischen Gestaltungsanspruchs nachgeben, während die andere Diskussionsrichtung hier die Forderung nach Wiedergewinnung des Primates der Politik entgegensetzt – dies allerdings häufig genug mit Handlungsoptionen, die die internationalisierten ökonomischen und politischen Kontexte nur unzureichend in ihr Kalkül einbeziehen. Meine These dagegen lautet: Das veränderte Umfeld macht die Auseinandersetzung um Neoliberalismus oder Sozialismus, oder „rechts gegen links“ gegenstandslos. Es geht vielmehr darum, die alte Problematik der Sozialdemokratie, Modernität und soziale Verantwortung, die Verknüpfung von Ökonomie und Gesellschaft neu zu definieren. Die Attraktivität des Modells Deutschland, der Allianz von politischer Teilnahme, mikroökonomischer Produktivität, volkswirtschaftlicher Globalsteuerung und sozialer Sicherung, speiste sich aus der Vision, die Wechselfälle des Lebens für alle Staatsbürger verlässlich 36

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absichern zu können. Darum kreist auch jetzt die politische Debatte, sei es in Form der Verteidigung oder des Angriffs auf sozialstaatliche Errungenschaften der Republik. Der „Freizeitpark Deutschland“, der Vorwurf an vom Arbeitsmarkt Ausgegrenzte, sich in der „sozialen Hängematte“ zu vergnügen, weckte jedoch deswegen ein so hohes Maß an öffentlicher Empörung, weil damit ein Grundkonsens der bundesdeutschen Nachkriegsgesellschaft in Frage gestellt wurde: Die Verantwortung des Starken gegenüber dem Schwachen. Die heutige Situation Die moralisch begründete Polarisierung über die Wertorientierung in dieser Gesellschaft verhindert jedoch den Blick auf die reale Problemlage. Für jeden sichtbar ist: Die Topografie der industriellen Arbeit in Westeuropa wurde und wird im Zuge der Globalisierung grundlegend umgestaltet und stellt die auf regelmäßiger Erwerbsarbeit basierenden Sozialstaaten vor immer größeren Legitimationsprobleme. Symptomatisch sind Massenarbeitslosigkeit und strukturelle Veränderungen im Beschäftigungssystem. Heute arbeiten in Deutschland bereits ein Drittel aller abhängig Beschäftigten in Nicht-Normalarbeitsverhältnissen wie Teilzeit, 620- bzw. 520 DMJobs, Zeit- und Heimarbeit. Das ist ein doppelt so hoher Anteil wie noch 1970. Wenn wir diesen Trend verlängern, wer-


gerhard schröder – ein neues „modell deutschland“ (1998)

den in spätestens 15 Jahren nur noch die Hälfte aller abhängig Beschäftigten einen arbeits- und sozialrechtlich abgesicherten Vollzeitarbeitsplatz haben. Und auch diese „normale“ Vollzeiterwerbstätigkeit wird sich unter dem Eindruck der Flexibilisierung von Arbeitszeit und -inhalten weiter verändern. Während der „offizielle“ Arbeitsmarkt stagniert und rückläufig ist, verzeichnen Schattenwirtschaft und Schwarzarbeit die eigentliche Dynamik. Diese Entwicklungen müssen gravierende Konsequenzen für beitragsfinanzierte Sozialversicherungen zeigen, insbesondere wenn sie – wie die gesetzliche Rentenversicherung – auf der Prämisse kontinuierlicher, langjähriger Erwerbsbiographien beruhen. Nur unzureichend, teilweise auch gar nicht, sind die großen Systeme gesellschaftlicher Regulierung – des Föderalismus, des öffentlichen Dienstes mit seinem antiquiertem Leitbild der „Einheitlichkeit der Verwaltung“, des Bildungswesens, der sozialen Sicherung und der Tarifautonomie – an die veränderten Arbeits- und Lebensformen angepasst worden. Im Ergebnis gelingt es der Bundesrepublik immer weniger, Produktivität und Solidarität zu wahren. Welche Aufgaben auf uns warten Vor dem Hintergrund einer neuen weltwirtschaftlichen Arbeitsteilung wird eine der Schlüsselfragen für die Innovationsfähigkeit von Politik und Tarifparteien sein, die Rahmenbedingungen für einen

effizienten Einsatz des Faktors Arbeit in Deutschland neu zu justieren. Das betrifft den „klassischen“ tariflich gestützten Bereich genauso wie Schattenwirtschaft, Teilzeitarbeit, neue Formen der Gemeinschaftsarbeit u.a. Innovationspolitik griffe aber zu kurz, würde sie sich auf „ökonomische“ Felder beschränken. Angesichts des hohen Veränderungsdrucks von außen, angesichts des Verlustes traditioneller Sicherheiten, z. B. in Geschlechter- und Arbeitsrollen, werden die Menschen die von ihnen gewünschte wie geforderte Mobilität und Flexibilität nur nachvollziehen, wenn sie die Sicherheit haben, dass ihre existentiellen Lebensgrundlagen nicht bedroht sind. Denn die neuen politischen und sozialen Freiheiten, die mit der Flexibilität auch verbunden sind, werden nur dann als Chance angenommen, wenn gleichzeitig das politische und das wirtschaftliche Umfeld nachvollziehbar Sicherheit vermittelt – Sicherheit vor existentiellen Risiken, vor Dequalifizierung, vor sozialem Abstieg und vor individueller Handlungsunfähigkeit. Nur in einem „Korridor der Verlässlichkeit“ werden alte Positionen geräumt, werden neue Wagnisse eingegangen. Die Flexibilisierung von Arbeit und Beschäftigung, die der weltwirtschaftlichen Integration und Liberalisierung entspringt, ist genauso unumkehrbar wie die gesellschaftliche Differenzierung und Pluralisierung von Lebensstilen, die nicht zuletzt gewünschtes Produkt der perspektive21

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sozialdemokratischen Reformpolitik der siebziger Jahre ist. Beides erhöht die ökonomische Effizienz, Reichtum und Vielfalt der Gesellschaft, wenn nicht Angstszenarien den Blick auf die Chancen und Potentiale dieser Trends verstellen. Auf diesem Hintergrund muss sich die wirtschafts- und gesellschaftspolitische Innovationskraft der SPD an ihrer Fähigkeit erweisen, ökonomische Flexibilität und Wettbewerbsfähigkeit, soziale Sicherheit und politische Teilhabe zu einer produktiven Synthese zu führen. Die ökonomische Analyse ist eine Seite, ihr muss eine politische folgen. Zurzeit fehlt es an politischer Führung, um der schwebenden Krise des Sozialstaats und der drohenden Desintegration der Industriegesellschaften zu begegnen. Nun war die SPD immer besser als der politische Gegner, was das Analysieren von Problemen angeht. Sie hat seit dem Amtsantritt von Helmut Kohl davor gewarnt, dass dessen Politik auf eine Spaltung der Gesellschaft hinaufläuft. Die Warnung ist eingetroffen. Aber: Die SPD wird nicht gewählt, weil sie recht hat. Das hat Oskar Lafontaine bitter bei dem Thema Wiedervereinigung erfahren müssen. Die SPD wird nur dann politische Mehrheiten erringen, wenn sie die Lebensverhältnisse der Menschen verbessern kann. Wenn sie sich in ihrem Politikkonzept ausschließlich auf das zu kurzgekommene Drittel der Gesellschaft konzentriert, dann ehrt sie das und 38

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macht sie liebenswert. Politik für die Schwachen in diesem Land ist bei keiner anderen Partei dieses Landes so gut aufgehoben wie bei der SPD. Nur belegt ein einfaches Rechenexempel, dass eine Politikstrategie, die die Anliegen der Schwachen in den Mittelpunkt der öffentlichen Kommunikation stellt, scheitern muss. Das Eintreten für ein Drittel der Gesellschaft macht die SPD zur 30Prozent-Partei. Und damit entfällt jede Möglichkeit, für dieses Drittel etwas zu tun, statt über es zu reden. Nicht zuletzt merken das dann auch die, für deren Interesse wir behaupten, einzutreten. Und wählen uns nicht unbedingt. Wie die neue Mitte aussieht Die SPD braucht gesellschaftspolitische Verhandlungsmacht. Die erreicht sie nur, wenn sie mit ihrem Politikkonzept auch und gerade diejenigen anspricht, die in dieser Gesellschaft das Sagen haben oder von der Entwicklung profitieren. Sie muss in ihrer Strategie die Interessen der Rationalisierungsgewinner und die der Rationalisierungsverlierer bündeln können. Nur wenn die Gewinner der Modernisierung bereit sind, der SPD ihre Stimme zu geben und ihre Politik zu stützen, kann sie etwas für die Verlierer tun. Das ist eine hochgradig komplizierte poltische Integrationsaufgabe, viel komplizierter heute als sie es in der Vergangenheit war. Seinerzeit hat nur ein


gerhard schröder – ein neues „modell deutschland“ (1998)

Willy Brandt sie gelöst: Seine Entspannungspolitik war die Bündelung ökonomischen Reformbedarfs, für die eine Erschließung von osteuropäischen Märkten neue Wachstumschancen bot, mit politischem Reformbedarf der Nach-Adenauer-Ära. Willy Brandts Projekt der „Chancengleichheit“ war eine Bündelung von ökonomischem Reformbedarf in dem Sektor, den wir heute neudeutsch „Humankapital“ nennen, mit politischem Reformbedarf bei institutionellen Verkrustungen in Gesellschaft und Bildungssystem, dass eine Massenmobilisierung ermöglichte. Das Grundrezept seiner Politik kann man so zusammenfassen: Die Verlierer zu Gewinnern machen, indem man die grundlegenden ökonomischen Entwicklungstendenzen in Dienst nimmt. Die heutige wirtschafts- und gesellschaftspolitische Situation ist mit der Brandt-Ära vergleichbar. Die Auflösung des Ost-West-Gegensatzes und insbesondere der historische Schiffsbruch des zum Kapitalismus konkurrierenden Gesellschaftsentwurfs haben aber einem Lehrsatz von ihm besondere Aktualität verschafft. Den Primat der Ökonomie in dieser Gesellschaft wird auch die SPD nicht außer Kraft setzen. Auf diesem Hintergrund sind alle Politikkonzepte falsch, die folgende grundlegende Probleme nicht zur Kenntnis nehmen: Die fiskalischen Möglichkeiten der öffentlichen Haushalte sind strukturell erschöpft. Öffent-

liche Transferleistungen sind nicht mehr ausweitbar, die sogenannte Staatsquote, zu der ein immer geringerer Teil der Bevölkerung heute und in Zukunft beiträgt, muss zurückgeführt werden. Alle noch so sinnvollen Maßnahmen, die diesen Grundsatz nicht berücksichtigen, sind ein Verstoß gegen die Interessen der SPD als Volkspartei und im übrigen auch gegen die Interessen der Schwachen dieser Gesellschaft, weil sie deren politische Repräsentationsmöglichkeiten schwächen statt stärken. Wir brauchen die Globalisierung Sich der „Globalisierung“, also der Internationalisierung der Ökonomie mit Abwehrkonzepten entgegenzustellen, wäre nicht nur ein aussichtloses Unterfangen, sondern auch politisch falsch. Allein die Tatsache, dass etwa ein Drittel unserer volkswirtschaftlichen Wertschöpfung im Export erwirtschaftet wird, macht deutlich, dass die Bundesrepublik auf den Weltmarkt angewiesen ist. Sich dann aber die internationalen Verteilungskonflikte um Arbeit und Einkommen vom Halse halten zu können, ist angesichts der expandierenden ökonomischen Verflechtungen eine absurde Vorstellung. Im Gegenteil: Wir brauchen diese Verflechtungen und müssen sie ausbauen. Daraus folgt aber: Wir werden weiter in den „reifen“ Industriebranchen, die zurzeit die strategischen Kerne der Massenproduktion perspektive21

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unserer Volkswirtschaft ausmachen (Auto, Chemie), Arbeitsplätze verlieren. Die Unternehmen werden die Produktionen verlagern, nicht nur wegen der billigen Löhne, sondern in erster Linie zur Sicherung von Märkten. Das ist ökonomisch richtig. Soziale und ökonomische Modernität Das heißt aber auch: die Konkurrenzfähigkeit der deutschen Industrie auf den Weltmärkten muss ein Anliegen der SPD sein. Dies darf nicht den Konservativen überlassen werden. Hier werden die Grundlagen und Voraussetzungen geschaffen, um Arbeitsplätze zu sichern und neue entstehen zu lassen. Wer den Kostenwettbewerb grade in den „reifen Industriebranchen“ im Bereich der Arbeitskosten, der Steuerlasten und der institutionellen Rahmenbedingungen ignoriert, schwächt die Möglichkeiten der SPD, für Arbeitnehmer im ersten Arbeitsmarkt einzutreten. Politisch heißt das: Die SPD muss Konzepte für die Verteilungskonflikte in den eigenen Reihen anbieten. Alle Vorschläge zur Verbesserung der Situation auf den zweiten und dritten Arbeitsmärkten müssen gleichzeitig benennen, wie die Reformen im heutigen Sozialsystem aussehen müssen. Nicht nur, um Anreiz zur Einkommenserzielung aus Arbeit zu stärken, also diese 40

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Modelle funktionsfähig zu machen, sondern auch und vor allem, um diejenigen Arbeitnehmer zu schützen, die mit ihren Steuern und Abgaben diesen Sozialstaat finanzieren. Ich verhehle nicht: Die politische Integrationsaufgabe der SPD ist angesichts der ökonomischen Rahmenbedingungen ungleich komplizierter geworden. Jede Aufgabe für sich: Beseitigung der Massenarbeitslosigkeit, Zurückführung der Staatsquote, Umbau des Sozialstaats, Reform des öffentlichen Sektors bedeutet auch, Konflikte mit der gewerkschaftlichen Interessenvertretung in unserem ureigensten Bereich. Manche kommen deshalb zum Schluss, die SPD sei reformunfähig. Ich bestreite dies. Die Konservativen können nicht die langfristige Funktionsfähigkeit von Gesellschaften sichern. Sie können nicht den Menschen glaubwürdig die Sicherheit vermitteln, dass soziale Gerechtigkeit und Solidarität in der Gesellschaft auch für sie zur Verfügung steht, wenn sie ihrer bedürfen. Das belegen eindrucksvoll die Wahlerfolge der sozialdemokratischen Parteien in den europäischen Ländern, die mit den sozialen Folgen einer einseitigen ökonomischen Modernisierung konfrontiert sind. Man muss sich nur umsehen: Der angelsächsische Kapitalismus hat den Anpassungszwang einer globalisierten Ökonomie durch Flexibilisierung der Arbeits- und der sozialen Beziehungen


gerhard schröder – ein neues „modell deutschland“ (1998)

gelöst. Erst die Regierung Blair nimmt sich der Folgen an. Phänomene sozialer Erosion in den USA – und zusehends auch in Großbritannien – sind unübersehbar. Die Synthese von hochmoderner Ökonomie und sozialer Integration ist bislang unzureichend gelungen. Auf der anderen Seite zeichnet sich das „Modell Deutschland“ durch eine nach wie vor relativ intakte soziale Sicherung aus; der Sprung in die postindustrielle ökonomische Moderne ist aber noch nicht vollzogen: Die unzureichende ökonomische Flexibilität geht in erster Linie zu Lasten der Beschäftigung. Soziale Modernität und ökonomische Modernisierung aber können und müssen in Einklang gebracht werden. Dazu bedarf es nicht einmal einer sozial-ethischen Begründung, eine „nur ökonomische“ reicht aus: Ein Hochtechnologieland wie die Bundesrepublik ist auf das Engagement und „Mit-denken“ der Arbeitnehmer im Betrieb angewiesen. Wer von seinen Arbeitnehmern hohe Produktivität, Qualifikation, Motivation und vor allem Identifikation mit dem Betrieb erwartet, wird dafür auch die Zusicherung einer wirksamen sozialen Absicherung in Zeiten des Umbruchs und der Neuorientierung geben müsse. Gebündelt werden müssen die Interessen der Vertreter in der Wirtschaft. Sie beanspruchen die Vorteile des Produktionsstandortes Deutschland und wollen sie auch bewahren, etwa weil sie auf die Nachfrage in Deutschland und

der Europäischen Union angewiesen sind, weil sie den immer noch hochwertigen Technologiestandort Deutschland schätzen, weil sie gut ausgebildete und erfahrene Arbeitskräfte mit hohem Produktivitätspotential brauchen, weil sie auf die gut ausgestattete Infrastruktur angewiesen sind und nicht zuletzt: weil sie die „weichen Variablen“ wie sozialen Frieden und die hervorragenden Lebensbedingungen nicht nur als ökonomischen Ballast kennen und die Interessen der Arbeitnehmer an der Sicherung und Neuentstehung von Arbeitsplätzen. Unsere Ansprechpartner Die Facharbeiter, die technische Intelligenz, die Mittelständler und Dienstleister, die Existenzgründer, alle die, deren zukünftige Lebenschancen direkt von der Innovationsfähigkeit der Volkswirtschaft abhängen, sind unsere Ansprechpartner. Ihnen muss die SPD eine Perspektive bieten, dass sie ihr Auskommen durch Einkommen finden. Nicht zuletzt ist das Interesse an sozialer Gerechtigkeit nicht eines, was auf die Ausgegrenzten dieser Gesellschaft begrenzt ist. Den „Zwischenschichten“, noch im Arbeitsmarkt, aber von sozialer Unsicherheit, Arbeitsplatzund Realeinkommensverlusten bedroht, müssen wir glaubwürdig die Perspektive bieten, dass die SPD alles tut, um ihren sozialen Abstieg zu verhindern, dass sie aber auch garantiert, perspektive21

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dass die soziale Sicherung im Bedarfsfall greift. Die SPD darf sich politisch nicht reduzieren lassen auf das Therapeutikum für die von der wirtschaftlichen Entwicklung Ausgegrenzten. Wenn sie das zulässt, hat sie den politischen

Kampf um die Zukunft der sozialen Markwirtschaft schon verloren. Deswegen muss Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik im Mittelpunkt eines Innovationskonzeptes für das „Modell Deutschland“ stehen. ■

GERHARD SCHRÖDER

war damals Ministerpräsident des Landes Niedersachsen und Kanzlerkandidat der SPD. Von 1998 bis 2005 war er Bundeskanzler, von 1999 bis 2004 SPD-Vorsitzender. 42

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Selbstbewusste Offensive SOZIALE GERECHTIGKEIT ALS KERNPUNKT DER PARTEIENKONKURRENZ ZWISCHEN SPD UND PDS IN OSTDEUTSCHLAND VON KLAUS NESS Der Text erschien im Herbst 1999 in der Perspektive 21 – unmittelbar nachdem die SPD die absolute Mehrheit bei den Landtagswahlen in Brandenburg verlor und eine große Koalition mit der CDU bildete. Klaus Ness beschreibt darin die Hauptfelder, auf denen die SPD Deutungs- und Handlungshoheit (wieder) gewinnen muss, wenn sie weiter als Partei der sozialen Gerechtigkeit reüssieren will. Im Mittelpunkt in Ostdeutschland steht für ihn dabei die Auseinandersetzung mit der PDS.

m 5. September 1999 fanden in Brandenburg Landtagswahlen statt. Die märkische SPD wurde zwar wieder mit gut 39 Prozent stärkste Partei, musste aber Verluste von über 14 Prozent im Vergleich zur Landtagswahl 1994 hinnehmen. Auch bei den folgenden Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen waren die Sozialdemokraten die eindeutigen Verlierer. Allen drei Wahlen war eins gemeinsam: Das wichtigste politische Thema bei der Wahlentscheidung war das Thema soziale Gerechtigkeit. In Brandenburg benannten laut einer Wahltagsbefragung von Infratest-dimap 50 Prozent der Bürger dies als das entscheidende Wahlmotiv. Insbesondere trifft dies auf Wählerinnen und Wähler zu, die von

A

der SPD zur CDU (53 Prozent) bzw. zur PDS (68 Prozent) gewechselt sind. Die Ergebnisse dokumentieren zumindest zweierlei: Zum einen die größere Bedeutung, die die Ostdeutschen dem Politikziel soziale Gerechtigkeit bei ihrer Wahlentscheidung zumessen. Und zum anderen die Erwartungshaltung der Ostdeutschen an den Regierungswechsel auf Bundesebene und die mittlerweile eingetretene Enttäuschung über die bisherigen Ergebnisse: bei der Herstellung gleicher Lebensverhältnisse in Ost und West, der Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit und der Herstellung sozialer Gerechtigkeit. Für die SPD ist diese Entwicklung alarmierend. In ihrer Kernkompetenz – das Eintreten für gleiche Lebensperspektive21

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thema – 10 jahre „perspektive21“

chancen und die Teilhabe am materiellen Reichtum einer Gesellschaft – sprechen die Ostdeutschen der Sozialdemokratie zunehmend das Misstrauen aus. Das ist für die immer noch organisatorisch schwache SPD in Ostdeutschland umso bedrohlicher als ihr mit der PDS – im Gegensatz zu Westdeutschland – ein in der Gesellschaft verankerter Konkurrent gegenübersteht, der ihr diese Kernkompetenz streitig macht. Aus Meinungsumfragen ist bekannt, dass sich die Ostdeutschen – im Vergleich zu den Westdeutschen – eher den Unterschichten zuordnen, dem Staat eine größere Verantwortung für die Schaffung von Arbeitsplätzen zuschreiben und Gleichheit höher bewerten als individuelle Freiheit. Aus diesen Werthaltungen resultiert eine Erwartung an Politik, mit der sich alle politischen Kräfte auseinandersetzen müssen, die in Ostdeutschland mehrheitsfähig sein wollen. Auseinandersetzen kann aber für die SPD nicht bedeuten, dass sie in ihrer Politik – wie die PDS – opportunistisch unerfüllbaren Erwartungshaltungen nachrennt und sie dadurch sogar – möglicherweise wider besseren Wissens – verstärkt. Vielmehr muss sich die ostdeutsche SPD die Frage stellen, ob ein solcher Opportunismus-Wettlauf mit der PDS überhaupt gewonnen werden kann. Angesichts der Tatsache, dass die Sozialdemokratie jetzt auf Bundesebene Regierungsverantwortung trägt und an ihrer 44

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konkreten Politik gemessen wird, liegt die Antwort auf der Hand. Für die SPD in Ostdeutschland wird es zu einer Überlebensfrage, ob sie in der Lage ist, in ihrer Kernkompetenz Vertrauen zurückzugewinnen und – gleichzeitig oder sogar als Vorbedingung – die ideologische Auseinandersetzung mit ihrer parteipolitischen Konkurrenz zu führen. Sozialdemokratische Politik in Ostdeutschland kann nur erfolgreich sein, wenn sie die Deutungsmacht zurückerlangt, wie soziale Gerechtigkeit in einer modernen Gesellschaft definiert wird und durch konkrete Politik zu erreichen ist. Eine neue Offensive sozialdemokratischer Reformpolitik Dazu bedarf es einer neuen Offensive sozialdemokratischer Reformpolitik und ihrer Begründung. Der SPD in Ostdeutschland ist deshalb zu empfehlen, eine offensive und öffentliche Debatte darüber zu eröffnen, ■ welche Rolle der Staat in einer sich globalisierenden Wirtschaft spielen kann und soll; ■ in welchem Verhältnis staatliche, gesellschaftliche und individuelle Verantwortung bei der Herstellung gleicher Lebenschancen stehen; ■ welche Konsequenzen die Herausbildung individualisierter Arbeitsverhältnisse bzw. -bedingungen und


klaus ness – selbstbewusste offensive (1999)

– damit einhergehend – individualisierter Lebensstile für die Zukunft kollektiver Sicherungssysteme hat. Für diese Auseinandersetzung ist es jedoch verheerend, wenn die SPD – wie in den vergangenen Monaten geschehen – nicht nur in ihrer Rhetorik den Eindruck erweckt, als laufe sie einem neoliberalem Zeitgeist hinterher. Anthony Giddens, dem bekanntesten Vordenker eines Dritten Weges der europäischen Sozialdemokratie, ist zuzustimmen, dass eine Sozialdemokratie, die den Wert der Gleichheit aufgibt, sich selbst ihre Existenzberechtigung entzieht. Jegliche sozialdemokratische Debatte, die notwendige Strukturveränderungen für eine zukunftsträchtige Rolle des Staates und eine Modernisierung des Sozialstaates will, muss deshalb im Epplerschen Sinne wertkonservativ sein: Die Öffentlichkeit muss wissen, dass Sozialdemokratie verändern will, um ihren Grundwerten – Freiheit, Gleichheit und Solidarität – unter veränderten Bedingungen Geltung zu verschaffen. Manche Modernisierungsapostel und Berliner Republik-Rhetoriker aus der Sozialdemokratie scheinen diese Grundwerte in den vergangenen Monaten jedoch vergessen zu haben. Sie haben damit zur allgemeinen Verwirrung über die Ziele sozialdemokratischer Politik beigetragen. Andersherum gilt aber auch, dass die von Peter Glotz beschriebenen „Grölbacken“, „die aus

einer Zeit“ kommen, „als das Wünschen noch geholfen hat“, nicht nur in der PDS, sondern auch in den Reihen der SPD zu finden sind. Mehrheiten für Reformen sind aber nur zu erreichen, wenn der eigenen Klientel auch unbequeme Wahrheiten zugemutet werden.

Dazu gehört unter anderem dass demografische Veränderungen strukturelle Reformnotwendigkeiten hervorbringen, dass manches, was vom Staat geleistet werden kann, von Privaten besser und kostengünstiger erbracht werden kann, dass der Sozialstaat nicht nur ein Einnahme-, sondern angesichts steigender Staatsverschuldung auch ein Ausgabeproblem hat, dass manche gut gemeinte Sozialleistung Eigeninitiative eher behindert denn befördert und der Missbrauch von Sozialleistungen keine Erfindung des Klassenfeindes ist.

Großer Anpassungsdruck nach der Wende In der Honecker-Ära galt das SEDPostulat von der „Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik“. Die DDR hat sich gegenüber ihren Bürgern auch deshalb delegitimiert, weil sie die damit verbundenen Erwartungen nicht erfüllen konnte. Das weitgehend vom Weltmarkt abgeschottete System der perspektive21

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zentralen Planwirtschaft war quantitativ und qualitativ nicht in der Lage, Güter und Dienstleistungen zu produzieren, die die Refinanzierung des allumfassenden Sozialstaatsversprechens erlaubten. Mit der Vereinigung wurde Ostdeutschland in einen Weltmarkt integriert, der sich – bedingt durch politische (Öffnung der ost- und mitteleuropäischen Märkte, Einführung des Euro) und technologische („digitaler Kapitalismus“, Peter Glotz) Veränderungen – rasant weiter entwickelt und allen Beteiligten einen großen Anpassungsdruck aussetzt. Was ist sozial gerecht in Ostdeutschland? Die Folgen, die dieser immer noch nicht beendete Anpassungs- und Integrationsprozess in Ostdeutschland ausgelöst hat, sind hinreichend bekannt: Weitgehende Zerstörung der unproduktiven industriellen Basis, der Abbau von fast 90 Prozent der vorhandenen Arbeitsplätze im primären und sekundären Sektor und in diesem Gefolge eine sich verstetigende Massenarbeitslosigkeit. Auf der anderen Seite aber auch die Herausbildung hochproduktiver „Industrieleuchttürme“ und die Schaffung hundertausender neuer Arbeitsplätze vor allem im privaten Dienstleistungssektor. Begleitet und unterstützt wurde und wird dieser Prozess durch massive Transferleistungen 46

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aus Westdeutschland und von der EU. Ein Großteil der Transferleistungen wird nicht investiv eingesetzt, sondern fließt in die Konsumtion. Angesichts knapper werdender Mittel und einer in Westdeutschland geringer werdenden Bereitschaft, Ostdeutschland weiter zu alimentieren, ist es umso dringender, eine Debatte zu führen, welche Unterstützung mit welcher Zielsetzung gebraucht wird, um eine eigenständige, selbsttragende wirtschaftliche Entwicklung in Ostdeutschland zu erreichen. Die Diskussion über die Frage, welche Politik vor diesem Hintergrund sozial gerecht ist, wird die Auseinandersetzung der nächsten Jahre bestimmen. Wenn es zutrifft, das sozial gerecht ist, was aktive Teilhabe (Inklusion) an der Gesellschaft erlaubt und Ausgrenzung (Exklusion) aufhebt, muss jede einzelne Aktivität und Maßnahme in Ostdeutschland nach diesem Kriterium und ihrer Effizienz überprüft werden. Diese Debatte muss ohne Tabus geführt werden. Folgende Fragen müssen dabei u.a. (neu) beantwortet werden: ■ Unter welchen Gesichtspunkten ist es sinnvoll, Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und andere Maßnahmen des öffentlichen Beschäftigungssektors zu finanzieren, die nicht auf den ersten Arbeitsmarkt ausgerichtet sind und keine dauerhafte Verbesserung der sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Infrastruktur bedeuten?


klaus ness – selbstbewusste offensive (1999)

Befördert diese Politik, die oftmals in „Maßnahmekarrieren“ mündet, nicht eine „Kultur der Abhängigkeit“, die im Widerspruch zum Ziel der sozialen Inklusion steht? Oder ist sie um den Erhalt des sozialen Friedens unverzichtbar? ■ Hat nicht eine Politik, die auf die quantitative Bereitstellung wohnortnaher Ausbildungsplätze setzt – unter Inkaufnahme der Praxisferne, der mangelnden Qualität und der nicht vorhandenen regionalen Nachfrage – die Immobilität junger Erwachsener zur Folge? ■ Ist es ehrlich und vertretbar, einer Politik der Angleichung der Löhne und Gehälter an das Westniveau das Wort zu reden, solange die Produktivität nicht das Westniveau erreicht und die öffentlichen Hände auf Transferleistungen angewiesen sind? ■ Ist es sozial gerecht, aus Rücksicht auf existierende Besitzstände, eine Politik der kulturellen Bestandspflege zu betreiben, während gleichzeitig notwendige Investitionen, die Arbeitsplätze am ersten Arbeitsmarkt sichern und schaffen helfen, unterbleiben? ■ Wann ist es verantwortbar, die öffentliche Verschuldung zu Lasten künftiger Generationen weiter zu erhöhen? Die Antworten auf diese Fragen sind nicht einfach und erst recht nicht be■

quem. Eine zukunftsträchtige sozialdemokratische Politik wird diese Antworten aber geben müssen. Wenn diese Antworten auch zu realer (und mehrheitsfähiger!) Politik werden sollen, muss die Sozialdemokratie die Auseinandersetzung darüber öffentlich führen. Auch die politische Konkurrenz – in Ostdeutschland insbesondere die PDS – muss gezwungen werden, sich diesen Fragen nicht zu entziehen. Den „Antikapitalismus“ der PDS entzaubern Die PDS definiert sich selbst als sozialistische und antikapitalistische Partei. Gleichzeitig betont sie aber ihre Abkehr vom System staatsozialistischer Realität und betont ihre Akzeptanz des Rechts auf Privateigentum an Produktionsmitteln. In der Auseinandersetzung mit der PDS, was soziale Gerechtigkeit in einer modernen Gesellschaft bedeuten kann und muss, wird es im entscheidenden Maße darauf ankommen, ihre antikapitalistische Rhetorik zu entzaubern. Die PDS bedient damit Gefühls- und Gemütslagen in Ostdeutschland jenseits jeglicher politischer und ökonomischer Realität. Konkrete Reform- oder Politikkonzepte, die ihren „antikapitalistischen“ Anspruch begründen, bleibt sie bewusst schuldig. Sie begnügt sich damit, vorhandene Unmutsgefühle angesichts sich rasant verändernder gesellschaftlicher Realität zu bedienen und perspektive21

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zu verstärken. Mit Vorliebe diskriminiert sie Reformbemühungen von Sozialdemokraten als „Verrat“ an deren Idealen. Angesichts der Tatsache, dass die PDS heute eine stabile politische Kraft in der ostdeutschen Dreiparteienlandschaft ist, muss die Sozialdemokratie eine ideologische Auseinandersetzung mit der PDS anhand konkreter politischer Reformprojekte geradezu suchen. Welche Antworten – jenseits der schon für zehn andere sozialpolitische Projekte von der PDS wieder eingeführten Vermögenssteuer – haben die PDSAntikapitalisten, um eine zukunftssichere Rente zu gewährleisten? Wie will die PDS angesichts einer gigantischen Staatsverschuldung eine Ausweitung öffentlich geförderter Beschäftigung finanzieren? Wie rechtfertigt die PDS die von ihr eingeforderte höhere Neuverschuldung vor den künftigen Generationen? Wie ist es unter Gesichtspunkten sozialer Gerechtigkeit zu rechtfertigen, dass Kommunen die Eintrittskarten für ein Theater oder ein Orchester mit bis zu 400 Mark subventionieren, gleichzeitig aber keine ausreichenden Mittel zur Verfügung haben, um vernünftige Schulsportanlagen oder moderne Kindertagesstätten zu bauen und zu unterhalten? Die Sozialdemokratie muss diese Fragen selbstbewusst stellen. Die Antworten der „Antikapitalisten“ werden spannend sein. 48

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Ostdeutschland wird keine Schutzzone im digitalen Kapitalismus der Zukunft sein – weder wirtschaftlich und sozial noch mental. Doch die Ostdeutschen stehen vor der Wahl: Sie können eine dauerhafte Zukunft als – mehr schlecht als recht – alimentierte Region in Europa haben. Oder sie können an der Gestaltung der deutschen Gesellschaft aktiv teilhaben und ihren Platz als moderne, weltoffene und wegweisende Region finden. Das real vorhandene „Sonderbewusstsein Ost“ muss dafür produktiv eingebracht werden – und darf nicht zur Rückzugszone werden, die in die gesellschaftliche Desintegration mündet. Zukunft für Ostdeutschland gewinnen Die Ostdeutschen haben den Westdeutschen eine Transformationserfahrung voraus. Diese Erfahrung müssen sie einbringen in die aktuelle gesellschaftliche Debatte über die Zukunft unseres Gesellschaftsmodells. Der „rheinische Kapitalismus“, das auf einem Sozialstaatskompromiss beruhende Erfolgsmodell der alten Bundesrepublik, steht heute auf dem Prüfstand und unter massiven Druck. Die Alternative ist ein hemmungsloser und ungebändigter Kasino-Kapitalismus der „kalifornischen Strategie“ (Peter Glotz) und nicht ein – wie auch immer geartetes – antikapitalistisches Sozialismus-


klaus ness – selbstbewusste offensive (1999)

modell der PDS. Die Auseinandersetzung um die Gesellschaft der Moderne wird konfliktträchtiger sein als bisher. Der naive Wunsch nach einem Konsens aller Akteure wird dabei alleine nicht ausreichen. Die Ostdeutschen werden ihre lebensweltlichen Erfahrungen aktiv einbringen müssen, um den gewünschten Konsens zu erkämpfen.

Dabei werden sie feststellen, dass die Interessenkonflikte der Zukunft plötzlich quer durch die ostdeutsche Gesellschaft gehen. Der Konflikt um die Frage, was sozial gerecht ist, wird es wie in einem Fokus zeigen. Ostdeutschland wird in diesem Konflikt Zukunft gewinnen – und die Parteienlandschaft wird sich dabei verändern. ■

KLAUS NESS

war 1999 Landesgeschäftsführer der SPD in Brandenburg und ist heute Generalsekretär der Brandenburger SPD. perspektive21

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Wer sind die Brandenburger? VON KLAUS FABER Der Beitrag erschien 2001 und greift ein noch heute aktuelles Thema auf: Wie sieht eine zeitgemäße und geschichtsbewusste Identität Brandenburgs aus? Der – hier leicht gekürzte Artikel – mahnt dabei an, sowohl die „unbelasteten“ als auch die „schwierigen“ historischen Bezüge in den Blick zu nehmen und sie in eine Linie mit neueren Entwicklungen (etwa im Bereich von Wissenschaft und Forschung) zu stellen.

as Thema ist weder neu noch originell. Ein „Leitbild“ – ein trotz einiger Bezüge zu anderen aktuellen Debatten doch noch unbelasteter Begriff – soll für die regionale Politik und Präsentation gefunden, eine regionale Identität definiert werden, nämlich diejenige Brandenburgs, des „Landes Brandenburg“, wie man im Land selbst formulieren muss, um das Land von der Stadt Brandenburg zu unterscheiden. Die „Mark“ und das „Märkische“ sind seit 1945 aus dem staatlichen Sprachgebrauch verschwunden; als Namensgeber bleiben sie heute Zeitungen und Agrarprodukten vorbehalten. Brandenburg hat im Gegensatz zur Mehrheit der anderen deutschen Länder so etwas wie eine eigene Hymne, die ein Berliner mit nicht ganz zweifelsfreiem politischem Hintergrund verfasst

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hat. Das Rot des Adlers, den die Hymne besingt, lässt – wohl meist auf Missverständnissen beruhende – Assoziationen zu, die nichts mit heraldischen Traditionen oder der Entstehungsgeschichte des Liedes zu tun haben. Brandenburg sei eine „kleine DDR“, war eine zunächst nicht freundlich gemeinte Charakterisierung. Andere griffen das Stichwort auf und machten daraus ein positives Etikett. Dass Brandenburg sich stärker an DDR-Traditionen orientiere als andere ostdeutsche Länder, war aber nie eine rundum überzeugende These. Einige Diskussionsteilnehmer meinen, es sei nicht die Zeit oder überhaupt keine gute Idee, Identitätskonturen für ein Land wie Brandenburg zu bestimmen. Das Land stehe über kurz oder lang vor einer Fusion mit Berlin und perspektive21

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überdies im Schatten des in jeder Hinsicht übergroßen Preußens, zumal im Preußenjahr 2001. Identitätsprobleme gebe es in Deutschland Ost und West genug. Die Palette mit brandenburgischen Spezifika anzureichern, mache keinen Sinn. Und zudem: „Kleine“ Identitäten wie diejenigen des Uckermärkers oder des Spreewälders gebe es durchaus. Kaum jemand sei der Auffassung, zwischen diesen und der deutschen Identität, einschließlich ihrer östlichen Untervariante, öffne sich eine schmerzliche Lücke. Wo das historische Brandenburg anfange – etwa in der Altmark, die heute zu Sachsen-Anhalt gehört – oder aufhöre – in der jetzt polnischen Neumark –, sei schon unter territorialen Gesichtspunkten eine offene Frage. Die Existenz eines deutschen Gliedstaates mit dem Namen Brandenburg begründe für sich allein genommen noch keinen Bedarf, eine besondere brandenburgische Identität zu konstruieren. Wo sind die Identitätsgrenzen? Die Liste der Einwände ließe sich verlängern. Die umgekehrte Argumentationslinie führt übrigens ebenso auf ein weites Feld: Die Wiederbelebung der Preußentradition fördere die Bereitschaft der Brandenburger, einer Fusion mit Berlin zuzustimmen, war vor kurzem zu hören. Falls dieses kühne Argument tragen sollte, wohin würde es führen – zur weiteren 52

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Vereinigung mit Sachsen- Anhalt, weil, abgesehen von Anhalt, dort die meisten Gebiete zu Preußen und zuvor zu Brandenburg gehörten? Wo und wie wären die neupreußischen Identitätsgrenzen zu ziehen? Zentrum und Regionen Francois Mitterand hat in der ersten Hälfte der achtziger Jahre die Befugnisse der in Frankreich neugegründeten Regionen in beachtlichem Umfang gestärkt. In ersten Zwischenbilanzen zu dieser für französische Verhältnisse sehr weit gehenden Strukturreform waren die beträchtlichen Unterschiede in der Identifizierung mit den neuen Gebietseinheiten ein wichtiges Thema. Die Bretagne, die Provence, das Elsass, Lothringen oder Aquitanien waren nach ziemlich kurzer Zeit anerkannte und akzeptierte territoriale Einheiten geworden. In der Mitte Frankreichs blieb die Identifikation mit den neuen Regionen jedoch häufig blass. Die räumliche Nähe und, damit verbunden, eine lange, unbestrittene Zugehörigkeit zu einem älteren politischen Zentrum schwächen offenbar die Identifikationslinien und behindern ihre Neubildung. Die politisch-räumliche Peripherie hat es in dieser Beziehung einfacher. Dem Zentrum selbst, in Frankreich Paris und die Ile de France, mangelt es in aller Regel nicht an Identitätsstärke. Brandenburg in seinen heutigen Grenzen


klaus faber – wer sind die brandenburger? (2001)

gehört in diesem Sinne aber wohl nicht zum engeren deutschen Zentrum, jedenfalls nicht mit allen seinen Teilen. Cottbus oder Frankfurt/Oder sind, was die historische Nähe und Distanz anbelangt, von Berlin ungefähr genauso weit entfernt wie etwa Halle oder Magdeburg. Die regionale Identitätsbildung steht in einer derartigen Konstellation vor einer Orientierungsfrage: Man ist dem nationalen Zentrum und damit dem territorialem Symbol für die größere räumliche Einheit nahe, was die regionale Sonderidentität schwächt, aber doch nicht so nahe, dass man mit dem Zentrum selbst identifiziert werden kann. DDR-Prägungen Dabei spielen, was den Fall komplizierter macht, auch DDR-Prägungen eine Rolle. Walter Ulbricht hat den Kritikern und Feinden, die ihm vorwarfen, er wolle Deutschland spalten, in den fünfziger Jahren entgegengehalten, das 20. Jahrhundert sei nicht mehr die Zeit, in der man, wie früher unter dynastischen Verhältnissen, Länder beliebig aufteilen oder vereinen könne; Deutschland sei deshalb nicht zu teilen. Vielleicht hat er dies damals, selbstverständlich unter der Prämisse einer gesamtdeutschen DDR-Mission, auch wirklich geglaubt, im Gegensatz zur Situation bei seiner späteren Behauptung, niemand habe die Absicht, in Berlin eine Mauer zu bauen.

Die tatsächlich, mit preußisch-deutscher Konsequenz und technischer Tüchtigkeit vollzogene Teilung hatte zwar, zum Erstaunen vieler deutscher Beobachter, auch und gerade der westdeutschen, historisch keinen Bestand. In vielem hatte die DDR, was die politischen und sonstigen Mentalitätsprägungen anbelangt, jedoch Erfolg, was wiederum nicht erstaunen kann oder sollte, wenn man ähnliche, frühere und aktuelle Situationen in Deutschland oder in anderen Ländern zum Vergleich heranzieht. Zum DDR-Erfolgsbestand gehört wohl auch die Gewöhnung an den zentralisierten Staat. Auch bereits die „Reichsreform“ der späten NS-Zeit zielte auf eine Zergliederung Preußens. In deren Vordergrund stand die Schwächung oder Auflösung der größeren Zwischeneinheiten, der ehemaligen Staaten im Deutschen Reich. Dass Preußen als größter deutscher Teilstaat mit verblassender rechtlicher und sozialer Gestalt davon negativ betroffen war, macht Hitler-Deutschland übrigens nicht automatisch zum Feind Preußens oder Preußen zum Hort eines verbreiteten Widerstands gegen das NS-System. Die in dieser Frage angelegte, heute von vielen beschriebene Ambivalenz wird 1933 am Tag von Potsdam und 1944 in dem hohen Anteil von Militärangehörigen aus preußischen Offiziersfamilien an der Aufstandsbewegung des 20. Juli sichtbar – an der aber nicht nur Preuperspektive21

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ßen teilnahmen. Stauffenberg war zum Beispiel kein Preuße. Nach 1945 wurden in der damaligen sowjetischen Besatzungszone, zum Teil, in Anlehnung an die „Reichsreform“, neue Länder gegründet, auch das „Land Brandenburg“ – anstelle der „Mark Brandenburg“. 1952 schaffte die inzwischen gegründete DDR die Länder wieder ab und errichtete dafür 15 kleinere Bezirke. Die DDR-Zentralisierung und ihre Begründung – die Überwindung der Folgen der „feudalen“ Epoche – lassen nicht nur äußerlich mit der NS-Planung verwandte Züge erkennen. Die DDRBezirke waren kleiner als die Reichsgaue in der NS-Planung und -Realität. Die Proportionen der Bezirke entsprachen der Gesamtgröße der DDR und den sich daraus, unter Zentralisierungsprämissen, ergebenden Bedürfnissen für die Untergliederung. Die DDR benötigte die Zentralisierung, um als kleinerer deutscher Teilstaat gegenüber dem größeren Westdeutschland bestehen zu können. Die identitätsbildenden Energien sollten nicht auf Regionen aufgeteilt werden, die, im schlimmsten Fall, über eine ältere, stabile Tradition und im Vergleich zur DDR über eine beachtliche Größe verfügten. Die Energien waren vielmehr im DDR-Patriotismus zu konzentrieren. 1990 gab es verschiedene Optionen zur Gliederung des DDR-Gebiets im wiedervereinigten Deutschland. Zwei Varianten waren auszuschließen: die 54

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Beibehaltung der alten Bezirke als neue Länder und, mit oder ohne Berlin, die Errichtung der DDR als neues Bundesland. Die DDR-Bezirke passten nicht zur Föderalismus-Struktur des Westens. Die DDR als Bundesland hätte ebenso wenig zur übrigen Länderstruktur gepasst und im übrigen eine institutionelle Zementierung der ost- und westdeutschen Sonderidentitäten zur Folge haben können. Warum eine Fusion? Andere Optionen als die tatsächlich gewählte waren vielleicht denkbar – und wurden, als Minderheitspositionen, auch diskutiert. Dazu gehörten die Überlegungen, größere Gebietseinheiten zu schaffen, etwa Berlin und Brandenburg sofort zu vereinen, oder „gemischte“ Länder, nicht nur in Berlin und künftig mit Berlin-Brandenburg, zu bilden, zum Beispiel zwischen Schleswig-Holstein und MecklenburgVorpommern. Vor derartigen Varianten standen jedoch deutlich höhere politische Hürden als vor der realisierten Option mit fünf „neuen“ Ländern und dem vereinigten Berlin, die außerdem den Vorzug aufwies, auf schon einmal, wenn auch nur für kurze Zeit Bestehendes zurückzugreifen. Abgesehen von der Fusion zwischen Berlin und Brandenburg werden künftig Neuordnungsakte in Ostdeutschland politisch nur schwer zu verwirklichen


klaus faber – wer sind die brandenburger? (2001)

sein. Es ist nicht erkennbar, was die neue politische Klasse und in der Folge die Bevölkerung etwa von MecklenburgVorpommern jetzt noch dazu bewegen sollte, eine Verbindung mit Berlin und Brandenburg einzugehen. Die stärkere Finanz- und Wirtschaftskraft eines größeren Landes? Im föderativen Finanzausgleichs- und Fördersystem Deutschlands kann auch ein kleineres Land mit andauerndem Zuschussbedarf gut leben, wenn es, wie etwa Bremen, geschickt operiert – vielleicht besser als mit dem Status eines Randgebiets in einem Flächenstaat, der den wachsenden Bedürfnissen einer großen Metropole gerecht werden muss. Vom Loch in der Mitte Für das Verhältnis von Brandenburg und Berlin gilt dies nicht in gleicher Weise. Die Situation eines Flächenstaates mit einem Loch in der Mitte und einem darum herum angesiedelten Speckgürtel wird durch besondere Problemkonstellationen geprägt. Zwar gibt es auch anderswo, zum Beispiel im Verhältnis der österreichischen Bundesländer Wien und Niederösterreich, vergleichbare Territorialgliederungen für große Hauptstädte und ihre Umgebung. Dennoch: Für die Vereinigung von Berlin und Brandenburg spricht mehr als für den manchmal diskutierten zusätzlichen Bund mit MecklenburgVorpommern. Man mag es bedauern

oder nicht, über die Fusion mit Berlin hinaus wird Brandenburg in der absehbaren Zeit wohl keine territoriale Neugliederung erwarten dürfen. Eine Neugliederung ist nach dem deutschen Entscheidungssystem jetzt nur noch als gesamtdeutsches und nicht mehr als begrenztes ostdeutsches Unternehmen vorstellbar. Voraussetzung dafür wäre politisch die Bildung einer Großen Koalition auf der Bundesebene. Ein eigenes Leitbild Kann oder sollte nach alledem Brandenburg mit Leitbildkonzeptionen und – weitergehend – mit der Identitätsprägung auf die Vereinigung mit Berlin warten? Und welche Rolle spielt bei beiden Aspekten die preußische Tradition? Die kollektive Identität wird nur zum Teil durch staatliche oder sonstige politische Aktivitäten geprägt, aber staatliche und politische Interventionen können durchaus die Identitätsbildung beeinflussen. Das gilt auch für die regionale Identität. „Leitbilder“ für deutsche Länder zu schaffen, bedeutet in der politischen Praxis meist, bereits vorhandene oder zu entwickelnde Elemente einer regionalen Identität mit einigen Grundzügen der staatlich-politischen Entwicklungsplanung zu verbinden. Manchmal werden in diesem Zusammenhang mehr oder weniger gelungene Formeln und Werbeslogans geprägt. Dazu zählen etwa das schlichte perspektive21

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„Wir in Nordrhein-Westfalen“ oder auch „Wir können alles, außer hochdeutsch“ (Baden-Württemberg) oder ebenso Schlagworte und Kurzbeschreibungen, die häufig die Verbindung von regionalen – personalen, landschaftlichen oder sonstigen – Besonderheiten („Das grüne Herz Deutschlands“) mit dem technischen Fortschritt thematisieren. Auch die bekannte Kombination von Lederhosen und Computern ist in diesem Zusammenhang zu nennen. Die Absicht derartiger Aussagen wird meistens hinreichend deutlich. In der Sache ist, wie der Vergleich zeigt, bei diesen Versuchen Originalität weniger gefragt als in der Form. Wissenschaftlich-technische Kompetenz und die daraus abzuleitende Attraktivität für die Wirtschaft sind zentrale Botschaften. Preußische „Last“ Bei realistischer Einschätzung der Ausgangsbedingungen für das Land Brandenburg im Identitäts- und Leitbildwettbewerb kommt man wohl nicht umhin, zunächst die Prägung durch das Preußenthema aufzugreifen – was übrigens zum Teil das in diesem Zusammenhang verbreitete Unbehagen gegenüber brandenburgischen Identitätsdebatten erklärt. Der brandenburgische Staat, vor langer Zeit aus der früheren Altmark-Grenzregion gegründet, hat viel später, als Folge und in Verbindung mit der Reformation, die Ordens56

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staatsreste in Ostpreußen durch Erbschaft erworben. Der brandenburgische Kurfürst Friedrich III. hat vor dreihundert Jahren diesen Besitz dazu benutzt, sich selbst, außerhalb der Grenzen des Heiligen Römischen Reichs, wo dies nicht möglich gewesen wäre, eigenmächtig zum König zu krönen. Dadurch wurde er König Friedrich I. (zunächst nur) „in“ Preußen. Die Hauptstadt des preußischen Staates blieb dabei die gleiche wie diejenige Brandenburgs. Es handelte sich im Kern um eine Umbenennung des brandenburgischen Staates, die notwendig war, um die neue Königswürde zu nutzen. Im 19.Jahrhundert,nach dem Sieg über die Mehrheit der anderen deutschen Staaten unter Führung Österreichs, gab dieser umbenannte und beträchtlich erweiterte brandenburgische Staat als „Preußen“, auf dem Weg zur Verwirklichung seiner inzwischen gefundenen deutschen Mission, wesentliche Teile seiner Zuständigkeiten zugunsten des „Norddeutschen Bundes“ auf. Dessen „Bundeskanzler“ wurde der preußische Kanzler Bismarck. Nach dem Sieg über Frankreich wurde aus dem Norddeutschen Bund unter Einbeziehung der süddeutschen Staaten, wiederum mit dem „Bundeskanzler“ Bismarck, ein „Deutscher Bund“, namensgleich, aber nicht identisch mit der völkerrechtlichen Konföderation „Deutscher Bund“ des Wiener Kongresses von 1815. Dieser


klaus faber – wer sind die brandenburger? (2001)

neue „Deutsche Bund“ erhielt den Namen „Deutsches Reich“, der Bundeskanzler Bismarck wurde „Reichskanzler“. Preußen war im neuen deutschen Reich ein Teilstaat, wie schon im Norddeutschen Bund. Eine staatliche Identitätslinie führt danach von der Markgrafschaft Brandenburg über das brandenburgische Kurfürstentum, den brandenburgischpreußischen Staat zum Norddeutschen Bund und zu seiner Erweiterung im Deutschen Reich. Der Name des Gründerstaates „Brandenburg“ sank dabei immer tiefer. 1871 bezeichnete er nur noch eine Provinz des Teilstaates Preußen im Deutschen Reich. Der Aufstieg Berlins Die Hauptstadt Berlin stieg dagegen immer höher bis zur Stufe der „Reichshauptstadt“, zur Hauptstadt des neugegründeten, ausgeprägt monarchisch-föderativ gegliederten Deutschen Reiches. Erst 1866 wurde entschieden, dass Berlin die deutsche Hauptstadt und die „norddeutsche“ Sprachvariante Berlins, nicht diejenige von Frankfurt am Main, einer Art Hauptstadt des 1815 gegründeten Deutschen Bundes, das „Hochdeutsche“ (ursprünglich das Pendant zum „Niederdeutschen“) werden sollte. Erst zu diesem Zeitpunkt wurde klar, dass, wie die Österreicher es formulierten, die „Piefkes“ aus Berlin den Ton angeben und alle anderen Sprachva-

rianten als „Dialekt“ bezeichnen können. Jede brandenburgische Identität, auch die jetzt neu zu definierende, muss, ob sie es will oder nicht, diese Berlin- als Teil der allgemeinen Preußen-„Last“ mittragen. Vereinnahmung durch die DDR Ein unter verschiedenen Aspekten denkbarer Versuch, das „Brandenburgische“ vom „Berlinischen“ und darüber hinaus vom „Preußischen“ abzusondern, wird nämlich nicht zum Erfolg führen können. Auch die DDR-Identitätsbildung hat sich am Ende den territorialen und historischen Gegebenheiten angenähert und gefügt. „Sachsens Glanz“ und „Preußens Gloria“ waren Filmtitel-Stichworte für eine Vereinnahmung durch die DDR, die Friedrich II. von Preußen, bereits einschloss. Goethe und Schiller, Luther und die Reformation sowie andere und anderes waren schon früher in die selbstverständlich am „Positiven“ orientierte DDR-Ahnen- und Traditionsgalerie eingegliedert worden. Bismarck, sagen einige, wäre wahrscheinlich, mit Einschränkungen, ebenfalls aufgenommen worden, falls es die DDR noch für eine längere Zeit gegeben hätte. In der Darstellung der DDR-Archäologie war übrigens eine Schwerpunktbildung bei den westslawischen Stämmen und beim Reich der Thüringer zu erkennen, eine letztlich konsequente Konzentration angesichts der unerfreulichen Tatsache, dass perspektive21

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andere denkbare Anknüpfungspunkte noch weniger zur DDR-Grenzziehung passten. Eine Einbeziehung preußischer Traditionslinien in Leitbild- und Identitätskonzeptionen ist für demokratisch gewählte und verantwortliche Akteure, also etwa für Parlament und Regierung Brandenburgs, schwieriger als für die frühere DDR-Geschichtspolitik. Muss sich der demokratische Staat oder insgesamt die Politik nicht jeder geschichtspolitischen Tätigkeit enthalten? Nicht nur staatliche Gedenktage oder die aktuelle Debatte über die „68er“-Bewegung zeigen, dass dem nicht so ist. Geschichtspolitische Enthaltung? Es geht nicht um die Frage, ob es Geschichtspolitik gibt oder nicht, sondern darum, wer an der geschichtspolitischen Gestaltung teilnimmt. Wertepositionen und Werte, auch diejenigen des Grundgesetzes, sind immer mit historischen Erfahrungen und Entwicklungen verbunden. Geschichtspolitische Enthaltsamkeit oder Neutralität der Politik und des Staates sind daher weder durchsetzbar noch wünschenswert, wohl aber Zurückhaltung in denjenigen Bereichen, in denen die Politik und noch deutlicher der Staat verschiedene Wertungs-und Interpretationseinstellungen zu akzeptieren und zu respektieren haben. Auch der Staat sollte unter bestimmten Umständen geschichtspolitisch wertende Positio58

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nen jedenfalls dort beziehen, wo dies der Wertekonsens der Verfassung und die historische Erfahrung erlauben oder verlangen. Relevanz erhält diese Forderung zum Beispiel bei der Gestaltung der öffentlichen Gedenkkultur. Negatives nicht unterschlagen Niemand käme wohl auf die Idee, das Gedenken an die beiden großen Revolutionen der Aufklärungszeit in denjenigen Ländern, in denen sie stattgefunden haben, in den USA und in Frankreich, deshalb einzuschränken oder nur noch in kritischer Form zuzulassen, weil im Namen der siegreichen Revolutionen auch zweifelhafte Maßnahmen durchgeführt oder Verbrechen begangen wurden – in Frankreich sollen dafür als Beipiele die Terreur-Phase, in den USA die Behandlung und Vertreibung der Loyalists angeführt werden. Was für die Gedenktradition in diesen Fällen gilt, hat auch für historische Ereignisse Bedeutung, für die eine vielleicht weniger positive Gesamtbilanz zu ziehen ist. Innerhalb bestimmter Grenzen haben die politisch konstituierten Gemeinschaften durchaus das Recht, in der Interpretation oder Vermittlung der eigenen Vergangenheit die positiven Züge und Vorbilder besonders hervorzuheben. Dies ist vor allem dann unbedenklich, wenn dabei die ins Gewicht fallenden negativen Seiten nicht unterschlagen oder weginterpretiert werden.


klaus faber – wer sind die brandenburger? (2001)

Frankreichs Würdigung der Résistance ist in diesem Zusammenhang zu nennen, wenn und soweit auch die anfangs vorhandene breite Unterstützung für die Vichy-Regierung in die historische Schilderung einbezogen wird – übrigens keinesfalls mit negativen Folgen für das populäre Bild der Résistance. Ähnliches könnte für den 20. Juli in Deutschland gelten, wenn es denn, was nicht der Fall ist, eine mit der französischen RésistanceErinnerung annähernd vergleichbare öffentliche Wahrnehmung und Bewertung des Aufstandsversuchs gäbe. Auch die Toleranz hatte Grenzen Eine ambivalente Bilanz ist im übrigen für das gesamte historisch-politische Erbe Preußens zu ziehen – was wiederum für die Brandenburg-Tradition Bedeutung hat. Für die oft zitierten preußischen Sekundärtugenden muss dies vor dem Hintergrund der NS-Zeit nicht im Einzelnen belegt werden. Auch die preußische Toleranz kannte ihre nicht immer akzeptablen Grenzen. Die Juden wurden zwar in der Regel nicht unmittelbar verfolgt; Friedrich II. sah in ihrer Existenz den einzigen Ansatzpunkt für einen Gottesbeweis. Als Einwanderer oder Untertanen wurden ihnen aber Protestanten, möglichst der gleichen Orientierung wie derjenigen der Hohenzollern-Dynastie, oder, in der zweiten Wahl, Katholiken vorgezogen. Antisemitische Positionen konn-

ten auch am Hof vertreten werden. Treitschke bezeichnete in seinen Schriften die Juden als „unser Unglück“. Nach der Reichsgründung erhielt der Antisemitismus weiten Zulauf. Wilhelm II. empfahl, in allen Schulbibliotheken Preußens das offen antisemitisch-rassistische Buch „Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts“ zu führen. Der Autor war Richard Wagners Schwiegersohn Houston Stewart Chamberlain, ein antisemitischer Brite, der den deutschen Nationalismus förderte und nach dem Ersten Weltkrieg Hitler unterstützte. In diesen Zusammenhang paßt auch die antipolnische Politik Preußens im 19. und im frühen 2o. Jahrhundert vor allem in den Provinzen Posen und Westpreußen. Anziehungspunkt Preußen Die „Peuplierung“ der dünn besiedelten Gebiete von Brandenburg/Preußen mit vornehmlich protestantischen Einwanderern aus Frankreich, Holland, Salzburg oder Böhmen war zwar eine in ihrer Zeit „moderne“ und gewiss nicht fremdenfeindliche Tat. Vergleichbares geschah aber auch anderswo, zum Beispiel in den von den Türken wiedergewonnenen Gebieten, die durch Österreichs Heer und die Reichstruppen erobert worden waren.Und dennoch: Das Toleranz-Edikt Brandenburgs war eine Gegenerklärung zum Edikt von Nantes. Der Name Moses Mendelssohns perspektive21

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– und vieler anderer in der Traditionslinie der Aufklärung und Toleranz – hat nicht nur im Berlin-Brandenburg-Kontext Bedeutung, aber dort eben auch. Der älteste Sohn Maria Theresias bewunderte Friedrich den Großen als Modernisierer und Aufklärer (jedenfalls vor den Konfliktphasen, in die er später als Kaiser einbezogen war). Preußen, immer noch deutlich rückständiger als Frankreich, zog nach seiner Niederlage gegen Napoleon viele der deutschen Reformer an. Wilhelm von Humboldts Universitätsreform prägte für lange Zeit die deutschen Hochschulen. In der Weimarer Republik wurde Preußen als nach Bevölkerungszahl und Fläche weitaus größter deutscher Teilstaat von einer Regierung (unter Leitung des Sozialdemokraten Otto Braun) geführt, die bis zum „Preußenschlag“ die demokratische Ordnung der Republik unterstützte. Erbe ausschlagen … Neben diesen positiven Beispielen der preußischen Geschichte lässt sich die Gegenbilanz weiter ergänzen: Dem Staat Preußen wurde im Auflösungsdekret der Alliierten vorgeworfen, ein Hort des Militarismus gewesen zu sein. Das kann zwar als einseitige Verkürzung, vor dem Hintergrund der Gesellschaftsentwicklung in Preußen/Deutschland vor allem zur Bismarckzeit und bis zum Ende des Ersten Weltkrieges aber 60

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wohl kaum als völlig unbegreifliche, haltlose Beschuldigung bezeichnet werden. Für die Auflösung durch die Alliierten gab es auch andere, nicht genannte Gründe. Die zunächst von allen Seiten gewünschte Schwächung einer künftigen deutschen Zentralmacht wäre durch ein Weiterleben Preußens als deutscher Teilstaat gefährdet worden. Auch nach den Gebietsverlusten im Osten hätte Preußen unter den deutschen Ländern dem territorialen Umfang nach eine herausragende Position eingenommen. Jede föderale Balance wäre dadurch, wie im Kaiserreich und in der Weimarer Republik, gestört worden. Zu Preußen hätten nämlich Berlin, Brandenburg, Schleswig-Holstein sowie Nordrhein-Westfalen und das Saarland, jeweils der größere Teil von Niedersachsen, Sachsen-Anhalt und RheinlandPfalz sowie schließlich Teile der heutigen Länder Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, Thüringen, Baden-Württemberg und Sachsen gehört. Was macht man, im Falle Brandenburgs, mit einem derartigen Erbe? Ausschlagen oder verschweigen kann man es, um es noch einmal zu unterstreichen, wie andere wichtige Geschichtsphasen mit negativen Teilen oder mit negativer Gesamtbilanz nicht. Für die regionale Identitätsbestimmung Baden-Württembergs oder Sachsens mag dies, was Preußen anbelangt, anders zu sehen und zu handhaben sein.


klaus faber – wer sind die brandenburger? (2001)

Eine Präsentation Brandenburgs ohne Preußen wäre demgegen- über kaum vorstellbar. … oder verschweigen? Der Gestaltungsspielraum ist dabei für Brandenburg nicht sehr groß. Die akzeptablen preußischen Wertepositionen der Toleranz, der Offenheit für Einwanderung und Fremde sowie der Staatsloyalität, Sparsamkeit oder Tüchtigkeit (in neuerem Deutsch: Effizienz) sind Orientierungspunkte, auf die sich Werbung und Selbstdarstellung konzentrieren könnten. Die negativen Seiten, unter anderem der mangelnde Bürgersinn oder die Betonung des Gehorsams, des Militärischen und eines Überlegenheitsanspruchs, gehören ebenso zum historischen Bild. Für die historische Forschung wird die Durchdringung derartiger Ambivalenzen nicht abzuschließen sein. Für die politische Debatte und vor allem die politische Entscheidung, unter anderem über die Gedenkkultur und das brandenburgische Leitbild, kommt eine grundsätzlich deutsche, niemals aufhörende Auseinandersetzung aber wohl nicht in Frage. Brandenburg und andere müssen mit einem gemischten Preußenbild leben und sich (soweit wie möglich) überzeugend die positiven Seiten seiner Traditionen für die Selbstdarstellung aneignen. Die im Lande vorhandenen fremdenfeindlichen und antisemitischen

Tendenzen sowie die zu erwartende Einwanderung aus Ostmittel- und Osteuropa geben genügend Anlass, sich auf die preußische Toleranz- und Einwanderungsgeschichte, auf die Traditionen des Rechtsstaats und der Humanität zu berufen. Nicht ganz so eindeutig ist die entsprechende Frage für die übrigen Leitbildund Identitätselemente zu beantworten. Auf diesem Gebiet ist eine Differenzierung notwendig. Die Berufung auf das Vorhandene in der Landschaft, im Kulturerbe oder in der Wirtschaft, einschließlich Landwirtschaft und Tourismus, ist nicht originell, aber naheliegend. Neues einbeziehen Falls und soweit es richtig sein sollte, wie manche meinen, dass Brandenburg mit dem ersten Jahrzehnt nach der Wende eine Phase des Übergangs abgeschlossen habe, sich von der Bewahrung der Verhältnisse oder der Milderung des Wandels zunehmend abwende und deshalb neue Ziele zu definieren seien, könnte dies ein zusätzliches Argument dafür sein, nicht zu warten. „Übergangsphasen“ werden allerdings häufig unterschätzt, was ihre Gestaltungsfunktionen, ihre Bedeutung für die langfristige Weichenstellung oder ihre Dauer anbelangt. Die Entwicklungsplanung in Brandenburg steht keinesfalls bei Null. Die bereits beschlossene Leitbildbestimperspektive21

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mung enthält Ansätze, die den Zusammenhang mit Berlin unterstreichen, unter anderem unter Tourismus- und Dienstleistungsaspekten sowie in bestimmten Komplementärfunktionen wie in der Landwirtschaft, im Energiebereich und bei der Entsorgung. Die Entwicklungsbeschreibung für die „Fläche“, für das Land Brandenburg vor und nach der Fusion, muss wie die entsprechende Planung in nahezu allen anderen Ländern ebenso die Bereiche von Kultur, Wissenschaft und Technik einbeziehen. Dazu gehören, wie bereits erwähnt, Tourismus- oder Energieversorgungsfragen, die Entwicklung der Autoindustrie oder der Ausbau von Zukunftstechnologien, zum Beispiel auf dem Gebiet der Halbleiterphysik, und vor allem der Wissenschaftseinrichtungen. In dem zuletzt genannten Bereich sind im Vergleich zu den anderen ostund westdeutschen Flächenstaaten Rückstände aufzuholen. Hochschulen als Pfund Die 1991 beschlossenen Neugründungen von Hochschulen und Forschungsinstituten geben Brandenburg ein Potential, das in jeder Hinsicht ausbaufähig ist. Es ist ein Pfund, mit dem gewuchert werden sollte. Das gilt in gleicher Weise für die bedeutenden brandenburgischen Kulturdenkmale. Alle wichtigen Ausbauvorhaben im Wissenschaftssektor in Berlin zu kon62

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zentrieren, was nach 1990 vielleicht einige erwartet hatten, wäre übrigens eine in jeder Hinsicht falsche Entscheidung gewesen, wie etwa eine Gegenüberstellung zur bayerischen Flächenentwicklung im Verhältnis zu München zeigt. Der brandenburgische Wissenschaftsaufbau lag letztlich auch im wohlverstandenen Interesse Berlins. Offen für Neues Der Bau von Festungen, Garnisonen, Gefängnissen, Schlössern, Gärten und Straßen oder die Trockenlegung von Sumpfgebieten waren einige der sichtbaren Zeichen der Inbesitznahme und des Landausbaus in brandenburgischpreußischer Zeit. Eine Gründung von Universitäten und anderen Wissenschaftseinrichtungen erfolgte nur in Einzelfällen – was auch etwas mit der zunächst nur langsam wachsenden Größe des Landes zu tun hatte. In späteren Phasen wurden derartige Institutionen in größerer Anzahl errichtet. Ihre Gründung hatte kaum zu überschätzende positive Fernwirkungen, zum Beispiel für die Integration der verschiedenen Landesteile sowie die politische, kulturelle und wissenschaftlich-technologische Entwicklung. Die Identitätsvorstellungen der Bürgerinnen und Bürger, die Identität und das Leitbild des Landes sind selbstverständlich nicht auf einen Teilbereich, wie bedeutend er auch immer sein


klaus faber – wer sind die brandenburger? (2001)

mag, einzugrenzen. Sie umfassen alle wichtigen Prägungsaspekte. Für die kurzen Werbebotschaften ist allerdings eine – schwierige – Auswahl zu treffen. Kultur, Wissenschaft und Technologie, Offenheit für das Neue und für die Begegnung sind Bildfacetten in der

Darstellung eines vereinigten Landes Berlin-Brandenburg, für die in Werbetexten noch geeignete Formulierungen zu finden wären, auf die in der Sache, von der Fläche wie von der Stadt her gesehen, aber nicht verzichtet werden kann. ■

KLAUS FABER

war Kultusstaatssekretär in Sachsen-Anhalt. Damals wie heute ist er Geschäftsführender Vorsitzender des Wissenschaftsforums der Sozialdemokratie in Berlin, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern. perspektive21

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thomas falkner – sozialisten im abseits? (2002)

Sozialisten im Abseits? DIE KRISE DER PDS IST MEHR ALS NUR EINE KRISE DER PDS VON THOMAS FALKNER Der Beitrag erschien im Herbst 2002, kurz nachdem die PDS den Wiedereinzug in den Bundestag verpasst hatte; seitdem hat die PDS nicht nur zweimal ihren Namen gewechselt. Falkner analysiert in dem hier leicht gekürzten Beitrag die Rahmenbedingungen für linke Politik in Deutschland – und weißt dabei auf Probleme hin, die auch heute für „Die Linke“ zweifellos hoch aktuell sind. Als einen Grund für die Niederlage bei der Bundestagswahl sah er einen „Oppositionskult und naive Ansprüche an politische Gestaltung“. Heute wie 2002 steht die PDS (oder wie immer sie gerade heißt) vor der Frage, mit welchem Anspruch – und auch mit welchen Partnern – sie in Zukunft Politik machen will.

ut zwei Monate nach der Bundestagswahl 2002 ist es die Frage, ob über die PDS und ihre Niederlage geredet wird – oder über den Zustand der Mitte-Links-Parteien in Deutschland. Ob über Deutschland als Ausbrecher aus dem europäischen Trend – oder über Deutschland als eine spezifische Form der europäischen politischen Entwicklung. Ist die Krise der PDS ein isoliertes Phänomen – oder ist sie ein besonders signifikanter Teil der Krise des Mitte-Links-Lagers in Europa? Sind andere Parteien von der Krise der PDS nur betroffen, weil sie ein politischer Partner und Konkurrent sind – oder können gerade SPD und Bündnisgrüne

G

am Schicksal der PDS Symptome einer mehr oder weniger gemeinsamen Krise studieren? Vor dem Hintergrund des rapiden Ansehensverfalls der rot-grünen Bundesregierung bereits in den ersten Wochen und Monaten nach der Wahl scheint zumindest die Frage prüfenswert, ob der Absturz der PDS nur der erste Akt in der deutschen Version der allgemeinen europäischen Krise von Mitte-Links gewesen sein könnte. Und zum zweiten wäre vor diesem Hintergrund nach der Perspektive und den Chancen oder Gefahren zu fragen, die sich durch die Entwicklung der PDS, die insbesondere mit dem Bundesperspektive21

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parteitag von Gera (Oktober 2002) eingeleitet wurde, verbinden. 1. Das ausgefallene Projekt Erlauben wir uns eine kurze, grobe historische Parallele: Vor 200 Jahren begann die Konstituierung des Kapitalismus im nationalstaatlichen Rahmen, heute erleben wir die Konstituierung des Kapitalismus auf globaler Ebene. Die politischen und gesellschaftlichen Regularien, Mechanismen, Institutionen, Akteure aber sind noch die der nationalstaatlich geprägten Ära. Der Liberalismus bestimmte Politik und Ideologie des „nationalstaatlichen“ Kapitalismus – heute bestimmt der Neoliberalismus Politik und Ideologie des beginnenden globalisierten Kapitalismus. Auf nationaler Ebene traten Demokraten, Konservative, Sozialisten als politische Akteure mit dem Hintergrund ganzer politischgeistiger Grundströmungen hinzu – sie schlossen Lücken, die der Liberalismus offen ließ, sie nahmen sich der Probleme an, die er erzeugte – und sie erzwangen einen sozialen und demokratischen Ausgleich, der in die modernen westlichen Gesellschaften mündete. Vergleichbare Prozesse sind für die Phase des globalisierten Kapitalismus im Grunde ge- nommen noch nicht einmal im Ansatz zu erkennen. Der ökonomischen Globalisierung, die ausgangs des 20. Jahrhunderts eingeleitet wurde, fehlt am Beginn des 21. Jahrhunderts das Pendant der sozialen 66

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Gerechtigkeit und des interkulturellen Ausgleichs. Das hätte das europäische, das internationale Projekt der NachKohl/Mitterand-Generation (also der Mitte-Links-Regierungen der späten neunziger Jahre) sein können und müssen – aber es ist ausgeblieben. Der Politischen Union und dem Euro ist nichts mehr gefolgt – nur nationalstaatlich begrenzte Reformen, in Umfang und Substanz unterdimensioniert: ■ Im „Standortwettbewerb“ immer weniger Ressourcen für Sozialstaatlichkeit (im Inneren und erst recht nach außen) ■ die wachsenden Rivalitäten unter den Bedürftigen um die geringer werdenden Ressourcen werden in Kauf genommen ■ die Druckentlastung erfolgt entlang der kulturellen Konfliktlinien durch restriktivere „Ausländerpolitik“ und durch Missionierung im Ausland (statt ökonomischer, kultureller und sozialer Öffnung). So aber werden Probleme nicht wirklich gelöst, aber Konflikte geschürt. Dafür wird man nicht so einfach wieder gewählt. Die Wurzeln dieses Phänomens liegen tief – in einem faktischen Steuerungsverzicht, der bereits vor Jahrzehnten seinen Anfang nahm. Am Anfang der europäischen Linken entstand mit der industriellen Revolution auch die Utopie von der immer entwickelteren Technik, die


thomas falkner – sozialisten im abseits? (2002)

man nur in den Dienst der Allgemeinheit stellen müsse, damit es „Zuckererbsen für jedermann“ geben könne. Im 20. Jahrhundert zeigte die fordistische Produktionsweise (Massenproduktion – Massenbeschäftigung – Massenkaufkraft), dass es auch unter kapitalistischen Voraussetzungen eine solche Interessensymbiose geben konnte, die ein weithin auskömmliches Leben ermöglichte. Dafür bedurfte es eines Technologie- und Produktivitätsschubes – jeder weitere Technologieund Produktivitätsschub aber engte die Interessensymbiose wieder ein und produzierte das Interesse, an der jeweils voraus gegangenen Stufe fest zu halten. Nur noch Sozialpolitik? Dazu kam die Tatsache, dass die Technologie- und Technikschübe mehr und mehr mit Kriegswirtschaft und MilitärIndustrie-Komplex in Verbindung gerieten, sowie das wachsende Bewusstsein von den ökologischen Gefahren der Großindustrie. Die Linke wurde sozialkonservativ und technikpessimistisch – und verlor zu großen Teilen Fähigkeit wie Anspruch, Fortschritt zu initiieren und zu gestalten. In einer Analyse für den Bereich Strategie und Grundsatzfragen beim alten PDS-Parteivorstand hieß es im September 2002, unter den Bedingungen der Globalisierung „werden aus dem linken Themenspektrum entscheidende Stücke

heraus gebrochen. Universalismus und Individualismus werden als Schlagwörter des Marktes verwaltet. Der Technik- und Fortschrittsoptimismus kommt allein den Neoliberalen zugute. Für die traditionelle Linke bleibt einzig die Sozialpolitik, und die kann im Deutungsmuster der Globalisierung als protektionistisch, partikularistisch, wettbewerbsfeindlich und reaktionär kodiert werden.“ Tatsächlich geraten Sozial- und Reformpolitik in Konflikt. Der fordistischnostalgische Sozialkonservatismus verteidigt seine Institutionen und Regularien gegen die Umbrüche der Realität und provoziert damit zusätzlich den neoliberalen Tabubruch. In den modernen Gesellschaften steigen die Kosten für die solidarische Alters- und Arbeitslosenversorgung, weil tatsächlich immer weniger Erwerbstätige immer mehr Bedürftige über immer längere Zeiten finanzieren müssen. Medizinisch wird immer mehr möglich – vor allem mehr, als die herkömmliche Finanzierung der Gesundheitssysteme ermöglicht. Die sozialstaatliche Realität verhindert insbesondere in Deutschland marktgerechte Preise und forciert in der Pharma- und Medizintechnikindustrie beachtliche Sonderprofite zu Lasten der Allgemeinheit. Niemand kann davor die Augen verschließen – aber die mächtigen Lobbygruppen beharren auf den von ihnen vertretenen Interessen. Wer zuerst zurück steckt (und sei es nur durch Verzicht auf Widerstand selbst gegen perspektive21

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kleinste Maßnahmen), muss einen strategischen Nachteil gegenüber seinen Konkurrenten befürchten. Weil niemand zurück steckt und Raum für Innovationen frei gibt, wird der Druck auf die Politik immer größer – vor allem auf die Parteien, deren Wählerinnen und Wähler traditionell vor allem in Sozialstaatsfragen engagiert sind. So zieht zugleich der Klientelismus in die Politik vor allem der Mitte-LinksParteien ein. Die bloße Addition von Minderheiten aber schafft noch keine Mehrheiten, wusste schon Bill Clinton vor seiner Präsidentschaft. Noch schwieriger aber wird es, wenn Minderheiten nicht einmal mehr addiert werden können, weil ihre Klientel um geringer werdende Ressourcen gegeneinander konkurrieren. In letzter Konsequenz führt das – wie in Frankreich – mit zur Vertiefung der Klüfte zwischen verschiedenen linken Parteien, an die sich verschieden Klientele hängen. Im Ergebnis machen sich als gesellschaftliche Phänomene breit: ■ Sozialstaatsverdruss angesichts des von Generation zu Generation immer weniger akzeptablen Verhältnisses von Aufwand und Leistung. ■ Konsensverdruss angesichts der täglichen erlebbaren Entwicklungsblockaden, die sich aus dem weit reichenden faktischen Veto-Recht der Interessenverbände ergeben. Und der Verdruss wendet sich in neue politische Lust: 68

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Lust an der Polarisierung, mit der Konfliktaustragung erzwungen werden soll. Lust an individuellen Strategien zur Absicherung von Lebensrisiken, Alter etc., mit denen man den sozialstaatlichen Belastungen und Zumutungen ein Schnippchen schlagen kann.

Jörg Haider hat auf der Klaviatur von Verdruss und Lust souverän gespielt. Am (vorläufigen) Ende des FPÖ-Intermezzos am Wiener Ballhausplatz steht ein struktureller Umbruch in den (partei-) politischen Kräfteverhältnissen Österreichs – zu Gunsten des bürgerlich-konservativen Lagers. So weit sind wir in Deutschland noch nicht. 2. Das Versagen der PDS So weit das Koordinatensystem und die Fixpunkte für die Krise, in der sich Mitte-Links-Parteien heute in Europa befinden. Zumindest aus der Erfahrung innerhalb der PDS ergab sich in den letzten Jahren ein solches Bild. Und in diesem beschriebenen Raum vollzog sich die konkrete, spezifische Krise der PDS. Nur durch eine solche erweiterte Beschreibung des Rahmens ist zum Beispiel erklärlich, warum die PDS gerade an ihren eigenen Themen gescheitert ist. Und warum möglicher Weise gerade jetzt die rot-grüne Bundesregierung so dramatisch an Rückhalt in der Bevölke-


thomas falkner – sozialisten im abseits? (2002)

rung verliert, wo sie auf die Gewerkschaftspositionen zugeht, wo die SPD auf Umverteilung von oben nach unten setzt (Vermögenssteuer, wie auch von der PDS gefordert), wo sie im Haushalt nicht nur über Ausgabenkürzungen, sondern auch über Einnahmeverbesserungen nachdenkt – was ja auch die PDS immer verlangte. Doch zurück zur Bundestagswahl. Die Themen Arbeit, soziale Gerechtigkeit, Friedenserhaltung und – gewandelt – Ostdeutschland hatten im Vergleich zu 1998 bei den Wählerinnen und Wählern im Prinzip nichts an Gewicht verloren. Daran hatte sich die rotgrüne Politik zu messen, dem musste sich die bürgerliche Opposition unterwerfen und dem musste die linke Opposition klare, deutlich weiter führende, also über Rot-Grün hinaus gehende Vorschläge entgegensetzen (in diesem Sinne: politisch umsetzbare Alternativen). Und dies alles war in eine Situation hinein umzusetzen und zu kommunizieren, die am Ende fast ausschließlich von der Frage Schröder oder Stoiber und den damit verbundenen tiefen sozialpsychologischen und mentalen Konfliktlinien geprägt war. Demgegenüber waren Erscheinungsbild und tatsächliches Agieren der PDS geprägt von Dysfunktionalität statt Gebrauchswert. Das Wechselspiel zwischen Selbstintension und Fremdzuweisung, das die Entwicklung der PDSIdentität in den neunziger Jahren

geprägt hatte, funktionierte nicht mehr. Insbesondere der Parteivorstand und die Parteivorsitzende wechselten auf einen Kurs, der die parteiinterne Furcht vor der wirklichen Politik und darauf fußende Lust an der Opposition zum Maßstab des eigenen Agierens und zur Prämisse der politischen Analyse machte. So setzte sich seit dem Frühjahr 2002 an der Bundesspitze faktisch eine Auffassung durch, die die PDS nicht mehr als Teil eines politischen MitteLinks-Spektrums in Deutschlands, sondern als ein „drittes Lager“ diesseits von Union und SPD betrachtete. Keine politischen Referenzen Nach dem damit verbundenen Verzicht auf eigene strategische Optionen hat sie die PDS-Führung dann angesichts der knappen Umfrageergebnisse im Sommer in eine formalisierte Konstellationsdiskussion zwängen lassen, in der inhaltliche Substanz schon gar nicht mehr aufgerufen wurde. Was die PDS in der Sache innerhalb des Mitte-Links-Lagers in Deutschland zur Geltung bringen und durchsetzen könnte, spielte zwar noch in einem im August im SPIEGEL veröffentlichten Strategiepapier – einer Vorarbeit für den Wahlaufruf des PDSSpitzenteams – und in der journalistischen Nacharbeit dazu eine Rolle, nicht aber politisch, nicht im Agieren insbesondere der PDS-Vorsitzenden und anderer Führungsmitglieder. (Zudem perspektive21

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wurde dieser Ansatz durch den GysiBrie-Brief an Lafontaine sowie die Spekulation um einen angeblichen „Zwei-Punkte-Plan“ für die Wahl Schröders mit PDS-Stimmen zunichte gemacht.) So kam es, dass die PDS-Spitze mit ihren Signalen der Unterstützung für Schröder jenes Drittel von potenziellen PDS-Wählern verunsicherte, die sich laut internen Umfragen eine PDS-SPD-Kooperation auf Bundesebene nicht vorstellen konnten oder wollten. Und mit der als fundamental wahrgenommenen Orientierung auf Opposition führte die PDS-Spitze letztlich gegen jene Mehrheit von rund 70 Prozent der potenziellen PDS-Wähler Wahlkampf, die sich eine authentische und engagierte regierungsbezogene Mitwirkung der PDS an einer rot-grünen Bundespolitik wünschten. Dazu kam: Es gab und gibt bislang keine hinreichenden politischen Referenzen – weder auf der Projektebene noch aus der Regierungsbilanz. In Mecklenburg-Vorpommern und Berlin sind zudem – anders noch als in Sachsen-Anhalt – Probleme im Regierungshandeln und enttäuschte (teils auch überhöhte) Erwartungen vor allem zu Lasten der PDS, nicht der SPD, gegangen. In Berlin konnte im ersten Jahr der neuen Koalition angesichts der schwierigen Ausgangssituation ein praktischer Aufbruch zu Neuem – gerade durch die Beteiligung der PDS ermöglicht – (noch) nicht erlebbar gemacht 70

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werden. Allerdings: In Berlin gibt es bei den Interessenverbänden und -gruppen aller Art einen dramatischen Rückfall in die alte Versorgungs- und Besitzstandsmentalität, der weitestgehend das Bewusstsein von der essentiellen Haushaltskrise und deren Verursachern überlagert hat und sich in einer fast aggressiven Verweigerung gegen jede notwendige Veränderung stellt – bei besonderem Druck auf die PDS. Ostkompetenz verloren Nach den Auseinandersetzungen um das Schweriner Arbeitsministerium und vor allem nach der Bonusmeilen-Affäre um Gregor Gysi ist die PDS dann auch noch im negativen Sinne erstmals als „normale Partei“ wahrgenommen worden und hat an Vertrauen und Zutrauen eingebüßt. Gysis Rücktritt hat dies nicht wett machen können. Seine nach dem Rücktritt sogar zunehmende Medienpräsenz hat auch zu Verdruss geführt und den Eindruck verstärkt, er sei eher aus Amtsmüdigkeit zurück getreten und bevorzuge die Rolle des politischen Entertainers gegenüber der harten Sacharbeit. Der in der unmittelbaren Vorwahlphase eingetretene Trendwechsel zu Gunsten von Mitte-Links im Bund kam daher weitestgehend der Sozialdemokratie und nicht der PDS in diesen Ländern zu Gute. Selbst die „Ostkompetenz“ war verloren gegangen. Das dominierende


thomas falkner – sozialisten im abseits? (2002)

Thema (Abwanderung; „Kippe“) hatte die PDS verpasst und Wolfgang Thierse überlassen. Den Anschluss an die neue Differenzierung der ostdeutschen Teilgesellschaft hat bislang keine politische Partei gefunden und den Vorsprung in der Sachkompetenz in den „harten“ Politikfeldern – Wirtschaft etc. – hat die PDS zwar in ihrem Rostocker Parteitagsbeschluss zu Ostdeutschland im Kontext der EU-Osterweiterung auf dem Papier behauptet – in der Breite der Partei ist dies jedoch bislang kaum angekommen. Die Frage der neuen sozialen und kulturellen Differenzierungen im Ost-Milieu hat die PDS noch immer nicht aufgegriffen. Bei der Hochwasserkatastrophe schließlich erwies sich die PDS für viele als Totalausfall. Sicher, als gesamt-nationale Herausforderung hat die Katastrophe Links-Rechts-Nuancen im Wahlkampf sowie die allgemein problematische Lage im Osten in der allgemeinen Wahrnehmung überlagert. Doch vor allem nach dem Abebben des Hochwassers hat die PDS als Bundespartei keinerlei Initiativen ergriffen oder auch nur nennenswert unterstützt, die Partei von unten als sinnlich wahrnehmbare Interessenvertretung, als Dienstleister für die sehr konkreten Sorgen und Forderungen der Betroffenen zu profilieren – womit der Aufstieg der PDS in den neunziger Jahren begonnen hatte, gab es nicht mehr: die „Partei für den Alltag“.

Und letztlich: Mit seiner harten Linie gegen einen Irak-Krieg im Wahlkampf hat Gerhard Schröder nicht nur die Realität seiner Politik seit dem Kosovo-Krieg verdrängt, sondern auch durch verbale Übernahme nahezu jeder PDS-Detailforderung nicht nur mit einem außenpolitischen Thema die Wahlentscheidung massiv beeinflusst, sondern auch der PDS den Schneid abkaufen können. Ursache und zugleich auch wieder Folge all dessen waren: ■ eine sich vertiefende Spaltung innerhalb des traditionell dominierenden Reformerlagers, die zu internen Entwicklungsblockaden und zu einem widersprüchlichen Erscheinungsbild führte, ■ eine von den Führungsdefiziten forcierte Demotivierung, schließlich sogar Demoralisierung der Parteibasis. 3. Wegscheide Mittlerweile gibt es für die PDS zwei Zäsuren: den Wahltag und der Parteitag. Der Wahltag hat gezeigt, dass die PDS – so, wie sie vor allem konzeptionell und strategisch aufgestellt war – nicht gebraucht wird, wenn es in diesem Lande wirklich ernst wird. Der Bundesparteitag von Gera vom Oktober 2002 aber hat die PDS erst recht auf die schiefe Ebene gebracht. Einerseits, weil die der Realpolitik abholde Linie, die Linie des „dritten Lagers“, perspektive21

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des Schwerpunktes außerhalb des politisch-parlamentarischen und auch exekutiven Bestrebens obsiegt hat. Vorher hatten die PDS keine tragfähige Antwort auf das, was die Menschen von ihr erwarteten – jetzt hat sie die falsche Antwort: Oppositionskult und naive Ansprüche an politische Gestaltung, Antisozialdemokratismus und „MitteUnten“-Träume statt strategische Souveränität innerhalb des Mitte-LinksLagers in Deutschland ... Gewinnen die Reformer? Andererseits hat der Parteitag mit seiner politischen Unkultur Vertrauen in ernsten Dimensionen verspielt. Viele innerhalb und außerhalb der PDS sind von der Wucht, mit der totalitäre Verhaltensmuster wieder auf- und durchbrechen, überrascht. Instinktiv gehen sie – darunter viele Wählerinnen und Wähler von 1998 – auf Distanz. Man vertraut durchaus noch einzelnen – aber nicht mehr der PDS. Und schließlich: Der Parteitag hat vorgeführt, dass es die stabile strukturelle Mehrheit für die sogenannten Reformer nicht mehr gibt, weil es die Reformer selbst als ein hegemoniefähiges Lager nicht mehr gibt. Aus der Binnenerfahrung der PDS gibt es schon seit langem nicht mehr den Konflikt Reformer versus Traditionalisten – mit struktureller Reformer- Mehrheit bei den Aktivisten und struktureller Traditionalisten72

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Mehrheit bei der Basis –, sondern eine neue Lagerbildung in der Partei. Neben den Traditionalisten hat sich eine Gruppe von ehemaligen Reformern (jener, die seit 1989 in erster Linie die Partei reformieren wollten und dazu auch programmatisch Taugliches produzierten) neben und gegen die Gruppe der Pragmatiker konstituiert – also jener Reformer, die in erster Linie die Gesellschaft reformieren und zu diesem Zweck Politik machen wollen. Die parteibezogenen Reformer nun sind aus innerparteilichmachtpolitischen Erwägungen ein Bündnis mit den Traditionalisten eingegangen – und nur deswegen erscheint der Konflikt als der klassische Konflikt der Prominenten gegen die Stalinisten und Nostalgiker, wie er stets die PDS-Geschichte geprägt hat. Eigentlich – und das klingt nur zweckoptimistisch, ist aber ein realer Befund – hat die Entwicklung der letzten zwei Jahre auch durchaus etwas Konstruktives gebracht: Die fast schon vollzogene Herausbildung des PragmatikerLagers – mit einer immerhin ermutigenden Machtposition von einem Drittel auf Bundesebene und doch noch starken Bastionen über zwei Landesregierungen. Schon deswegen sind die Abgesänge auf die PDS verfrüht. Wie auch immer – auf absehbare Zeit wird sich die PDS weiter mit wichtigen Fragen aus der Gesellschaft konfrontiert sehen und daran arbeiten: ■ Für welche Funktion in Politik und Gesellschaft bietet sich die PDS


thomas falkner – sozialisten im abseits? (2002)

künftig den Wählerinnen und Wählern an? Erkennt die PDS mögliche politische Partner und ist sie fähig, ihre Eigenständigkeit so zu entwickeln, dass sie zugleich kooperationsfähig mit diesen wird? Kann die PDS überhaupt den offenkundigen Kulturbruch wieder rückgängig machen? Das heißt: Findet sie zu einem auch personellen Neuansatz.

Das alles läuft letztlich auf eine entscheidende Frage hinaus: Ist die PDS willens und fähig, die mit Rostock/ Halle/Gera eingeschlagene Linie ernsthaft zu korrigieren – inhaltlich und personell? Dies markiert den eigentlichen Raum für die Auseinandersetzungen, die die „Reformer“ innerhalb der PDS mit der jetzigen Richtung ihrer Partei führen – und möglichst gewinnen – müssen. Mit der Wiederholung alter Schlachten freilich wird es nicht getan sein. Dass sich die falsche Linie in Gera durchgesetzt hat, heißt nicht automatisch, dass die bisherige Linie der „Reformer“ noch richtig ist (was wiederum nicht bedeutet, dass sie vor dem 22. September 2002 auch schon falsch war). Doch notwendig ist eine (selbst-) kritische Überprüfung der strategischen Grundannahmen der letzten Jahre – sowohl der machtpolitischen Optionen als auch und vor allem der Themen und

Images. Mit dem Wegfall der Bundestagsfraktion und des Zugriffs auf die Ressourcen der Bundespartei wird dies allerdings – gelinde gesagt – sehr schwierig. Andererseits haben die Reformer den strukturellen Vorteil, dass sie in Regierungsverantwortung stehen – dass sie handeln müssen, entscheiden können, wahrgenommen werden und insofern auch kompetente Rückmeldungen aus Politik und Gesellschaft erhalten. Die Pflichten des Amtes werden die regierenden Reformer – bei Strafe des eigenen Untergangs – zu konkreten, umsetzbaren, wirksamen Projekten in zwei Richtungen drängen: ■ Einerseits zu Sparen als Gewinnerspiel für möglichst viele – durch strukturelle Reformen und Innovationen. ■ Andererseits wird es um Projekte gehen müssen, die Perspektiven eröffnen – und das müsste mit Weichenstellungen für den Osten (der entsprechende Beschluss des Rostocker Bundesparteitages vom März 2002 bietet dafür durchaus Ansatzpunkte) oder für die Jugend (Bildung, Ausbildung, Attraktivität des Bleibens im Osten bzw. der Hinwendung zu ostdeutschen Leistungszentren statt der Abwanderung) zu tun haben. ■ Und schließlich muss sich auch demokratisch-sozialistische Politik den Ängsten der Bevölkerung, besonders im Osten, zuwenden: Kriegsangst, soperspektive21

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ziale Ängste, Zukunftsängste, Angst vor Kriminalität und Terror, vor dem Fremden. Doch es geht auch um mehr. Defizite der deutschen Politik sind im Moment das große Thema. In gewichtiger Dimension. Es geht nicht an sich um den dramatischen Ansehensverfall von Schröder und Rot-Grün – das Thema ist das Fehlen einer über den Tag hinaus reichenden Perspektive für die deutsche Politik. An der Oberfläche profitiert die Union davon – aber sie ist Teil des Problems. Ideologie statt Politik Das greifbare Überthema sind Zustand und Zukunft der Demokratie – die Debatte um Weimar, um Schröder und Brüning. Um Parlamente und Kommissionen, gewerkschaftliche Verweigerung, bürgerlichen Widerstand, Umfragen und Wahlen, Staatsfinanzen und Staatszwecke. Das müsste eigentlich eine große Chance für eine demokratisch-sozialistische Programmpartei wie die PDS sein. Stünde sie nicht seit Jahren in einer Programmdebatte, müsste sie gerade jetzt beginnen. Freilich: So, wie die PDS insgesamt derzeit verfasst ist, wird sie keine sonderlich kreativen Antworten auf solche gesellschaftlichen Herausforderungen abliefern können – sondern Formelkompromisse zwischen marxistologischem Traditionsgut und moderner Symbolik. 74

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Für die Pragmatiker jedoch ist dies die Chance und die Herausforderung, sich und ihrem Tun eine programmatische Basis zu geben – durch einen eigenen Programmentwurf, der sie nach außen und innen kenntlich macht, ihre Erfahrungen in der Politik aufarbeitet, in Beziehung zu ihren demokratischen und sozialen Werten und Leitbildern setzt und zugleich entwickelt, wie die politischen Verhältnisse in Deutschland reformiert werden müssen und können, damit überhaupt wieder Perspektiven und große Linien verfolgbar werden. Eine moderne demokratisch-sozialistische Programmatik wird den alten Verbändestaat Bundesrepublik und das Modell Deutschland AG nicht blind zur ewigen Voraussetzung haben können – wohl aber als Gegenstand demokratischer Veränderung annehmen und die archimedischen Punkte für den notwendigen Umbruch bestimmen müssen. Es ist weder ausgemacht, dass eine solche politisch-programmatische Konstituierung des pragmatischen Teils der PDS gelingt, noch dass eine solche Strömung letztlich hegemoniefähig wird. Doch der Versuch ist geradezu demokratische Pflicht. Denn – was wäre die Alternative? Die Fortsetzung jener Entwicklung zu einer neokommunistischen Formation, die bereits vor zwei Jahren mit dem Kollaps von Münster (auf dem damaligen Bundesparteitag unterlag die damalige PDS-Führung um Lothar Bisky und Gregor Gysi mit dem zaghaften Ver-


hubertus heil, kai weber – zur idee des sozialen rechtsstaates (1997)

such, die Partei in der Außen- und Sicherheitspolitik zu den politischen Realitäten hin zu öffnen, und zog sich zugleich aus den Spitzenpositionen zurück) begann und die jetzt in Gera erlebbar wurde. Der postkommunistische Charakter der PDS tritt deutlicher in den Vordergrund; die (partei-)kommunistische Traditionslinie tritt erkennbarer neben und gegen die bisherigen Bemühungen der führenden Reformer, der Partei eine demokratischsozialistisches Richtung zu geben. Das geht einher mit relevanten Akzentverschiebungen in der inneren Logik der Partei und ihres politischen Agierens: ■ Ideologie zu Lasten von Politik und Konzept, ■ Aufwertung der Binnenverhältnisse zu Lasten der Offenheit in die Gesellschaft, ■ offenere Bekenntnisse nicht nur als Partei der ehemaligen Dienstklasse der DDR, sondern auch als Partei der ehemaligen Kern-Eliten des stalinistischen Systems in der DDR. Wurden unter Gysi und Bisky die Parteimitglieder beim humanistischen Kern ihres Engagements für die DDR und in der SED gepackt, den Menschen Gutes zu tun, und mehr oder weniger direkt an die Philosophie der Anfangsphase gebunden, wonach Bürgerinteressen vor Parteiinteressen zu stehen hätten, so tritt dies jetzt hinter eine stär-

kere Betonung der parteiinternen Logik und der Veränderung von Gesellschaft als nachgelagerte Folge parteigebundenen Handelns zurück. Die geistigen Konturen eines Neokommunismus in Deutschland sind bereits erkennbar: Er ist (vulgär-)egalitär, ohne sich auf einen ernsthaften Wertediskurs einzulassen. Er bezieht sich programmatisch auf die Einheit der Menschenrechte bei starker Betonung bis Verabsolutierung der sozialen Ansprüche. Er ist demokratie-skeptisch bis parlamentarismusfeindlich – und zugleich demokratisch-fundamentalistisch: Alles soll „von unten“ geklärt werden, Moderation wird an die Stelle von Entscheidung gesetzt, politisches Entscheiden selbst diskreditiert, der repräsentativen Demokratie die Legitimation abgesprochen. Interessengruppen werden zugleich in Gut und Böse eingeteilt und von daher als legitim oder illegitim angesehen. Er ist hochgradig ideologisiert, beharrt auf dem letztlich revolutionären Anspruch auf die ganz andere Gesellschaft als Alternative zur gegenwärtigen modernen westlichen Gesellschaft – und zugleich bezüglich der Möglichkeit, dies auch zu erreichen, ultra-realistisch bis zum Defätismus gegenüber jedweder demokratischen und sozialen Veränderung. Er gebärdet sich moralisierend, im Gestus der ständigen Empörung – und leistet sich so die Illusion eines – gesellschaftlich letztlich wohl belanglosen – Avantgardismus. perspektive21

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thema – 10 jahre „perspektive21“

Er ist analytisch ambitioniert, aber un-intellektuell und un-modern: marxistisch-orthodox in der „Eigentums-“ und der „Machtfrage“, marxistisch-illusionär in den Debatten um Entfremdung, Arbeitsgesellschaft oder Emanzipation von einer vermeintlichen „Kapitallogik“, auf die alles reduziert wird. Er präsentiert sich kulturell und mental als eine Funktionärspartei – dem entsprechend mit blassen, wenig charismatischen und eher führungsschwachen Spitzenfiguren. Ein solcher Neokommunismus mag für die Zeit, in der ihn seine politische Schwindsucht noch nicht völlig bedeutungslos gemacht hat, noch durchaus eine Funktionspartei auf unterer Ebene tragen – eine Funktionspartei, die ihren ideologischen Ballast auf die jeweils höchste, für sie machtpolitisch nicht erreichbare Ebene (Bund, Europa, NATO, UNO ...) projiziert. Und auch dort die Schuldigen dafür ausmacht, dass sie den eigenen radikalen Ambitionen nicht genügen kann. Gerade eine solche neokommunistische PDS eignet sich, so kurios es erscheint, als Konservator der nachwendischen deutschen Parteiensystems und

einer – vorerst – strategischen Mehrheit um die SPD herum, sofern alle Beteiligten an der eingangs beschriebenen Misere von Mitte-Links fest halten. Zugleich würde eine solche neokommunistische PDS im Beiboot von RotGrün die parteipolitische Polarisierung in Deutschland verschärfen. Man stelle sich nur einen Moment lang vor, die PDS regierte jetzt in irgendeiner Form mit – Vermögenssteuer, Irak-Position und vieles andere würden seitens der bürgerlichen Opposition als schlimmstes kommunistisches Teufelszeug denunziert werden. Freilich: Ohne konzeptionelle Alternative. Das Parteiengeschrei im Lande wäre noch schriller – die Alternativlosigkeit noch dunkler. Aus der FDP oder der Union müsste sich ein deutscher Haider auf den Weg machen. Oder ein deutscher Berlusconi erschaffen werden. Es gibt nur eine Alternative: Eine reformfähige linke Mitte. Sie muss an einer neokommunistischen PDS nicht scheitern – aber sie wird von einer pragmatischen reformfreudigen PDS neuen Zuschnitts allein auch nicht kreiert werden können. Es kommt auf alle an. ■

DR. THOMAS FALKNER war bis September 2002 Grundsatzreferent beim PDS-Parteivorstand. Heute ist er Mitarbeiter der Fraktion Die Linke im Brandenburger Landtag.

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Zukunft braucht Herkunft WARUM ES OHNE STARKE TRADITIONEN KEIN MODERNES BRANDENBURG GIBT VON MATTHIAS PLATZECK Der Text erschien im Herbst 2003, ein Jahr nach dem Amtsantritt von Matthias Platzeck als Ministerpräsident des Landes Brandenburg. Er legt darin sein Bild eines modernen Brandenburgs dar. Um die Zukunft zu gewinnen, muss man sich, nach Platzecks Ansicht, seiner Vergangenheit bewusst sein. Diese These begleitet sein Regierungshandeln bis heute.

Fast anderthalb Jahrzehnte liegt das Ende der DDR inzwischen zurück, doch auf einmal wächst in ganz Deutschland das Interesse an den ostdeutschen Verhältnissen vor 1989. Der Osten ist „angesagt“. Millionen haben in den vergangenen Monaten den Film Good Bye Lenin im Kino gesehen, noch mehr sogar im Fernsehen die so genannten DDRShows. Zugleich stehen Bücher wie Jana Hensels Zonenkinder oder Meine freie deutsche Jugend von Claudia Rusch weit oben auf den gesamtdeutschen Bestsellerlisten. Neugierig fragen heute 16Jährige ihre Eltern und Lehrer:„Wie war das eigentlich damals bei euch?“ Was passiert da überhaupt? Kehrt die trotzige „Ostalgie“ der frühen neunziger Jahre zurück? Will irgendwer die DDR zurückhaben? Ich glaube das nicht. Was

I.

jetzt passiert, ist etwas anderes. Die neue Neugier auf die eigene Geschichte ist ein ermutigendes Zeichen – ein Beleg dafür, dass unser Land an Normalität gewinnt. Niemand in Ostdeutschland sehnt sich heute im Ernst zurück nach der Zeit mit Honecker, HO und MfS. Doch hinter uns liegen inzwischen zum Glück auch die ersten Nachwendejahre, als in der neuen Bundesrepublik jegliche Hinterlassenschaft der DDR von vornherein als minderwertig galt. Dass manche Aspekte beispielsweise des damaligen Bildungsund Gesundheitswesens nicht so völlig unsinnig waren, konnte man nach 1989 jahrelang nicht aussprechen, ohne sofort als ewiggestriger „Ostalgiker“ zu gelten. Das ist vorbei. Allen ist klar: Wenn wir heute über die DDR reden, dann geht es um Geschichte, um Verganperspektive21

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thema – 10 jahre „perspektive21“

genes, das nicht zurückkehren wird. Auch die Nachwendezeit ist zu Ende. Heute braucht keiner mehr zu verteufeln, was an der DDR nicht durchweg schlecht war; umgekehrt muss heute niemand noch verteidigen, was am Staat der SED einfach nicht zu verteidigen war und ist. Auf diese Weise gewinnen wir alle zusammen an Gelassenheit. Ich halte das für einen echten Fortschritt. Aber wieso ist das ein Thema, das mich interessiert? Sind Politiker nicht dafür zuständig die Zukunft zu organisieren, für Modernisierung und Fortschritt zu sorgen, statt sich mit Geschichte und Herkunft zu beschäftigen? Natürlich sind sie das – und genau deshalb hat meine Regierung ihre Absicht erklärt, das „moderne Brandenburg“ zu schaffen. Es ist kein Geheimnis: Unser Land steht vor riesengroßen Herausforderungen. Bewältigen kann Brandenburg diese Aufgaben im 21. Jahrhundert nur als ein modernes, sich beständig erneuerndes Gemeinwesen: mit effizienter Wirtschaft, mit hochwertiger Infrastruktur, mit hervorragenden Bildungs- und Forschungseinrichtungen sowie einer jederzeit bürgernah und flexibel agierenden Verwaltung. Wir werden viele neue Ideen, sehr viel Einfallsreichtum, Experimentierfreude und Improvisationstalent brauchen, um Probleme zu lösen, die es in vergleichbarer Weise nie zuvor gegeben

II.

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hat. Kein Zweifel: Jede Politik des Weiterso verbietet sich in dieser Lage von selbst. Wo die Herausforderungen ungewohnt sind, helfen gewohnte Instrumente eben nicht mehr weiter. Auf neue Fragen müssen wir neue Antworten geben. Schon deshalb bleibt uns in Brandenburg gar nichts anderes übrig, als modern und innovativ zu sein. Aber Modernisierung ist kein Wert an sich. Sie ist immer nur Mittel, niemals Ziel und Zweck vernünftiger Politik. Und sie hat Voraussetzungen. Menschen vertragen nicht beliebig viel Wandel und Beschleunigung. Sie können nicht immer wieder ganz von vorn anfangen – und sie wollen das auch nicht. Wo sich allzu viel zugleich verändert, machen sie irgendwann nicht mehr mit. Selbst die notwendigste Modernisierung gelingt nur dann, wenn die Erneuerung durch Vertrautes flankiert wird. Deshalb stehen Modernität und Geschichte eben nicht, wie manche meinen, im Widerspruch. Sowohl die neoliberalen Marktradikalen wie die Anhänger der kalten Modernisierung von rechts irren sich auf fatale Weise: Eine Modernität, die über die Köpfe der Menschen hinwegfegt wie eisiger Wind, ist in Wahrheit gar keine. Denn wo es nur noch um ökonomische „Zwänge“ geht, da spielen die Wünsche, Hoffnungen und Bedürfnisse der Menschen, Familien und gewachsenen Gemeinschaften bald keine Rolle mehr. Die seelenlose Modernisierung passt


matthias platzeck – zukunft braucht herkunft (2003)

nicht zu Brandenburg. Richtig und angemessen ist hier wie anderswo das genaue Gegenteil: Damit Modernität lebenswert wird, braucht sie Menschlichkeit. Denn Zukunft ohne Herkunft gibt es nicht. Ich glaube, es gibt keinen besseren Beweis für diese These als das aktuelle Interesse gerade auch junger Ostdeutscher an Filmen, Büchern und Ausstellungen über die DDR: Mitten im gesellschaftlichen Wandel wächst der Wunsch nach Wurzeln, nach Herkunft, nach Orientierung. Auch das gehört zur Modernisierung. Es klingt widersprüchlich, ist aber meiner Ansicht nach unbestreitbar: Menschen sind vor allem dann zu Veränderungen bereit, wenn sie erkennen, dass diese Veränderungen ihnen dabei helfen, ihr eigenes Leben so zu leben, wie sie es in ihren Familien, Freundeskreisen und Gemeinschaften leben wollen. Vom Kitt der Gesellschaft Die Freiwilligen Feuerwehren etwa, die vielen Sport- oder Gesangsvereine, die aktiven Innungen und lebhaften Bürgerinitiativen – all das vermeintlich so Unmoderne ist heute in Wirklichkeit moderner und unersetzlicher denn je. Es ist der „Kitt“, der unserer Gesellschaft zusammenhält. Neues gedeiht am besten dort, wo das Bestehende intakt ist, Vertrauen gibt und Sicherheit spendet. Genau deshalb wäre es ein großes Missverständnis, das moderne Brandenburg

als künstliches Gegenmodell zur heutigen Lebenswirklichkeit in unserem Land zu begreifen. Das Gegenteil trifft zu: Die größte und wichtigste Ressource für die Zukunft Brandenburgs sind seine Menschen und deren Gemeinschaften. Das moderne Brandenburg entsteht inmitten unserer Gesellschaft – und aus ihr heraus. Die Einsicht, dass erfolgreiche Modernisierung von Voraussetzungen lebt, hat nicht im geringsten mit Genügsamkeit oder gar Mutlosigkeit zu tun. Dazu besteht auch überhaupt kein Anlass. So ernst die Probleme unseres Landes sind: Brandenburg wird in Zukunft in dem Maße zunehmend erfolgreich sein, wie es seine Potentiale erkennt – und entschlossen nutzt: Gelegen mitten in Europa, rund um eine der größten Metropolen des Kontinents und an der Nahtstelle zu den Zukunftsmärkten der neuen EU-Beitrittsländern, noch dazu ausgestattet mit einigen der schönsten Naturlandschaften Deutschlands, steht Brandenburg heute erst am Anfang seiner möglichen neuen Aufwärtsentwicklung. Jetzt kommt es darauf an, was wir gemeinsam aus unseren Chancen machen. Ein weit verbreitetes Missverständnis ist, dass es Strukturprobleme in Brandenburg nur im ländlichen Raum gibt. Das ist nicht so. Die Probleme des Wandels stellen sich im Umfeld Berlins auch, aber sie stellen sich anders. Trotzdem ist es natürlich so, dass viele Ent-

III.

perspektive21

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thema – 10 jahre „perspektive21“

wicklungen rings um Berlin uns Mut machen, dass sie Beispiele sind für einen gelungenen Strukturwandel. In den Kreisen Potsdam-Mittelmark, Oberhavel und Barnim steigen die Einwohnerzahlen stark; Falkensee ist eine der am schnellsten wachsenden Städte Deutschlands überhaupt. In und um Potsdam blühen Kultur und Wissenschaft, erfolgreiche Unternehmen aus zukunftsträchtiger Branchen wie der Biotechnologie siedeln sich hier zunehmend an, und auf dem Filmgelände in Babelsberg arbeiten heute bereits wieder so viele Menschen wie vor 1989. Kurz, das brandenburgische Umland von Berlin ist insgesamt auf einem guten Weg. Nur besteht Brandenburg eben bei weitem nicht nur aus Potsdam, nicht nur aus Falkensee, Kleinmachnow, Erkner oder Bernau. Erfolgreiche äußere Regionen Dass die ländlicheren Regionen unseres Landes wie Uckermark und Prignitz, Niederlausitz und Märkisch-Oderland wirtschaftlich und demografisch weit weniger günstig dastehen, ist kein Geheimnis. Vergessen wird jedoch zuweilen, dass auch hier schon heute erfolgreich gewirtschaftet wird. Vier der fünf größten Unternehmen unseres Landes haben ihre Standorte gerade in diesen Regionen: die BASF in Schwarzheide, EKO in Eisenhüttenstadt, Vattenfall in der Lausitz, dazu 80

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die Deutsche Bahn mit ihren Standorten Wittenberge, Cottbus und Eberswalde. Wandel aus eigener Stärke Das moderne Brandenburg entsteht nicht über Nacht und auch nicht aus der Retorte, sondern in vielen einzelnen Schritten. Der Wandel speist sich aus unseren eigenen Stärken. Es ist richtig, dass die Zahl der Arbeitsplätze in der Land- und Forstwirtschaft zwischen 1989 und heute von über 200.000 auf 30.000 gesunken ist. Doch ebenso richtig ist, dass im gleichen Zeitraum viele Tausende neue und zukunftsträchtige Arbeitsplätze geschaffen wurden. Bereits heute leben in Brandenburg fast 100.000 Menschen vom Fremdenverkehr – und unsere Potentiale haben wir damit noch längst nicht ausgeschöpft. Bereits heute arbeiten in der großen Zukunftsbranche Umwelttechnik 30.000 Menschen. Bereits heute haben sich mit den Triebwerkstandorten von MTU und Rolls-Royce völlig neue Industrien in Brandenburg angesiedelt. Und bereits heute erwerben an den brandenburgischen Universitäten und Fachhochschulen 33.000 Studierende in zahlreichen neuen Studienfächern hochwertige Kenntnisse und Qualifikationen, die das Fundament für neue Arbeitsplätze und neuen Wohlstand in unserem Land legen.


matthias platzeck – zukunft braucht herkunft (2003)

Gewiss, der Wandel verläuft regional höchst uneinheitlich und ungleichzeitig – wie könnte es anders sein? Gerade deshalb erachte ich es für eines der dringlichsten Ziele meiner Regierung, den inneren Zusammenhalt Brandenburgs zu bekräftigen und zu erneuern. Brandenburg wird das Land aller seiner Bürgerinnen und Bürger bleiben, ob sie nun in der Stadt leben oder auf dem Dorf, im Einzugsbereich der hauptstädtischen S-Bahn oder weitab von Berlin. Es liegt auf der Hand, dass diese Aufgabe angesichts dramatisch knapper öffentlicher Kassen in absehbarer Zeit nicht ein für allemal zu lösen sein wird. Die langfristigen Prognosen der Bevölkerungs- und Wirtschaftsentwicklung in den Randregionen unseres Landes sind wenig ermutigend. Dennoch wäre es völlig falsch, Problemen auszuweichen, nur weil es einfache und auf Anhieb durchschlagende Lösungen für sie nun einmal nicht gibt. Brandenburger warten nicht auf Wunder. Völlig zu Recht aber fordern sie von der Politik Orientierung, Ehrlichkeit und nüchternen Realitätssinn. Diese Diskussion über unser Bild von einer Gesellschaft der Zukunft ist kein theoretischer Luxus. Sie berührt das Grundverständnis der SPD. Unsere Grundwerte sind Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität. Ja, es ist richtig: Vieles ist im Wandel. Viele Instrumente und Konzepte sind heute aus der Zeit gefallen. Auf viele Herausforderungen

IV.

brauchen wir ganz neue Antworten. Aber die Grundwerte unserer Partei sind heute so aktuell, wie sie es damals waren. Nicht unsere Grundwerte müssen wir neu erfinden, wir müssen sie anwenden auf neue Probleme. Wie buchstabiert man Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität heute in einer veränderten Welt? Wie können wir unsere Grundwerte mit den Reformschritten so verbinden, dass sie heute schon das Bild einer besseren Zukunft für unser Land ergeben. Das ist der Ausgangspunkt für alle unsere Reformvorschläge. Alle einzelnen Schritte dienen diesem einen Ziel – eine bessere und sichere Zukunft in Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität. Unsere Initiativen sind darum Schritte auf einem Weg, dessen Ziel klar definiert ist. Das gilt für jedes Politikfeld. Bei all dem geht es um eine Politik der Reformen nach dem Leitbild sozialer Gerechtigkeit. Dafür bietet die SPD die beste Garantie. Denn der Kampf für mehr Teilhabe am Leben, für faire Chancen für alle, für Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität war das Gründungs- und Leitmotiv der SPD während ihrer langen 140-jährigen Geschichte. Gemeinsam mehr erreichen Manche singen heute das hohe Lied der individuellen „Eigenverantwortung“. Meine eigene Antwort darauf ist klar: Gut ist, was die Menschen stärkt. Aber perspektive21

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thema – 10 jahre „perspektive21“

eine vernünftige Alternative zum Leitbild der solidarischen Gesellschaft mit Rechten für alle, aber auch mit gegenseitigen Verpflichtungen kann ich nicht erkennen. Dieser Leitidee des gesellschaftlichen Zusammenhalts gerade in schwierigen Zeiten fühle ich mich selbst verpflichtet – aus Überzeugung, aber auch aus Lebenserfahrung. Jeder weiß doch: Wo alle gemeinsam anpacken, da lässt sich einfach mehr erreichen. Wo Menschen sich zu Hause fühlen Solche Überlegungen wären allerdings nicht viel wert, hätten sie keine praktischen Konsequenzen. Die aber ziehen wir in Brandenburg angesichts von Bevölkerungsrückgang, wirtschaftlichem und demografischem Wandel in vielfacher Weise. So stärkt es den inneren Zusammenhalt unseres Landes, dass wir für die verbesserte Erreichbarkeit aller seiner Regionen sorgen. Deshalb haben wir beim Bund den Bau der A 14 durchgesetzt, deshalb werden wir die Oder-Lausitz-Trasse bauen und auch den Elbe-Elster-Kreis verkehrstechnisch enger anbinden. Zugleich werden wir unser vorbildliches Regionalbahnsystem weiter verbessern und, um die Chancen der EU-Osterweiterung für unser Land zu nutzen, weitere Grenzübergänge nach Polen schaffen. Entschlossen fortsetzen werden wir zugleich den Abbau unnötig aufwändiger und überflüssiger Bürokratie, den 82

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wir mit der neuen Bauordnung, dem Naturschutz- und dem Denkmalschutzgesetz begonnen haben. Wenn wir die Zahl der Beschäftigten im Landesdienst im Zeitraum von 2000-2007 um insgesamt 12.400 Stellen verringert haben, dann bedeutet dies eben nicht nur eine dringend notwendige Sparmaßnahme. Vielmehr werden wir auf diese Weise zugleich die Voraussetzungen für übersichtliche und bürgerfreundlichere Verwaltungsstrukturen schaffen. Zukunft für alle in Brandenburg bedeutet vor allem auch die vielfältige Hochschullandschaft, die in den neunziger Jahren in unserem Land entstanden ist. Weil Wissenschaft heute wie nie zuvor die Basis für Arbeit und Wohlstand legt, nehmen wir unsere Forschungseinrichtungen weiterhin gezielt von Sparmaßnahmen aus. Auf keinem anderen Gebiet versprechen heutige Investitionen so viel zukünftigen Nutzen und Ertrag für unsere gesamte Gesellschaft. Aus den ständig wachsenden Netzwerken der Zusammenarbeit zwischen Hochschulen und Unternehmen entstehen die Innovationen, die unsere Unternehmen brauchen, um im Wettbewerb erfolgreich zu sein. Dass Brandenburg seinen hart erarbeiteten Ruf als „Wissenschaftsland“ weiter ausbaut, liegt deshalb im ureigenem Interesse aller Bürgerinnen und Bürger – auch derer unter uns, die selbst keine Forscher sind oder werden wollen. Zukunft entsteht, wo Menschen sich zu Hause fühlen können. Noch stärker


matthias platzeck – zukunft braucht herkunft (2003)

als bisher werden wir uns deshalb künftig auch auf die Erneuerung und Belebung unserer Innenstädte in den regionalen Zentren konzentrieren. Es sind vor allem diese Mittelpunkte des regionalen Lebens, in denen Lebensqualität ihren Ort hat und Wachstumspotentiale heranreifen. Überhaupt werden es gerade die vielen unspektakulärer Ideen und Vorhaben auf lokaler Ebene sein, die in der Summe dafür sorgen, dass Brandenburg auch in Zukunft ein lebenswertes Land für seine Bürgerinnen und Bürger bleibt. Oft ist hierbei gerade das Unscheinbare wichtig: Heute bereits hilft das moderne Konzept der Rufbusse, die den herkömmlichen Taktverkehr ersetzen, dabei mit, die Mobilität der Menschen in den Kreisen Uckermark und Barnim zu sichern. Zunehmend werden in Zukunft mobile Hausärzte und Apotheken, Waren und Dienstleistungen zu den Menschen kommen, wo der umgekehrte Weg zu weit oder zu beschwerlich wäre. Und Schulen wiederum können in Zukunft zu multifunktionalen Orten des Gemeinschaftslebens in ländlichen Regionen werden, an denen Vereinsleben und gelebter Bürgersinn ihren Mittelpunkt finden. Aber wir müssen noch weiter denken. Klar ist, dass Lebenschancen in Zukunft immer stärker davon abhängen werden, ob jemand genug weiß und kann: Im 21. Jahrhundert wird Bildung

V.

der entscheidende Schlüssel zu Arbeit und gesellschaftlicher Teilhabe sein. Zugleich wird es sich unsere Gesellschaft insgesamt schlicht nicht leisten können, dass Menschen ohne die Chance bleiben, ihre Potenziale so gut wie irgend möglich auszuschöpfen. Selbst wenn es derzeit noch unrealistisch erscheint: Schon in wenigen Jahren werden unserer Wirtschaft ausgebildete Fachkräfte fehlen – auch bei uns in Brandenburg. Jeder wird gebraucht Deshalb muss schon heute gelten: Jede und jeder einzelne wird gebraucht! Niemand ist überflüssig! Dass es keinen Nachteil für die Bildungschancen und damit zugleich die Lebensperspektiven von Menschen bedeuten muss, aus abgelegenen Regionen zu stammen, haben uns übrigens die skandinavischen Länder längst erfolgreich vorgemacht. Von ihnen können wir nicht nur in dieser Hinsicht eine Menge lernen. Für uns in Brandenburg bedeutet das, dass wir die schulischen Ganztagsangebote deutlich ausweiten werden. Und wir müssen mit der Sekundarschule eine unideologische, vernünftige Antwort auf die demographische Herausforderung der nächsten Jahre geben. Gewiss, der Weg in das in einem solidarischen Sinn moderne Brandenburg ist nicht leicht. Die Zeiten sind schwierig, die Mittel knapp – sie werden es auf perspektive21

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absehbare Zeit bleiben. Doch das Ziel meiner Politik ist sehr klar. Im 21. Jahrhundert muss Brandenburg ein Land für alle sein, die in ihm leben. Ein Land der Bildung und der lebenslangen

Chancen. Ein Land der guten Ideen und der wirtschaftlichen Dynamik. Ein modernes Land mit starken Traditionen. Anders wird es nicht gehen. Denn ohne Herkunft keine Zukunft. ■

MATTHIAS PLATZECK

war 2003 Ministerpräsident des Landes Brandenburg und SPD-Landesvorsitzender. Beide Ämter bekleidet er noch heute. 84

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Die Wunder der Streusandbüchse BRANDENBURG ZWISCHEN ZUKUNFT UND VERGANGENHEIT VON ALEXANDER GAULAND Der Beitrag des damaligen Herausgebers der größten Brandenburger Zeitung war und ist eine sehr lesenswerte „Liebeserklärung“ an die Mark Brandenburg – auch wenn er selbst dieses Wort wahrscheinlich ablehnen würde.

Dächer von Ziegel, Dächer von Schiefer, Dann und wann eine Krüppelkiefer, Ein stiller Graben die Wasserscheide Birken hier und da eine Weide, Zuletzt eine Pappel am Horizont, Im Abendstrahl sie sich sonnt. Auf den Gräbern Blumen und Aschenkrüge Vorüber in Ferne rasseln die Züge, Still bleibt das Grab und der Schläfer drin – Der Wind, der Wind geht darüber hin. Theodor Fontane ein, es ist nicht die Toskana, es sind auch nicht die bayerischen Schlösser und Seen. Die Landschaft ist karg,weit und ein wenig traurig. Das Land zwischen Elbe und Oder, das Kernland des alten Preußen gehörte nie zu den Sehnsuchtslandschaften der Deutschen. Man fuhr hindurch zu den mondänen Ostseebädern oder in die Weiten Ostpreußens und Masurens, auf die Kurische Nehrung, nach Königs-

N

berg oder Danzig. Brandenburg war zwar schon Kolonialland „Ostelbien“, aber eben noch nah an Magdeburg und Halberstadt, wo die deutschen Kaiser gotische Dome mit römischen Steinen gebaut hatten. „Gleich hinter dem Rennweg beginnt Asien“ hatte einst Metternich über das alte Österreich östlich von Wien geurteilt. Gleich hinter Berlin beginnt die russische Weite, könnte man das Wort abwandeln, blickt man von den Seelower Höhen nach Osten zur Oder. Und es waren diese letzten Ausläufer deutscher Mittelgebirge, die die russische Flut 1945 aufhalten sollten – vergebens wie wir wissen. Brandenburg liegt im Schnittpunkt zweier Welten, der zum Westen gehörenden mittelalterlichen und der in den Osten reichenden preußisch-slawischen. Irgendwo zwischen Havelberg und dem Oderbruch schlägt das Herz Brandenburgs. perspektive21

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Dass diese Landschaft aus Sand und Kiefern heute dennoch auf eine etwas angestrengte Weise zu den großen europäischen Kulturlandschaften zählt, verdanken die Brandenburger einer Dynastie und einem Dichter. Die Hohenzollern verwandelten die Seenlandschaft um Berlin und Potsdam in ein Kunstwerk, ein weltliches Arkadien, dessen Schönheit im seltsamen Gegensatz zu dem sandigen Boden steht, dem es abgerungen wurde. Es ist ein Wunder im Zentrum der Streusandbüchse des Reiches – wie die Mark verachtungsvoll genannt wurde – das in Europa seinesgleichen sucht. Man muss schon die Toskana, Venedig oder die LoireSchlösser aufsuchen, um ähnliches zu finden, und man begreift das Staunen der vielen Besucher über diese Anstrengung zur Schönheit. Und statt dass die „Katen“ des märkischen Adels daneben in der Bedeutungslosigkeit versanken, hat sie Theodor Fontane in seinen „Wanderungen durch die Mark Brandenburg“ auf gleiche Höhe gehoben. Die Hohenzollern bauten sich mit Sanssouci, Charlottenburg, Rheinsberg, Glienicke, Babelsberg, Charlottenhof, Paretz und dem Cecilienhof in die Herzen ihrer Untertanen. Fontane rettete Ruppin, Gransee, Wustrau, den Oderbruch, Friedersdorf und den Barnim vor dem Vergessen – oder besser noch – vor dem Nichtentdecktwerden. Und noch heute sieht man manchen Besucher vor den Schlössern 86

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der Mark statt mit einem ordinären Führer mit den „Wanderungen“ in der Hand stehen. Brandenburg, so kann man getrost sagen, ist eine Schöpfung Fontanes, nachdem es längst in Preußen aufgegangen war. Und noch heute erfährt man über Menschen und Landschaften mehr aus dem „Stechlin“ als aus jedem Handbuch über Land und Leute. Aus der Mark in die Welt Brandenburg hat eine lange Vorgeschichte unter den Askaniern und den frühen Hohenzollern, die aus Süddeutschland kamen und davor Burggrafen von Nürnberg waren, erlebte eine kurze Epoche künstlerischer Genialität, nachdem es politisch längst als Kernland der Dynastie von dem eigentlichen Preußen abgelöst worden war und sucht heute verzweifelt eine Zukunft in einer veränderten Welt. Brandenburg ist alles, was von Preußen geblieben ist, eine Idee, die einen Staat hatte – oder wie die Kritiker meinen, eine Armee, die ihn besaß. Nur einmal ist Brandenburg an der tete geritten, nicht in den Schlachten des großen Friedrich, sondern danach, nach seinem Tod, von 1790 bis 1840. Der preußische Klassizismus ist eine Brandenburger Schöpfung, und seine Vertreter sind fast ausnahmslos hier geboren, Gilly und Schinkel, Schadow, Rauch und Persius. Für ein Menschen-


alexander gauland – die wunder der streusandbüchse (2004)

alter bestimmten sie den Stil der Architektur und Skulptur in ganz Europa. Alle großen Bauten Berlins entstanden zwischen 1820 und 1840 in dieser Manier, die Neue Wache, das Schauspielhaus und das Alte Museum. Es ist verblüffend und kaum nachzuvollziehen, dass Deutschlands geistiges Zentrum für eine historische Sekunde nicht mehr im Geniewinkel des Südwestens, sondern in der Rüben- und Kartoffelwelt zwischen der Prignitz und der Uckermark lag. Nimmt man die Schreibenden hinzu, Heinrich von Kleist, die Schwerins, die Arnims, Fouqué und Chamisso, so wird auch der romantische Impetus aus der Mark in die Welt getragen. Fast alle Künste wachsen plötzlich auf dem Boden, der ganz zum Schluss mit Blechen, Menzel und Liebermann selbst noch in der Malerei die anderen Regionen Deutschlands hinter sich lässt. Doch es dauerte nur einen Sommer, ein kurzes Jahrhundert, der Rest ist ein langer Abschied, zu dem wohl Liebermanns Bilder am besten passen. „In den Staub mit allen Feinden“ „Die Mark“ – so Wolf Jobst Siedler, der beste Kenner ihrer Kultur und Geschichte – „hat alles hervorgebracht, erst das Kurfürstentum Brandenburg, dann das Königreich Preußen, schließlich das kurzlebige Deutsche Reich. Es ist, als ob sie sich dabei verzehrt habe.

Nun ist alles von ihr abgefallen, was ihr Bedeutung, Glanz und wohl auch Unheimlichkeit gab. Nun ist die alte Mark wieder auf sich selber zurückgeworfen; Brandenburg ist alles, was von Preußen geblieben ist. Legt man die Karte des heutigen Deutschland neben eine Karte aus Staufischer Zeit, so hält man wieder da, wo man vor einem Dreivierteljahrtausend stand, bevor man über die Oder ging und den Heiden und der Wildnis Land abgewann.“ Heute hat das Land wenig mehr als diese Vergangenheit, denn 40 Jahre Sozialismus haben hier größere Schäden hinterlassen als anderswo. Schon der Krieg war grausamer, da die Mark eben direkt auf dem Wege nach Berlin lag, und die letzten großen Schlachten des Weltkrieges – Seelow und Halbe – hier geschlagen wurden. Die Zerstörungen waren gründlicher als in Sachsen und Thüringen. Und dann war der Sozialismus nicht nur eine Absage an die überlieferten Herrschaftsverhältnisse, sondern an die Geschichte selbst. Vieles wurde dem Verfall preisgegeben, und von manchem Gutshaus ist nur noch der Baumbestand erhalten. Erst verließ das dem Hof und der Armee verbundene Bürgertum das Land, dann folgten die Handwerker und zuletzt die Bauern, die die Kollektivierung fürchteten. Die Industrie in Brandenburg, Hennigsdorf und Eisenhüttenstadt kämpft heute ums Überleben, und Neues ist kaum nachgewachsen. perspektive21

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„Heute“ – so noch einmal Wolf Jobst Siedler – „mutet die Welt zwischen dem Barnim und der Uckermark merkwürdig geschichtslos an, es fehlt, was ihr so lange Bedeutung gegeben hat: Bürger, Bauer, Edelmann.“ An die Stelle des wie der Fehlenden ist ein nostalgisches Heimatgefühl getreten, das auch die DDR-Vergangenheit einschließt. Manfred Stolpe und Regine Hildebrandt repräsentierten den daraus erwachsenen Politikstil. Doch was im Westen unter den Zumutungen des Reformdrucks manchmal belächelt wird – der Brandenburger Weg – enthält manches Gute. Es gilt noch der Satz: Wer verändern will, trägt die Beweislast. Man ist näher an der Vergangenheit, an den Wurzeln und an der Geschichte. Und

allmählich dämmert es allen, dass diese Vergangenheit die Zukunft ist. Ein Industrieland wird die Mark nicht, der Garten eines erneuerten Berlins schon. Auch deshalb liegt in der Fusion beider die eigentliche Chance, nicht für ein neues Preußen, aber doch für ein Bundesland, das der historischen Tradition auch eine wirtschaftliche Basis zu geben vermag. Insofern sind gerade die adligen Rückkehrer, die es gibt, wie die Marwitzens und die Hardenbergs, ein Zeichen für die Zukunftsfähigkeit der Wiege Preußens. Und in einem sind sich alle, ob zurückgekehrter Adel, wiedereinrichtende Bauern oder ehemalige Kommunisten, ob CDU, SPD oder PDS einig: „In Staub mit allen Feinden Brandenburgs.“ ■

ALEXANDER GAULAND

war Herausgeber der „Märkischen Allgemeinen Zeitung“ und ist heute Publizist. 88

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Brandenburg und das finnische Modell WARUM REGIONALE ENTWICKLUNG EINER STRATEGISCHEN VISION BEDARF VON TOBIAS DÜRR Dieser Text erschien mitten im Jahr der Landtagswahl 2004 und wurde zum Ausgangspunkt einer sehr intensiven Debatte über eine strategische Entwicklungsstrategie für Brandenburg. Bis dato wurde Finnland meist nur als Vorbild in Bildungsfragen angesehen. Der Beitrag von Tobias Dürr richtete den Blick auf den in Finnland in Gang gesetzten positiven Kreislauf aus Wirtschaft, Bildungs- und Familienpolitik. Finnland und das „skandinavische Modell“ wurden in Folge dieser Debatte zum Vorbild zahlreicher politischer Initiativen der Brandenburger SPD.

b eine Region pulsiert, hängt auch davon ab, ob sie weiß, was sie will und worin ihr besonderes Profil bestehen soll. In diesem Sinne benötigt Brandenburg eine neue orientierende Idee für seine Zukunft. Gebeutelt von krisenhaften Entwicklungen und einander wechselseitig verstärkenden negativen langfristigen Trends in Ökonomie, Demografie, Gesellschaft und öffentlichen Finanzen wird sich die Politik des Landes in den kommenden Jahren nicht darauf beschränken können, bloß sehenden Auges den wachsenden Mangel zu verwalten. Die Folgen wären unweigerlich fortgesetzter und beschleunigter Niedergang – sowie der Machtverlust derjenigen politischen Forma-

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tionen, die diesen Niedergang federführend administrieren. Angesichts aller erkennbarer Makrotrends ist völlig ausgeschlossen, dass sich eine grundlegende Umkehrung der Rahmenbedingungen gleichsam im Selbstlauf ereignen wird. Wie andere Regionen des klassischen Industrialismus auch, aber strukturell besonders benachteiligt, tritt Brandenburg in eine ganz neue Etappe seiner Geschichte ein. Damit wächst die Wahrscheinlichkeit gesellschaftlicher Verdrossenheit. Benötigt wird daher umso mehr eine zu Brandenburg passende, aber klar über seine derzeitigen Verhältnisse hinaus weisende strategische Vision – also das plausible Bild einer erstrebenswerperspektive21

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ten, machbaren Zukunft für das Land (beziehungsweise die Region). Nur vor dem Hintergrund einer solchen von allen wesentlichen Akteuren verinnerlichten, konsequent verfolgten und offensiv kommunizierten langfristigen strategischen Vision werden sich die unweigerlich bevorstehenden Rückschläge und Durststrecken der kommenden Jahre überstehen lassen. Und überhaupt nur langer Atem und eine geeignete strategische Vision für Brandenburg werden dazu führen, dass am Ende jener Rückschläge und Durststrecken eine lebbare und wünschenswerte Zukunft für Brandenburg möglich wird. Ob es dazu kommen wird, ist offen; als absolut sicher kann dagegen gelten, dass das Land Brandenburg (bzw. die gesamte Region Berlin-Brandenburg) ohne eine strategische Vision für das 21. Jahrhundert schweren Zeiten entgegen sieht. Ein neues Leitbild Es ist offensichtlich, dass Brandenburg nicht in der Lage sein wird, aus eigener Kraft ein ganz eigenes ökonomisches und gesellschaftliches Modell zu entwickeln. Das Land braucht Leitbilder, es kann von den Ideen und Erfolgen anderer profitieren, die sich in vergleichbar schwierigen Konstellationen „neu erfunden“ haben. Dabei geht es ausdrücklich nicht darum, fremde Erfahrungen unreflektiert 90

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zu kopieren; es geht darum, die richtigen eigenen Schlüsse zu ziehen. Ebenso wichtig bei der Auseinandersetzung mit Erfolgsgeschichten anderswo ist der psychologische Aha-Effekt, der sich mit der Einsicht verbinden kann, dass so etwas überhaupt möglich ist. Es kommt deshalb auch nicht darauf an, ob sich ein anhand der Erfolge anderer gewonnenes Leitbild in Brandenburg maßstabsgetreu „anwenden“ lässt – dies wird angesichts unterschiedlicher Voraussetzungen ohnehin niemals der Fall sein. Entscheidend ist die anschauliche Konkretion, die am geeigneten Beispiel gewonnene Erkenntnis der Machbarkeit von Aufbruch und Wandel. Aber an welchen Vorbildern, Modellen, Ideen, Prinzipien könnte sich Brandenburg überhaupt orientieren? Klar ist, dass jede ernst gemeinte strategische Ausrichtung – mindestens – den folgenden Anforderungen genügen muss: ■ Anschlussfähigkeit. Langfristig entstandene und traditionsreiche Sozialmodelle lassen sich aller Erfahrung nach nicht im Handumdrehen austauschen; es gilt das „Gesetz“ der Pfadabhängigkeit allen gesellschaftlichen Wandels. Jede noch so transformativ und radikal gemeinte Strategie muss daher – zumindest langfristig – zugleich doch anschlussfähig sein an die Vorstellungen, Mentalitäten, Einstellungen der Bevölkerung. Die Fragen lauten also: Ist diese strategische Vision öffentlich


tobias dürr – brandenburg und das finnische modell (2004)

vermittelbar? Verspricht sie – paradox gesprochen – Veränderungen im Dienste der Bewahrung dessen, was den Menschen vor allem wichtig ist? ■ Folgerichtigkeit. Auch Parteien und Politiker können sich nicht ohne weiteres neu erfinden. Plötzliche Traditionsbrüche und ansatzlos aus dem Hut gezauberte Identitätswechsel sind von vornherein zum Scheitern verurteilt. Die Fragen lauten: Ist die strategische Vision vereinbar mit den grundlegenden normativen Orientierungen der politischen Parteien und ihrer Repräsentanten, die sich für diesen Weg entscheiden (sollen)? Ist sie vereinbar mit den über lange Zeiträume entstandenen Erwartungshaltungen der Wähler und Aktivisten gegenüber diesen Parteien und Repräsentanten? ■ Erfolgsaussichten. Eröffnet die in Betracht gezogene strategische Vision tatsächlich eine motivierende und sinnstiftende Perspektive? Bietet sie einen gangbaren Weg? Oder bedeutet der großspurige Begriff „strategische Vision“, bei Licht betrachtet, nicht doch nur ein Synonym für „Wolkenkuckucksheim“ und „Phantasterei“? Was macht bei Berücksichtigung dieser Gesichtspunkte aus Brandenburger Sicht den Fall Finnland so interessant? Was lässt sich von Finnland lernen? Inwiefern kann eine strategische Vision für Brandenburg eher von finnischen Erfahrungen profitieren als von anderen?

In den vergangenen Jahren ist Finnland im Kontext der Aufregung um die PISA-Studie vor allem aufgrund seines im internationalen Vergleich herausragenden Schul- und Bildungswesens auf dem deutschen Radarschirm aufgetaucht. Auf diesem Gebiet lässt sich in der Tat viel abschauen und nacheifern. Dies ist allerdings umso sinnvoller, je weniger die eindrucksvollen finnischen Erfolge im Bildungssektor isoliert betrachtet werden. Die eigentliche „finnische Lehre“ ist weit umfassender. Finnland ist dasjenige Land, das wie kein anderes auf der Welt demonstriert, dass und wie sich ökonomische Dynamik, Informationsgesellschaft und modern verstandene Sozialstaatlichkeit wechselseitig bedingen, ja beflügeln können. Die Wirtschaft soll brummen Finnland kann heute gemeinsam mit den Vereinigten Staaten und Singapur als eine der wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensintensiven Volkswirtschaften weltweit gelten. In den Jahren 1996 bis 2000 erzielte Finnland ein jährliches Durchschnittswachstum von 5,1 Prozent gegenüber 4,3 Prozent in den USA und 2,6 Prozent in den EU-Staaten insgesamt. Die wirklich bemerkenswerte Erkenntnis lautet aber, dass Finnland diese Leistung auf völlig andere Weise erbringt als etwa die USA mit ihrem marktliberalen Modell Silicon Valley oder Singapur perspektive21

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mit seinem Modell einer autoritär gesteuerten Informationsgesellschaft. Unter allen relevanten Gesichtspunkten sozialer Gerechtigkeit (etwa Einkommensungleichheit, Exklusion, Armut, Bildungsniveau, Gesundheitsversorgung, staatliche Ausgaben für Forschung und Entwicklung, Gewährleistung öffentlicher Infrastruktur) steht Finnland heute im internationalen Vergleich herausragend da. Das Land führt exemplarisch vor, dass für erfolgreiche technologisch-ökonomische Entwicklung nicht der Preis steigender gesellschaftlicher Ungleichheit und Ungerechtigkeit entrichtet werden muss, sondern dass im Gegenteil einerseits soziale Gerechtigkeit sehr wohl eine entscheidende Ressource wirtschaftlichen Erfolgs sein kann, wie auch andererseits die notwendigen Mittel zur Gewährleistung sozialer Gerechtigkeit mittels herausragender ökonomischer Performanz erwirtschaftet werden. Handys statt Gummistiefel Manuel Castells und Pekka Himanen beschreiben genau diesen Zusammenhang als den „virtous circle“, der das finnische Entwicklungsmodell so interessant für bislang weniger erfolgreiche und entwickelte Länder und Regionen mache.* Dies gilt vor allem auch deshalb, weil Finnland (anders als die an* Manuel Castells und Pekka Himanen, The Information Society and the Welfare State. The Finnish Modell, Oxford 2002.

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deren nordischen Länder) vor noch nicht langer Zeit selbst ein bitterarmes, ja geradezu unterentwickeltes Agrarland war. Neustart nach Zusammenbruch Bis vor drei Generationen lebte der überwiegende Teil der Bevölkerung in technologischer Rückständigkeit von den mageren Erträgen der Forst- und Landwirtschaft. Und selbst Ende der achtziger Jahre noch beschäftigte sich die 1865 als Sägewerk und Papiermühle gegründete Firma Nokia mit der Produktion von Toilettenpapier, Gummistiefeln, Autoreifen und Fernsehern; heute ist Nokia das Unternehmen mit der höchsten Börsenkapitalisierung in ganz Europa. Und – aus ostdeutscher und brandenburgischer Perspektive ebenfalls besonders aufschlussreich – noch Anfang der neunziger Jahre, nach dem Zusammenbruch des benachbarten Handelspartners Sowjetunion und des gesamten Ostblocks, musste Finnland eine schwere Wirtschaftskrise überstehen: Innerhalb des Jahres 1994 schrumpfte das finnische Bruttosozialprodukt um volle 13 Prozent, während zugleich die Arbeitslosenquote von 3,5 auf 17 Prozent stieg. Es dürfte ohne weiteres auf der Hand liegen, dass die produktive finnische Verbindung von Sozialstaat und hoch dynamischer Informationsgesellschaft aus deutscher (und erst recht ostdeut-


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scher) wie zugleich auch aus sozialdemokratischer Perspektive deshalb besondere Attraktivität besitzt, weil hier offensichtlich ein spezifisches Innovations- und Entwicklungsmodell vorliegt, das im Einklang steht mit dem sozialstaatlichen, Gleichheit und Gerechtigkeit betonenden deutschen Sozialmodell sowie mit den fundamentalen Wertvorstellungen der sozialen Demokratie. Als Brüche mit diesen Traditionslinien empfundene Modernisierungspfade in die wissensintensive Wirtschaft (die Modelle „Silicon Valley“ oder „Singapur“) wären nach Lage der Dinge gesellschaftlich nicht vermittelbar. Aus der spezifischen Sicht Brandenburgs treten indes noch weitere Faktoren hinzu, die den Fall Finnland besonders interessant machen. Dies gilt in besonderem Maße unter sozialräumlichen Gesichtspunkten. Wie das deutsche Flächenland Brandenburg (tatsächlich noch in weitaus höherem Maße als Brandenburg) hat es Finnland mit den Schwierigkeiten zu tun, die sich im ökonomischen Modernisierungsprozess aus geringer Bevölkerungsdichte sowie der zunehmenden sozialökonomischen Abkoppelung und demografischen Überalterung peripherer Regionen ergeben. Ähnlich wie Brandenburg sucht Finnland nach Antworten auf das Problem des wachsenden Widerspruchs zwischen ökonomisch und demografisch boomenden metropolennahen

Regionen einerseits und zurückfallenden Randlagen. Dies ist die räumliche Dimension der übergeordneten Frage, auf welche Weise soziale Inklusion unter den Bedingungen einer zunehmend wissensbasierten Ökonomie überhaupt noch möglich sein kann. Alle mitnehmen Das Problem ist bekannt: „Je mehr die Informationsgesellschaft das große Leitmotiv des Landes insgesamt ist“, schreiben Castells und Himanen, „desto mehr fühlen sich diejenigen vom Fortschritt abgehängt, die nicht die Fähigkeiten besitzen, an diesem Leitmotiv teilzuhaben – am Ende könnten sie innerhalb der finnischen Informationsgesellschaft in einer Art innerer Exil leben.“ Genau dies zu verhindern ist ein zentrales Anliegen der finnischen Politik. Im Einklang mit dem expliziten Leitmotiv des finnischen Innovationsmodells, unter allen Umständen die gesamte Bevölkerung auf dem Weg in die Informationsgesellschaft mitzunehmen, sind in Finnland große Anstrengungen unternommen worden, auch abgelegenere Regionen technologisch und infrastrukturell auf das neue wissensökonomische Paradigma einzustellen. Aber auch die positive Kehrseite dieser Herausforderung teilt das rund um die deutsche Metropole Berlin gelegene Brandenburg mit Finnland. Denn das Korrelat zur Entvölkerung peripherer perspektive21

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Regionen ist die Entstehung von „Zwischenstädten“: Neuartigen Formen urbaner Agglomerationen. Im Übergang von den sozialräumlichen Strukturen der Industriegesellschaft zu jenen der Informationsgesellschaft erleben wir die größte Urbanisierungswelle aller Zeiten. In den neuartigen ausgedehnten, verkehrstechnisch und kommunikativ miteinander vernetzten Metropolenregionen konzentrieren sich heute und in Zukunft die Orte der Innovation, der Wertschöpfung, der Kultur und der Kommunikation. Damit sind diese Städte neuen Typs zugleich die Motoren von Wachstum und Kreativität in ihrem jeweiligen Hinterland – der Erfolg lokaler und regionaler Strukturen hängt ab von deren Einbindung in globale Netzwerke. Im Sog des Innovationsmilieus Wie die südfinnische Region von GroßHelsinki (und im Übrigen viele andere Metropolenregionen weltweit) befindet sich auch die Großregion von Berlin und Brandenburg mitten in einem Prozess der „konzentrierten Dezentralisation“ (Castells/Himanen) von Bevölkerung und ökonomischer Aktivität. Das bedeutet, dass wir einerseits überall die fortschreitende Ausdehnung und Dominanz urbaner Siedlungsgebiete vis à vis ländlichen Regionen erleben, dass die dabei entstehenden und wachsenden urbanen Strukturen aber andererseits immer we94

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niger dem industriegesellschaftlichen Muster von Zentrum und Vororten entsprechen. Zusammengenommen bilden diese neuartigen Agglomerationen der Informationsgesellschaft je eigene regionale Innovationsmilieus: integrierte Wertschöpfungs- und Wissenschaftscluster fortgeschrittener Produktion, Dienstleistung, Forschung und Kultur. Diese untereinander vernetzten MegaRegionen bieten mehr und bessere Arbeitsplätze, Bildungschancen und sonstige städtische Angebote. Damit üben sie enorme Sogwirkung auf die sie umgebenden Regionen aus. Der finnische Weg besteht darin, die großen Chancen dieser Entwicklung entschlossen und ohne schlechtes Gewissen zu nutzen – gerade um jene ökonomische Dynamik und Ressourcen hervorbringen zu können, die notwendig sind, um peripherer gelegene Regionen überhaupt an Wachstum, Wertschöpfung und Fortschritt teilhaben zu lassen. Castells und Himanen beschreiben vielversprechende Strategien (etwa im abgelegenen Nordkarelien), „der Informationsgesellschaft eine lokale und regionale Dimension zu geben.“ Hier könnten aus Brandenburger Sicht womöglich spannende Anknüpfungspunkte vorliegen. Zugegeben, für die höchst erfolgreiche Bewältigung des Weges von der Agrar- oder Industriegesellschaft in die moderne Wissensökonomie gibt es in Europa noch andere Beispiele. Oft wird voller Bewunderung der „keltische


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Tiger“ Irland genannt. Irland gehörte noch in den sechziger Jahren zu den Armenhäusern Europas; die irische ProKopf-Produktion betrug unter 50 Prozent des westdeutschen Wertes. Heute liegt Irland beim Sozialprodukt pro Kopf nicht nur über dem europäischen Durchschnitt, sondern hat auch Deutschland hinter sich zurückgelassen. „Irland ist heute das Wirtschaftswunderland Europas“, schreibt deshalb voller Bewunderung der liberale Ökonom Hans-Werner Sinn.* Und ebenso begeistert nennt Sinn zugleich die Faktoren, die den Aufstieg Irlands ermöglicht haben. Aufgerappelt aus Ruinen Zu diesen Faktoren gehört die irische Niedrigsteuerpolitik mit einem Einkommensteuersatz von nur 10 Prozent für große Unternehmen, ganz bewusst darauf ausgerichtet, internationales mobiles Kapital anzulocken; zu diesen Faktoren gehören daneben, so Sinn, „eine extrem liberale Wirtschaftspolitik nach amerikanischem Muster“ sowie „ein weit gehender Verzicht auf sozialstaatliche Einrichtungen“. Auf diese Weise, durch niedrige Steuern, niedrige Löhne und eine niedrige Staatsquote, habe Irland massive Kapitalimporte angelockt. „Aber das ist es eben, was eine hohe Standortqualität ausmacht“, resü* Hans-Werner Sinn, Ist Deutschland noch zu retten?, München 2003

miert Sinn: „Wir Deutschen könnten uns im Hinblick auf die Entwicklung in den neuen Ländern vom irischen Beispiel eine Scheibe abschneiden.“ Tatsächlich? Ist, ausgehend vom Status quo, wirklich eine erfolgversprechende strategische Vision für Ostdeutschland und besonders Brandenburg vorstellbar, die dezidiert auf niedrige Löhne und den weit gehenden Verzicht auf Sozialleistungen setzt? Und erst recht: Handelt es sich hier tatsächlich um ein Modell, dem Ostdeutsche sinnvoller Weise nacheifern sollten? Wohl eher nicht. Es ist ziemlich offensichtlich, dass jeder Versuch, Brandenburg „durch eine extrem liberale Wirtschaftspolitik nach amerikanischem Muster“ auf Vordermann zu bringen, mit den hier dominanten Einstellungsmustern sowie mit den Grundüberzeugungen sozialer Demokratie ganz unvereinbar wäre. Als Vorbild für ein Brandenburg unter sozialdemokratischer Regie erscheint Irland also angesichts der Ursachen seines ökonomischen Erfolgs ziemlich unbrauchbar. Das Gegenteil gilt für Finnland. Das Beispiel Finnland demonstriert so eindringlich wie kein zweites in Europa, wie ein vormals rückständiges Land mit Hilfe einer zu ihm passenden strategischen Vision zu Modernität und Wohlstand gelangen kann, ohne darüber seine Traditionen, seine Kultur und gesellschaftliche Identität aufzugeben – vor allem aber: perspektive21

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ohne eine Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik zu betreiben, die auf Niedriglöhne und Sozialdumping setzt. Auch Hans-Werner Sinn zählt Finnland zu den vorbildhaften Staaten in Europa, die heute „die Nase vorn“ haben. Das Land habe sich in den neunziger Jahren „aufgerappelt und zu einem soliden Wachstum gefunden“. Dass Finnland auf dem Weg zu diesem Erfolg einen geradezu diametral anderen Kurs eingeschlagen hat als Irland, also eine gänzlich andere strategische Vision verfolgt und auf völlig andere Instrumente setzt, bleibt dabei ganz und gar unberücksichtigt. Doch eben auf diesen Unterschied kommt es an. Unter den – oben genannten – Gesichtspunkten der Anschlussfähigkeit und der Folgerichtigkeit sozialer und ökonomischer Innovationsprozesse hat Finnland die für Brandenburg zweifellos weit aufschlussreichere Strategie gewählt. In ihrer Studie zum finnischen Modell legen Castells und Himanen wert auf den Hinweis, dass ihre Absicht natürlich nicht darin bestehe, Finnland

schlechthin als Blaupause für andere Gesellschaften und Regionen zu beschreiben. Deshalb nochmals: Unmittelbar nachahmen lässt sich der singuläre Aufstieg Finnlands sicherlich nirgendwo, und bekanntlich ist ein brandenburgisches Nokia derzeit nirgendwo auch nur am Horizont zu erkennen. Sofern der Fall Finnland eine zentrale ermutigende Lehre enthält, dann diejenige, dass eine benachteiligte Gesellschaft oder Region auch unter den Bedingungen von Globalisierung und Wissensökonomie nicht bloß vor der Alternative zwischen trostlosem Weiter-so und rasender Anpassung an marktradikale Lehren steht. Die Kombination von inklusiver Gesellschaft, kultureller Identität, moderner Sozialstaatlichkeit und rundum wettbewerbsfähiger Ökonomie – „information technology with a soul“ (Castells/ Himanen) – erscheint nicht nur möglich, sondern bedeutet langfristig zweifellos auch die erfolgversprechendere Option. Das Unterfangen, eine strategische Vision für Brandenburg zu entwickeln, sollte aus dieser Zuversicht heraus begonnen werden. ■

DR. TOBIAS DÜRR war und ist Politikwissenschaftler, Publizist und Chefredakteur der Zeitschrift „Berliner Republik“.

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Neue Leitern braucht das Land ÜBER DIE AUFGABEN DER SOZIALDEMOKRATIE IN DEN NÄCHSTEN JAHREN VON GÜNTER BAASKE Kurz vor der Bundestagswahl 2005 skizzierte Günter Baaske die Themenkomplexe, die die SPD – unabhängig vom Wahlausgang – angehen müsse. Vor allem müsse die SPD ihr altes Aufstiegsversprechen erneuern – ein zentrales Thema in der Debatte um das neue Grundsatzprogramm. Ein Jahr vor der breiten öffentlichen Debatte in Deutschland spricht Baaske in seinem Beitrag auch über das Entstehen eines „neuen sozialen Unten“.

„Die Werte der Rechten werden an den Börsen gehandelt. Die Werte der Linken sind mitten im Herzen.“ José Luis Zapatero n den vergangenen Jahren ist etwas fast unerwartetes passiert. Deutschland hat sich bewegt. Entgegen allen Unkenrufen sind Reformen in Kraft getreten, die das Land vorwärts bringen. Mehr Eigenverantwortung im Gesundheitswesen, endlich mehr Fördern und Fordern auf dem Arbeitsmarkt, mehr Freiheiten im Wirtschaftsleben, niedrigere Steuersätze, mehr Ganztagsschulen, mehr Mittel für Wissenschaft und Forschung. Jetzt

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und sofort Ergebnisse einzufordern ist zu früh. Vieles wird einige Zeit brauchen, bis es wirken kann. Doch die Sozialdemokratie hat jeden Grund, stolz darauf zu sein, dass sie das Land verändert und bewegt hat. Es gilt aber auch: Die Reformen in Deutschland müssen weitergehen. Vieles ist noch zu tun. Das wichtigste Ziel dabei muss sein: Den brüchigen Zusammenhalt in Deutschland neu herstellen – zwischen Jung und Alt, zwischen Oben und Unten, zwischen Ost und West. Diesen Dreiklang ertönen zu lassen, ist die zentrale Aufgabe für die Sozialdemokratie der kommenden Jahre. Doch dafür sind einige neue programmatische Ansätze nötig. perspektive21

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Im Sommer 2004 gingen Zehntausende in Ostdeutschland auf die Straße. Sie protestierten gegen Hartz IV, sie sprachen über Ungerechtigkeiten, über das Gefühl, Menschen zweiter Klasse zu sein. Die Arbeitsmarktreformen waren der Anlass für eine Protestwelle, wie sie die neuen Länder seit 1989 nicht mehr gesehen hatten. Der Unmut hatte sich aufgestaut nach Jahren der Massenarbeitslosigkeit, nach Jahren der großflächigen Abwanderung junger Menschen, nach Jahren der enttäuschten Hoffnungen. Da waren nicht nur Arbeitslose auf der Straße, sondern auch Unternehmer, Großeltern, Angestellte – der Protest reichte bis weit in die gesellschaftliche Mitte hinein. Seit nunmehr einem vollen Jahrzehnt gibt es in Ostdeutschland kein signifikantes Wirtschaftswachstum mehr, seit einem vollen Jahrzehnt stockt der Aufholprozess, seit einem vollen Jahrzehnt haben wir uns an Arbeitslosenquoten von 20 Prozent gewöhnt. Eine solch lange Phase wirtschaftlicher Depression hat es in Deutschland seit dem Anbruch der Industrialisierung noch nicht gegeben. Fast müsste man verwundert sein, dass der Aufschrei erst so spät kam.

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Ein Teufelskreis Im September 2003 gerät der 24-jährige Denny im sächsischen Borna in die Hände einer Horde junger Männer und Frauen. Sie foltern, vergewaltigen und malträtieren ihr Opfer so lange, bis sich 98

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dieser vor Scham und Entsetzen selbst das Leben nehmen will. Der Rausch aus Gewalt und Aggressivität der Täter speist sich aus der Ohnmacht und Lähmung, die ihr Leben durchziehen. Solche unvorstellbaren Grausamkeiten sind leider kein Einzelfall. Nicht nur im Osten Deutschlands reagieren verwahrloste und desillusionierte Jugendliche ihre Wut an unschuldigen Opfern ab. Und (fast) immer ist die Lage dieser Jugendlichen geprägt von Arbeits- und Hoffnungslosigkeit, von Sprachlosigkeit und Frustration. Dies sind nur Schlaglichter. Sie haben jedoch eins gemeinsam: In unserem Land haben viele Menschen die Hoffnung aufgegeben. Hoffnung auf Arbeit, auf Teilhabe an der Gesellschaft, auf Zukunft. Sie sind arbeitslos oder in einem Job, der ihnen gerade noch so über die Runden hilft. Diese Menschen haben sich ausgeklinkt. Sie nehmen kaum noch am öffentlichen Leben teil, ihnen ist die Gesellschaft, auch die Demokratie egal. Sie haben den Glauben verloren, dass der Staat etwas für sie tun könnte. Sie fühlen sich ohnmächtig, machtlos und ausgeliefert. Es ist ein neues „soziales Unten“, andere sagen eine „neue Unterschicht“ entstanden in Deutschland. Parallel dazu gibt es, bis weit in die gesellschaftliche Mitte hinein, tiefe Verunsicherung über den Zustand des Landes. Menschen, die sich bisher keine Gedanken über ihre persönlichen Chancen machen mussten,


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sorgen sich über ihre beruflichen Perspektiven. Kaufzurückhaltung, Pessimismus und Frustration machen sich breit. Und die Sozialdemokratie hat es verpasst, diese Menschen und ihre Sorgen wahrzunehmen, ihnen zuzuhören, ihnen politische Angebote zu unterbreiten. Genau deshalb sind diese Menschen von der SPD enttäuscht. Schließlich war es diese Partei, die sozialen Aufstieg versprochen hatte. Es könnte sein, dass die SPD für diese Vernachlässigung bei der nächsten Bundestagswahl bestraft wird. Nichts ist also nötiger, als diese Sorgen und Nöte Ernst zu nehmen. Die SPD hat die letzten beiden Wahlen gewonnen, weil sie die politische Mitte umworben und gleichzeitig sozialen Randgruppen Perspektiven aufzeigen konnte. Diesen Weg müssen wir weitergehen. Die Sozialdemokratie täte deshalb gut daran, sich den neuen gesellschaftlichen Herausforderungen zu stellen. Dazu muss sie eine vernünftige Politik für die Mitte entwickeln und gleichzeitig neue Brücken in das verloren gegangene Milieu der sozial Schwachen schlagen. Und so für mehr sozialen Zusammenhalt in ganz Deutschland sorgen. Sozialer Aufstieg war das zentrale Versprechen der Sozialdemokratie. Mit diesem Anspruch gewann die SPD im alten Westen in den sechziger und siebziger Jahren die Wahlen. Das Aufstiegsversprechen wurde über den

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massiven Ausbau von Bildungseinrichtungen und -chancen sowie dem Ausbau des Sozialstaates eingelöst. Doch bereits seit dem ersten Ölschock von 1973 erhielt das sozialdemokratische Versprechen erste Löcher. Ein zweites Aufstiegsversprechen führte die SPD dann in den neunziger Jahren nochmals zu großen Wahlerfolgen. Gerhard Schröder konnte 1998 und 2002 die Wahlen gewinnen, weil die Menschen mit ihm die Aussicht auf wirtschaftliches Wachstum, auf Lebensperspektiven und in Ostdeutschland die Chance verbanden, nicht mehr Passagier zweiter Klasse auf dem neuen Dampfer Deutschland sein zu müssen. Gerechtigkeit und Aufstieg Doch das neue Aufstiegsversprechen konnte die Sozialdemokratie nicht einlösen. Der Sozialstaat ist unter Druck geraten, unter anderem durch Globalisierung, verpasste Wege in die Wissensgesellschaft und massive demografische Veränderungen. Dies sind keine Erfindungen irgendwelcher bösen Mächte, Neoliberaler gar: ■ Fakt ist, dass es heute viele Länder – selbst in unserer unmittelbaren Nachbarschaft gibt, in denen man billiger produzieren kann als in Deutschland. ■ Fakt ist, dass Wissen und Informationen die entscheidenden Faktoren für ökonomischen Erfolg sind – und perspektive21

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dass es darauf ankommt, eben solches Wissen zu generieren und anzuwenden. Und Fakt ist auch, dass die Deutschen älter und weniger werden. Brandenburg wird am Ende des nächsten Jahrzehnts 33 Prozent mehr Rentner, 12 Prozent weniger Erwerbsfähige und 16 Prozent weniger Kinder haben.

Die Grundlagen unseres Gemeinwesens wandeln sich tagtäglich. Es hilft also nichts: Wir müssen an die Spitze der Bewegung. Wer den Sozialstaat reformieren, wer glaubwürdig Gerechtigkeit versprechen und Aufstiegschancen eröffnen will, muss offensiv nach Wegen suchen, wie er dies erreichen kann. Wouter Bos, der Chef der niederländischen Arbeitspartei, sagt dazu: „Wir Sozialdemokraten sind gut beim Verteidigen der sozialen Sicherheit, aber nicht so gut beim Anprangern ihres Missbrauchs. Wir sind gut beim Verteidigen des Sozialstaates, aber nicht so gut beim Lösen seiner Finanzprobleme. Wenn wir diese Probleme unserem politischen Gegner überlassen, werden sie nicht nur diese Probleme lösen, sondern auch die Ideale, die hinter dem Wohlfahrtsstaat stehen.“ Angst ist also ein schlechter Ratgeber. Die Sozialdemokratie muss sich darüber im Klaren sein, dass Gerechtigkeit und Wohlstand nur zusammen mit Innovation und Wachstum zu haben sind – und nicht mit dem Beharren auf alten Model100

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len, deren Voraussetzungen sich erledigt haben. Wenn es gelingt, die gesellschaftliche und wirtschaftliche Dynamik in Deutschland wieder in Gang zu setzen, wird es auch möglich sein, mehr Gerechtigkeit und Aufstiegschancen zu eröffnen, neue soziale Leitern aufzustellen. Diese Gleichzeitigkeit zu bewerkstelligen ist die große Schwierigkeit. Dass dies möglich ist, zeigt jedoch eine Reihe anderer europäischer Länder. Wie können neue Leitern in unserer Gesellschaft eingezogen werden? Ich möchte fünf Beispiele nennen. ■ Wir brauchen neue Leitern für Kinder und Familien. Nach wie vor stellen Kinder ein finanzielles Risiko dar. Jedoch: Eine Familie zu gründen, Kinder zu haben, ist ein großes Glück. Angesichts der demografischen Falle, in der wir uns befinden, brauchen wir wieder mehr Kinder – vor allem in Ostdeutschland, wo der Einbruch der Geburtenrate am stärksten war. Dass heißt, die Rahmenbedingungen für Familien so zu verändern, dass es ihnen leicht gemacht wird, Familie tatsächlich als Glück zu begreifen, Familie und Beruf unter einen Hut zu bekommen. Dazu gehört beispielsweise ein Elterngeld, das sich am letzten Nettolohn orientiert – so wie es in Skandinavien erfolgreich praktiziert wird. Das mag auf den ersten Blick nicht sonderlich

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günter baaske – neue leitern braucht das land (2004)

„gerecht“ klingen. Doch wir müssen auch konstatieren, dass das bisherige System nicht zu mehr Kindern geführt hat und darüber hinaus gut ausgebildete junge Frauen vor die Wahl gestellt hat: Kind oder Karriere. Was ist daran gerecht? Wir brauchen ein System von Familienberatung und -betreuung, mit dem Kinder und Eltern Unterstützung bekommen. In Finnland gibt es Familienzentren, die ihre Dienste bereits während der Schwangerschaft und darüber hinaus bis zum 7. Lebensjahr der Kinder anbieten. Das finnische System trägt dazu bei, Familien zu unterstützen und Kindern zu mehr Erfolg in der Schule zu verhelfen. Was in Finnland gilt, gilt auch bei uns: Wir können es uns in Zukunft nicht mehr erlauben, auch nur ein einziges Kind zurück zu lassen. „Alles wird besser“ – war die Botschaft der jüngsten Pisa-Studie. Aber (noch) nichts ist gut, ist man geneigt hinzuzufügen. Die deutschen Schüler sind in das Mittelfeld der OECD vorgerückt. Das reicht bei weitem noch nicht. Nach wie vor gilt: Wir geben viel Geld in das System Bildung – was das angeht, können die Deutschen in der OECD durchaus mithalten. Doch wir geben es falsch aus. Langes gemeinsames Lernen und individuelle Förderung spornt Kinder an, erhöht ihre soziale Kompetenz und ihre schulischen Leistun-

gen. Nirgendwo hängt der Bildungserfolg so sehr mit hohem sozialen Status zusammen wie in Deutschland. Darauf können wir nicht stolz sein. Nur mit individueller und ganzheitlicher Betreuung der Kinder werden wir einen Beitrag dazu leisten können, dass alle Kinder die Chance haben, einen guten Start ins Berufsleben zu haben. In Brandenburg haben wir mit der sechsjährigen Grundschule und dem in Deutschland geringsten Zusammenhang zwischen Bildungserfolg und hoher sozialer Herkunft schon einen wichtigen Baustein gelegt. Aber auch in Brandenburg müssen wir noch einiges mehr tun, um die Qualität von Schule zu erhöhen sowie die Motivation von Lehrern und Schülern zu verbessern. Wir wissen, dass wir keine großen neuen Industrieansiedlungen herbeibefehlen können. Deshalb ist es umso wichtiger, den Kindern das Rüstzeug zu geben, in einer sich verändernden Welt zurecht zu kommen. Auch wenn das bedeuten kann, dass sie ihre Heimat verlassen müssen, um woanders einen ordentlichen Job zu bekommen. Und die Voraussetzung dafür ist und bleibt eine gute Ausbildung. Wir brauchen eine kleine Revolution, um Wissen schneller in Produkte und Dienstleistungen umzuwandeln und Wachstumshürden zu beseitigen. Warum braucht es in perspektive21

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Deutschland mindestens sechs Wochen, um eine kleine Kapitalgesellschaft zu gründen, während das in anderen Ländern in einer Woche zu schaffen ist? Wenn wir unser soziales Netz erhalten wollen, müssen wir es auch ermöglichen, dass Menschen die Chance haben, Arbeit und Wohlstand zu schaffen – und damit die Grundlage für den Sozialstaat sichern helfen. Wer soziale Sicherheit für Bedürftige bietet, muss gleichzeitig auch berufliche und soziale Flexibilität und Mobilität bieten. In Dänemark hat dieses Modell der flexicurity* geholfen, die Arbeitslosenzahlen massiv zu senken. In Stadtteilen mit hoher Arbeitslosigkeit und großen sozialen Spannungen schaffen early excellence centres in Großbritannien neue Zuversicht für Familien. In diesen Zentren wird Berufsberatung für Eltern, Bildung und Ausbildung für Eltern, Früherkennung und Intervention im Falle bedürftiger Kinder, Tagesbetreuung und Kooperation mit Gesundheitswesen, Unternehmen und sozialen Dienste miteinander verknüpft. Early excellence centres stiften Hoffnung für Familien, die an den Rand der Gesellschaft gedrängt wurden – und mit sich und der Gesellschaft nicht mehr klar kommen. Über diese Zentren können vor allem Kinder in

* Flexicurity als Verbindung von wirtschafts- und arbeitsmarktpolitischer Flexibilität und hoher sozialer Sicherheit (security)

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sozial schwierigem Umfeld gefördert und Eltern stärker in die Pflicht genommen werden. In den neuen Ländern gibt es bereits etliche Gegenden, die seit einem Jahrzehnt eine Arbeitslosenrate von über 20, 25 Prozent haben – das hinterlässt Spuren bei Erwachsenen und Kindern. Die Folgekosten sind enorm – und wir können nicht sagen, dass die bisherigen Maßnahmen von großem Erfolg gekrönt waren. Neue vorbeugende statt nachträglich reparierende Ansätze sind deshalb nötig. Wenn es uns gelingt, diese fünf Leitern in Deutschland aufzustellen, dann werden wir mehr Gerechtigkeit nicht nur ermöglichen, sondern auch dauerhaft sichern. Der enge Zusammenhang zwischen Bildung, Familie, Arbeit und Wohlstand ist der Schlüssel für die Reformen unserer sozialen Sicherungssysteme. Wir können an der Rentenformel so viel herumdoktern wie wir wollen. Entscheidend ist, die Voraussetzungen zu verändern, unter denen die Formel bestehen kann. Und dazu gehören nun einmal mehr Kinder und mehr Arbeitskräfte mit hoher Wertschöpfung. Der Mensch steht im Mittelpunkt. Das ist und bleibt das Credo der Sozialdemokraten. Diesen Test müssen wir jeden Tag neu bestehen. Wenn wir wollen, dass Menschen am Gemeinwesen und unserem gesell-

IV.


günter baaske – neue leitern braucht das land (2004)

schaftlichen Wohlstand teilnehmen können, müssen wir uns jeden Tag neu anschauen, ob die Voraussetzungen dazu erfüllt sind. Ein starker Sozialstaat ist kein Selbstzweck. Er erfüllt seinen Zweck nur, wenn er es ermöglicht, für Menschen, die auf den Sozialstaat angewiesen sind, Brücken in ein Leben auf eigenen Beinen zu bauen. Das heißt Unterstützung – wo erforderlich – sicherzustellen. Und die nötige Kraft zu geben, um aus der Bedürftigkeit wieder herauszukommen. Dabei dürfen die Voraussetzungen für soziale Gerechtigkeit niemals aus den Augen geraten. Genau genommen sind die Voraussetzungen und die Ziele des Sozialstaates dieselben. Soziale Sicherheit kann nur garantieren, wer eine funktionierende Wirtschaft ermöglicht. Dazu gehören zwei Dinge. Die wettbewerbsfähige Ökonomie des 21. Jahrhunderts ist zum einen auf Hochtechnologie, Innovation und Wissen angewiesen – der Rohstoff dafür ist Bildung, Bildung, Bildung. Das wiederum bedeutet, möglichst allen Kindern dieselben guten Bildungschancen zu geben – und sie individuell zu stärken, um keines der Kinder auf dem Weg zu einem vernünftigen Berufsabschluss zurückzulassen. Das schließt Unterstützung für Familien ein. Und zweitens braucht ein funktionierender Sozialstaat Nachwuchs. Die deutschen Sozialsysteme funktionieren über Produktivitätssteigerung – und über inter-

generationelle Solidarität. Im Klartext: Wir können so viel und so gut produzieren wie wir wollen, für die Alterssicherung brauchen wir trotzdem mehr Kinder. Und auch hier gilt deshalb: Die Familie muss im Mittelpunkt stehen. Mehr Mut Die enge Verknüpfung von Familien-, Bildungs- und Wirtschaftspolitik ist der Schlüssel dafür, unseren Sozialstaat besser zu machen und Teilhabe am gesellschaftlichen Wohlstand zu ermöglichen. Sie ist aber gleichzeitig auch die Bedingung dafür, dass der Sozialstaat überhaupt möglich ist – vor allem auch in Zukunft. Wer die sozialen Sicherungssysteme erhalten will, kommt an diesem Zusammenhang nicht vorbei. Wenn Sozialdemokraten in Zukunft wieder für den sozialen Aufstieg von Menschen stehen wollen, werden sie ihre Politik neu justieren müssen. Die Reformen der vergangenen Jahre waren erste Schritte in diese Richtung, doch viele weitere Schritte sind nötig. Dafür ist eine tiefe gesellschaftliche Diskussion nötig. Diese Diskussion nicht geführt zu haben, war das zentrale Manko der SPD in den vergangenen Jahren. Deshalb fehlt es der SPD heute so stark an Vertrauen. Für die neue Diskussion braucht es viel Mut: Mut zur Auseinandersetzung mit Gewerkschaften, mit Unternehmern, mit Eltern, Schülern, Lehrern ... perspektive21

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Wer eine lernende Gesellschaft will, braucht eine lernende Partei. Deshalb ist es an der Zeit, in eine intensive Debatte einzusteigen über die Voraussetzungen und die Ziele von sozialer Gerechtigkeit, über die Voraussetzungen und Ziele von Sozialdemokratie. Wer diese Diskussion ernsthaft führt, hat die Zukunft schon fast gewonnen. Und nur die Sozialdemokraten können glaubhaft eine ehrliche politische Perspektive von links bis in die Mitte anbieten. Sie können den sozial engagierten Mittelschichten neue Chancen eröffnen. Und gleichzeitig dem neuen „sozialen Unten“ eine Re-Integration in die politische Kultur des Landes anbieten. Ihnen helfen weder die Heilsversprechungen Ewiggestriger, noch die Radikalkuren der Marktliberalen.

In Brandenburg haben wir Sozialdemokraten gute Erfahrungen gemacht. Wir haben im Herbst 2004 eine Landtagswahl gewonnen, weil wir die ehrliche Diskussion mit den Menschen geführt haben. Und wir haben im Frühjahr 2005 eine Debatte über die Zukunft unseres Landes gestartet. Eine Debatte, in deren Zentrum der tief greifende demografische Wandel steht. Solche Diskussionen gehen nicht ohne Irritationen, ohne Provokationen und ohne Missverständnisse ab. Doch nach einem halben Jahr stellen wir fest: Die Menschen mischen sich ein. Sie beteiligen sich. Und im Land bewegt sich etwas. Genau das ist das Ziel von Sozialdemokraten. Auch in den kommenden Jahren. ■

GÜNTER BAASKE

war und ist Fraktionsvorsitzender der SPD im Brandenburger Landtag. Seit 2006 ist er auch stellvertretender SPD-Landesvorsitzender. 104

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Technologie, Talente, Toleranz EUROPA IM KREATIVEN ZEITALTER VON RICHARD FLORIDA UND IRENE TINAGLI* Wenn es um die Chancen von Regionen und die Voraussetzungen für dynamische Ökonomien geht, verweist der Amerikaner Richard Florida auf die drei „T’s“: Technologie, Talente und Toleranz. 2006 erschienen Floridas spannende Thesen erstmals auf Deutsch – in der Perspektive 21. Seitdem befruchten sie die politische Debatte in Brandenburg – aber auch darüber hinaus.

reativität ist die treibende Kraft des wirtschaftlichen Wachstums. Vor ungefähr einem Jahrhundert verwandelten sich die Ökonomien der Vereinigten Staaten und Europas von landwirtschaftlich zu industriell geprägten Systemen. Menschen aus ländlichen Regionen siedelten sich in massivem Umfang in den wachsenden städtischen Zentren an. Dies löste eine ganze Serie umfassender demografischer, sozialer, wirtschaftlicher und kultureller Umbrüche aus. Heute durchlaufen die Vereinigten Staaten und Europa erneut eine Periode der durchgreifenden ökonomischen und gesellschaftlichen Transformation – diesmal von der industriellen zur kreativen Wirtschaft.

K

* Es handelt sich hierbei um die überarbeitete Übersetzung einer 2004 beim britischen Think Tank Demos UK erschienenen Studie.

Die Kreative Wirtschaft ist im Laufe des vergangenen Jahrhunderts beträchtlich gewachsen, wobei sich der größte Wachstumsschub erst in den vergangenen zwei Jahrzehnten zugetragen hat. Vor 100 Jahren, zu Beginn des 20. Jahrhunderts arbeiteten weniger als 10 Prozent der Erwerbstätigen im kreativen Sektor der Wirtschaft. Noch 1950 waren es weniger als 15 Prozent. Doch im Laufe der vergangenen zwei Jahrzehnte hat sich Kreativität zum Motor unserer Wirtschaft entwickelt, der kreative Sektor ist geradezu explodiert. Heute arbeiten in den entwickelten Industrienationen zwischen 25 und über 30 Prozent der Erwerbstätigen im kreativen Sektor der Wirtschaft. Sie sind beschäftigt in der Wissenschaft oder in Ingenieurberufen, in Forschung und Entwicklung, in technologiegestützten Industrien, in Kunst, perspektive21

105


thema – 10 jahre „perspektive21“

Musik oder Kultur, in den Ästhetik- und Designbranchen oder in den wissensbasierten Feldern der Gesundheitswirtschaft, des Finanzwesens und des Rechts. In den Vereinigten Staaten wird heute bereits die Hälfte aller Erwerbseinkommen im kreativen Wirtschaftssektor verdient – so viel wie in Industrie und Dienstleistungen zusammen. Das Zeitalter, in dem wir leben, ist tatsächlich eine Ära der großen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Transformation. Der gegenwärtige Umbruch ist genauso groß wie – oder vielleicht größer als – der von Karl Marx beschriebene Umbruch von der Agrarwirtschaft zur Industriegesellschaft. Die damalige Verschiebung ersetzte eine Art von physischem Einsatz (Land und menschliche Arbeitskraft) durch eine andere (Rohstoffe und Maschinenkraft). Dagegen basiert die gegenwärtige Transformation auf menschlicher Intelligenz, auf Wissen und Kreativität. Das ist eine enorme Veränderung. Es sollte uns daher nicht wundern, dass daraus unzählige Veränderungen in unseren Gesellschaften, in unserer Kultur, an unseren Arbeitsplätzen und unserem täglichen Leben folgen. Diese Veränderungen haben sich über Jahrzehnte angebahnt, und sie werden unsere Gesellschaften in den bevorstehenden Jahrzehnten prägen. Kreativität ist ein Grundelement der menschlichen Existenz. Jeder einzelne Mensch ist kreativ und besitzt kreatives Potential. Kreative Genies spielen eine 106

oktober 2007 – heft 35

ganz eigene Rolle, aber davon abgesehen ist Kreativität vor allem ein breit angelegter sozialer Prozess, der Zusammenarbeit erfordert. Sie wird stimuliert durch menschlichen Austausch und durch Netzwerke; sie findet statt in tatsächlichen Gemeinschaften und an realen Orten. Wir können nicht mehr prosperieren und wachsen, indem wir bloß die kreativen Talente einer Minderheit anzapfen. Wenn wir wirklich Wohlstand erzielen wollen, dann muss jeder einzelne Mensch ganz ins System integriert werden – und zwar dadurch, dass er durch kreative Arbeit zu größerer Wertschöpfung beiträgt. Dies zu tun, wird die Einkommen der Menschen erhöhen und unsere Volkswirtschaften stärken. Zugleich wird es unsere regionalen Ökonomien – und unser Leben – in ein besseres Gleichgewicht bringen. Der globale Wettbewerb und die kreative Ökonomie sind heute weit offene Felder. Viele glauben, die Vereinigten Staaten lägen uneinholbar weit vorn. Doch die Position Amerikas ist prekärer als oftmals angenommen wird. Die Vereinigten Staaten besitzen sicherlich viele Wettbewerbsvorteile. Im Laufe des vergangenen Jahrhunderts haben sie die stärkste und dynamischste Ökonomie der Welt aufgebaut. Dies gelang durch die Entwicklung ganz neuer industrieller Sektoren, durch die Beibehaltung einer freien und offenen Gesellschaft, durch Investitionen in wissenschaftliche und kulturelle Kreativität und vor allem da-


richard florida, irene tinagli – technologie, talente, toleranz (2006)

durch, dass die Vereinigten Staaten tatkräftige und intelligente Menschen von überall her anzogen. Aber Ökonomien sind immer im Übergang. Menschen wandern weiter, Spitzenpositionen gehen so schnell verloren, wie sie errungen wurden. Deshalb ist Kreativität eine Fähigkeit, der immer wieder kultiviert und erneuert werden muss. Bereits im Jahr 1999 veröffentlichte der amerikanische Rat für Wettbewerbsfähigkeit einen Bericht, der warnte, dass die USA ihre „Innovations-Infrastruktur“ vernachlässigten, „während andere Nationen ihre Anstrengungen verstärken“. Seither hat sich die Kreativitätslücke noch weiter geschlossen. Schlüsselelemente des globalen Wettbewerbs sind nicht mehr der Handel mit Gütern und Dienstleistungen oder Kapitalströme. Im Mittelpunkt steht vielmehr der Wettbewerb um Menschen. Dieser Untersuchung liegt die Prämisse zugrunde, dass die wirtschaftlich stärksten Länder der Zukunft nicht neu auftauchende Riesen wie Indien oder China sein werden, die durch kostengünstige industrielle Fertigung oder die Produktion einfacher Dienstleistungen an die globale Spitze treten. Ganz vorne stehen werden vielmehr diejenigen Staaten und – innerhalb dieser Staaten – diejenigen Regionen, denen es am besten gelingt, die kreativen Fähigkeiten ihrer Menschen zu mobilisieren und kreative Talente von überall her auf der Welt anzuziehen.

Dieser Untersuchung basiert auf der Theorie wirtschaftlichen Wachstums, die in dem Buch The Rise of the Creative Class entwickelt worden ist.* Diese Theorie besagt, dass Wirtschaftswachstum und wirtschaftliche Entwicklung auf „3 T’s“ gründet: Technologie, Talente und Toleranz. Traditionelle Modelle behaupten, dass wirtschaftlichem Wachstum Unternehmen oder Arbeitskraft oder Technologien zugrunde liegen. Diese Untersuchung argumentiert, dass solche Modelle zwar gute Ausgangspunkte darstellen, aber unvollständig bleiben. Technologie ist wichtig. Sie ist ein zentraler Bestandteil der „3T’s“. Aber andere Faktoren kommen ergänzend ins Spiel. Talente sind das zweite T. Theoretiker des Humanvermögens argumentieren seit langem, dass (aus)gebildete Menschen die wichtigsten Triebkräfte wirtschaftlicher Entwicklung sind. Im Anschluss an The Rise of the Creative Class verwenden wir die Messgröße der Beschäftigung in kreativen Berufen sowie den Maßstab des Humanvermögens, wie es sich anhand von Bildungsabschlüssen feststellen lässt. Toleranz ist das dritte T. Toleranz beeinflusst auf einschneidende Weise die Fähigkeit von Nationen oder Regionen, ihre eigenen kreativen Kapazitäten zu nutzen und im Wettbewerb um kreative Talente erfolgreich zu sein. Es ist offen* Richard Florida, The Rise of the Creative Class ... and how it’s transforming work, leisure, community & everyday life, New York 2004 (zuerst 2002).

perspektive21

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thema – 10 jahre „perspektive21“

sichtlich: Je toleranter und offener eine Nation oder Region ist, desto mehr Talente kann sie mobilisieren oder anziehen. Dies ist heute eine entscheidende Dimension wirtschaftlicher Wettbewerbsfähigkeit – jedoch eine, die in den gängigen ökonomischen Modellen leider so gut wie überhaupt nicht auftaucht. Während der längsten Zeit der der Menschheitsgeschichte entstand Wohlstand aus den physischen Ressourcen, über die ein Ort auf natürliche Weise verfügte – beispielsweise aus dem fruchtbaren Boden, aus Bodenschätzen oder Rohstoffen. Heute ist das anders. Sowohl Technologie als auch die talentierten und kreativen Menschen, die sie hervorbringen, sind hochmobile wirtschaftliche Ressourcen. Die Schlüsselgröße für ökonomische Wettbewerbsfähigkeit bilden nicht mehr möglichst große Bestände an Rohstoffen, nicht einmal mehr Lohnkostenvorteile sind entscheidend. Vielmehr kommt es auf die Fähigkeit an, kreative Fähigkeiten anzuziehen, hervorzubringen und zu mobilisieren. Diese Untersuchung konzentriert sich auf die zugrunde liegenden Bedingungen, die zusammen die „ökosystemischen Charakteristika“ der kreativen Ökonomie ausmachen. Wo diese Bedingungen vorliegen, da gelingt es, mehr Ressourcen anzuziehen und zu mobilisieren als anderswo. Toleranz, die Offenheit gegenüber Menschen und Ideen – also niedrige Eintrittsschwellen für neue Leute – ist hierbei ein ganz entscheidendes Element. 108

oktober 2007 – heft 35

I. Die kreative Klasse in Europa Manche glauben, die Kreative Klasse sei eine in besonderem Maße amerikanische Entwicklung. Andere fortgeschrittene Ökonomien hätten nun einmal weitaus größere Anteile von Industriearbeiterschaft und Dienstleistungsberufen auf niedrigem Niveau als die USA. Wir verwenden Daten der International Labour Organization (ILO), um den Anteil der Kreativen Klasse für 13 Staaten der EU messen zu können. Der europäische Kreative-Klasse-Index basiert auf den ILOKlassifizierungen, die Wissenschaftler, Ingenieure, Künstler, Musiker, Architekten, Manager, Akademiker und andere umfassen, zu deren Berufen kreative oder konzeptionelle Aufgaben gehören. Diese Gruppen setzen wir ins Verhältnis zur Gesamtzahl aller Beschäftigten. Wie groß ist also die Kreative Klasse in den europäischen Nationen? Die Antwort, knapp gefasst, lautet: Sie ist sehr groß: ■ Zwar ist es richtig, dass der Anteil der Kreativen Klasse an den Gesamtbeschäftigten in den Vereinigten Staaten mit etwa 30 Prozent am höchsten ist. Doch die Kreative Klasse ist vergleichbar hoch in Belgien (30,0 Prozent), in den Niederlanden (29,5 Prozent) und in Finnland (28,6 Prozent). Der Kreativen Klasse der Erwerbstätigen gehören in allen diesen Ländern (sowie in Großbritannien, Irland und Dänemark) heute bereits mehr Menschen an als der klassischen Arbeiterschaft.


richard florida, irene tinagli – technologie, talente, toleranz (2006)

Aber nicht allen Ländern scheint der Umbruch hin zu einer kreativen Ökonomie und einer durch sie geprägten Erwerbsstruktur gelungen zu sein. In Italien und Portugal beispielsweise sind weniger als 15 Prozent der Bevölkerung in Berufen der Kreativen Klasse beschäftigt. Irland hat mit weitem Abstand das größte Wachstum an kreativer Beschäftigung erlebt; im Durchschnitt sind hier seit 1995 pro Jahr 7,6 Prozent kreative Arbeitsplätze hinzugekommen. In den Niederlanden, in Schweden und Dänemark hat die kreative Beschäftigung um etwa

Tabelle 1:

1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15

2 Prozent im Jahr zugenommen. Geschrumpft ist der kreative Sektor nur in Portugal. II. Der europäische Talent-Index Wir haben den Kreative-Klasse-Index mit zwei anderen Talentmaßstäben kombiniert, um einen übergeordneten europäischen Talent-Index zu schaffen. Zusätzlich zum Kreative-Klasse-Index enthält der europäische Talent-Index zwei Unterkategorien: den Humanvermögen-Index, der auf dem Anteil der 25- bis 64-Jährigen basiert, die einen Hochschulabschluss besitzen; und den

Der europäische Talent-Index

USA Finnland Niederlande Belgien Großbritannien Schweden Irland Deutschland Spanien Dänemark Frankreich Griechenland Österreich Italien Portugal

Gesamtpunktzahl *

Kreative Klasse **

Humanvermögen ***

Wissenschaftl. Talente ****

15,00 13,22 12,86 10,95 10,81 10,72 9,48 9,25 8,31 8,21 7,93 7,61 6,81 5,86 5,37

15,00 14,27 14,73 14,95 13,33 10,56 12,97 9,06 9,72 10,50 n.a. 11,01 8,44 6,58 6,55

15,00 7,22 13,65 6,65 8,68 7,11 5,98 7,89 7,89 3,05 5,92 6,37 3,50 4,91 3,67

11,41 15,00 7,13 8,63 7,82 11,92 7,23 8,57 5,32 9,12 8,67 3,63 6,86 4,70 4,62

* Gesamtbewertung des Talent-Indexes auf Skala von 0 bis 15 ** Quelle: ILO, Laborsta, 2002 *** Quelle: OECD, Education at a Glance, 2001 (Daten beziehen sich auf 1998) **** Quelle: Europäische Kommission, DG Forschung, Towards a European Research Area, Key Figures 2001. Special Edition Indicators for benchmarking of national research policies, 2001

perspektive21

109


thema – 10 jahre „perspektive21“

Index wissenschaftlicher Talente, der die Zahl der Forscher oder Ingenieure pro 1.000 Erwerbstätige misst. Es überrascht dabei nicht, dass die verschiedenen Talent-Indexe in hohem Maße korrelieren. Länder mit einem hohen Anteil von kreativer Beschäftigung besitzen üblicherweise auch die höchsten Niveaus an Humankapital und wissenschaftlichen Talenten. Die Schlüsselergebnisse sehen folgendermaßen aus: ■ Die besten Werte weisen Finnland und die Niederlande auf, die auf dem Talent-Index den Vereinigten Staaten eng auf den Fersen sind. Drei andere Länder – Belgien, Großbritannien und Schweden – liegen ebenfalls vorn. Drei Länder haben hohe Werte im Hinblick auf kreative Berufe und Humanvermögen – die Schaubild 1:

Vereinigten Staaten, die Niederlande und Belgien, dicht gefolgt von Großbritannien. Diese Staaten sind in einer guten Verfassung, wenn es um die Mobilisierung und Kultivierung von kreativem Kapital geht. Fünf Länder haben gute Ergebnisse bezüglich kreativer Beschäftigung und wissenschaftlichem Talent. Finnland und Schweden sind hier am besten, gefolgt von den Vereinigten Staaten, Dänemark und Belgien. Vier Länder – Irland, Dänemark, Spanien und Deutschland – bilden auf dem übergeordneten europäischen Talent-Index das Mittelfeld. Fünf Länder bleiben zurück: Frankreich, Griechenland, Österreich, Italien und Portugal.

Talent und Kreative Klasse in Europa: Der Humanvermögen-Index und die Kreative Klasse

30 % Anteil der 25-64-Jährigen mit Bachelor- oder höherem Abschluss

USA Niederlande

Spanien

15 % Deutschland Italien

Großbritannien

Schweden GriechenIrland land

Belgien

Portugal Öster- Dänemark reich

0% 0%

20 % Anteil der Beschäftigten in kreativen Bereichen an der Gesamtbeschäftigung

110

Finnland

oktober 2007 – heft 35

40 %


richard florida, irene tinagli – technologie, talente, toleranz (2006)

Irland ragt heraus aufgrund seiner bemerkenswerten Fähigkeit, innerhalb vergleichsweise kurzer Zeit kreative Arbeitsplätze hervorzubringen.

III. Der europäische Technologie-Index Theoretiker wirtschaftlichen Wachstums von Karl Marx über Joseph Schumpeter bis hin zu Robert Solow und Paul Romer haben die Bedeutung der Technologie als Triebkraft des Wirtschaftswachstums hervorgehoben. Mittlerweile ist Technologie tatsächlich noch wichtiger geworden. Staaten mit Tabelle 2:

1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15

starker Innovationsfähigkeit und starken Hightech-Industriesektoren besitzen einen erheblichen Vorteil, wenn es darum geht, neue Produkte, neuen Wohlstand und neue Arbeitsplätze und damit gleichzeitig Wachstum zu schaffen. Der europäische Technologie-Index basiert auf drei verschiedenen Messgrößen: einem Index, der die Aufwendungen für Forschung und Entwicklung als Anteil am Bruttosozialprodukt misst (F&E-Index); einem Innovations-Index, der auf der Zahl der Patentanmeldungen auf je eine Million Einwohner basiert; und einem HochtechnologieInnovationsindex, der auf der Zahl der

Der europäische Technologie-Index

USA Schweden Finnland Deutschland Dänemark Niederlande Belgien Frankreich Großbritannien Österreich Irland Italien Spanien Portugal Griechenland

Gesamtpunktzahl *

Innovation **

15,00 10,92 9,57 6,57 5,89 5,83 5,35 5,34 5,01 4,39 3,09 2,40 1,55 1,19 0,83

15,00 9,33 6,14 6,33 4,48 4,43 4,19 3,29 3,43 3,67 2,05 1,52 0,38 0,05 0,10

Hochtechn.- Forschung & innovation *** Entwicklung ** 15,00 5,25 6,39 2,56 3,08 3,49 2,28 2,37 2,56 1,00 0,68 0,75 0,18 0,02 0,09

10,62 15,00 13,38 9,97 8,39 7,86 8,03 8,80 7,58 7,22 5,64 4,22 3,65 3,16 2,07

* Gesamtbewertung des Technologie-Indexes auf Skala von 0 bis 15 ** USPTO-Daten der Europäischen Kommission, GB Forschung, Towards a European Research Area, Key Figures 2001 *** USPTO-Daten der Europäischen Kommission, Arbeitspapier 2001

perspektive21

111


thema – 10 jahre „perspektive21“

Patente basiert, die in Feldern wie der Biotechnologie, der Informationstechnologie, der pharmazeutischen Industrie und der Luftfahrtindustrie angemeldet werden. Diese Indexe kombinieren wir, um einen übergeordneten TechnologieIndex zu bilden. Tabelle 2 ordnet die Staaten Europas nach ihrem Rang auf dem europäischen Technologie-Index an. Schaubild 2 zeigt die Beziehung zwischen dem KreativeKlasse-Index und dem F&E-Index. Folgende Ergebnisse ragen heraus: ■ Schweden und Finnland führen den europäischen Technologie-Index mit Ergebnissen an, die nur knapp hinter denen der Vereinigten Staaten liegen. Gleichzeitig überragen beide Länder die Vereinigten Staaten auf dem Schaubild 2:

F&E-Index, indem sie 3,7 Prozent beziehungsweise 3,3 Prozent ihres Bruttosozialprodukts für Forschung und Entwicklung ausgeben, die USA aber nur 2,6 Prozent. Sechs andere Länder erzielen auf dem europäischen Technologie-Index vergleichsweise gute Werte: Deutschland, Dänemark, die Niederlande, Belgien, Frankreich und Großbritannien.

IV. Der europäische Toleranz-Index Toleranz ist das dritte T. Es entscheidet über die Fähigkeit einer Region oder Nation, kreative Talente anzuziehen und zu mobilisieren. Die Studie The Rise of the Creative Class ergab, dass ein enger Zusammenhang besteht zwischen Offenheit

Technologie und Kreative Klasse: Der F+E-Index und die Kreative Klasse.

4% Schweden F+E-Ausgaben in % des Bruttoinlandsprodukts

Finnland USA

Deutschland Dänemark

2%

Österreich Italien

Spanien

Portugal

Irland Griechenland

0% 0%

20 % Anteil der Beschäftigten in kreativen Bereichen an der Gesamtbeschäftigung

112

oktober 2007 – heft 35

Belgien

Großbritannien Niederlande

40 %


richard florida, irene tinagli – technologie, talente, toleranz (2006)

für Homosexuelle, Bohemians und Einwanderer einerseits und der Fähigkeit von Regionen sich zu erneuern, Hochtechnologie-Industrien hervorzubringen und Wirtschaftswachstum auf der Basis hoher Wertschöpfung zu generieren. Eine Studie über die Regionen Kanadas ergab für den kanadischen Kontext, dass diese Wechselbeziehungen sogar noch ausgeprägter ausfallen. Annalee Saxenian von der University of California in Berkeley fand heraus, dass ungefähr ein Drittel aller in den neunziger Jahren in Silicon Valley entstandenen Hightech-Unternehmen von neuen Einwanderern gegründet wurden. Ronald Inglehart von der Universität von Michigan wiederum hat eine umfassende internationale Untersuchung der Werthaltungen vorgelegt, die mehr als zwei Dutzend Länder über einen Zeitraum von mehreren Jahrzehnten abdeckt. Dieser World Values Survey ergab einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen Toleranz einerseits und Wirtschaftswachstum sowie Demokratie andererseits. Inglehart fand heraus, dass die Offenheit für Homosexuelle, Einwanderer und Frauen stark mit wirtschaftlichem Wachstum korreliert. Die hier vertretene These lautet nicht, dass Einwanderer, Schwule oder Bohemians das Wirtschaftswachstum buchstäblich „verursachen“. Sehr wohl aber ist ihre Anwesenheit in großer Zahl ein Anzeichen dafür, dass in den betreffenden Regionen eine grundlegend offene Kultur existiert, die der Kreativität förderlich ist.

Orte, in denen sich Homosexuelle, Einwanderer und Bohemians wohl fühlen, pflegen üblicherweise eine Kultur der Toleranz und der geistigen Offenheit. Diese Messlatte sollte als maßgeblicher Indikator dafür betrachtet werden, ob ein „kreatives Ökosystem“ existiert oder nicht – ob also Verhältnisse vorherrschen, die offen sind für neue Leute und neue Ideen; ob Menschen an einem Ort leicht Netzwerke bilden und zusammenarbeiten können; ob gute Ideen nicht unterdrückt, sondern in Projekte, Unternehmen und Wachstum umgewandelt werden. Regionen und Nationen, in denen solche „kreativen Ökosysteme“ bestehen, tun sich am leichtesten damit, die ganze Vielfalt der kreativen Talente möglichst vieler Menschen zum Vorschein zu bringen – und gewinnen dadurch ganz enorme Wettbewerbsvorteile. Der europäische Toleranz-Index unterscheidet sich deutlich von den Toleranzmessungen in The Rise of the Creative Class sowie ähnlichen Studien, die auf den tatsächlichen Konzentrationen von Einwanderern, Homosexuellen, Bohemians und anderen Minderheitengruppen basieren. Solche Daten stehen für die europäischen Staaten nicht zur Verfügung. Der europäische ToleranzIndex basiert auf Untersuchungen der öffentlichen Meinung und ist unterteilt in drei gemessene Kategorien. ■ Der Einstellungs-Index misst Einstellungen gegenüber Minderheiten. Er basiert auf der Eurobarometer-Unterperspektive21

113


thema – 10 jahre „perspektive21“

suchung, die das European Monitoring Centre on Racism and Xenophobia (EUMC) fortlaufend sowie auf Klassifizierungen, die das Institute für Social Research Analysis (SORA) für das EUMC vornimmt. Das SORA teilt die in der EUMC-Untersuchung betrachteten Länder in vier Kategorien ein: „intolerant“, „ambivalent“, „passiv tolerant“ und „aktiv tolerant“. * Der Einstellungs-Index benennt die Prozentsätze der Befragten, die als „aktiv tolerant“ oder „passiv tolerant“ eingestuft wurden. Der Werte-Index misst, in welchem Maß ein Land traditionale Werte (im Gegensatz zu modernen und säkula-

■ * Thalhammer u.a., Attitudes towards minority groups in the European Union: A spezial analysis of the Eurobarometer 2000 survey

Toleranz und die Kreative Klasse in Europa: Der Einstellungs-Index und die Kreative Klasse Spanien

Schweden Finnland

Italien

Irland

Niederlande

Dänemark

Portugal niedrig

Einstellungen gegenüber Minderheiten

hoch

Schaubild 3:

ren Werten) widerspiegelt. Es basiert auf einem Satz von Fragen, die sich auf die Einstellung zu Gott, zur Religion, zu Nationalismus, Autorität, Familie, Frauenrechte, Scheidung und Abtreibung beziehen. Der „Selbstexpressions“-Index misst das Ausmaß, in dem eine Gesellschaft individuelle Rechte und den Ausdruck der eigenen Persönlichkeit wertschätzt. Er gründet auf Fragen, die den Ausdruck der eigenen Persönlichkeit, die Lebensqualität, die Demokratie, Wissenschaft und Technologie, Freizeit, Umwelt, Vertrauen, Protestpolitik, Einwanderer und Homosexualität betreffen. Sowohl der Werte-Index als auch der Selbstexpressions-Index stammen aus dem World Values Survey, das Ronald

Österreich

Großbritannien

Deutschland 0%

20 %

40 %

Anteil der Beschäftigten in kreativen Bereichen an der Gesamtbeschäftigung Der Einstellungsindex für Griechenland liegt weit unter dem europäischen Durchschnitt und befindet sich deshalb außerhalb der Matrix.

114

oktober 2007 – heft 35


richard florida, irene tinagli – technologie, talente, toleranz (2006)

Inglehart vorgenommen hat. Die Untersuchung umfasst die Jahre 1995 bis 1998 und basiert auf Daten aus 65 Staaten. Die Zahl der Befragten war dabei mit durchschnittlich 1.400 pro Land recht hoch. Diese Messungen werden zum übergeordneten europäischen ToleranzIndex zusammengefasst.

Die Ergebnisse unter diesen Gesichtspunkten sind überaus verblüffend. Es wird oft angenommen, die Vereinigten Staaten seien die offenste und toleranteste Gesellschaft der Welt. Wie Inglehart und Tabelle 3:

1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15

Baker (2000) feststellen, gelten die USA als Vorzeigemodell der „Modernisierungstheorie“. Diese Sichtweise, die auch einem großen Teil der gängigen öffentlichen Meinung zugrunde liegt, besagt nicht bloß, dass die die USA das Modell seien, auf das sich andere Nationen unweigerlich hinbewegen. Aber wie Tabelle 3 zeigt, erzielen die europäischen Gesellschaften durchweg bessere Ergebnisse auf dem Toleranz-Index als die Vereinigten Staaten. Es mag zwar so sein, dass die Vereinigten Staaten einen höheren Anteil von Einwanderern aufweisen als die meisten anderen entwickelten Gesellschaften,

Der europäische Toleranz-Index

Schweden Dänemark Niederlande Finnland Deutschland Österreich Großbritannien Frankreich Belgien Italien Spanien Griechenland Irland USA Portugal

Gesamtpunktzahl *

Einstellungen

Werte

Selbstexpression

15,00 12,09 11,42 9,49 9,45 7,76 7,70 7,38 7,35 7,17 6,57 5,58 4,22 3,07 1,99

14,81 12,47 12,66 13,83 10,32 11,10 11,30 10,91 9,35 13,44 15,00 5,65 12,66 n.a. 11,10

15,00 10,41 7,59 7,50 10,59 2,06 2,44 4,59 4,50 1,69 0,84 6,84 -8,63 -4,97 -8,34

15,00 13,24 13,85 7,03 7,30 10,00 9,26 6,55 8,11 6,28 3,78 4,19 8,58 11,08 3,18

* Gesamtbewertung des Torleranz-Indexes auf Skala von 0 bis 15. Quelle: European Monitoring Centre on Racism and Xenophobia, EUMC Information and Communication, Media Release 194-3-E-05/01, Wien 2001; Thalhammer u.a., Attitudes towards minority groups in the European Union – A special analysis of the Eurobarometer 2000 survey on behalf of the European Monitoring Centre on Racism and Xenophobia; Ronald Inglehart, World Values Survey (www.isr.umich.edu)

perspektive21

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thema – 10 jahre „perspektive21“

aber die Einstellungen der Amerikaner zu einem weiten Spektrum von Themen über Religion und Nationalismus bis hin zu Scheidung und zu Frauenrechten, Einwanderern oder Homosexualität sind deutlich konservativer beziehungsweise traditioneller als in Europa. Inglehart und Baker selbst fassen ihre Ergebnisse folgendermaßen zusammen: „Die Vereinigten Staaten stellen nicht, wie einige Modernisierungsforscher der Nachkriegsära naiverweise gemeint haben, ein Prototyp kultureller Modernisierung dar, dem andere Gesellschaften folgen könnten. Vielmehr sind die Vereinigten Staaten ein von der Norm abweichender Tabelle 4:

Fall, da sie ein bei weitem traditionelleres Wertesystem aufweisen als jede andere fortgeschrittene Industriegesellschaft. Hinsichtlich der Dimension „traditional/ säkular“ erzielen die Vereinigten Staaten viel niedrigere Werte als andere reiche Gesellschaften, hier werden bezüglich der Religiosität und des Nationalstolzes Werte gemessen wie in Entwicklungsländern. ... Die Vereinigten Staaten gehören bezüglich der Dimension des Selbstausdrucks zu den fortschrittlichsten Ländern. Doch selbst hier sind sie nicht weltweit führend. Die Dänen und die Schweden liegen weiter vorn, wenn es um Einstellungen zu kulturellem Wandel geht. ... Es

Der europäische Kreativitäts-Index Talent-Index*

1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15

116

Schweden USA Finnland Niederlande Dänemark Deutschland Belgien Großbritannien Frankreich Österreich Irland Spanien Italien Griechenland Portugal

oktober 2007 – heft 35

Gesamtpunktzahl

Kreative Klasse

Humanvermögen

wiss. Talente

0,81 0,73 0,72 0,67 0,58 0,57 0,53 0,52 0,46 0,42 0,37 0,37 0,34 0,31 0,19

8 1 4 3 9 11 2 5 n.a. 12 6 10 13 7 14

7 1 6 2 15 4 8 3 11 14 10 4 12 9 13

2 3 1 10 4 7 6 8 5 11 9 12 13 15 14


richard florida, irene tinagli – technologie, talente, toleranz (2006)

führt in die Irre, kulturellen Wandel als ‚Amerikanisierung‘ zu betrachten. Länder im Übergang zu Industriegesellschaften entwickeln sich grundsätzlich nicht nach dem Muster der Vereinigten Staaten. Tatsächlich sind die USA ein Ausnahmefall ... die Amerikaner pflegen viel traditionellere Werte und Glaubenssätze als die Menschen in anderen, ähnlich wohlhabenden Gesellschaften.“* Folgendermaßen stehen die verschiedenen Länder im Hinblick auf das Kriterium der Toleranz da:

■ * Ronald Inglehart und Wayne E. Baker, Modernization, Cultural Change, and the Persistence of Cultural Values, in: American Sociological

Schweden, Dänemark und die Niederlande stehen im europäischen Toleranz-Index ganz weit vorn. Finnland und Deutschland liegen knapp dahinter. Die Vereinigten Staaten liegen an vorletzter Stelle. Nur Portugal schneidet noch schlechter ab; Irland liegt nahezu gleichauf. Aktuelle Trends in den Vereinigten Staaten deuten darauf hin, dass sich der Abstand zu anderen Ländern vergrößert. Aus diesen Gründen meinen wir, dass die europäischen Länder, besonders Schweden, Dänemark, die

Technologie-Index*

Toleranz-Index*

Innovation

Hochtechn.innovation

Forschung & Entwicklung

Einstellungen

Werte

Selbstexpression

2 1 4 6 5 3 7 9 10 8 11 13 12 14 15

3 1 2 4 5 6 9 6 8 10 12 13 11 14 15

1 3 2 8 6 4 7 9 5 10 11 13 12 15 14

2 n.a. 3 5 7 12 13 8 11 9 5 1 4 14 9

1 13 5 4 3 2 8 9 7 10 15 12 11 6 14

1 4 10 2 3 9 8 6 11 5 7 14 12 13 15

* Die Zahlen geben die relative Position des Landes in der entsprechenden Kategorie wieder.

perspektive21

117


thema – 10 jahre „perspektive21“

Niederlande und Finnland hinsichtlich ihrer Fähigkeit zur Toleranz deutliche Wettbewerbsvorteile besitzen. Natürlich bestehen auch in diesen Nationen weiterhin restriktive Regelungen auf dem Gebiet der Einwanderungspolitik. Um die in den grundlegenden Einstellungen und Werten ihrer Gesellschaften gründenden Vorteile nutzen zu können, sollten diese Länder ihre Einwanderungspolitiken ändern und sich stärker für Talente aus allen Teilen der Welt öffnen. V. Alles in allem: Der europäische Kreativitäts-Index Wir haben ein neues, aus verschiedenen Faktoren zusammengesetztes Messver-

Der europäische Kreativitäts-Index und Michael Porter’s Innovations-Index

Innovations-Index

hoch

Schaubild 4:

fahren entwickelt, den Europäischen Kreativitäts-Index (EKI), um eine umfassendere Bewertung der Wettbewerbsfähigkeit von Staaten im Kreativen Zeitalter zu ermöglichen. Der EKI setzt sich zusammen aus den oben diskutierten Maßgrößen Technologie, Talent und Toleranz. Die Ergebnisse des EKI passen zu den Ergebnissen anderer führender Indikatoren für Wettbewerbsfähigkeit. Dennoch glauben wir, dass er ihnen gegenüber eine beträchtliche Verbesserung bedeutet. Die gängigen Messverfahren betonen die Technologie, in manchen Fällen werden Indikatoren für Talent einbezogen. Keiner von ihnen berücksichtigt dagegen den Faktor der Toleranz, der eine eindeutige Quelle von Wettbewerbsvorteilen darstellt. Der EKI weist über die üblichen

niedrig

Portugal

USA GroßFinnland britanFrankreich nien Deutschland Schweden Niederlande ÖsterIrland reich Belgien Dänemark Italien Spanien

Griechenland 0

.5

niedrig

europäischer Kreativitäts-Index

1 hoch

Quelle: Michael Porter, National Innovative Capacity in The Global Competitiveness Report 2001, New York 2001

118

oktober 2007 – heft 35


richard florida, irene tinagli – technologie, talente, toleranz (2006)

Verfahren hinaus, indem er alle drei T’s einbezieht. Folgendermaßen schneiden die europäischen Länder auf diesem übergeordneten Kreativitäts-Index ab: ■ Die nordeuropäischen Staaten, vor allem die skandinavischen scheinen besondere Wettbewerbsvorteile zu genießen. ■ Schweden steht an der Spitze – und liegt auf diesem Kreativitäts-Index sogar vor den Vereinigten Staaten. ■ Finnland und die Niederlande schneiden ebenfalls herausragend ab; ihre Wettbewerbsfähigkeit entspricht derjenigen der Vereinigten Staaten. Tabelle 5:

1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15

Dänemark, Deutschland, Belgien und Großbritannien bilden die zweite Reihe. Die übrigen Staaten stehen angesichts der Herausforderungen des Kreativen Zeitalters vor beträchtlichen Problemen.

VI. Der europäische Kreativitäts-Trend-Index Der europäische Kreativitäts-Index ist ein statisches Maß. Er erfasst, wo Staaten zu einem ganz bestimmten Zeitpunkt stehen. Wir meinen, dass es ebenso wichtig ist, einen Blick darauf zu werfen, welche

Der europäische Kreativitäts-Trend-Index: Trends bei Talent- und Technologiewachstum seit 1995

Irland Finnland Portugal Dänemark Spanien Griechenland Schweden Belgien Österreich USA Niederlande Deutschland Italien Großbritannien Frankreich

Gesamtbewertung

Kreative Klasse

wissen. Talent

Zuwachs Patente

F&E Ausgaben

0,89 0,60 0,51 0,38 0,37 0,36 0,35 0,35 0,34 0,33 0,27 0,20 0,18 0,15 0,08

1 10 14 4 9 12 3 5 10 7 2 8 6 13 n.a.

1 2 4 11 5 6 9 10 3 7 8 14 15 12 13

2 6 1 3 8 4 5 7 9 14 10 12 11 13 15

2 1 3 6 4 9 10 5 8 7 12 11 13 14 15

* Quelle: ILO, LABORSTA Labor Statistics Database, http://laborsta.ilo.org ** Quelle: Europäische Kommission, DG Forschung, Towards a European Research Area, Key Figures 2001. Special Edition Indicators for benchmarking of national research policies, 2001

perspektive21

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thema – 10 jahre „perspektive21“

Fortschritte die verschiedenen Nationen im Zeitverlauf machen (oder nicht). Besonders wichtig ist es herauszufinden, welche Nationen ihre kreativen Fähigkeiten schneller zu entwickeln vermögen als andere. Um dies herauszufinden, haben wir einen europäischen KreativitätsTrend-Index erarbeitet, der die Leistungen der verschiedenen Staaten unter Kreativitätsgesichtspunkten seit 1995 verfolgt. Diese Messung beschränkt sich auf zwei der drei T’s – Technologie und Talent – da Trenddaten für Toleranz nicht zur Verfügung stehen. Tabelle 5 präsentiert die Ergebnisse: ■ Irland liegt im Kreativitäts-TrendIndex an der Spitze. Aber: Wären Daten zu Toleranzkriterien verfügbar und berücksichtigt worden, sähe dies anders aus. Schaubild 5:

Finnland besitzt besondere Vorteile und erreicht sowohl im KreativitätsIndex wie im Trend-Index hohe Werte. Sowohl Finnland als auch Irland erreichen weit überdurchschnittliche Ergebnisse und schneiden deutlich besser ab als die Vereinigten Staaten. Eine Anzahl von Ländern einschließlich der skandinavischen Länder Schweden und Dänemark, nordwesteuropäischen Ländern wie Belgien und südeuropäischen Staaten wie Spanien, Portugal und Griechenland repräsentieren das Mittelfeld. Ihre Trendwerte entsprechen denen der Vereinigten Staaten. Interessanterweise schneiden die traditionellen europäischen Mächte – Frankreich, Deutschland, Großbri-

Der europäische Kreativitäts-Trend-Index und das Wachstum des Bruttosozialprodukts

reales Wachstum des Bruttosozialprodukts 1995-99

Irland

USA Finnland Spanien Niederlande Portugal Griechenland GroßbritannienSchweden Belgien Dänemark Frankreich Österreich Italien Deutschland

europäischer Kreativitäts-Trend-Index

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richard florida, irene tinagli – technologie, talente, toleranz (2006)

tannien – im Kreativitäts-TrendIndex schlecht ab. Ihre historisch gewachsenen Vorteile scheinen im Kreativen Zeitalter zu schwinden. VII. Die europäische Kreativitäts-Matrix Als abschließender Schritt unserer Analyse haben wir die Beziehung untersucht, die zwischen den Ergebnissen eines Landes im Kreativitäts-Index und ihrem aktuellen Trend besteht. Um dies zu ermöglichen, haben wir die europäische Kreativitäts-Matrix entwickelt (Schaubild 6). Die europäische Kreativitäts-Matrix vergleicht die Kreativitäts-Ergebnisse mit dem TrendIndex. Sie ermöglicht es uns, die europäischen Länder und die Vereinigten

europäischer Kreativitäts-Trend-Index seit 1995

Schaubild 6:

Staaten in vier Gruppen oder Quadranten zu verorten: ■ Die Spitzenreiter vereinigen starke Ergebnisse auf dem Kreativitäts-Index mit hohen Wachstumsraten ihrer kreativen Fähigkeiten. Zu diesen Spitzenstaaten gehören Finnland, Schweden und Dänemark. Ihre Wettbewerbsposition ist ebenso gut wie oder – in den Fällen Finnland und Schweden – besser als die der Vereinigten Staaten. Zur zweiten Reihe gehören die Niederlande und Belgien. Diese Länder stehen erfolgreich da und haben gute Aussichten, im Kreativen Zeitalter erfolgreich zu sein. ■ Die Aufsteiger haben niedrigere Ergebnisse auf dem Kreativitäts-Index, aber vergleichsweise hohe KreativitätsWachstumsraten. Ihre Lage verbessert

Die europäische Kreativitäts-Matrix

Irland AUFSTEIGER

Finnland

Portugal

SPITZENREITER Spanien

GriechenÖsterland reich Italien NACHZÜGLER Frankreich

Dänemark USA

Schweden

Niederlande Deutschland Großbritannien

ABSTEIGER

europäischer Kreativitäts-Index

perspektive21

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thema – 10 jahre „perspektive21“

sich also. In dieser Gruppe ragt Irland heraus. Das Land vereint ansehnliche Ergebnisse auf dem Kreativitäts-Index mit einem atemberaubenden Wachstum seiner zugrunde liegenden kreativen Fähigkeiten. Die Absteiger haben vergleichsweise gute Ergebnisse auf dem KreativitätsIndex, doch um das Wachstum ihrer kreativen Fähigkeiten ist es nicht gut bestellt. Deshalb fallen sie hinsichtlich ihrer Wettbewerbsfähigkeit relativ zurück. Deutschland und Großbritannien fallen in diese Kategorie. Die Nachzügler weisen niedrige Ergebnisse auf dem Kreativitäts-Index und zugleich ein niedriges Wachstum ihrer kreativen Fähigkeiten auf. Ihnen wird es schwer fallen, im Kreativen Zeitalter mitzuhalten. Italien ist hier der klassische Fall, aber auch Spanien, Österreich, Portugal und Griechenland scheinen sich in einer schwierigen Lage zu befinden. Frankreich gehört ebenfalls zu dieser Gruppe, wofür das relativ schlechte Abschneiden des Landes auf dem KreativitätsIndex und seine äußerst schwachen Wachstumsraten auf dem Gebiet der Talente und der Technologie verantwortlich sind.

VIII. Konklusion Diese Untersuchung hat die in der Studie The Rise of the Creative Class eingeführten Konzepte und Indikatoren auf 122

oktober 2007 – heft 35

den europäischen Kontext angewandt. Sie hat neue Indikatoren für die Kreative Klasse und die 3 T’s der wirtschaftlichen Entwicklung – Technologie, Talente, Toleranz – für 14 europäische Länder benannt und mit den Vereinigten Staaten verglichen. Mit dem europäischen Kreativitäts-Index wurde ebenfalls ein neues Messverfahren für die relative kreative Leistungskraft eingeführt. Hinzu kommen zwei weitere Maßeinheiten, um die Entwicklungstrends der kreativen Fähigkeiten einzelner Länder ermitteln zu können, der europäische Kreativitäts-Trend-Index und die europäische Kreativitäts-Matrix. Diese Messverfahren unterscheiden sich in mehrerer Hinsicht von den ursprünglich in The Rise of the Creative Class verwendeten. Die europäischen Daten bleiben gegenwärtig noch auf die jeweilige nationale Ebene beschränkt. Der europäische Technologie-Index deckt nur die Innovationsfähigkeit ab, bezieht aber nicht die regionale Konzentration von Hightech-Industrien ein. Der europäische Toleranz-Index beruht auf Einstellungen und Werten, berücksichtigt hingegen jedoch nicht die regionale und lokale Konzentration von Gruppen wie Homosexuellen, Einwanderern und Minderheiten. Dessen ungeachtet jedoch sind die Ergebnisse eindrucksvoll, nützlich und interessant. In sieben der 14 untersuchten europäischen Länder macht die Kreative Klasse mehr als 25 Prozent der Erwerbs-


richard florida, irene tinagli – technologie, talente, toleranz (2006)

tätigen aus. In drei Ländern – in den Niederlanden, in Finnland und Schweden – gehören ihr sogar nahezu 30 Prozent der Arbeitskräfte an. In sechs der analysierten europäischen Länder ist die Zahl der Angehörigen der Kreativen Klasse höher als die der klassischen Arbeiterschaft. In der Mehrzahl der Länder Europas wächst die Kreative Klasse rasch an. Mit einem jährlichen Wachstum seiner Kreativen Klasse von sieben Prozent seit 1995 überflügelt Irland alle anderen Länder. Jedoch scheint nicht allen Gesellschaften der Übergang in die kreative Wirtschaft und eine kreative Beschäftigungsstruktur zu gelingen. In Italien und Portugal beispielsweise gehören weniger als 15 Prozent der Erwerbstätigen der Kreativen Klasse an. Unsere Analyse legt nahe, dass sich das Epizentrum der europäischen Wettbewerbsfähigkeit geografisch verschiebt: weg von den traditionellen Vormächten wie Frankreich, Deutschland und Großbritannien, hin zu einem Cluster skandinavischer und nordwest-europäischer Länder. Schweden belegt auf dem europäischen Kreativitäts-Index die absolute Spitzenposition und steht nicht nur besser da als alle anderen Länder Europas, sondern auch besser als die Vereinigten Staaten. Finnland und die Niederlande entwickeln sich ebenfalls außergewöhnlich gut; ihre Wettbewerbsfähigkeit entspricht derjenigen der Vereinigten Staaten. Besonders Finn-

land scheint gut positioniert, um im Kreativen Zeitalter mitzuhalten; das Land erlebt auf einem bereits bestehenden hohen Niveau kreativer Wettbewerbsfähigkeit ein rapides weiteres Wachstum seiner kreativen Fähigkeiten. Die Niederland, Dänemark und Belgien scheinen ebenfalls beträchtliche Potentiale zu besitzen, um im Kreativen Zeitalter mitzuhalten. Irland ragt als Aufsteigernation heraus und erlebt ein beträchtliches Wachstum seiner Kreativen Klasse sowie der ihr zugrunde liegenden kreativen Fähigkeiten. Eine Anzahl von Ländern kommt weit unterdurchschnittlich gut zurecht. Italien ist dafür das beste Beispiel, aber Spanien, Portugal, Österreich und Griechenland tun sich unter dem Gesichtspunkt der Kreativität ebenfalls schwer. Sollten sie nicht in der Lage sein, ihre Position dramatisch zu verbessern, werden sie große Schwierigkeiten haben, im Kreativen Zeitalter mitzuhalten. Unsere Analyse legt weiterhin nahe, dass Wettbewerbsfähigkeit im Kreativen Zeitalter eine weit offene Frage bleibt. Es wäre ein Fehler den Schluss zu ziehen (wie es manche andere getan haben), die Vereinigten Staaten seien unherausgefordert das Epizentrum der kreativen Wirtschaft – oder würden dies bleiben. Unserer Ansicht nach betrifft die Schlüsseldeterminante weltweiter Wettbewerbsfähigkeit nicht mehr einfach den Handel mit Gütern und Dienstleistungen oder die Kapital- und perspektive21

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thema – 10 jahre „perspektive21“

Investitionsströme, sondern vielmehr die Ströme der Menschen. Wer Gewinner und wer Verlierer der globalen kreativen Wirtschaft sein wird, hängt davon ab, welche Länder am besten im Stande sind, kreative Talente anzuziehen, zu halten und hervorzubringen sowie kreative Potentiale und Fähigkeiten zu entwickeln. Die Vereinigten Staaten bleiben eindeutig die globale Führungsmacht auf dem Gebiet der technologischen Entwicklung. Sie profitieren weiterhin von ihrer langjährigen Fähigkeit, herausragende wissenschaftliche, künstlerische und unternehmerische Talente von überall auf der Welt anzuziehen. Doch unsere Ergebnisse weisen darauf hin, dass eine Anzahl europäischer Staaten – besonders Finnland, Schweden, Dänemark, die Niederlande und Belgien – spezifische Fähigkeiten entwickeln, um im Kreativen Zeitalter auf effektive Weise wettbewerbsfähig zu sein. Sie alle besitzen bemerkenswert fortgeschrittene technologische Fähigkeiten und haben fortlaufend in den Ausbau ihrer kreativen Talente investiert. Ebenfalls haben sie aktiv daran gearbeitet, jenseits ihrer Grenzen geborene Talente anzuziehen. Großbritannien scheint immerhin seine Bemühungen und seine Fähigkeit deutlich zu verstärken, kreative Talente auf weltweiter Basis anzuziehen. Alle diese Länder teilen Werte, Prinzipien und Einstellungen, die der weltweiten Anwerbung von Talenten förderlich sind. 124

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In den Fällen von Schweden, den Niederlanden und Großbritannien wurden offenere Einwanderungspolitiken eingeführt, die zu bemerkenswerten Konzentrationen nicht im jeweiligen Land selbst geborener Bevölkerungsgruppen geführt haben. Jedoch haben es alle europäischen Länder mit den integrationspolitischen Herausforderungen zu tun, die sich aus der Notwendigkeit ergeben, die soziale Aufwärtsmobilität der Einwanderer zu ermöglichen. Jedoch bedeutet die Tatsache, dass Englisch in den erfolgreichen europäischen Ländern weithin als zweite Sprache gebraucht wird, einen weiteren Vorteil auf dem globalen Marktplatz der Talente. Im Übrigen werden alle Mitglieder der EU von der zunehmenden Freiheit der Menschen profitieren, die eigenen Grenzen hinter sich zu lassen. Bei der Fähigkeit von Ländern und Regionen, Talente auf weltweiter Ebene anziehen, handelt es sich um einen dynamischen, empfindlichen und wenig erforschten Prozess. Traditionelle Wirtschaftsmächte können ihre Position in der entstehenden Kreativen Wirtschaft einbüßen, während lebendige und kreative neue Zentren entstehen. Wir stehen an einem aufregenden Wendepunkt. Die Vereinigten Staaten, die viele Jahre lang die Besten und Klügsten aus Europa, Asien, Afrika, Indien und anderswo angezogen haben, scheinen ihre Spitzenstellung einzubüßen. Unsere Untersuchungen zeigen, dass sich der bisherige


richard florida, irene tinagli – technologie, talente, toleranz (2006)

Vorteil der Vereinigten Staaten offenbar verschiebt – zum Teil aufgrund der liberalisierten Einwanderungspolitik vieler europäischer Länder sowie Kanadas und Australiens, die es diesen Ländern ermöglicht, Talente weltweit anzuziehen und zu halten. Zugleich wächst international der Eindruck, die Vereinigten Staaten agierten aggressiv und unilateral und verhielten sich abweisend gegenüber nicht im Land selbst geborenen Menschen. Offenbar hat die nach dem 11. September 2001 auf stärkere Restriktionen gegenüber Strömen von Menschen und wissenschaftlichen Kenntnissen gerichtete Politik das Klima für alle kreativen Talente abgekühlt. Unsere Analyse ist ein erster Schritt, und sie bleibt provisorisch. Vieles muss noch getan werden, um unsere Indikatoren für Technologie, Talente und ganz besonders Toleranz zu verbessern. Bezogen auf die Messung von Toleranz sind bessere Kenntnisse über tatsächliche Konzentrationen von Homosexuellen, Einwanderern und Minderheiten dringend erforderlich. Das Sample der untersuchten Länder muss erweitert werden

und Kanada, asiatische Staaten, Australien und Neuseeland sowie weitere Länder enthalten. Und wir brauchen unbedingt besseres Datenmaterial unterhalb der nationalen Ebene, um die Potentiale von Städten und Regionen überall auf der Welt untersuchen zu können. Es wäre extrem nützlich und interessant zu untersuchen, wie beispielsweise London, Amsterdam, Berlin, Dublin und Rom unter dem Gesichtspunkt ihrer kreativen Potentiale im Vergleich zu New York, Chicago, Toronto, Tokio, Singapur oder Sydney abschneiden. Abschließend: Vieles fängt gerade erst an. Die Strategien der verschiedenen Staaten, Regionen und Städte, um Talente anzuziehen und zu halten, ihre grundlegenden kreativen Fähigkeiten zu verstärken und das Klima für eine Vielfalt von Menschen zu verbessern, stecken noch in den Kinderschuhen. Viel mehr Forschung ist notwendig, um die Art und Weise, das Ausmaß und den Erfolg dieser gerade erst beginnenden Bemühungen zu ermitteln. ■ Aus dem Englischen von Tobias Dürr

RICHARD FLORIDA

ist Professor für wirtschaftliche Entwicklung an der Heinz School of Public Policy and Management an der Carnegie Mellon University. IRENE TINAGLI

ist Doktorandin an derselben Institution. perspektive21

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thema – 10 jahre „perspektive21“

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Ostdeutschland gibt es nicht IN DEN NEUEN LÄNDERN SIND PARALLELE GESELLSCHAFTEN ENTSTANDEN VON THOMAS KRALINSKI

Die Lage in Ostdeutschland ist immer wieder Thema in der Perspektive 21 gewesen. Dabei ging es nie um Jammern und (An-)Klagen. Dass man Ostdeutschland – 17 Jahre nach der Wende – nicht mehr über einen Kamm scheren kann, zeigt der Beitrag von Thomas Kralinski aus dem Jahr 2007. Dass der „neue Osten“ mit viel Selbstbewusstsein in die Zukunft gehen kann – auch das ist immer wieder eine Botschaft der Perspektive 21 gewesen.

ber Ostdeutschland wird immer in Schüben gesprochen. Nach der Wende kam das Thema alle paar Jahre auf die Tagesordnung – mal durch die „Auf-der-Kippe“-These von Wolfgang Thierse, mal durch Hochwasser an Oder und Elbe, mal durch den Umstand, dass sowohl die Kanzlerin und als auch der kurzzeitige Vorsitzende der Sozialdemokraten in der DDR aufgewachsen sind. Jüngst haben Studien zur Stimmung in Ostdeutschland das Thema wieder in die öffentliche Auseinandersetzung gebracht. Die ganze Sache hat nur einen Haken: „Ostdeutschland“ gibt es nicht mehr. Es gibt viele Ostdeutschlands – und zwar mindestens vier: Es gibt die

Ü

Aufsteiger, die versteckten Champions, die Kämpfer und die Hoffnungslosen. Es lohnt sich, genauer hinzuschauen. I. Die Aufsteiger Der bisweilen zu hörende, leicht ironische Satz „Wie im Westen, nur schöner“ charakterisiert die Aufsteiger ziemlich gut. Wer kennt sie nicht? Dresden, Jena, Leipzig, Potsdam. Wenn es um den Erfolg des Aufbaus Ost geht, fallen immer dieselben Namen, werden immer die gleichen Beispiele genannt. Es gibt sie wirklich und es gibt sogar mehr als nur drei oder vier. Perfekte Infrastruktur, große Einkaufspaläste, geräumige Messehallen, restaurierte Innenstädte, perspektive21

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thema – 10 jahre „perspektive21“

neue Universitäten und Forschungseinrichtungen, moderne Krankenhäuser. Wer durch die Innenstadt von Leipzig läuft, kann den Optimismus, die Energie, die positive Grundstimmung förmlich mit Händen greifen. Wer die sommerlichen Elbwiesen in Dresden kennt oder durch das Holländische Viertel in Potsdam spaziert, spürt eine Leichtigkeit, die viele im Osten nicht vermuten würden. Doch der Erfolg ist schwer verdient. Leipzig oder Potsdam haben fast alle industriellen Arbeitsplätze verloren. Geblieben ist ein Rest – und der ist heute zweifelsohne modern und erfolgreich. Überlebt haben auch die gut ausgebildeten Fachkräfte, ohne deren Engagement und Flexibilität BMW nicht nach Leipzig, VW nicht nach Zwickau, Opel nicht nach Eisenach, Infineon und AMD nicht nach Dresden gekommen wären. Diese Städte und Regionen sind erfolgreich nicht nur im ostdeutschen Maßstab, sie sind es auch im europäischen Vergleich. Der Export wächst überdurchschnittlich – doch muss einem auch klar sein, dass es ohne diese Leuchttürme ziemlich dunkel aussehen würde. Allein die Hälfte des sächsischen Exports wird von einer Hand voll Unternehmen erbracht. Auf jeden Fall verfügen die ostdeutschen Aufsteiger über eine hoch moderne Basis, sie sind exportstark und ausbaufähig. Trotzdem oder gerade deshalb: Zu den größten Erfolgsgeschichten des 128

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Aufbaus Ost gehören die „neuen“ Industrien. Leider nur binden sie kaum Arbeitskräfte. Der Anteil der Industrie am ostdeutschen BIP liegt bei 15 Prozent – das ist die Hälfte des westdeutschen Wertes, entspricht aber im Übrigen ziemlich exakt dem Umfang der US-amerikanischen Industrie. Es könnte also sein, dass hier die Wirtschaftsstruktur und Gesellschaft der Zukunft entsteht. Leipzig, Weimar, Potsdam, das Berliner Umland sind „moderne“ Regionen, die neben einer kleinen, aber feinen industriellen Basis vor allem auf moderne Dienstleistungen setzen, auf Medien, auf Kultur und Tourismus. Abwärtsspirale ist durchbrochen Die Aufsteigerregionen besitzen – zumindest mittelfristig – einen großen Vorteil gegenüber allen anderen. Sie haben eine einigermaßen stabilisierte demografische Basis. Leipzig und Dresden sind die einzigen Gebiete, in denen Sachsen bis 2020 eine stabile oder leicht wachsende Bevölkerung erwartet. Potsdam wird in dieser Zeit sogar um zehn Prozent wachsen. Zwar wird die Bevölkerung wie überall älter, die Negativspirale aus wirtschaftlicher Auszehrung und der Abwanderung gut ausgebildeter jungen Leute ist jedoch durchbrochen. Sogar Ansätze einer gut funktionierenden Zivilgesellschaft gibt es. Es eint diese Regionen das Gefühl, sich durchgebissen und Erfolg gehabt zu haben. Vereine,


thomas kralinski – ostdeutschland gibt es nicht (2007)

Verbände, kleine Initiativen sind entstanden, kümmern sich um ihr Umfeld, die Kultur, den Zusammenhalt. Auch die Studie der Friedrich-EbertStiftung zur gesellschaftlichen Situation in Deutschland* zeigt, dass es die „zufriedenen Aufsteiger“ in Ostdeutschland gibt. Ihr Anteil an der ostdeutschen Gesellschaft beträgt 8 Prozent – das ist deutlich weniger als in Westdeutschland. Sie haben den gesellschaftlichen Aufstieg geschafft und vertrauen in die Demokratie. Auch der Sozialreport der Volkssolidarität** zeigt, dass immerhin 25 Prozent der Ostdeutschen mit ihrer wirtschaftlichen Lage zufrieden sind. Wenn es um die allgemeine Lebenszufriedenheit geht, sind allerdings nur 4 Prozent der Ostdeutschen sehr zufrieden, immerhin 35 Prozent sind zufrieden. II. Die versteckten Champions Neben diesen „arrivierten“ Aufsteigern im Osten gibt es eine ganze Reihe von kleinen Erfolgen abseits der großen Städte: die versteckten Champions. Die Vertreter der großen Politik schauen hier seltener vorbei, die der großen Medien noch weniger. Schwedt an der Oder ist so ein versteckter Champion. Neben einer modernen Chemieraffinerie sind hier * Friedrich-Ebert-Stiftung (Hg.), Gesellschaft im Reformprozess, Berlin 2006. ** Volkssolidarität (Hg.), Sozialreport 2006. Daten und Fakten zur sozialen Lage in den neuen Bundesländern, Berlin 2006.

mittlerweile vier große Papierfabriken sowie die größte Biogasproduktion Europas entstanden. Wernigerode und der Harz mit seiner Fachhochschule und einer breit gefächerten Automobilzulieferindustrie sind ein weiteres Beispiel. Im thüringischen Sömmerda wird fast die Hälfte der in Europa hergestellten PCs produziert, im Rostocker Hafen arbeiten heute mehr Menschen als vor der Wende und schlagen dabei mehr Güter um als jemals zuvor. Oder Chemnitz: Aus dem hässlichen Entlein ist vielleicht kein schöner Schwan, aber immerhin ein stolzer Storch geworden – mit erfolgreichem Maschinenbau, einer guten Universität sowie einer renommierten Kultur- und Kunstszene. Schwarzheide, Wismar, oder Freiberg im Erzgebirge sind Beispiele für Orte, die Nischen besetzt haben – und dabei erfolgreich geworden sind. Ihr Kennzeichen ist oft die intensive Vernetzung verschiedener Partnern – eine Vernetzung von kleinen Unternehmen mit Forschungseinrichtungen oder Hochschulen, ohne die die vielen kleinen Erfolgsgeschichten kaum denkbar wären. Diese örtlichen und regionalen Netzwerke sind kaum bekannt, aber sympathisch durch ihren unbedingten Willen, vorwärts kommen zu wollen. Zwar stehen die heimlichen Champions unter großem demografischen Druck. Ihre Einwohnerzahl ist nach der Wende massiv gesunken, und erst in jüngster Zeit konnte der Abwärtstrend gebremst werden. Die Menschen dieser perspektive21

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thema – 10 jahre „perspektive21“

Orte hatten es schwer nach der Wende, den ganz großen Sprung haben sie vielleicht nicht geschafft – aber sie sind angekommen im neuen System. Typisch für sie ist der Sozialtypus des gut ausgebildeten Ingenieurs, der im DDR-System unabkömmlich war – und sich langsam aber sicher im neuen Deutschland eingefunden hat. Sein wichtigstes Merkmal ist die beharrliche Anstrengung, es besser zu machen und mitzuhalten. Sein größtes Ziel: auf eigenen Füßen stehen – und laufen können. Wie schwer das ist, wird deutlich, wenn man die Wachstumsraten von Wirtschaft und Beschäftigung miteinander vergleicht. In den wirtschaftlich besonders starken Kreisen Brandenburgs – Teltow-Fläming, Oberhavel und Havelland – wuchs die Wirtschaft zwischen 1995 und 2003 jährlich zwischen 4 und 8 Prozent. Die Zahl der Arbeitsplätze hingegen stieg nur um gerade 1 Prozent pro Jahr. III. Die Kämpfer Im Jahr 2005 verkündete die Brandenburger Landesregierung ein neues Förderkonzept. Die Gießkanne wurde in den Schrank gestellt, Mittel konzentriert. Wachstumskerne sollen seitdem besonders berücksichtigt werden, „Stärken stärken“ heißt das neue Credo. Dieses mutige Konzept erntete viel Applaus – vor allem aber löste es zunächst einen großen Aufschrei im Land aus. Die Diskussion über die Umstellung der 130

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Förderpolitik führte jedoch zu einem Umdenken. Das Prinzip des Schwächenausgleichs wurde abgelöst durch das der Stärkenkonzentration. Damit waren Regionen ganz zwangsläufig gezwungen, nicht mehr zu jammern, sondern zu klotzen. Jetzt mussten Stärken und Potentiale vorgezeigt werden, um neue Fördermittel zu rechtfertigen. Sicher, nicht alles, was sich dafür hielt, war wirklich eine handfeste Boomregion. Gleichwohl hat dieser Umdenkprozess in den Regionen eine Bewegung in Gang gesetzt, die sich langfristig auszahlen wird. Denn es haben sich Verwaltungen, Unternehmen, Verbände und Initiativen zusammengesetzt und beraten, wo die Stärken ihrer Region liegen und wie diese verbessert werden könnten. In etlichen Gegenden hat man dabei Ziele formuliert und Projekte entwickelt, die auch noch weiter verfolgt wurden, als die Landesregierung den Zuschlag als offizieller „Wachstumskern“ verweigerte. „Wir werden trotzdem weitermachen, auch wenn es keine Fördermittel gibt“, lautete der trotzige Ausruf von fünf Bürgermeistern aus der Region um Wittstock im brandenburgischen Norden, nachdem die negative Nachricht aus Potsdam gekommen war. Im Kern ist dies jedoch eine positive Nachricht. Trotz widriger Umstände wollen die Verantwortlichen einer Region ihr Schicksal in die eigenen Hände nehmen. Man lässt sich nicht von außen unterkriegen, sondern vertraut in eigene Stärken.


thomas kralinski – ostdeutschland gibt es nicht (2007)

Eine ähnliche Geschichte lässt sich vom Bürgerbus in Gransee erzählen. Sinkende Einwohnerzahlen und zurückgehender Schülerverkehr machen öffentlichen Nahverkehr in dünn besiedelten Gegenden immer teurer und unrentabler. Um die Situation vor allem älterer Menschen in den Dörfern um den kleinen nordbrandenburgischen Ort zu verbessern, gründete sich 2004 ein Bürgerbus-Verein. Mit einem Kleinbus und ehrenamtlichen Fahrern sollte ein kleiner aber brauchbarer Busverkehr eingerichtet werden, der die Menschen in die nächste Stadt, auf den Markt, ins Amt und die Geschäfte bringt. Das Ganze wurde ein großer Erfolg. Nach anfänglicher Skepsis verzeichnet der Bürgerbus steigende Fahrgastzahlen. Für die Fahrer, unter ihnen viele Arbeitslose und Rentner, bieten sich so neue Gelegenheiten zu Beschäftigung und Verantwortung, zum Erlebnis des Gebraucht-Werdens. Mancher Arbeitsloser konnte auf dem Umweg über die Tätigkeit beim Bürgerbus bereits eine „richtige“ neue Stelle ergattern. Und für viele Fahrgäste ist der Bürgerbus so etwas wie ein guter Bekannter geworden, manche drehen sogar eine Extra-Runde, um sich ein bisschen zu unterhalten, um sich umzuschauen. Die Beispiele zeigen: Es gibt Mut – selbst dort, wo man es kaum erwartet. Leute, die für ihre Region kämpfen, Leute, die bereit sind, ihr Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen, auch wenn es schwierig wird. Wer in solchem sozia-

len und wirtschaftlichen Umfeld etwas auf die Beine zu stellen versucht, verdient höchsten Respekt – gerade weil diese Entwicklungen immer wieder in die Gefahr des Scheiterns geraten. Hier ist eine Politik der Ermutigung gefragt, denn zu viele Regionen, zu viele Menschen in Ostdeutschland stehen genau an diesem Scheideweg: Scheitern oder Mut fassen – gerade wenn es schwierig ist. Die Menschen hier stemmen sich mit aller Macht gegen eine trostlose Zukunft. Sie wollen nicht, dass ihre Heimat deprimierenden und unglücklichen Zeiten entgegen dümpelt. Zu oft in den vergangenen Jahren wurden staatliche Gelder zu einer Droge, die abhängig gemacht hat. Zu oft hat man sich mit Fördermitteln eingerichtet. Inzwischen haben die „Kämpfer“ verstanden, dass die öffentlichen Fördermittel in Zukunft geringer ausfallen werden, dass sie mit weniger Geld bessere Qualität erreichen müssen – und können. Den Zirkel der Abhängigkeit zu durchbrechen, Menschen und ganze Regionen mitzunehmen und aufzurütteln, das ist die eigentliche Leistung. IV. Die Hoffnungslosen Im Sommer 2004 schien es für einige Wochen, als könnte in Ostdeutschland eine zweite Revolution ausbrechen. In über 100 Städten demonstrierten Zehntausende gegen die Arbeitsmarktreformen der Bundesregierung – und nahmen dabei ausdrücklich Bezug auf perspektive21

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die Wende-Demonstrationen vom Herbst 1989. Die Proteste flauten zwar nach einigen Wochen wieder ab, gleichwohl gingen die Demonstrationen weiter. In gut einem Dutzend Brandenburger Städte kamen die Unverzagten über ein Jahr lang Montag für Montag zusammen, um ihrem Protest, manchmal auch nur ihrer Angst Ausdruck zu verleihen. Die Menschen fühlten sich abgehängt, sie fühlten sich allein gelassen und hatten jede Hoffnung verloren, dass der Staat ihnen noch helfen könne. Es gibt ganze Regionen, in denen das Gefühl dominiert, vergessen worden zu sein. Alte Industrieregionen wie die Lausitz oder Ostthüringen, ländliche Gegenden wie Vorpommern oder die Altmark haben die Jahre nach der Wende als einen einzigen großen Abstieg wahrgenommen. So hat der Kohleabbau nicht nur riesige Löcher in der Landschaft, sondern auch viele Menschen übrig gelassen. Menschen mit guter Ausbildung und hartem Arbeitsleben – von denen heute kaum noch jemand gebraucht wird. Die Arbeitslosenquote erreicht in diesen Regionen bis zu 30 Prozent – und das schon seit Jahren. Die Menschen wandern von einer Beschäftigungsgesellschaft in die Arbeitslosigkeit, von da in eine ABM, anschließend in eine Fortbildung und dann wieder in die Arbeitslosigkeit. Im Kreis Demmin leben 25 Prozent der 18-65Jährigen von Sozial- oder Arbeitslosengeld. Zu beobachten ist dort ein 132

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dreimal stärkerer Alkoholkonsum als im Bundesdurchschnitt, häufigere HerzKreislauf-Krankheiten, höhere Übergewichtigkeit. Qualifikationen passen nicht Langzeitarbeitslosigkeit ist ein schleichendes Gift. Es vergiftet nicht nur das Leben jedes einzelnen Betroffenen, es macht auch keinen Halt vor seiner Umgebung, seiner Region. Die Stimmung in diesen zerstörten Gemeinschaften ist am Boden, das Vertrauen dahin. Die Abwanderung von gut ausgebildeten jungen Leuten verstärkt das Gefühl, abgehängt zu sein. Die Alterung schreitet damit umso schneller voran. In diesen Regionen entsteht ein neues Unten, das zudem stark männlich dominiert ist. In einigen Gegenden Ostdeutschlands kommen auf 100 Männer nur noch 80 Frauen. Wer die wirtschaftlichen und demografischen Probleme zumindest ansatzweise beherrschen will, muss sich vor allem um die Frauen kümmern. Gut ausgebildete Frauen wollen Job und Kind miteinander verbinden, sind flexibel bei der Wahl ihres Arbeitsplatzes – und schneller bereit, Regionen zu verlassen, die keine Hoffnung mehr bieten. Tatsächlich steht dem Osten ein enormes Fachkräfteproblem unmittelbar bevor. Allein in Brandenburg werden in den kommenden Jahren bis zu 100.000 Fachkräfte gebraucht – bei einer Gesamtzahl von 700.000 sozialversicherungs-


thomas kralinski – ostdeutschland gibt es nicht (2007)

pflichtigen Beschäftigten! Die hohe Langzeitarbeitslosigkeit hat dazu geführt, dass die Erfahrungen vieler Menschen – und damit sie selbst – entwertet wurden. Viele haben schlicht verlernt zu arbeiten. Ihre Qualifikationen passen nicht mehr zu den Jobs von morgen. So kann es nicht verwundern, dass es Menschen geradezu verrückt macht, wenn sie seit langer Zeit arbeitslos und Unternehmen zugleich offene Stellen haben, für die sie aber nicht in Frage kommen. Dieses Dilemma zu bewältigen und nicht noch mehr Frust entstehen zu lassen, wird zu den großen politischen und kommunikativen Herausforderungen der kommenden Jahre gehören. Es fehlen Anker Etliche Gegenden wie die Lausitz oder die Prignitz können den demografischen und wirtschaftlichen Zug nicht mehr aufhalten. Manches Dorf wird nicht mehr weiter existieren können. Im Kern geht es in vielen Regionen darum, den Niedergang zu moderieren – viele kehren auch demografisch zurück auf ein Niveau, das sie vor der ebenso implantierten wie sprunghaften Industrialisierung der DDR-Zeit hatten. Dennoch: Alles einfach dem Selbstlauf, der Zerstörung und bisweilen der Selbstzerstörung von Traditionen und Lebensleistungen zu überlassen, wäre falsch. Aber bisher fehlt eine brauchbare Strategie des geordneten Rückzugs, eines

Rückzugs, der nur mit den Menschen gelingen kann. Eine funktionierende Gesellschaft kann und muss es auch in schrumpfenden Regionen geben. Was fehlt, sind „Anker“. Von einer funktionierenden Zivilgesellschaft finden sich nur Rudimente. Vereine und Ehrenamtlichkeit, Initiative und freiwilliges Engagement sind kaum zu finden oder haben nur wenig Ausstrahlungskraft. Parteien, Politik und auch die Demokratie erleben schwindenden Rückhalt. Eine Langzeitstudie unter jungen Ostdeutschen zeigt, dass nur eine Minderheit zu Demokratie und Marktwirtschaft steht. Das fehlende gesellschaftliche Interesse zeigt sich immer deutlicher. Das Vertrauen in Demokratie ist oft bereits so gering, dass sie den Menschen schlicht egal geworden ist. Ein interessantes Beispiel erlebte jüngst der Brandenburger Landtag. Die Potsdamer Landtagsparteien stellten im Frühjahr 2006 eine Reform des Abgeordnetengesetzes vor, die neben einigen Kürzungen auch eine maßvolle Diätenerhöhung vorsah. Debatten über Abgeordnetendiäten sind normalerweise immer gut für Empörung, für böse Leserbriefe, zornige Zuschriften und aggressive Anrufe. Diesmal passierte gar nichts! Es blieb so ruhig, dass die Teilnahmslosigkeit nicht nur Politiker ins Nachdenken brachte. Für dieses Phänomen der gesellschaftlichen Abgeschiedenheit hat die Friedrich-Ebert-Stiftung den Begriff des perspektive21

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„abgehängten Prekariats“ gefunden, zu dem 25 Prozent der Ostdeutschen gezählt werden können. Viele dieser Menschen haben einen – unerwarteten – gesellschaftliche Abstieg erlebt und mittlerweile fehlt ihnen jedes Zutrauen in politische und gesellschaftliche Institutionen. Es hat vor allem Männer im mittleren Alter getroffen, hoch ist der Anteil der Arbeiter und einfachen Angestellten. Sie haben sich vollkommen ins Private zurückgezogen und haben den Mut und die Kraft verloren, der selbst wahrgenommenen Verliererseite nochmal entkommen zu können. Viele Menschen haben das Gefühl verloren, gebraucht zu werden, dazu zu gehören und ein Teil des Ganzen zu sein. Sie fühlen sich ohnmächtig und ausgeliefert. Eine Stimmung der Ignoranz macht sich breit. Ignoranz gegenüber dem Staat, der Heimat, der Gemeinschaft, auch gegenüber Nachbarn und Mitmenschen. Es ist diese Stimmung, die dazu beigetragen hat, dass Schwangerschaften und das Verschwinden kleiner Kinder unbemerkt blieben, dass Nachbarn sich mehr über Hundegebell als über Kinderleiden beschwerden. Mit Engagement lässt sich jedoch viel erreichen. In Lauchhammer in der Lausitz ist man beispielsweise dabei, ein Netzwerk zu knüpfen, das Kinderärzte, Jugend- und Sozialamt, Polizei und Kindergärten zusammen bringt. Ziel ist es, Familien mit Kindern besser zu unterstützen, ihnen aktiv Hilfe anzubie134

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ten. Von Anfang an war den Initiatoren klar: Wer eine Kultur des Hinschauens erreichen will, muss die Menschen zum Mitmachen bewegen. Deshalb sollten ehrenamtliche Helfer in dieses Familiennetzwerk einbezogen werden. Viele waren skeptisch, ob dies ausgerechnet in dieser zermürbten Region gelingen könne. Der Ansturm der Freiwilligen war überwältigend. Die Lust mitzumachen und eine Aufgabe zu übernehmen, hat viele – darunter auch ehemalige und arbeitslose Lehrer und Krankenschwestern – motiviert, das Familiennetz zu unterstützen. Und das mitten in einer Region, in der Zukunft für viele ein Fremdwort ist. Und so entsteht gerade dort neue Zuversicht. V. Die Gleichzeitigkeit Der Osten ist nicht mehr „der Osten“. Die Wende von 1989/90 hat das Leben der Menschen in Ostdeutschland vollkommen durcheinander gewürfelt. Dieses Erlebnis mit all seinen Folgewirkungen für jede einzelne Biografie hat die Menschen zusammengehalten. Doch heute, 17, 18 Jahre später zeigt sich, dass parallele Gesellschaften entstanden sind, die zwar alle gleiche Wurzeln, aber unterschiedliche Interessen und Zukunftserwartungen haben. Politik für Ostdeutschland wird schwieriger und muss stärker als bisher differenzieren. Die Spaltung in Gewinner und Verlierer verstärkt sich, die Diffe-


thomas kralinski – ostdeutschland gibt es nicht (2007)

renzen zwischen den Regionen werden zunehmen. Die ostdeutsche Gesellschaft geht Schritt für Schritt auseinander. Jena und Demmin haben nur noch wenig miteinander zu tun, ähnliches lässt sich für Leipzig und Salzwedel sagen, für Potsdam und Altenburg. Das kleine Maschinenbauunternehmen aus Chemnitz hat ganz andere – bessere – Perspektiven als der Computerhändler in einer schrumpfenden Region ohne wirtschaftliche Basis. Das gleiche trifft auch auf einen ehemaligen Bergbauarbeiter in Mitteldeutschland und einen Inhaber einer kleinen modernen Biotech-Firma im Berliner Umland zu. Dabei gilt aber auch: Diese unterschiedlichen Gesellschaften sind unmittelbare Nachbarn. In Leipzig gibt es nicht nur das glänzende Zentrum, sondern auch verlassene Stadtteile, in denen man nachts lieber nicht zu Fuß unterwegs ist. In Guben an der Neiße, einer Stadt, die in den vergangenen Jahren ein Drittel seiner Einwohner verloren hat, würde man kaum eine der größten und modernsten Bäckereien Ostdeutschlands erwarten – doch genau die gibt es dort. In den meisten Regionen ist die Hoffnung der unmittelbare Nachbar der Niedergeschlagenheit. Die öffentliche Diskussion um Ostdeutschland schwankte bisher stets zwischen zwei Polen hin und her. Auf der einen Seite wird auf die erfolgreichen Regionen verwiesen, in denen Infrastruktur und wirtschaftliche Entwick-

lung mittlerweile das allseits angestrebte „Westniveau“ erreicht und bisweilen auch überschritten haben. Auf der anderen Seite stehen die abgehängten und verlorenen Menschen und Regionen. Doch dazwischen gibt es viele Gegenden und gesellschaftliche Gruppen, die sich in die eine oder die andere Richtung entwickeln können. Ostdeutschland wird normaler Menschen und Regionen müssen die Chance erhalten, sich aus eigener Kraft entwickeln zu können. Die Gefahr, dass Verzweiflung und Entkräftung um sich greifen, ist real. Unter keinen Umständen darf dies zur dominanten Kultur in ganzen Bevölkerungsgruppen und Regionen werden. Zumal in dem Maße, wie die Zuweisungen aus dem Solidarpakt II langsam sinken werden, lassen sich Probleme in Zukunft nicht mehr mit Geld lösen oder zudecken. Helfen können einzig und allein noch gute Ideen. Zugleich werden die Probleme offener und härter als bisher zu Tage treten. Es wird schwieriger in Ostdeutschland, vielleicht aber auch einfach nur ein bisschen „normaler“ werden – eben eine moderne ausdifferenzierte Gesellschaft mit all ihren Brüchen und Widersprüchen. Erforderlich ist deshalb eine Politik, die aktiv die überall vorhandenen Motivatoren unterstützt – und sich dabei besonders auf die „versteckten Champions“ und noch viel stärker auf die „Kämpfer“ perspektive21

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thema – 10 jahre „perspektive21“

konzentriert. Dabei geht es gar nicht einmal so sehr um mehr finanzielle Mittel. Die Zeiten wachsender und konstanter Haushalte sind vorbei. Geld muss viel stärker in intelligente Ermutigung als in Ruhigstellung und Infrastruktur aus Beton gesteckt werden. „Der Osten“ braucht mehr Diskussion, vor allem mit sich selbst – und

muss sich seiner Stärken stärker bewusst werden. Politik und Gesellschaft müssen motivieren und aktivieren. Sie müssen dazu beitragen, dass zwischen den Teilgesellschaften Leitern und Übergänge bestehen bleiben und neu entstehen, damit die Hoffnungslosen nicht ihrem vermeintlichem Schicksal überlassen sind. ■

THOMAS KRALINSKI

war und ist Geschäftsführer der SPD-Landtagsfraktion Brandenburg und Chefredakteur der Zeitschrift Perspektive 21. 136

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hubertus heil, kai weber – zur idee des sozialen rechtsstaates (1997)

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