perspektive21 - Heft 39

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HEFT 39 DEZEMBER 2008 www.perspektive21.de

BRANDENBURGISCHE HEFTE FÜR WISSENSCHAFT UND POLITIK

WAS SICH IN MITTEL- UND OSTEUROPA TUT – UND WARUM DAS WICHTIG FÜR UNS IST

Osteuropa und wir MATTHIAS PLATZECK:

Der Sinn des Lebens liegt im Miteinander

KLAUS NESS UND MATTHIAS BEIGEL: GERD HARMS:

Ehrlichkeit, Zuversicht und Verantwortung

In der Mitte Europas

THOMAS KRALINSKI UND JOHN SIEGEL:

Viel geschafft, noch viel zu tun

TOBIAS DÜRR UND KATARINA NIEWIEDZIAL: BASIL KERSKI:

Gut und modern

MERIN ABBASS:

Drei Wege zur Sozialdemokratie

RAINER LINDNER: DIETER BODEN: TILL MEYER:

Den Schalter umlegen

Politische Antworten gesucht

Warum es im Kaukasus so schwierig ist

Unser langer Weg nach Osten



vorwort

Osteuropa und wir as macht gerade Sarkozy? Welche Idee verfolgt Gordon Brown zur Bekämpfung der Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise? Fast täglich können wir in Zeitungen, Fernsehen und andere Medien verfolgen, was unsere westeuropäischen Nachbarn diskutieren. Das vereinte Deutschland ist fast 20 Jahre nach der Vereinigung in seiner Wahrnehmung Europas noch immer nahezu ausschließlich in der Tradition der alten Bundesrepublik verhaftet. Aber 1989 brachte nicht nur die Vereinigung Deutschlands. 1989 hat auch Europa verändert. Wie im Ostteil Deutschlands sind nach 1989 auch in allen mittel- und osteuropäischen Ländern Transformationsgesellschaften entstanden, von denen viele mittlerweile Mitglied der EU sind oder eine Mitgliedschaft anstreben. Das Interesse an den Ländern Mittel- und Osteuropas ist in der Gesellschaft des vereinigten Deutschlands aber dramatisch unterentwickelt. Das könnte sich in den nächsten Jahren als großer Fehler erweisen. Unsere ökonomische Prosperität, aber auch die Stabilität der Demokratie in Europa werden in wachsendem Maße davon abhängen, wie sich die Gesellschaften in diesen Transformationsländern entwickeln. Gerade in der Hauptstadtregion Berlin und Brandenburg, die mit seiner langen Grenze zu Polen an der Nahtstelle zu Mittel- und Osteuropa liegt, müssen wir ein stärkeres Interesse an den Vorgängen in Mittel- und Osteuropa entwickeln. Mit dieser Ausgabe der Perspektive 21 wollen wir einen kleinen Beitrag dazu leisten. Auch in künftigen Heften werden wir das Thema nicht aus dem Blickfeld lassen.

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Ich wünsche Ihnen eine interessante Lektüre. KLAUS NESS

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inhalt

Osteuropa und wir WAS SICH IN MITTEL- UND OSTEUROPA TUT – UND WARUM DAS WICHTIG FÜR UNS IST MAGAZIN

Der Sinn des Lebens liegt im Miteinander ........................ 7 Die Wirtschaftskrise und das Verhältnis zwischen Ost und West MATTHIAS PLATZECK:

Ehrlichkeit, Zuversicht und Verantwortung .15 Eine Zwischenbilanz auf dem Weg zur Landtagswahl KLAUS NESS UND MATTHIAS BEIGEL:

THEMA

In der Mitte Europas ................................................................. 23 Warum sich der Blick nach Osten für Brandenburg lohnt GERD HARMS:

Viel geschafft, noch viel zu tun ............ 29 20 Jahre nach Beginn der Transformation und 5 Jahre nach dem EU-Beitritt steht Osteuropa vor neuen Herausforderungen THOMAS KRALINSKI UND JOHN SIEGEL:

Den Schalter umlegen ................... 39 Nach dem EU-Beitritt stehen Polen und Rumänien am Beginn einer neuen Transformationsphase TOBIAS DÜRR UND KATARINA NIEWIEDZIAL:

Gut und modern ....................................................................... 51 Über das erste Jahr der Regierung Tusk, die EURO und den Euro BASIL KERSKI:

Drei Wege zur Sozialdemokratie ............................................. 57 Die Parteienentwicklung in Mittel- und Osteuropa seit 1989/90 MERIN ABBASS:

Politische Antworten gesucht ............................................... 71 Der demografische Wandel und der Nachholbedarf bei Innovationen sind zentrale Herausforderungen der russischen Innenpolitik RAINER LINDNER:

Warum es im Kaukasus so schwierig ist .................................... 77 Georgische und russische Interessen nach dem Südossetien-Krieg DIETER BODEN:

Unser langer Weg nach Osten ...................................................... 83 In Osteuropa entsteht eine neue europäische Literatur TILL MEYER:

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Der Sinn des Lebens liegt im Miteinander WARUM DIE WIRTSCHAFTSKRISE NICHT DAS VERHÄLTNIS ZWISCHEN OST UND WEST BEEINTRÄCHTIGEN DARF VON MATTHIAS PLATZECK

ie Zeiten sind ernst. Die Bürgerinnen und Bürger in unserem Land wollen wissen, was ihre Landesregierung tun wird. Sie wollen wissen, ob diese Landesregierung in den kommenden Monaten mit Entschiedenheit an ihrer Seite stehen wird. Und sie wollen wissen, welchen Beitrag ihre Regierung leisten wird, um die kommende Krise zu mildern und möglichst zu verkürzen. Einem Einwand will ich dabei von vornherein entgegentreten. Hier und da heißt es in diesen Tagen noch immer: Wer die Situation ungeschminkt beim Namen nenne, der rede die Rezession gerade dadurch erst herbei. Wirtschaft sei vor allem auch Psychologie, so wird gesagt. Und nach dieser Logik gilt als Panikmacher, wer die Wirklichkeit beim Namen nennt. Ja, Wirtschaftsentwicklung und Konjunkturverlauf haben immer auch psychologische Ursachen. Die gegenwärtige Krise aber ist real. Sie hat sehr reale Ursachen; auch über diese Ursachen werden wir reden müssen, um daraus für die Zukunft zu lernen. Und die Krise hat sehr reale Auswirkungen. Diese Auswirkungen bekommen immer mehr Menschen ganz praktisch und direkt zu spüren.

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Brandenburg steht besser da als vor fünf Jahren In dieser Situation darf eine Regierung nicht schweigen und nicht schönfärben, und unter meiner Führung wird die Brandenburger Landesregierung weder das eine noch das andere tun. Die Menschen hier in Brandenburg wollen keine Verschleierung. Wir Märker sind ein nüchterner Menschenschlag. Wir können die Wahrheit vertragen. Was uns auszeichnet, ist unser Wirklichkeitssinn. Eine offene und ehrliche Ansage ist uns allemal lieber als unklares Lavieren. Als brandenburgischer Ministerpräsident habe ich mich in den vergangenen Jahren bemüht, dieser Erwartung gerecht zu werden. Erst recht in schwierigen Zeiten werde ich alles daran setzen, dieser Linie treu zu bleiben. perspektive21

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Die gegenwärtige Wirtschaftskrise ist eine globale Krise. „Wir haben es mit einer Weltrezession zu tun“, hat soeben Helmut Schmidt erklärt. Der Brand hat nicht in Brandenburg angefangen, und es wäre naiv zu glauben, wir könnten ihn mit Brandenburger Löschwasser niederkämpfen. Unsere landespolitischen Mittel und Möglichkeiten sind eng begrenzt. Auf eines aber können sich die Brandenburgerinnen und Brandenburger felsenfest verlassen. Sie können sich darauf verlassen, dass ihre Landesregierung und ihr Ministerpräsident in diesen schwierigen Zeiten für sie kämpfen und einstehen werden: ■ Wir werden uns nicht mit dieser Krise abfinden. ■ Was immer die Landesregierung tun kann, das wird sie tun. ■ Wo immer wir helfen können, da werden wir helfen. ■ Wo immer es um die begründeten Interessen der Menschen in unserem Land geht, da werden wir die Stimme erheben. ■ Und wo immer wir von Brandenburg aus auf die Bundespolitik Einfluss nehmen können, da werden wir Einfluss nehmen, damit der Krise auch in Deutschland sehr schnell, sehr energisch und sehr präzise entgegengetreten wird. Wir haben in Brandenburg in den vergangenen Jahren beträchtliche Erfolge erzielt: Die Arbeitslosigkeit ist in unserem Land massiv gesunken. Unsere Industrie ist zunehmend wettbewerbsfähig und exportstark. Moderne Unternehmen haben bei uns investiert und Arbeitsplätze geschaffen. Auf dem Gebiet der erneuerbaren Energien sind wir weiter als jedes andere Bundesland. Unser Bildungssystem haben wir systematisch verbessert, unseren Landeshaushalt haben wir in Ordnung gebracht. Brandenburg ist in den vergangenen Jahren zu einem Land im Vorwärtsgang geworden. Wir haben auf die Erneuerung aus eigener Kraft gesetzt – und wir in Brandenburg haben gemeinsam gezeigt, dass die Erneuerung aus eigener Kraft gelingen kann. Daran haben sehr viele mitgewirkt: unsere tüchtigen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer; unsere aktiven Unternehmer und tatkräftigen Handwerker; unsere starken Betriebsräte, Gewerkschaften und Wirtschaftsverbände; unsere engagierten Lehrer und Forscher, Studenten, Schüler und Eltern; unsere tatkräftigen Kommunalpolitiker aus allen demokratischen Parteien. Entstanden ist in Vereinen und Initiativen zugleich ein vielfältiges Netzwerk ehrenamtlicher Aktivität für unser Land, in dem viele Ältere eine zentrale Rolle spielen. Das alles hat dazu beigetragen, dass im Land eine echte Kultur des Zusam8

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menhalts entstanden ist. Immer mehr Menschen haben erkannt: Wir in Brandenburg sitzen alle im selben Boot. Genau diese gemeinsame Einsicht macht die Stärke unseres Landes aus. Ich bin mir ganz sicher: Was da an neuem Zusammenhalt in Brandenburg herangewachsen ist, das wird uns helfen die schwierige Wegstrecke zu bewältigen, die jetzt vor uns liegt. Wir in Brandenburg haben in den letzten zwei Jahrzehnten gemeinsam enorme Umbrüche bewältigt. Wir haben länger gearbeitet als andere, und wir haben weitere Wege in Kauf genommen, um Arbeit zu finden. Wir haben Rückschläge erlitten, und wir sind wieder aufgestanden. Wir haben gelernt, dass andere auch nur mit Wasser kochen. Wir haben nicht den geringsten Grund zu Furcht oder Kleinmut. Wir nehmen auch diese neue Herausforderung an – und wir werden sie bewältigen. Der Raubtierkapitalismus ist am Ende Angst ist niemals ein guter Berater; was uns aber klüger macht, sind unsere Erfahrungen. Deshalb müssen wir nicht nur darüber reden, was wir hier in Brandenburg als nächstes zu tun haben, damit wir die Krise so gut wie möglich bewältigen. Sondern wir müssen auch darüber reden, wie wir in diese Krise hineingeraten sind. Eines ist völlig klar: Die Rezession, die jetzt unsere Realwirtschaft erfasst, ist kein Naturereignis, sondern sie ist von Menschen gemacht. Sie ist das Resultat der Ideologie vollständig freier Märkte, die sich ein für allemal als untauglich und menschenwidrig erwiesen hat. Diese Ideologie hat der größten Immobilien- und Kreditblase der Geschichte den Weg bereitet. Und mit dem Zerplatzen dieser spekulativen Blase ist zugleich die Ideologie eines regellosen Kapitalismus der freien Märkte in sich zusammengesackt. ■ Diese Ideologie führte dazu, dass in Amerika bis vor Kurzem der vollständig kreditfinanzierte Hauskauf als besonders idiotensicherer Weg zum schnellen Reichtum galt – denn vermeintlich stiegen die Immobilienpreise ja immer weiter. ■ Diese Ideologie führte dazu, dass im Bankgeschäft Eigenkapitalrenditen von bis zu 25 Prozent zur völlig normalen Messlatte des Geschäftserfolgs erklärt wurden – auch wenn zugleich die Volkswirtschaften nur um ein, zwei oder drei Prozent wuchsen. ■ Diese Ideologie führte dazu, dass Bankmanager erfolgsorientierte Bonuszahlungen vor allem dann erhielten, wenn sie besonders waghalsige, besonders kurzfristige und besonders kurzsichtige Geschäfte abschlossen – oftmals gegen die Interessen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. perspektive21

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Diese Ideologie führte dazu, dass sich – wie schon zu Zeiten der New Economy – die Vorstellung breitmachte, die klassischen Marktgesetze seien durch ein angebliches „Neues Paradigma“ der Ökonomie außer Kraft gesetzt. Diese Ideologie führte dazu, dass sich – auch in Deutschland – Kleinanleger auf extrem komplizierte Finanzprodukte wie Zertifikate stürzten, deren Funktionsweise nicht einmal ihre Bankberater auch nur ansatzweise verstanden.

Das alles – und viele weitere Auswüchse dieser angelsächsischen Spielart des Kapitalismus – hat zu den weltweiten Krisen geführt, in die wir inzwischen hineingezogen werden: zuerst in die Banken-, Finanz- und Kreditkrise, jetzt als Folge davon in die allgemeine Wirtschaftskrise. Heute ist klar: Wir befinden uns mitten in einem epochalen Umbruch. Ein Zurück zur alten Tagesordnung des zügellosen Kapitalismus wird es nicht mehr geben. Aus dem Kollaps eines Finanzsystems, das Altbundeskanzler Helmut Schmidt zutreffend als „Raubtierkapitalismus“ bezeichnet, müssen wir dringend die richtigen Schlüsse ziehen. Ordnung kommt nicht von selbst „Keine Marktwirtschaft und kein Markt“, so schreibt Schmidt in seinem jüngsten Buch, „schafft automatisch Marktordnung, Wettbewerbsordnung und soziale Gerechtigkeit für die ökonomisch Schwächeren und Abhängigen. Überall muss die Regierung für Ordnung sorgen, nirgendwo kommt Ordnung von selbst.“ Nirgendwo kommt Ordnung von selbst – diese grundlegende Einsicht haben die übereifrigen Anhänger der Deregulierung in den vergangenen Jahren systematisch verdrängt und vergessen. Einige von ihnen gibt es auch in Brandenburg. Ich wünsche mir und uns allen, dass sie aus den Erfahrungen der vergangenen Wochen und Monaten neue Schlüsse ziehen. Dringend zu warnen ist aber zugleich vor etwas anderem. Dringend zu warnen ist vor der Versuchung, das Kind mit dem Bade auszuschütten: ■ Da und dort herrscht dieser Tage klammheimliche oder sogar offen ausgelebte Freude über den Ausbruch der gegenwärtigen Krise. ■ Da und dort erwartet man in kindlicher Häme bereits wieder den „großen Kladderadatsch“ des kapitalistischen Systems. ■ Da und dort hofft man, an die Stelle der marktwirtschaftlichen Ordnung werde erneut irgendeine Form von staatssozialistischem System treten. 10

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„Je schlimmer, desto besser“, so lautet das geheime Motto derjenigen, die auf diese Entwicklung hoffen: Jeder verlorene Arbeitsplatz wäre demnach ein Schritt in die richtige Richtung, jeder zusätzliche Arbeitslose ein Sargnagel mehr im verhassten kapitalistischen System. Dazu sage ich in aller Deutlichkeit: Diese Spielart eines destruktiven Zynismus von ganz links ist kein bisschen besser als der destruktive Zynismus wild gewordener Investmentbanker. Ob Marktideologen oder Verstaatlichungsideologen: Beide nehmen im Namen ihrer abstrakten Ziele Zerstörung und menschliches Leid in Kauf. Beiden geht es ums Rechtbehalten statt um das Wohlergehen wirklicher Menschen aus Fleisch und Blut. Beide verkünden ewige Einsichten – und erklären sich dann unzuständig für die verheerenden Folgen ihrer Lehren. So leicht dürfen wir es uns nicht machen. Darum müssen wir gründlicher hinsehen und die Konsequenzen unseres Handelns für die Menschen bedenken. Wir wissen: Unrettbar in die Krise geraten ist eine bestimmte angelsächsische Form von regellosem Kapitalismus. In der Krise steckt ausdrücklich nicht das Prinzip der sozialen Marktwirtschaft. Und in die Krise geraten ist auch nicht das Prinzip eines sozial verantwortlichen Unternehmertums, das bei uns in Brandenburg so breit vertreten ist. Im Gegenteil: Das alles werden wir in den kommenden Monaten und Jahren unbedingt brauchen, um die Fehlentwicklungen der vergangenen Jahre zu korrigieren. Wir brauchen klug regulierte Finanzmärkte; wir brauchen eine dynamische soziale Marktwirtschaft; wir brauchen einen vorsorgenden Sozialstaat, der systematisch in die Fähigkeiten der Menschen investiert und ihnen zugleich verlässlichen Schutz bietet – das alles sind wichtige Konsequenzen, die wir aus dieser Krise ziehen müssen. Die Stimmung im Osten ist labil Wirtschaftskrisen treten niemals zu einem „passenden“ Zeitpunkt ein, und für schwere Rezessionen gilt das erst recht. Aber die gegenwärtige Krise ereilt Brandenburg – und ganz Ostdeutschland – in einer besonders ungünstigen Situation. Diese Krise trifft viele Menschen in einer Situation, in der sie gerade begonnen hatten, Vertrauen zu fassen und Boden unter den Füßen zu gewinnen. Hunderttausende Brandenburgerinnen und Brandenburger haben sich in den vergangenen Jahren aus den gröbsten Schwierigkeiten der Nachwendezeit herausgearbeitet. Viele haben erst vor kurzem einen neuen Arbeitsplatz gefunden, eine Familie gegründet, ein Eigenheim erworben, ein neues Auto gekauft. Das alles ist noch nicht gefestigt. perspektive21

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Und darum ist die Sorge vieler Menschen hier in Ostdeutschland groß, dies alles könnte jetzt wieder bedroht sein. Umso größer sind ihre Erwartungen an den Staat und an die Politik. Umso größer sind ihre Befürchtungen, in der Krise erneut ins Hintertreffen zu geraten. Umso labiler ist die Stimmung im Osten. „Ein Land, zwei Gesellschaften“ – die neueste Untersuchung des Sozialwissenschaftlers Wilhelm Heitmeyer („Deutsche Zustände“) hat soeben erst gezeigt, wie verbreitet dieses Lebensgefühl fast zwei Jahrzehnte nach der deutschen Vereinigung noch immer ist. Einer Umfrage zufolge meinten angesichts der Finanz- und Bankenkrise schon vor einigen Wochen 52 Prozent der Ostdeutschen, die Marktwirtschaft sei „untauglich“ und habe „abgewirtschaftet“. Und zu 43 Prozent erklärten die Bürger auf dem Gebiet der ehemaligen DDR, sie wünschten sich ein „sozialistisches Wirtschaftssystem“ zurück, weil dieses ihrer Ansicht nach „die kleinen Leute vor Finanzkrisen und Ungerechtigkeiten schützt“. Die erste dieser beiden Auffassungen kann ich gut nachvollziehen, auch wenn ich ihr im Ergebnis nicht zustimme. Die für viele Menschen daran anschließende Vorstellung jedoch, uns könnte ausgerechnet in der jetzigen Krise die Wiederkehr eines „sozialistischen Wirtschaftssystems“ helfen, halte ich für irreführend. Gemeinsinn und Gemeinsamkeit Zunächst: Ich habe größtes Verständnis dafür, dass viele Menschen auf die schlimmste Erschütterung der globalen Ökonomie seit der Weltwirtschaftskrise von 1929 mit Verunsicherung, Wut und Verbitterung reagieren. Auch ich bin entsetzt über das Verhalten von Finanzmanagern, die für ihr verantwortungsloses Spekulieren zuerst jahrelang Fantasiegehälter bezogen und jetzt das globale Finanzsystem gegen die Wand gefahren haben. Auch ich bin schlicht fassungslos über die maßlose Gier und Kurzsichtigkeit dieser Leute. Ihr suchtartiges Streben nach grenzenlosem materiellem Gewinn ist mir ebenso fremd und unverständlich wie den meisten Menschen (nicht nur) in Ostdeutschland. „Kinder, vergesst nicht: Der eigentliche Sinn des Lebens liegt im Miteinander“, pflegte Regine Hildebrandt zu sagen. Ihr lebenskluges Motto hat auch mich tief geprägt. Mag sein, dass diese Grundhaltung, die Gemeinsinn und Gemeinsamkeit in den Mittelpunkt stellt, aus historischen Gründen in Ostdeutschland noch immer verbreiteter ist als anderswo. Mag sein, dass gerade deshalb die Empörung über die Auswüchse regelloser Märkte hier bei uns im Osten besonders heftig ausfällt. Wirtschaft ist nicht alles und eine Wirtschaft, die nicht den Menschen dient, 12

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hat ihre Bestimmung verfehlt – diese Prinzipien bieten nicht die schlechteste Orientierung in den schwierigen Zeiten, die vor uns liegen. Wir sollten an ihnen festhalten. Ich will nicht, dass die Wirtschaftskrise das Verhältnis zwischen Ost und West beeinträchtigt. Im Gegenteil: In dieser Krise sollten wir in Deutschland zusammenzurücken. Eine entscheidende Voraussetzung dafür ist, dass Ostdeutschland an den schwierigen Entscheidungen, die in den kommenden Monaten vor uns liegen, in jeder Hinsicht auf Augenhöhe beteiligt wird. Gerade in der wirtschaftlichen Krise gilt es, die Interessen aller Brandenburgerinnen und Brandenburger auf sämtlichen politischen Ebenen, von Berlin bis Brüssel, mit allem Nachdruck zu vertreten. ■

MATTHIAS PLATZECK

ist Ministerpräsident des Landes Brandenburg und SPD-Landesvorsitzender. perspektive21

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Ehrlichkeit, Zuversicht und Verantwortung EINE ZWISCHENBILANZ AUF DEM WEG ZUR LANDTAGSWAHL VON KLAUS NESS UND MATTHIAS BEIGEL

randenburg hat gewählt und entschieden: Die SPD ist auch auf kommunaler Ebene stärkste Kraft im Land. In neun Landkreisen und der kreisfreien Stadt Cottbus stellen Sozialdemokraten wieder die stärkste Fraktion. Bei der Kommunalwahl vor fünf Jahren war dies nur in drei Landkreisen gelungen. Ein Erfolg der märkischen SPD, um den uns manch anderer SPD-Landesverband beneidet. Und eine Trendwende: Zum ersten Mal seit zehn Jahren konnte die SPD in unserem Land bei Wahlen wieder real zulegen und Vertrauen zurückgewinnen. Sie bekam 137.000 Stimmen mehr als vor fünf Jahren. Das entspricht etwa 50.000 Wählern (bei Kommunalwahlen hat jeder Wähler drei Stimmen). Und das in einer Zeit, in der die SPD sowohl im Bund als auch im Land Regierungsverantwortung trägt und viele unbequeme Entscheidungen treffen musste. Gelungen ist uns dies durch einen guten Mix aus verantwortungsbewussten politischen Inhalten und einem anerkannten personellen Angebot. So erhielt die SPD bei der Kommunalwahl am 28. September 2008 25,8 (+2,3) Prozent, die Linke 24,7 (+3,4) Prozent. Die CDU rutschte auf 19,8 (-8,0) Prozent ab und erlangte ihr bisher schlechtestes Kommunalwahlergebnis überhaupt. Insgesamt ist die CDU damit nun sowohl auf der Bundes- als auch auf der Landes- und Kommunalebene in Brandenburg nur noch drittstärkste Kraft.

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Die Wahlbeteiligung steigt wieder Es gab ein weiteres Ergebnis, das erstaunlicherweise fast untergegangen ist: Erstmals ist bei Kommunalwahlen im Osten die Wahlbeteiligung nicht gefallen, sondern gestiegen. Mit über 50 Prozent erreichte sie einen Wert, der fast an die Beteiligungen bei Landtagswahlen heranreicht – und selbst über mancher Rate in den alten Bundesländern liegt. Sinkende Wahlbeteiligungen, noch dazu in Ostdeutschland, sind also mitnichten ein Naturgesetz. In jedem Fall haben Kommunalwahlen ihre eigenen Gesetze. Hauptsächlich geht es den Wählerinnen und Wählern um konkrete Politik in ihrer Kommune perspektive21

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oder ihrem Kreis. Sie kennen häufig „ihre“ Kandidatinnen und Kandidaten persönlich und wählen dementsprechend mehr Personen als Parteien. Dies ist ein wichtiger Faktor der Wahlentscheidung – der dieses Mal auch voll zum Tragen kam. Ein anderer ist die allgemeine politische Stimmung im Land. Seit dem Amtsantritt der Großen Koalition in Berlin 2005 hat sich das politische Klima deutlich entspannt. Die Oppositionsparteien im Bund, bis dahin hauptsächlich die CDU, deuteten jede Landtags- und Kommunalwahl als eine „Ersatz-Bundestagswahl“. Das konnte der CDU diesmal nicht gelingen. Und so war die Kommunalwahl 2008 – im Unterschied zur Kommunalwahl 2003 – eine „BrandenburgWahl“. 2003 war es der CDU gelungen, die Kommunalwahl als „Protestwahl“ gegen die rot-grüne Bundesregierung umzudeuten und wurde durch diesen Umstand auf Platz Eins gespült. Diese beiden Faktoren – die konkrete politische Situation vor Ort und die allgemeine Stimmung im Land – trugen diesmal dazu bei, dass die SPD wieder auf Platz Eins in den Kommunen unseres Landes liegt. Bei dieser Wahl konnte auch die Linke in Brandenburg – ähnlich wie die SPD – Stimmen hinzugewinnen. Landesweit waren es 165.000 mehr als 2003, das sind ca. 60.000 Wählerinnen und Wähler. Dass die Linke mehr neue Stimmen gewinnen konnte als die SPD, liegt vor allem an der höheren Mobilisierungsrate der eigenen Anhängerschaft. Aus Umfragen von Infratest-dimap wissen wir, dass die Linkspartei ihre Sympathisanten mit 60 Prozent Wahlbeteiligung besser mobilisieren konnte, als die SPD mit 53 Prozent oder gar die CDU mit nur 42 Prozent. Zurückzuführen ist das einerseits auf das traditionell starke Wahlverhalten der vornehmlich struktur-konservativen Linken-Wählerschaft, andererseits auf die veränderte soziale Stimmungslage in der Bundesrepublik der vergangenen Jahre. SPD soll Probleme lösen Damit sind wird beim dritten Faktor, der die Wahlentscheidung beeinflusst: sozialstrukturellen Veränderungen. Bezogen auf die gesamte Wählerschaft verfügt die SPD in Brandenburg heute über ein Potenzial von ca. 600.000 Wählerinnen und Wählern. Damit liegt sie klar vor der Linkspartei, die auf ca. 400.000 Wähler kommt. Zu konstatieren ist, dass es der Linken in den Jahren 2003/2004 gelungen ist, ihr Potenzial um etwa 100.000 Wähler zu vergrößern – und dass sie es geschafft hat, dieses Potenzial seitdem relativ stabil zu halten. Zur gleichen Zeit hat die SPD in etwa den gleichen Anteil an potenziell erreichbaren Wählern verloren. Dabei ist es keineswegs so, dass der Linkspartei Lösungskompetenzen auf ihren zentralen Themengebieten zugesprochen wer16

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klaus ness und matthias beigel – ehrlichkeit, zuversicht und verantwortung

den. Nach einer Infratest-Umfrage aus dem Frühjahr 2008 trauen gerade einmal 8 Prozent der Brandenburger der Linkspartei zu, die Zukunftsaufgaben Brandenburgs zu lösen, während die SPD bei einem Wert von 41 Prozent liegt. Vielmehr nimmt die Linkspartei in den Augen ihrer Sympathisanten in erster Linie die Rolle ein, soziale Fragen auf die Tagesordnung zu setzen. Diese Fragen jedoch zu lösen, trauen jedoch selbst große Teile der Links-Sympathisanten nur der SPD zu. Verunsicherung trotz Erfolgen Die bundesweiten Erfolge der Linkspartei sind vor allem durch die schwierigen aber nötigen Reformen der rot-grünen Bundesregierung unter Gerhard Schröder zu erklären. Diese Entwicklung begann im Jahr 2003, als die Bundesregierung als Antwort auf demografische Realitäten Korrekturen in den Sozialversicherungssystemen vornehmen musste. Sie fand ihre Fortsetzung 2005 in den Reformen auf dem Feld der Arbeitsmarktpolitik, insbesondere durch die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe und der Begrenzung der Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes. All diese Maßnahmen, die wichtig und richtig waren, führten im sozialdemokratischen Lager zu Verunsicherungen, die seitdem Auswirkungen auf das gesamtdeutsche Parteiensystem haben. Diese Auswirkungen sind allerdings nicht etwa durch mangelnde Erfolge entstanden. Denn die Erfolge dieser Politik sind im Grunde nicht zu übersehen: ■ Die Arbeitslosigkeit in Brandenburg ging von 276.000 (2005) auf jetzt etwa 157.000 Menschen zurück. Ein Rückgang um 42 Prozent. ■ Die Jugendarbeitslosigkeit verringerte sich von 34.000 auf 20.000. Ein Rückgang um fast 40 Prozent. ■ Seit 2005 wurden 40.000 neue sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze in Brandenburg geschaffen, das ist einer der stärksten Zuwächse in der Bundesrepublik. ■ Erstmals in seiner Geschichte konnte Brandenburg im Jahr 2007 einen Haushaltsüberschuss erwirtschaften und musste keine Schulden mehr aufnehmen. Bundesweit kann sich die Bilanz der SPD seit 1998 sehen lassen – auch wenn diese Fakten im sozialdemokratischen Milieu gerne in Vergessenheit geraten. Zu nennen sind beispielsweise die Absenkung des Eingangssteuersatzes von 25,9 Prozent im Jahr 1998 auf inzwischen 15 Prozent, die Stabilisierung der Sozialsysteme, das Absinken der Arbeitslosigkeit von fünf auf drei Millionen. perspektive21

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Trotz dieser unbestreitbaren Erfolge konnte die Linkspartei ihr Wählerpotenzial vergrößern. Der Ausgangspunkt für diese Wählerwanderung liegt allerdings fast zwei Jahrzehnte zurück. Im Zuge der Deutschen Einheit setzten viele Wähler ihre Zukunftshoffnungen auf die CDU und ihren „Einheitskanzler“ Helmut Kohl. Es dauerte nicht lange, bis ein Teil der ostdeutschen Wählerschaft von 1990 aus Enttäuschung über nicht erfüllte Zukunftsträume der CDU den Rücken kehrte und spätestens ab 1998 die eigene Zukunftshoffnung mit der SPD verband. Aber schon mit den ersten Maßnahmen der neuen rot-grünen Bundesregierung, etwa der Einführung der Ökosteuer, fühlten sich einige dieser neuen Wähler erneut enttäuscht. Die SPD verlor also bereits ab 1999 einen Teil dieser „Wander-Wähler“ – und zwar zunächst an das Lager der Nichtwähler. Die wirtschaftlich sehr schwierigen Jahre 2002/2003 und die damit nötig gewordenen Reformen auf dem Arbeitsmarkt verunsicherten diesen Teil der Wählerschaft erneut. Ab Herbst 2003 führte diese Entwicklung, begleitet durch eine massive Wahlenthaltung der SPD-Sympathisanten, zu einem Weiterziehen der „Wander-Wähler“ zur Linkspartei. So verlor die SPD bei der Landtagswahl 2004 rund 86.000 Wähler im Vergleich zu 1999. Die Linke gewann hingegen 96.000 Wähler hinzu, davon etwa 54.000 aus dem bisherigen Nichtwählerlager. Im Vergleich der Bundestagswahlen von 2002 und 2005 verlor die SPD 79.000 Wähler, während die Linke 109.000 Wähler gewinnen konnte, erneut vornehmlich aus dem Nichtwählerlager. Bei den Kommunalwahlen im September 2008 kam es in Brandenburg nun zur bereits erwähnten Trendwende. Die SPD konnte erstmals wieder etwa 50.000 Wähler gewinnen – angesichts der gestiegenen Wahlbeteiligung vornehmlich aus dem Lager der Nicht-Wähler. Die ab 1999 in die Wahlenthaltung gegangenen sozialdemokratischen Sympathisanten kamen nun erstmals zumindest teilweise wieder zurück an die Wahlurne. Die Linkspartei steht am Scheideweg Diese Verschiebungen im Parteiensystem lassen sich in ganz Deutschland beobachten, allerdings mit einem entscheidenden Unterschied: Während die Wanderung aus dem bisherigen Nichtwählerlager zur Linkspartei im Osten bereits im Jahr 2003 einsetzte, ist sie in Westdeutschland erst ab 2005 feststellbar. Dies liegt vor allem daran, dass enttäuschte SPD-Sympathisanten, die sich in der Wahlenthaltung befanden, im Osten schon 2003 begannen, in der PDS eine Wahlalternative zu sehen, während die PDS im Westen bis zum Zusammenschluss mit der WASG zur Linkspartei im Jahr 2005 als nicht wählbar galt. Damit holt der Wes18

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klaus ness und matthias beigel – ehrlichkeit, zuversicht und verantwortung

ten eine Entwicklung im Parteiensystem nach, die im Osten längst vollzogen und – vorläufig – abgeschlossen ist. Die Brandenburger Kommunalwahlen 2008 haben deutlich gemacht: Das politische System in Brandenburg hat sich auf einem neuen Niveau stabilisiert. Die Verluste der SPD sind gestoppt – und eine Trendwende deutet sich an. Die Linkspartei in Brandenburg steht ein Jahr vor der Landtagswahl allerdings am Scheideweg. Ihr Erfolg lag in einer emotionalen Rhetorik, die einfach, vielversprechend und leicht verführerisch klingen mag. Insbesondere seit der Rückkehr von Oskar Lafontaine auf die politische Bühne verabschiedet sich die Linkspartei damit in Ostdeutschland zunehmend von ihrem bislang teils pragmatischen Kurs. Statt ernstzunehmender Vorschläge vernimmt man häufig ein Gemisch aus „Wünsch-dir-was-“ und „Weg-mit-…-Politik“. Das Erfolgskonzept der Linkspartei basiert seit der „Westausdehnung der PDS“ vor allem darauf, Populismus hemmungslos zu missbrauchen und aus der Realität zu fliehen. Dass sie damit urlinke Tugenden, wie eben die der Aufklärung, mit Füßen tritt, scheint ihr reichlich gleichgültig zu sein. Die CDU leidet Die Linke wird sich künftig entscheiden müssen zwischen einem verantwortungslosen Lafontaine-Kurs, für den jede Regierungsbeteiligung Gift ist, oder einer verantwortungsvollen Politik für die Menschen in Brandenburg. Wenn die Linke den zweiten Weg gehen will, muss sie wissen, dass sie dann in Zukunft nicht jeden Populismus wird mitmachen können, auch wenn er noch so viele Stimmen verspricht. Das vergleichsweise schlechte Abschneiden bei der Kommunalwahl im Südosten Brandenburgs sollte der Linkspartei im Blick auf ihre Parolen zur Braunkohle zu denken geben. Hier gewann die SPD deutlich mehr Stimmen hinzu als die Linkspartei. Die Menschen in der Lausitz wissen sehr genau, dass ihnen die Braunkohle Energiesicherheit, Arbeitsplätze und Wohlstand sichert. Ein Lafontaine-Kurs in Brandenburg birgt im Übrigen auch erhebliche Risiken für die ehemalige PDS. Setzt sie ihre Realitätsflucht ungehemmt fort, um an den Rändern nach Stimmen zu fischen, läuft sie Gefahr, in den kommenden Jahren pragmatische Wählerschichten an die Volkspartei der linken Mitte, die SPD, zu verlieren. Erfolg ist keine Einbahnstraße, auch nicht bei Linkspopulisten. Das war im Übrigen in Ansätzen bei den Kommunalwahlen im September bereits zu beobachten. So musste die Linke beispielsweise in Potsdam – entgegen dem Landestrend – sogar Stimmen einbüßen und das trotz prominenter Spitzenperspektive21

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kandidaten. Die Totalverweigerung, Verantwortung in der Landeshauptstadt zu übernehmen, hat der Linkspartei offensichtlich geschadet und die Grenzen der Hau-drauf-Rhetorik aufgezeigt. Der Potsdamer SPD hingegen ist es mit einem der höchsten Stimmenzuwächse landesweit gelungen, in das pragmatische LinksKlientel vorzudringen. Auch die CDU steht vor wichtigen Entscheidungen. Sie leidet auch in Brandenburg unter der großen Koalition im Bund – ähnlich wie alle anderen Landesverbände. Bei jeder Landtagswahl seit 2005 hat die CDU Stimmanteile verloren. Im Kern liegt dies an einer verunsicherten Wählerschaft, die spürt, dass die Union bundesweit tief zerstritten ist. Sie schwankt zwischen einem marktradikalen Kurs á la Friedrich Merz und einem verteilungspolitischen Kurs von Jürgen Rüttgers hin und her, während die Kanzlerin jede Festlegung vermeidet. „Führung sieht anders aus“, sagt Franz Müntefering dazu und trifft damit wie gewohnt ins Schwarze. Auf Sozialdemokraten ist Verlass In Brandenburg rauschte die CDU bei der Kommunalwahl zudem durch innerparteiliches Chaos und Streitereien tief in den Keller und verlor dabei ihren Vorsitzenden gleich mit. Die neue Vorsitzende Johanna Wanka ist eingemauert von einem Lager innerhalb der CDU, das die eigene Partei als „schlechteste Union Deutschlands“ bezeichnet und sich offensichtlich immer mehr nach Opposition sehnt, um nicht länger Verantwortung für die Menschen in Brandenburg übernehmen zu müssen. Es wird spannend zu sehen sein, ob die CDU-Vorsitzende, Ministerin und stellvertretende Ministerpräsidentin die Kraft hat, einen Oppositionswahlkampf zu verhindern, der Regierungsverantwortung der CDU in Brandenburg verleugnet. Unter diesen Vorzeichen geht die märkische SPD ins Wahljahr 2009. Die Aussichten sind gut, am 27. September als stärkste politische Kraft bei Bundesund Landtagswahl über die Ziellinie zu gehen. Ein Spaziergang wird dies gleichwohl nicht. Denn die Bundes- und Landtagswahl werden weder durch Umfragen noch durch Wahlen im Januar, Juni oder August entschieden – sondern einzig durch harte Arbeit und Überzeugungskraft. Entscheidend ist, dass die Sozialdemokratie Schritt für Schritt weiteres Vertrauen zurückgewinnt. Das Wahljahr 2009 wird zweifellos im Zeichen der beginnenden Wirtschaftskrise stehen. Drei Punkte stehen dabei im Mittelpunkt: Ehrlichkeit, Verantwortung und Zuversicht. Brandenburg ist nicht allein auf der Welt. Es geht darum, den Menschen reinen Wein einzuschenken, zu erläutern, 20

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klaus ness und matthias beigel – ehrlichkeit, zuversicht und verantwortung

was geht und was nicht geht. Dabei gilt es, Verantwortung zu übernehmen für die Arbeitsplätze im Land – und alles zu tun, was möglich ist, Brandenburg sicher durch die Krise zu manövrieren. Und letztlich kommt es darauf an, mit Zuversicht und Tatkraft die Grundlage für neues Wachstum und neue Beschäftigung zu legen. Für diese Fragen hat die SPD die richtigen Antworten – und die richtigen Personen. Unser Land ist heute besser aufgestellt als vor der letzten Wirtschaftskrise zu Beginn des Jahrzehnts. Die SPD wird deshalb in den kommenden Monaten deutlich machen, wie sie soziale Gerechtigkeit auch in schwierigen Zeiten mit wirtschaftlicher Vernunft und Verantwortung für Kinder und Familien verbindet. Mit diesem Dreiklang kann sie verlorenes Vertrauen ihrer Anhänger – insbesondere in der Mittelschicht – zurückgewinnen. Die Ergebnisse der Kommunalwahlen haben gezeigt, dass dies gelingen kann. Mit einer ge- und entschlossenen Haltung wird die SPD diesen Trend verstetigen. Ihre beiden Brandenburger Spitzenkandidaten Matthias Platzeck und FrankWalter Steinmeier stehen für diesen Kurs und ernten dafür hohe Anerkennung im Land. Sie beweisen, dass in schwierigen Zeiten Verlass auf Sozialdemokraten ist. Das ist seit fast 150 Jahren so und das wird auch in Zukunft so bleiben. Sozialdemokratische Themen sind hochaktuell, wie die Bankenkrise gerade erst deutlich gemacht hat. Und das alles zusammen ist eine gute Basis, damit Sozialdemokraten auch nach den Wahlen am 27. September 2009 Regierungsverantwortung – im Bund und in Brandenburg – tragen können. ■

KLAUS NESS

ist Generalsekretär der SPD Brandenburg. MATTHIAS BEIGEL

ist Referent beim SPD-Landesverband Brandenburg. perspektive21

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magazin

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thema – osteuropa und wir

In der Mitte Europas WARUM SICH DER BLICK NACH OSTEN FÜR BRANDENBURG LOHNT VON GERD HARMS

angen wir mit dem Einfachsten an: Brandenburg liegt im Osten der Bundesrepublik. Mit unserer 250 Kilometer langen Grenze zu Polen sind wir natürlicher Partner unseres Nachbarn im Osten. Diese Zusammenarbeit mit dem polnischen Nachbarn hat sich seit der Neugründung des Landes beständig entwickelt. Sie hat in Brandenburg Verfassungsrang, woran vor allem die Sozialdemokraten im ersten Brandenburger Landtag einen großen Anteil hatten. Aus historischen, wirtschaftlichen, kulturellen und geografischen Gründen liegt der Schwerpunkt der internationalen Kontakte Brandenburgs vor allem in der Entwicklung und Förderung der Zusammenarbeit mit Mittel- und Osteuropa.

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Eine besondere Grenze Sechs Wojewodschaften in Polen unterhalten partnerschaftliche Beziehungen mit Brandenburg, dabei natürlich unsere direkten Nachbarn Westpommern, Lebuser Land und Niederschlesien. Aber wir haben auch Partnerschaften mit Großpolen, der polnischen Hauptstadtregion Maso-

wien und Podlachien an der weißrussischen Grenze. Schwerpunkt unserer bilateralen Beziehungen ist die grenzüberschreitende Zusammenarbeit über Oder und Neiße hinweg. Diese Grenze war und ist eine besondere in Europa. Auf beiden Seiten dieser Grenze finden wir Familien, die vor zwei Generationen dort noch nicht wohnten. Anders als viele andere Grenzen ist die Oder-Neiße-Grenze ein Ergebnis des von Deutschland über Europa gebrachten Krieges. Vielen bei uns ist nicht bewusst, dass viele der ersten Opfer des faschistischen Überfalls auf Polen im Ergebnis dieses Krieges ihre Heimat verloren. Polen wurde nicht nur nach Westen verschoben, es verlor auch Territorium. Vertreibung in Folge des Krieges ist keine deutsche Erfahrung allein. Matthias Platzeck hat immer wieder an diese Tatsache erinnert und gemahnt, bei der Diskussion um das „Zentrum gegen Vertreibung“ nicht zuzulassen, dass Ursache und Wirkung dieser schrecklichen Ereignisse auseinander gerissen werden. Die vielfältige deutsch-polnische Geschichte darf nicht vergessen werden, wenn wir mit unseren polnischen perspektive21

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Nachbarn zusammenarbeiten. Die Auseinandersetzung mit der Geschichte ist aber nicht alleinige Triebkraft. Nachbarschaft ist vor allem auch kultureller Austausch, Begegnung von Jugendlichen, Treffen von Sportvereinen. Nachbarschaft bedeutet wirtschaftliche Verflechtung und Vernetzung der Infrastruktur. Vor allem aber bedeutet Nachbarschaft Neugier aufeinander und Interesse aneinander. Viele lebendige Kontakte Auf all diesen Feldern ist in den letzten 20 Jahren Bemerkenswertes entstanden. Brandenburg hat in Polen einen hervorragenden Ruf. Wir haben eine Vertrauensbasis geschaffen, die auf der regionalen Ebene auch die schwierige Zeit der Regierung Kaczy´nski überdauert hat. Es ist kein Zufall, dass Einrichtungen und Gremien deutschpolnischer Zusammenarbeit Brandenburg bevorzugen. So wurde zum Beispiel die deutsche Geschäftsstelle des Deutsch-Polnischen Jugendwerks in Potsdam angesiedelt. Brandenburg wird stets gefragt, wenn es um schwierige Themen in der deutsch-polnischen Zusammenarbeit geht. Die Europauniversität Viadrina ist ein herausragendes Beispiel für die Wissenschaftszusammenarbeit. Gemeinsam mit der Universität Posen unterhält die Viadrina das „Collegium Polonicum“ in S´lubice. Die Deutsch-Polnische Wissenschafts24

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stiftung wurde in diesem Jahr von der Bundesregierung und Brandenburg gegründet. Die Euroregionen sind lebendiges Beispiel für die vielfältige kommunale Zusammenarbeit über die Grenze hinweg. Viele Kreise und Gemeinden unterhalten lebendige Kontakte in entferntere Regionen Polens. Die gemeinsame Entwicklung der prosperierenden Regionen beiderseits der Grenze hat durch die Etablierung der Oder-Partnerschaft1 weiter an Intensität und Qualität gewonnen. Die Oder-Partnerschaft ist ein wichtiges Instrument, um die ähnlichen Herausforderungen, etwa in den Bereichen Verkehr und Infrastruktur oder beim demografischen Wandel, durch ein eng abgestimmtes, projektbezogenes Handeln gemeinsam zu lösen. Partnerschaftsbeauftragte in Posen und in Breslau sowie in der rumänischen Region Centru werben vor Ort für Brandenburg und unterstützen brandenburgische Akteure in der Zusammenarbeit mit den jeweiligen Regionen. Polen ist seit Jahren wichtigster Wirtschaftspartner Brandenburgs und ist unser Exportland Nummer 1. Etwa 15 Prozent des Brandenburger Exports 1 Bei der 2006 ins Leben gerufenen Oder-Partnerschaft arbei-

ten die Länder Berlin, Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen, die Wojewodschaften Westpommern, Lebuser Land, Niederschlesien und Großpolen sowie die Städte Stettin, Posen, Zielona Góra/Grünberg, Gorzów/Landsberg und Breslau im Rahmen eines informellen Netzwerkes zusammen.


gerd harms – in der mitte europas

geht in unser Nachbarland. Viele Arbeitsplätze im Land hängen an dieser wirtschaftlichen Verflechtung. Die steigende Kaufkraft in Polen führt auch zu steigender Nachfrage, zum Beispiel in Frankfurt (Oder) und Schwedt. Wir sind also in unserer Zusammenarbeit im positiven Sinne auch eigennützig. Wir wollen die wirtschaftliche Vernetzung, weil diese unserer eigenen Wirtschaft nutzt. Wir wollen von der wirtschaftlichen Dynamik im Nachbarland profitieren. Im Export drückt sich das bereits aus: Vor dem EU-Beitritt exportierten wir Waren im Wert von 460 Millionen Euro nach Polen, 2007 waren es schon über 1,5 Milliarden Euro. Gefühl der Zusammengehörigkeit In Jalta und Potsdam wurden die Einflussgebiete der Siegermächte des 2. Weltkriegs definiert. Dies war die Grundlage für die Teilung Europas in Ost und West. Brandenburg hatte als Teil der DDR vielfältige Beziehungen zu den Staaten Mittel- und Osteuropas. Viele davon waren nicht freiwillig und selbst gewählt. Aber es blieb eine Grundlage der Zugehörigkeit, die heute beidseitig bedeutsam ist. In vielen Gesprächen mit Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft in Polen, Ungarn, Tschechien, der Slowakei und den Baltischen Staaten finden sich Bezugspunkte. Wir teilen mit den

Gesellschaften in Mittel- und Osteuropa die vielfältigen Erfahrungen bei der Transformation eines sozialistischen Systems in ein marktwirtschaftliches. Die Mitte zurück gewinnen Vor 1939 lag diese Mitte, wie Karl Schlögel zu Recht beschreibt, ostwärts. Kulturell finden wir diese Spuren auch heute noch, wenn wir zum Beispiel Kafka lesen oder Chopin hören. Die vielfältigen Verkehrsverbindungen, in der Folge der europäischen Teilung nach 1945 zerstört oder zur Bedeutungslosigkeit verdammt, legen davon Zeugnis ab. Im Ausschuss der Regionen der Europäischen Union stelle ich immer wieder fest, wie bedeutsam die Rolle Brandenburgs als Mittler zwischen West und Ost sein kann – und zwar insbesondere im Westen der Bundesrepublik und im Westen Europas, denn es gilt die Mitte Europas wieder zu gewinnen. Praktisch gelebt wird dieses zum Beispiel in unserer trilateralen Partnerschaft mit Masowien und der Ile de France, also zwischen den Hauptstadtregionen Polens, Frankreichs und Deutschlands. Von der Jugendbegegnung bis zur Zusammenarbeit der Flughäfen und der Filmwirtschaft können wir mit diesem „Kleinen Weimarer Dreieck“ Grundlagen legen für eine verständige Zusammenarbeit in Europa. perspektive21

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thema – osteuropa und wir

Es geht aber auch darum, die Zivilgesellschaft und demokratischen Strukturen zu stärken. So arbeitet Matthias Platzeck gemeinsam mit der FriedrichEbert-Stiftung an einem Netzwerk der Sozialdemokraten und Sozialisten aus Mittel- und Osteuropa. Mit der Cecilienhof-Konferenz Anfang Oktober 2008, an der sozialdemokratische Vertreter aus dem gesamten östlichen Mitteleuropa teilnahmen, wurde unter dem Titel „Unser soziales Europa“ ein Anfang gemacht, der auf eine Verständigung über die Ziele sozialdemokratischer Politik mit den Akteuren in Mittel- und Osteuropa hinauslaufen soll. Wir erleben an vielen Punkten, dass Bewertungen und Sichtweisen zwischen Ost und West auseinandergehen, sei es bei der Energiepolitik, bei der Definition der Rolle des Staates in der Gesellschaft oder bei den sozialen Herausforderungen. Wenn wir in Europa diese Aufgaben lösen wollen, brauchen wir gemeinsame Gespräche und Foren, um Sichtweisen und Erfahrungen aus Mittel- und Osteuropa gleichberechtigt in die Diskussion zu bringen. Brandenburg kann dabei als eine Brücke zwischen Ost und West dienen. – Und zwar um so mehr, da wir sehr genau wissen, dass die friedliche Revolution in der DDR und damit die Wiedervereinigung Deutschlands nur möglich wurden durch den Mut und den Veränderungswillen der Menschen 26

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in Mittel- und Osteuropa, allen voran in Ungarn und Polen. Wir haben nach 1990 bis zum Beitritt Polens zur Europäischen Union am 1. Mai 2004 an einer EU-Außengrenze, die zugleich eine SchengenAußengrenze war, beispielhaft die grenzüberschreitende Zusammenarbeit entwickelt. Von deutsch-polnischen Schulprojekten bis zur gemeinsamen Wissenschaftseinrichtung „Collegium Polonicum“, von einer gemeinsamen Kläranlage in Guben/Gubin bis zu gemeinsamen Einsatzplänen im Katastrophen- und Hochwasserschutz, um nur einige Beispiele zu nennen, entwickelte sich entlang der einst trennenden Grenze ein gemeinsamer Raum. Das Denken in Halbkreisen entlang der Grenze wich einem Denken in grenzüberschreitenden Räumen. Wir wissen – bei allen Erfolgen – welche Schwierigkeiten wir nach wie vor zu meistern haben, aber wir sind stolz darauf, dass für die deutsch-polnische Zusammenarbeit auf regionaler Ebene Brandenburg regelmäßig das Beispiel für eine gelungene Zusammenarbeit ist. Konkurrenz und Kooperation An den neuen Außengrenzen der Europäischen Union wird heute für Balten, Polen, Slowaken und Ungarn die Zusammenarbeit mit den Nachbarn schwieriger. Die Schengen-Regeln verlangen, dass unsere östlichen Nachbarn


gerd harms – in der mitte europas

die Grenze der gesamten EU schützen, zum Beispiel vor Menschenhandel und illegaler Migration, vor Schmuggel und Bedrohungen durch organisierte Kriminalität. Dieser Schutz hat seinen Preis. Der Kontakt zu den Minderheiten auf der anderen Seite der Grenze wird schwieriger, Wirtschaftsräume werden geteilt, tägliche Kontakte behindert. Die Erfahrung, die wir in den Jahren nach 1990 gesammelt haben, sind für unsere östlichen Nachbarn von großem Interesse. Wir versuchen, beispielsweise in der Zusammenarbeit des Nationalparks Unteres Odertal mit dem grenzüberschreitenden polnischweißrussischen Nationalpark in Podlachien und dem angrenzenden Gebiet in Weißrussland deren Arbeit zu unterstützen. Die Wirtschaftsstandorte in Europa konkurrieren untereinander, sind aber auch auf Kooperation angewiesen. Besonders deutlich ist dieses nur scheinbare Paradox im Verhältnis zu unseren Partnern in Mittel- und Osteuropa. Unsere Politik soll auch, im wohlverstandenen Eigeninteresse, die wirtschaftliche Kooperation fördern und die Interessen der Brandenburgischen Wirtschaft unterstützen. So spielen wirtschaftliche Fragen zum Beispiel in Rumänien, wohin MAN TAKRAF Bergbauausrüstung liefert, eine wichtige Rolle. Die Energiewirtschaft unseres Landes, von der CO2-Abscheide-Technologie bis hin zu der führenden Rolle

Brandenburgs bei den erneuerbaren Energien, stößt auf großes Interesse bei unseren Partnern – in Moskau ebenso wie in Polen oder Bulgarien. Bei den Reisen des Ministerpräsidenten spielen begleitende Wirtschaftsdelegationen deshalb immer eine wichtige Rolle. Dynamischer Osten Wenn wir uns die nüchternen Zahlen anschauen, dann springt die Dynamik der Wirtschaft in Mittel- und Osteuropa ins Auge. Zugleich ist der Nachholbedarf in Infrastruktur und Technologie erheblich. Die Strukturfondsmittel, die den EU-Mitgliedern in Mittel- und Osteuropa zur Verfügung stehen, machen sie zu interessanten Partnern, die auch in der Lage sind, ihre Projekte zu finanzieren. Wir sehen zum Beispiel, dass inzwischen deutsche Baufirmen, große wie mittelständische, in Polen an vielen Bauprojekten beteiligt sind. Die Wirtschaftsförderung des Landes Brandenburg unterstützt diese Entwicklung und hilft den Firmen bei der Markterschließung und Kontaktanbahnung. Brandenburg ist in die europäischen Märkte eingebunden. In Westeuropa findet unsere Wirtschaft zahlreiche potente Partner und viele Absatzmärkte. Diese Märkte sind über viele Jahre kontinuierlich gewachsen. Die Märkte in Mittel- und Osteuropa hingegen befinden sich in einer dynamischen Entwicklung. Zwar sind viele perspektive21

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Felder bereits gut entwickelt, aber immer wieder öffnen sich neue interessante Marktnischen. Brandenburg ist ein weltoffenes Land. Dieses muss gerade auch gegenüber den ewig Gestrigen betont werden, die unser Land abschotten wollen. Die regionale Zusammenarbeit in Europa hat viele Facetten. Wir können von anderen lernen, wir können unsere Erfahrungen an andere weitergeben. Unsere Position in der Mitte Europas, in der deutschen Hauptstadtregion, ist durch viele Stärken gekennzeichnet. Ausgezeichnete Verkehrsverbindungen in alle Richtungen in Europa gehen einher mit einer hervorragenden Wissenschaftslandschaft und vielen Spitzenunternehmen, großen wie kleineren, die auf dem Weltmarkt mithalten. Der neue Flughafen BBI wird nicht

nur für Brandenburg, sondern auch für West-Polen, ein echtes Tor nach Europa sein. Diese Vernetzung in Europa schafft neue Chancen. Unsere hervorragenden Kontakte gerade nach Mittelund Osteuropa sind deshalb ein Pfund, mit dem wir wuchern können. Das Wichtigste aber sind die Menschen. Wir stehen vor der Herausforderung, Menschen auf allen Ebenen zusammen zu bringen, um Europa gedeihen zu lassen. Dieses gelingt nicht nur auf der hohen politischen Ebene, es gelingt, wenn in den Gemeinden und Kreisen, wenn in den Sportvereinen und Kultureinrichtungen, wenn in den Schulen und Universitäten und den Parteien die Menschen Interesse an der internationalen regionalen Zusammenarbeit finden. Daran sollten wir weiter arbeiten. ■

DR. GERD HARMS ist Staatssekretär für Bundes- und Europaangelegenheiten des Landes Brandenburg.

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Viel geschafft, noch viel zu tun 20 JAHRE NACH BEGINN DER TRANSFORMATION UND 5 JAHRE NACH DEM EU-BEITRITT STEHT OSTEUROPA VOR NEUEN HERAUSFORDERUNGEN VON THOMAS KRALINSKI UND JOHN SIEGEL

ie Wende begann erst zögerlich. Anfang 1989 tasteten sich die Kommunistischen Parteien in Ungarn und Polen am Runden Tisch in Richtung Machtteilung und Marktwirtschaft. Doch schon Ende 1989 ging es in der DDR und der Tschechoslowakei ganz schnell mit dem Machtwechsel, auch in Rumänien und Bulgarien verlor die KP ihre zentrale Machtstellung. Auf dem Balkan und im Baltikum war der Machtwechsel mit einer nationalen Wiedergeburt verbunden. Allen Ländern ist eine umfassende Systemtransformation zu Eigen, die ohne Vorbild war – und etwas von der „Rückverwandlung einer Fischsuppe in ein Aquarium“ hat. Dabei darf nicht vergessen werden, dass dieser Prozess eine ganze Reihe von Staaten betrifft, die nicht auf enorme direkte Unterstützung zurückgreifen konnte, wie ihn die neuen Bundesländer nach der Wiedervereinigung in Anspruch nehmen konnten. Allen Ländern jenseits von Oder und Donau war stets ein Ziel vor

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Augen: der Beitritt zur Europäischen Union, der 2004 und 2007 auch erfolgte. Wo stehen die Länder Ostund Mitteleuropas heute, 20 Jahre nach Beginn der Transformation und fast fünf Jahre nach den ersten EUBeitritten? Dieser Beitrag ist der Versuch einer tour d’ horizone durch die neuen EU-Mitgliedsländer vom Baltikum bis zur Adria und dem Schwarzen Meer. I. Die Demokratie Nach dem Zusammenbruch der Einparteien-Herrschaft folgte in allen Ländern zügig der Aufbau neuer demokratischer Regierungen. Die Gründungswahlen Anfang der neunziger Jahre brachten tendenziell bürgerlich-liberale Regierungen unter Beteiligung der bisherigen Opposition an die Macht – so beispielsweise in Tschechien, Ungarn und Polen. In den meisten Ländern wurden neue Verfassungen in Kraft gesetzt – die die marktwirtschaftlich-demokratische Grundordnung festschrieben. perspektive21

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thema – osteuropa und wir

Es sind nicht zuletzt die schwierigen wirtschaftlichen und sozialen Umbrüche, die dazu geführt haben, dass die osteuropäischen Regierungen eher kurzlebig sind. Häufige Regierungswechsel sind die Regel. Die Wiederwahl einer Regierung ist eher die Ausnahme. In Polen, Rumänien oder Bulgarien gelang dies seit 1990 noch keiner, in Ungarn nur einer Regierung. Bedenklich stimmt dabei, dass die Bürgerinnen und Bürger ihren Regierungen ganz generell mit um die 20 Prozent kaum noch Vertrauen entgegenbringen. Einzig die Esten und die Slowaken liegen mit 56 und 37 Prozent über dem EU-Durchschnitt.1 Die soziale Verankerung fehlt Nach wie vor sind Interessenverbände, Parteien und Gewerkschaften in den Beitrittsländern nur schwach verankert – was in der Transformationsforschung häufig mit einem Mangel an den nötigen kulturellen Ressourcen und Erfahrungen begründet wird. Ein anderer Grund ist die noch verhältnismäßig schwach ausgeprägte soziale Differenzierung, die es auch erschwert, Parteien entlang von Interessenkonflikten zu organisieren. In vielen Ländern sind die klassischen politischen Konfliktlinien kaum ausgeprägt – das führt 1 Eurobarometer 69 (2008), abrufbar unter http://ec.europa.eu/public_opinion/index_en.htm

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dazu, dass Themen wie Religion, Nation oder Vergangenheit einen stärkeren Einfluss auf die politische Agenda der Länder in Ostmitteleuropa haben. Das führt allerdings auch dazu, dass in keinem der Beitrittsländer eine Großpartei eine dominierende Stellung im Parteiensystem einnimmt. Gleichwohl scheint sich in den meisten Ländern das Parteiensystem mittlerweile zu konsolidieren. In einer vergleichenden Untersuchung der wichtigsten Demokratieindizes kommt Gert Pickel von der Viadrina zu folgenden Ergebnissen: „Erstens ist bemerkenswert in welch kurzer Zeit die meisten osteuropäischen Staaten eine doch hohe institutionelle Demokratiequalität erreicht haben. [… Zweitens] bestehen eindeutige regionale Unterschiede, die nicht selten stark mit der Nähe oder Entfernung zur Europäischen Union zusammenzuhängen scheinen. Die Möglichkeiten der Zusammenarbeit mit den westeuropäischen Industrieländern und die Anstrengungen auf dem Weg zum EU-Beitritt haben sich dabei für die jetzigen EU-Mitglieder positiv ausgewirkt, während die Staaten an der EU-Peripherie oft nur spärliche bis keine Erfolge in den Demokratisierungsprozessen verzeichnen konnten. [Drittens], der gesamte Entwicklungstrend – und dies macht optimistisch – ist eher dynamisch als stockend. […] Fakt ist, ein allgemein-


thomas kralinski und john siegel – viel geschafft, noch viel zu tun

gültiger und allgemein anerkannter Demokratie-Messindex existiert bislang nicht.“ Wie groß die Unzufriedenheit der Bürger mit ihren Parteien und Regierungen ist, zeigen die Wahlbeteiligungen. So lag die Wahlbeteiligung bei den rumänischen Parlamentswahlen vom November 2008 nur noch bei 39 Prozent, in Estland 2007 bei 62 Prozent, in Polen bei 53 Prozent (immerhin die höchste Beteiligung seit 1989), in der Slowakei bei 55 Prozent 2 (die niedrigste seit 1993). II. Die Wirtschaft Die Abkehr von der staatlichen Planung hin zur Marktwirtschaft bedeutete in allen Ländern zunächst eine nachholende Modernisierung, die insbesondere durch massive De-Industrialisierung und einen beachtlichen Wandel des Dienstleistungssektors gekennzeichnet waren. Mittlerweile geht es darum, durch Produktivitätssteigerung komparative Vorteile gegenüber der Konkurrenz vor allem in Asien zu erarbeiten. Die meisten Beobachter sind sich einig, dass die Aussicht auf den EUBeitritt eine starke Anreizwirkung hatte – und bis heute auf die Länder hat, für die eine solche Option realistische Erfolgsaussicht ist. Hervorzuheben sind 2 Deutlich unter diesen Werten lagen die Beteiligungen an den ersten Europawahlen 2004. Die Werte pendelten zwischen 16 Prozent in der Slowakei und 48 Prozent in Lettland.

die Attraktivität für ausländische Direktinvestitionen, besserer Zugang zum EU-Binnenmarkt, Subventionen aus den Kassen der EU und die Vertretung in deren Entscheidungsgremien. Diesem Nutzen stehen auch – durchaus erhebliche – Kosten gegenüber, insbesondere jene, die sich aus dem rechtlichen, administrativen und ökonomischen Anpassungsbedarf ergeben. Tatsächlich hat die Integration in die EU den Beitrittsländern die Tür in die Märkte des Westens weit geöffnet. Das Bruttosozialprodukt der neuen Mitgliedsstaaten sank Anfang der neunziger Jahre um ein Viertel bis ein Drittel und erreichte erst in der zweiten Hälfte des Jahrzehnts wieder das VorwendeNiveau. Die vorher praktisch unbekannte Arbeitslosigkeit stieg auf etwa 10 Prozent (einzige Ausnahme war Tschechien). Das wirtschaftliche Schicksal der mittelosteuropäischen Staaten wendete sich erst Mitte der neunziger Jahre, also etwa zum Zeitpunkt der Aufnahmeanträge. Durch den Privatisierungs- und Anpassungsprozess nach der Wende verschwanden Millionen Arbeitsplätze. Um die Monopole aufzubrechen und neue Unternehmen zu etablieren, gingen die Transformationsländer im wesentlichen drei Wege: Zum einen gaben sie Anteilsscheine an die Bevölkerung aus (Tschechien), darüber hinaus wurden Unternehmen an meist ausländische Investoren und an vormaperspektive21

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lige Manager verkauft. Gleichzeitig entstanden neue, wettbewerbsfähige Arbeitsplätze in neuen Unternehmen – oftmals durch eine Verlagerung von Produktionskapazitäten aus den westlichen EU-Staaten und im weitgehend neu entstandenen Dienstleistungsbereich. In allen Ländern fand ein beeindruckender wirtschaftlicher Aufholprozess statt, der überall auch zum Rückgang der Arbeitslosigkeit führte. So hat sich das Bruttosozialprodukt pro Kopf in den meisten Beitrittsländern mehr als verdoppelt – die Bandbreite der Dynamik liegt zwischen Polen und Slowenien (um das 0,7 fache) bis Bulgarien und Estland (um das 1,4 fache). Slowenien ist mittlerweile der erste osteuropäische Staat, der ein altes Mitgliedsland überholte. 2006 machten Exporte und Importe schon mehr als 60 Prozent des Bruttoinlandprodukts der neuen Mitgliedsländer aus. Die Slowakei hat sich mit ihren zahlreichen Produktionsstandorten großer Automobilkonzerne schon als das „Detroit Europas“ bezeichnet. Angesichts der Krise der europäischen und amerikanischen Autoindustrie zeigt sich, dass diese einseitige Orientierung auf einen Industriezweig jedoch nicht unproblematisch ist und das Land möglicherweise vor erneute Anpassungsschwierigkeiten stellt. Mittlerweile liegt der Anteil der Privatwirtschaft in allen Ländern bei über 60 Prozent, die Inflation ist deutlich 32

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reduziert, die Auslandsschulden sind reduziert. Dass die wirtschaftliche Situation noch nicht stabil ist, zeigen allerdings auch die Hilfsprogramme für Ungarn und Lettland im Zuge der Weltfinanzkrise. Im Gefolge dieser Wirtschaftskrise gingen im Laufe des Jahres 2008 in allen Ländern die Wachstumsraten der Industrie und die ausländischen Direktinvestitionen deutlich zurück. Ein gravierendes Problem einiger Länder in Mittel- und Osteuropa ist die Jugendarbeitslosigkeit. Sie lag Ende 2007 in der Slowakei, Ungarn, Polen und Rumänien bei knapp 20 Prozent und damit deutlich über dem Durchschnitt aller 27 EU-Mitgliedsländer. Eine vergleichende Studie der Weltbank ergab darüber hinaus, dass die relative Armut zwischen 1998 und 2002 in den acht Beitrittsstaaten zwar deutlich geringer war als in den anderen Transformationsländern Osteuropas und Asiens, dafür jedoch nicht mehr signifikant fiel. In Rumänien und Bulgarien war die Armut zwar deutlich größer, sank jedoch eindeutig. III. Die Bildung Die ostmitteleuropäischen Länder nutzen heute einige Innovationspotenziale besser als der Westen. So hat die Bildungsforscherin Sonja Steiner festgestellt, dass sich seit 1989 die Staaten Mittel- und Osteuropas bei dem Um-


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bau ihrer Bildungssysteme nicht nur von dem sozialistischen Modell verabschiedet, sondern auch erkannt haben, dass Bildung einen zentralen Wettbewerbsfaktor darstellt. Bildungsreformen wurden trotz der ökonomischen und sozialen Probleme als Teil der Integrationsbemühungen in den europäischen Wissensraum angesehen. „Viele der seit dem Systemwechsel anvisierten Bestrebungen und durchgeführten Maßnahmen der Bildungspolitik haben so nicht nur zur Revitalisierung eigener nationaler Bildungstraditionen, sondern vielfach zu einer eigenständigen Rezeption sowohl europäischer als auch internationaler Trendentwicklungen und Bildungsdiskussionen geführt. Auf diesem Weg haben sich diese Länder in kürzester Zeit bei manchen Reformschritten als wesentlich innovativer und flexibler erwiesen als einige, alte Mitgliedsstaaten der Europäischen Union.“ Anscheinend wirkte hier die Aussicht auf den Beitritt in die EU auch bei diesem Thema als beschleunigender Katalysator. Bei den internationalen Vergleichsstudien schneiden die Osteuropäer sehr unterschiedlich ab. Bei der Internationalen GrundschulleseUntersuchung (IGLU) liegen alle EU-Beitrittsländer über dem Durchschnittswert von 500 Punkten (mit Werten zwischen 554 Punkten in Tschechien und 512 in Rumänien). Hingegen kommt die Bildungsvergleichsstudie PISA zu etwas anderen

Ergebnissen. Hier liegen Estland (als Spitzenreiter mit 531 Punkten in der Spitzengruppe), Slowenien, Tschechien und Ungarn über, Bulgarien und Rumänien deutlich unter dem Durchschnitt von 500 Punkten. Gleichwohl scheinen die Beitrittsländer erheblich in die Modernisierung ihrer Bildung zu investieren. So ist beispielsweise die regelmäßige Computernutzung in der Schule im Vergleich zu 2003 erheblich gestiegen – und liegt nunmehr bei Werten zwischen 61 und 85 Prozent (Deutschland: 31 Prozent!). Auch haben sich die Leistungen bei PISA zwischen 2000 und 2006 teilweise erheblich verbessert, lediglich in Bulgarien stagnieren die Ergebnisse.3 Insgesamt besteht im Bildungsbereich in Ostmitteleuropa nach wie vor erheblicher Nachholbedarf, insbesondere bei der Lehrerausbildung, beim Ausbau der Hochschulen, bei der Weiterbildung und beim lebenslangen Lernen.4 IV. Die Demografie Zu den größten mittelfristigen Herausforderungen der Beitrittsstaaten gehört der demografischer Wandel. Sie haben die geringste Lebenserwartung in der EU (Schlusslichter sind Bulgarien und Rumänien) und gleichzeitig den höchs3 Vergleichbar sind hier nur die Daten von Lettland, Polen, Tschechien, Ungarn und Bulgarien. 4 European Bank for Reconstruction and Development (Hg.), Transition Report 2008

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ten Anteil an über 65-jährigen. 2025 werden die Slowenen durchschnittlich 47 Jahre alt sein und einer von fünf Bewohnern Bulgariens älter als 65. Ähnlich wie in Ostdeutschland ist die Geburtenrate in einigen Ländern Osteuropas nach der Wende massiv eingebrochen. So ist in Polen die Geburtenzahl seit Mitte der achtziger Jahre um die Hälfte zurückgegangen. Die „höchste“ Geburtenrate verzeichnet derzeit Estland mit 1,4 Kindern pro Frau, die niedrigste Tschechien mit 1,1 Kindern pro Frau. Alle Beitrittsstaaten werden in der Folge in den kommenden Jahren deutlich an Einwohnern verlieren – am stärksten Bulgarien, Rumänien und Lettland. Lebten im Jahr 2000 noch etwa 104 Millionen Menschen in den zehn Beitrittsländern, werden es 2050 voraussichtlich weniger als 80 Millionen sein. Denn die natürliche Bevölkerungsentwicklung wird noch verstärkt durch Wanderungsbewegungen. In den vergangenen Jahren sind insbesondere junge und gut ausgebildete Menschen in Richtung Westeuropa gewandert – vor allem nach Großbritannien und Irland, aber auch Schweden und (in geringerem Umfang) Deutschland. Das wirkt zwar kurzfristig entlastend auf den Arbeitsmarkt im Heimatland, doch mittlerweile zeigen sich auch erste Engpässe bei Fachkräften in den mittel- und osteuropäischen Ländern. 34

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V. Die Verwaltung Im Hinblick auf die Transformation und Integration der öffentlichen Verwaltung lässt sich ein durchwachsenes Bild zeichnen. Aufgeholt haben die Beitrittsländer insbesondere bei Themen mit unmittelbarem Interesse der EU, also beispielsweise bei der Umsetzung von EU-Recht. Im Haushaltswesen, bei der Verwendung von Strukturfondsmitteln oder der Wettbewerbsfähigkeit der Verwaltung im Allgemeinen stellt sich die Situation wesentlich vielfältiger dar. Außerdem weisen das Verwaltungsmanagement und die Qualifikation der Beschäftigten nach wie vor teilweise große Defizite auf. Dabei gibt es aber auch erhebliche Unterschiede: Während etwa die baltischen Staaten erhebliche Fortschritte aufweisen und in einigen Bereichen (z.B. Electronic Government in Estland oder strategische Planung in Litauen und Lettland) sogar westlichen Ländern überlegen sind, tun sich Ungarn, Polen oder Tschechien sichtlich schwer mit der Verwaltungsmodernisierung. Heraus ragen jedoch vor allem die Probleme im Personalbereich. In allen hier betrachteten Ländern liegt die Leistungsfähigkeit des öffentlichen Dienstes hinter den Erwartungen zurück – nicht selten, weil Ämterpatronage verbreitet ist und das Leistungsprinzip und die Unabhängigkeit der Beschäftigten sich nur langsam durchsetzen.


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Nicht ausreichend gelöst ist bis heute das Problem der Korruption. Empirische Untersuchungen bestätigen die landläufige Meinung, Korruption sei in den mittel- uns osteuropäischen Staaten weiter verbreitet als in Westeuropa. Eine Studie der Weltbank kam 2006 zu dem Ergebnis, dass die Korruption in Staat und Wirtschaft zwar zurückgehe, aber immer noch deutlich über dem westeuropäischen Niveau liegt.5 Fortschritte gibt es demnach bei der Bekämpfung von Korruption im Bereich von staatlichen Inspektionen, Genehmigungen oder beim Zoll, während bei der Vergabe von Regierungsaufträgen und bei Gerichtsverfahren eher eine Zunahme der Korruption registriert wurde. Allerdings konstatiert die Weltbank, dass der EU-Beitritt und das weit über die Beitrittsländer hinaus reichende Bestreben, die entsprechenden Standards zu erfüllen, zu den Hauptwirkkräften bei der Korruptionsbekämpfung zählen. Dies wird insbesondere in Bulgarien und Rumänien deutlich, wo besondere Fortschritte erreicht werden konnten. Eine Hauptursache dürfte darin liegen, dass Korruption gesellschaftlich in manchen Teilen Osteuropas gesellschaftlich immer noch akzeptiert wird, teilweise (zum Beispiel im oft unterbezahlten öffentlichen Dienst) aber auch eine wichtige Einnahmequelle darstellt. 5 James H. Anderson/ Cheryl W. Gray, Anticorruption in Transition 3: Who Is Succeeding . . . and Why?, The World Bank, Washington D.C. 2006

VI. Die EU-Erweiterung Neben der vollständigen Umgestaltung des Wirtschaftssystems und seiner Handlungslogik gehörte die Demokratisierung von Staat und Gesellschaft zu den größten Herausforderungen der mittel- und osteuropäischen Länder – einem Prozess, der im Beitritt von zehn dieser Länder zur EU seinen vorläufigen Höhepunkt hatte. Der Konsolidierungsprozess ist damit jedoch noch nicht abgeschlossen, wenn das überhaupt möglich ist. Geläufig ist die Unterscheidung von Entdifferenzierung (Auflösung) und Redifferenzierung (Aufbau), wie sie Wolfgang Merkel geprägt hat. Laut Merkel ist der Prozess der demokratischen Konsolidierung in Transformationsstaaten durch vier Ebenen gekennzeichnet. Bei der konstitutionellen Konsolidierung geht es um die Verfestigung der demokratischen und rechtsstaatlichen Verfassung und institutionellen Strukturen. Ihr folgt die repräsentative Konsolidierung im Sinne einer angemessenen Vertretung territorialer und funktionaler Interessen und die Konsolidierung des Verhaltens informeller Akteure. Die vierte Ebene der demokratischen Konsolidierung ist jene der politischen Kultur, verbunden mit der Herausbildung einer bürgerschaftlichen Kultur und Substruktur in der Gesellschaft. Ob der Prozess erfolgreich ist, lässt sich an drei Kriterien perspektive21

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ablesen: der institutionellen Effizienz, Transparenz und Inklusion. Diese Logik zugrunde legend kommt Merkel zu dem Schluss, dass die 2004 der EU beigetretenden Länder diese Kriterien weitgehend erfüllen. Die EU-Osterweiterung kann heute im Wesentlichen als eine geglückte Modernisierung angesehen werden. Profitiert hat dadurch nicht nur die „alte“ EU der 15 westeuropäischen Länder durch hohe Exportzahlen, sondern auch ausnahmslos alle beigetretenen Länder. Ihr Aufholprozess – sei es in der Wirtschaft oder beim institutionellen Rahmen der Gesellschaften – hat sich massiv beschleunigt. Dabei hat sich der große Anpassungsdruck nicht negativ auf das Verhältnis zur EU ausgewirkt. Das Vertrauen in die Europäische Union ist auch 2008 in den Beitrittsstaaten durchweg höher als die 50 Prozent des EUDurchschnitts. Einzig in Lettland liegt es „nur“ bei 46 Prozent, in Bulgarien, Estland, Rumänien, Slowenien und der Slowakei vertrauen sogar volle zwei Drittel der Einwohner der EU.6 VII. Und wie weiter? Die massiven Reformanstrengungen vor dem Beitritt haben in den vergangenen Jahren zu einer gewissen Erschöpfung geführt. Doch die nächste 6 Eurobarometer 69 (2008), abrufbar unter http://ec.europa.eu/public_opinion/index_en.htm

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Anpassungsphase steht bevor. Die volle Integration in die Weltwirtschaft – über die EU – wird dazu führen, dass auch die Länder Ostmitteleuropas nicht länger auf niedrige Löhne setzen können. Wollen sie ihre respektiven Sozialstaaten ausbauen – und daran gibt es angesichts des Drucks aus der Bevölkerung keinen Zweifel – werden sie parallel massiv in Bildung, Wissenschaft und Forschung investieren müssen. Denn langfristig wird das bisher weitgehend auf niedrige Löhne und Steuern setzende Wirtschaftsmodell nicht funktionieren. Das wird auch angesichts der nächsten Etappe nötig sein, die auf dem Transitionskalender steht: die Einführung des Euro. Alle Länder haben sich mit der Ratifizierung der Beitrittsverträge auch verpflichtet, die Gemeinschaftswährung einzuführen. In Slowenien und der Slowakei (ab 1. Januar 2009) gilt der Euro bereits. Die baltischen Republiken, Ungarn und Polen haben den festen Willen, ihn so schnell wie möglich einzuführen. Die gegenwärtige Finanzkrise verstärkt diese Bestrebungen sogar eher. Die Transformation der post-kommunistischen Länder in Europa ist eine beispiellose Herausforderung, die nach wie vor nicht abgeschlossen ist. Beim Umbau von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft können und konnten Enttäuschungen nicht ausbleiben. Die wichtigste Ressource beim Umbau ist


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dabei Vertrauen. Die Perspektive des EU-Beitritts – und letztendlich der Beitritt selbst – haben diese Ressource immer wieder aufgefüllt – und so ganz erheblich für beachtliche Stabilität in den Ländern Ostmitteleuropas geführt. Die Gleichzeitigkeit der Reformen hat in den Bevölkerungen aber auch unter den Eliten mittlerweile zu einer Reformmüdigkeit geführt. Diese Erschöpfung, die bei vielen Osteuropäern nach dem EU-Beitritt eingetreten ist, wird nicht lange anhalten (können). Gerade deshalb ist ihre volle Integration in die Debatten notwen-

dig, die noch allzu oft im Kreise der „alten“ EU-Länder geführt werden. Sowohl alte als auch neue Mitgliedsländer würden von einem gemeinsamen Diskurs über die Zukunft des europäischen Sozialmodells profitieren. Insofern hat die Transformation Osteuropas zu einem glücklichen Anfang geführt. Der EU-Beitritt war zum einen das Ziel des post-kommunistischen Wandels. Er ist aber zugleich der Beginn der vollständigen Integration in ein europäischen Wirtschafts- und Sozialmodell, dessen Kern der permanente Wandel ist. ■

THOMAS KRALINSKI

ist Geschäftsführer der SPD-Landtagsfraktion Brandenburg und Chefredakteur der Perspektive 21. JOHN SIEGEL

arbeitet am Lehrstuhl für Public und Nonprofit Management der Universität Potsdam. perspektive21

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Den Schalter umlegen NACH DEM EU-BEITRITT STEHEN POLEN UND RUMÄNIEN AM BEGINN EINER NEUEN TRANSFORMATIONSPHASE VON TOBIAS DÜRR UND KATARINA NIEWIEDZIAL

ahezu 20 Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges können die 2004 und 2007 der Europäischen Union beigetretenen Staaten Mittelostund Südosteuropas in vieler Hinsicht auf erfolgreiche Entwicklungswege zurückblicken. Die harten, von den Bürgern oftmals als hochgradig verwirrend empfundenen Veränderungen des ersten Transformationsjahrzehnts liegen hinter ihnen. Deindustrialisierung, brutale Preissteigerungen und Massenarbeitslosigkeit sind überwiegend Phänomene der Vergangenheit. Ähnlich wie andere Länder Ostmitteleuropas wiesen auch die beiden größten Beitrittsländer Polen und Rumänien in den vergangenen Jahren ein hohes Wirtschaftswachstum, zunehmende ausländische Direktinvestitionen und sinkende Arbeitslosenzahlen auf.

N

Nachholende Modernisierung Die Aufnahme in die Europäische Union erscheint bei hinreichend oberflächlicher Betrachtung zugleich als Bestätigung der in den Beitrittsstaaten bereits erfolgreich eingetretenen „Nor-

malisierung“ und als Voraussetzung ihrer weiteren „Angleichung“ an das im Westen Europas existierende Wirtschafts- und Sozialmodell. Unterstellt wird bei einer solchen Betrachtung ein Prozess der „nachholenden Modernisierung“, also einer kontinuierlichen „Angleichung“ der beigetretenen Länder an ein als gegeben erachtetes europäisches Standardmodell. Unglücklicherweise ist solch eine Betrachtung aber gleich in mehrfacher Hinsicht irreführend. Denn weder kann davon die Rede sein, dass sich die neuen Mitgliedsländer der EU auf allen maßgeblichen Gebieten – Staat und Verwaltung, Wirtschaft und Arbeitsmarkt, Bildung und Zivilgesellschaft – gleichermaßen positiv entwickeln; noch kann davon gesprochen werden, es bestünde ein einheitliches Europäisches Wirtschafts- und Sozialmodell gleichsam als Orientierung schaffender Leuchtturm in schwerer See, anhand dessen die neuen Mitglieder der EU die Fortschritte ihrer jeweiligen Entwicklung bemessen könnten. Was die neu hinzugekommenen Staaten vor besondere Herausforderunperspektive21

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gen stellt, ist der Umstand, dass sie den Aufbau tragfähiger eigener Wirtschaftsund Sozialordnungen gerade in einer Periode zu bewältigen haben, in der sich die in Europa bestehenden Wirtschaftsund Sozialmodelle angesichts veränderter Herausforderungen und globaler Rahmenbedingungen selbst im Umbau finden. Der Leuchtturm „Europäisches Wirtschafts- und Sozialmodell“ ist gewissermaßen zu einem beweglichen Ziel geworden. Das erschwert für alle Seiten die Orientierung – ermöglicht und erfordert aber auch neue Modernisierungspartnerschaften. Umbau auch im Westen Bald zehn Jahre nach der Formulierung der Agenda von Lissabon befinden sich die Wirtschafts- und Sozialsysteme aller Staaten der Europäischen Union im Zustand der Veränderung, des Umbaus und der Erneuerung. Neue Umstände wie die fortschreitende Globalisierung in allen ihren Facetten, die Herausbildung einer in immer höherem Maße wissensintensiven Wirtschaft und Arbeitswelt, der tendenzielle Übergang von der Industriezur Dienstleistungsgesellschaft, schwerwiegende demografische Umbrüche, der Wandel der Geschlechterrollen und Familienstrukturen, aber auch die Vertiefung der Europäischen Union haben dazu geführt, dass heute im Hinblick auf jeweilige nationale Wirt40

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schafts- und Sozialsysteme nirgendwo mehr statische Verhältnisse anzutreffen sind. Die Prozesse der sozialstaatlichen Erneuerung verlaufen zwar in unübersichtlicher, oftmals improvisierter und zuweilen auch widersprüchlicher Weise. Dennoch lassen sich eindeutige Muster und Trends feststellen. Weder die von Ökonomen seit den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts immer wieder präsentierten Untergangsszenarien vom gänzlichen Ende des Sozialstaates in Europa, noch die in den neunziger Jahren gängige These von einem gewissermaßen hoffnungslos „eingefrorenen“ Status quo der europäischen Wirtschafts- und Sozialmodelle haben sich als zutreffend erwiesen. Stattdessen ist im Lichte der genannten Herausforderungen eine jedenfalls unter den Staaten der EU-15 zunehmende Konvergenz der Ziele und Instrumente auf dem Gebiet der Sozial- und Arbeitsmarktpolitik zu beobachten. Eindeutig erkennbar ist überall der Übergang von nachholender, überwiegend reparierend und korrigierend eingreifender Sozialstaatlichkeit hin zu einem proaktiv und präventiv wirkenden Sozialstaatsmodell, das auf das Prinzip der sozialen Investitionen setzt. Demgemäß verschiebt sich das Schwergewicht der sozialstaatlichen Tätigkeit auf die Gebiete der Vorsorge, der Aktivierung und der wirksamen Erbringung sozialer Dienstleistungen.


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Reformen in komplexen Gesellschaften erfolgen immer unter den Bedingungen von Pfadabhängigkeit. Das bedeutet nicht, dass keine Reformen möglich wären; und selbst radikale Reformen sind keineswegs ausgeschlossen. Aber es bedeutet, dass diese Reformen immer durch institutionelle Bedingungen gebunden sind. Sämtliche Bestrebungen, mit Erfolg Sozialund Wirtschaftsreformen durchzusetzen, hängen mithin davon ab, ob die jeweiligen institutionellen (und die ihrerseits historisch entstandenen sowie kulturellen) Kontexte verstanden werden, die den Rahmen dafür abstecken, welche Maßnahmen als gerecht und angemessen wahrgenommen werden können und damit politisch durchsetzbar sind. Der Zusammenhang zwischen wirtschaftlichem Erfolg und Sozialstaat ist in der Wirklichkeit zu verwickelt und auch zu dynamisch, als dass vermeintlich einfache und schnelle Lösungen funktionieren könnten. Keine Erneuerung ohne Diskurs Die Erneuerung des Sozialstaats bedeutet überall stets einen politischen Prozess, in dessen Verlauf die politischen Akteure die zu lösenden Probleme sowie die vorgeschlagenen Lösungen im Sinne des „issue framing“ in strategischer Weise beim Namen nennen und ausbuchstabieren müssen. Ob in Deutschland, Polen, Rumänien oder in

jedem beliebigen anderen Land der Europäischen Union: Reformen sind regelmäßig das Ergebnis langwieriger Aushandlungsprozesse zwischen Parteien, Regierungen und gesellschaftlichen Interessengruppen. Politische Akteure, die heute Legitimität (und damit Durchsetzbarkeit) für neue Lösungen oder gar ein neues, vom Hergebrachten abweichendes Sozialstaatsparadigma erlangen wollen, sind daher darauf verwiesen, neue normative Prioritäten systematisch im Diskurs gesellschaftlich durchzusetzen. Investitionen ins 21. Jahrhundert Vor diesem Hintergrund lassen sich die fundamentalen Eckpunkte eines tauglichen, als Investition begriffenen Wirtschafts- und Sozialmodells für das frühe 21. Jahrhundert umreißen. Dieses besitzt – wenn auch vor dem Hintergrund jeweils sehr unterschiedlicher „Pfadabhängigkeiten“ – in Polen und Rumänien grundsätzlich dieselbe sachliche Rechtfertigung wie in jedem anderen Mitgliedsstaat der Europäischen Union: Es geht, sehr knapp zusammengefasst, um Investitionen in Bildung von Anfang an und über den gesamten individuellen Lebenszyklus hinweg (um Chancengleichheit herzustellen und zu erhalten); es geht um Dienstleistungen für Familien (um Beruf und Familie vereinbar zu machen, Geburtenraten und Erwerbsperspektive21

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quoten zu erhöhen); es geht um aktive Arbeitsmarktintegration, um anständige Lohnersatzleistungen und Mindestrenten. Im Jahr 2009 wird Polen das 20. Jubiläum des Umbruchs feiern; in Rumänien wird man sich an den schwierigen Umbruch vom Winter 1989/90 zweifellos mit zwiespältigeren Emotionen erinnern. Am 4. Juni 1989 fanden in Polen die ersten, teilweise freien Wahlen statt – teilweise frei, denn gemäß einer Vereinbarung zwischen demokratischer Opposition und kommunistischen Machthabern ging die Hälfte der Mandate im Parlament an die Kommunistische Partei. Der Fall des Kommunismus war bereits zu diesem Zeitpunkt in ganz Mittel- und Südosteuropa nicht mehr zu verhindern, denn das Ancien régime war schon seit mindestens zehn Jahren politisch bankrott und seit Mitte der achtziger Jahre ökonomisch unhaltbar geworden. Die Debatte muss beginnen Heute jedoch stehen Polen und Rumänien an einem Scheideweg. Viel wird für Europa davon abhängen, ob den beiden Staaten (ebenso wie den übrigen Neumitgliedern der EU) der erfolgreiche Einstieg in den Aufbau eines Wirtschafts- und Sozialmodells entlang der skizzierten Linien eines modernen Sozialinvestitionsstaates 42

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gelingt. Selbstverständlich ist das keineswegs. Denn noch hat die Debatte über den Charakter und die Zukunft des je eigenen Wirtschafts- und Sozialmodells, über dessen Probleme und Defizite nur in allerersten Ansätzen begonnen – in Polen mehr als in Rumänien. Festzuhalten ist bei aller Parallelität der Herausforderungen zunächst jedoch grundsätzlich, dass zwischen den Wirtschafts- und Sozialsystemen der neuen EU-Mitgliedsstaaten sowie dem sozialen Selbstverständnis in diesen Ländern einerseits und der Situation im westlichen Europa andererseits weiterhin beträchtliche Unterschiede bestehen. Drei zentrale Differenzen sind generalisierend zu nennen: FEHLENDE MITTELSCHICHT. Weder Polen noch Rumänien besitzen eine breite Mittelschicht nach deutschem oder auch französischem Muster. Es existiert in diesen Ländern also keine ausgeprägte Klasse auf der Mitte der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Leiter, die zugleich als Motor einer industriellen Wirtschaft zur Wohlstandsbildung und als Trägerin des Sozialstaats zur institutionalisierten Solidarität beitragen würde. Was beispielsweise in Polen Mittelschicht genannt wird, entspricht zwar dem Lebensstil und dem Wohlstandsniveau nach mehr oder weniger westeuropäischen Mittelschichten. Es handelt sich


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bei dieser Gruppe aber in Wirklichkeit um eine noch relativ kleine, sich vom Rest der Gesellschaft entfernende Oberschicht. Diese treibt eine moderne Dienstleistungswirtschaft an und trägt ein System sozialer Selbstverantwortung mit privater Bildung, privater Gesundheit und privater Alterssicherung. FEHLENDER SOZIALSTAATSDISKURS.

Das zweite Charakteristikum der Sozialmodelle in den Transformationsgesellschaften besteht darin, dass die soziale Frage über viele Jahre überhaupt nicht aufgeworfen wurde. Im Laufe der Transformation unterblieb ein Diskurs zur sozialen Zukunft in den betreffenden Staaten praktisch völlig. Unter den Transformationspolitikern der neunziger Jahre bestand ein breites Einvernehmen hinsichtlich der Unausweichlichkeit der ökonomischen Reformen. Man war sich daher auch über den Vorrang der Wirtschaftsentwicklung vor der Wahrung sozialer Balancen einig. Hierher rührt in Polen beispielsweise der berühmte Euphemismus von den „sozialen Kosten der Reformen”, mit dem neoliberale Ökonomen die Verlierer des Wandels bezeichneten. Die Abwesenheit der sozialen Frage in der politischen Debatte hing aber nicht nur mit der in der Tat unbestreitbaren Unausweichlichkeit der Reformen zusammen. Vielfach übernahmen in späteren EU-Beitrittsländern

nach 1989 sogar Postkommunisten (die sich selbst als Sozialdemokraten bezeichneten) sowie der ursprünglich linksliberale Flügel der demokratischen Opposition ein rein marktliberales Verständnis der Wirtschafts- und Sozialverhältnisse. Keynesianisch inspirierte Wirtschaftsrezepte waren in den neunziger Jahren gänzlich kompromittiert. Und Politikern, die unter den Bedingungen des osteuropäischen Staatssozialismus gelebt hatten, galten sozialdemokratische Wirtschaftrezepte ohnehin als suspekt. FEHLENDES SOZIALES BEWUSSTSEIN

Der dritte Unterschied zwischen den westeuropäischen Sozialmodellen und dem Sozialmodell der neuen EU-Mitgliedsstaaten liegt im Fehlen einer sozial bewussten Wirtschaft. Im Gegensatz zum rheinischen Kapitalismus in Deutschland oder der Colbertschen Wirtschaftspolitik in Frankreich ist die Wirtschaft in Ländern wie Polen oder Rumänien weder Partner des Staates noch dessen Untertan, sondern eher der treibende Hauptakteur im Prozess der Erschaffung neuer sozioökonomischer Verhältnisse. Vor dem Hintergrund dieser sehr realen Unterschiede zu westeuropäisch-kontinentalen Verhältnissen hat die Debatte um ein zukunftstaugliches Sozialmodell in Polen und erst recht in Rumänien noch kaum begonnen. Die Gründe dafür liegen in der atemlosen

DER WIRTSCHAFT.

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Transformation der vergangenen zwei Jahrzehnte ebenso wie in den zuletzt verzeichneten ökonomischen Erfolgen. Das Wirtschaftswachstum ist beachtlich, die Arbeitslosigkeit sinkt, die Löhne steigen, die Konsumnachfrage wächst, die Arbeitsmigration eröffnet neue Exitoptionen. Im Grunde also sieht manches sehr vielversprechend aus. Aber es ist nicht klar, wie den neuen Herausforderungen begegnet werden soll. Viele Jahre haben viele Polen und Rumänen geglaubt, dass die Mitgliedschaft in der Europäischen Union ihren Ländern einen Zivilisationssprung einbringen werde. Sie hatten Recht: So gut wie heute hatten es die Polen und Rumänen noch nie. Prosperität auf Pump Doch die Erfolgsfaktoren, die für die wirtschaftliche Dynamik verantwortlich sind, werden nicht von Dauer sein. Schon bald werden die lange vernachlässigten strukturellen Probleme an die Oberfläche treten. Die heutige wirtschaftliche Prosperität ist zum großen Teil auf Pump erfolgt. Auch der demografische Wandel geht zu Lasten zukünftiger Generationen: Eine ganze Generation, die sich in den Jahren der Transformation an die neue Wirklichkeit anpassen musste, zögerte die eigene Fortpflanzung irreversibel hinaus. In 20 Jahren aber werden diese Menschen nicht weniger an einem gut 44

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funktionierenden Renten- und Gesundheitssystem interessiert sein als die Menschen heute. Ähnliches gilt für die öffentliche Infrastruktur. Über zwei Jahrzehnte lang wurde sie in nennenswertem Umfang weder gebaut noch erneuert. Seit dem Beitritt zur Europäischen Union hat sich das zum Teil geändert, doch die Europäische Union kann und wird ihren neuen Mitgliedern die Aufgabe der infrastrukturellen Erneuerung nicht gänzlich abnehmen. Dasselbe trifft für das Bildungssystem zu. Zwar haben Polen und Rumänien auf dem Gebiet der Hochschulbildung einen quantitativen Sprung nach vorn vollbracht, doch erfolgte dieser unglücklicherweise auf Kosten der Qualität. Zudem werden in Polen zu wenig Ärzte und Ingenieure ausgebildet und zu viele Sozialwissenschaftler. In Rumänien wiederum ist das Bildungsangebot nicht hinreichend auf die Anforderungen des Arbeitsmarktes zugeschnitten. Auch darum hinken polnische und rumänische Unternehmen hinterher, wenn es darum geht, im Wettlauf der innovativen Produkte mitzuhalten. Konkurrieren können sie bis auf weiteres nur über den Faktor Preis – doch eben dieser zentrale Wettbewerbsvorteil schwindet aufgrund der steigenden Löhne und ungünstigerer Währungsrelationen. Vor diesem Hintergrund wird es für Polen und Rumänien (sowie für die


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weiteren neuen Mitgliedsstaaten der erweiterten Europäischen Union) in den kommenden Jahren darauf ankommen, die genannten Defizite zu beheben. Das wird ihnen am besten gelingen, wenn sie sich auf der Suche nach einem für ihre Notwendigkeiten tauglichen Wirtschafts- und Sozialmodell am Leitbild des social investment state orientieren. Darüber hinaus haben neue und ältere Mitgliedsstaaten der EU – ungeachtet aller unterschiedlichen wirtschaftspolitischen und sozialstaatlichen Traditionslinien – hinsichtlich der grundlegenden Herausforderungen, auf die das Modell des „Sozialinvestitionsstaates“ Antworten geben soll, gleichgerichtete Interessen. Die Länder des „alten Europa“ und jene des „neuen Europa“ sitzen insofern im selben Boot, und sie haben allen Grund, gemeinsam dieselbe Grundrichtung entlang den Linien eines sozialinvestiven Wirtschafts- und Gesellschaftsmodells einzuschlagen. Folgerichtig ist es dringend wünschenswert, dass in allen betreffenden Staaten Debatten darüber begonnen und geführt werden, wie solch ein Wirtschafts- und Sozialmodell konzeptionalisiert und realisiert werden kann. RUMÄNIEN. Dies gilt umso mehr, als bislang noch keineswegs überall als gesichert gelten kann, dass solche Erneuerungsdiskurse überhaupt beginnen. Im Fall von Rumänien ist dies bislang nicht zu erkennen. Hier richten

sich wirtschafts- und sozialpolitische Erwartungen derzeit noch in massiver Weise auf die Europäische Union, während Reformdebatten im Land selbst auf das Thema Korruption beschränkt bleiben. Die rumänische Europabegeisterung hat lange historische Wurzeln, weshalb es, wie Cristian Ghinea hervorhebt, beim Beitritt des Landes zur Union von Anfang an um mehr gegangen sei als um den gemeinsamen Markt, eine neue Währung oder Entwicklungstöpfe: „Der EU-Beitritt war für Rumänien das mit Abstand bedeutendste und ernsthafteste Modernisierungsvorhaben seit langer Zeit. Bereits seit zwei Jahrhunderten ist der Wunsch, ‚Anschluss an den Westen‘ zu finden, eine nationale Obsession.“ „Europas China“ in der Krise Eigene Reformanstrengungen und Debatten darüber, auf welchen Wegen der angestrebte „Anschluss an den Westen“ gelingen kann, sind noch kaum festzustellen. Insbesondere wurden in den vergangenen Jahren (mit Ausnahme von Debatten über Rentenerhöhungen) keine zukunftsgerichteten sozialpolitischen Debatten geführt. Noch verleiten kräftige Wachstumsraten und ausländische Direktinvestitionen dazu, Schritte in Richtung einer nationalen social investment strategy auf die lange Bank zu schieben. Doch Wachstum und Investitionen perspektive21

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verdankt Rumänien (in noch stärkerem Maße als Polen) vor allem seinem – bislang – niedrigen Lohnniveau. Steigen die Löhne, wie in jüngerer Zeit geschehen, in beträchtlichem Maße, gerät das rumänische Erfolgsmodell „Europas China“ (Cristian Ghinea) schnell an seine Grenzen. Wenn nicht mehr mit niedrigen Löhnen, womit kann Rumänien dann Wettbewerbsvorteile erzielen? Vor dieser Frage wird Rumänien in den kommenden Jahren mit zunehmender Dringlichkeit stehen. Damit existiert die Notwendigkeit einer gesellschaftlichen, wissenschaftlichen und politischen Debatte über ein zukunftstaugliches Wirtschafts- und Sozialmodell bereits jetzt. POLEN. Deutlich anders als in Rumänien sieht die Lage in Polen aus. Hier haben in jüngster Zeit Debatten über die grundlegende wirtschafts- und sozialpolitische Ausrichtung des Landes im Lichte veränderter Herausforderungen eingesetzt. Dabei zeigt sich zum einen wiederum, welchen prägenden Einfluss nicht nur bestimmte sozialstaatliche „Pfade“, sondern auch Traditionen der national-kulturellen Selbstwahrnehmung auf zukunftsbezogene Debatten ausüben. Dabei wird klarer erkennbar, welche voneinander abweichenden Entwicklungswege Polen einschlagen könnte. Drei konkurrierende Modernisierungsnarrative stehen einander gegenüber:

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erstens das Leitmotiv der Verfechter der „IV. Republik“, zweitens das Leitbild der liberalen Steuerreformer sowie drittens ein Kurs der zukunftsbezogenen Investition in Gesellschaft und Wirtschaft. In ihren Analysen diagnostizieren alle drei Gruppen durchaus ähnliche künftige Probleme und Defizite: den demografischen Wandel und das Altern der Menschen, zu niedrige Beschäftigungsquoten (besonders älterer Arbeitnehmer), Qualifikationsdefizite der Arbeitnehmer, geringes Wachstum, unzureichende Investitionen, wenig Innovation und die konstant hohe Armutsquote. Doch selbst wenn alle drei Gruppen darüber besorgt sind, dass Polen zukünftig den Anschluss an Europa verlieren könnte, fällt die Analyse der Ursachen dafür ausgesprochen unterschiedlich aus. Sind die alten Eliten schuld? Die Verfechter der „IV. Republik“ um die ehemalige Regierungspartei PiS machen vor allem egoistische Eliten für Fehlentwicklungen verantwortlich. Die politische Rechte in Polen zeichnet ein Bild der Wirklichkeit, demzufolge die Schwächen und schmerzhaften Fehlentwicklungen der jungen polnischen Demokratie vor allem durch die ökonomischen und politischen Verflechtungen zwischen einstigen kommunistischen Eliten und


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Teilen der früheren Opposition verursacht wurden. Die Anhänger dieser Geschichtserzählung glauben, diese beiden Gruppen hätten sich auf Kosten der Allgemeinheit bereichert. Träfe ihre Interpretation zu, würde die Aufdeckung und Zerschlagung dieser Verbindungen ausreichen, um die polnischen Pathologien zu heilen. Freilich ist es der PiS während ihrer zweijährigen Regierungszeit nicht gelungen, ihre These zu belegen. Gesellschaft als „Externalität“ Die liberalen Steuerreformer, unter der Führung des ehemaligen Finanzministers Leszek Balcerowicz, radikalisieren die wirtschaftsliberale Logik der III. Republik weiter und begreifen ökonomischen Erfolg ausschließlich als von der Wirtschaft selbst erzielten Erfolg – wobei unter „Wirtschaft“ allein die Summe von Unternehmen und deren Beziehungen untereinander verstanden wird. Vermeintliche „Externalitäten“ wie das gesellschaftliche und politische Leben, Bildung, Familie oder Ökologie spielen keine Rolle. Das gesellschaftliche Potenzial wird prinzipiell als gegeben und unerschöpflich gesehen. Damit werden die Kosten der wirtschaftlichen Prosperität auf andere Lebensbereiche abgewälzt. Beispielsweise wird die Verlängerung der Arbeitszeit als die unabdingbare Voraussetzung für wirtschaftlichen Erfolg

gesehen. Dass dieser auf Kosten von Familie oder Gesundheit, Kultur, Bildung oder des gesellschaftlichen Zusammenhalts erwirtschaftet werden könnte, die aber Voraussetzungen für eine funktionierende Wirtschaft sind, wird schlechterdings ignoriert. Außer einer kurzen Anmerkung dazu, dass mit Blick auf die Renten- und Gesundheitssysteme der demografischen Entwicklung des Landes mehr Bedeutung beigemessen werden muss, finden sich keine Hinweise auf die Frage der Generationsgerechtigkeit sowie das Erfordernis von Investitionen in die Zukunft. Paradigmenwechsel beim Premier Stellvertretend für die dritte und interessanteste Denkrichtung steht eine Expertengruppe um Staatsminister Michal Boni, die Premierminister Donald Tusk berät. Ihre 2008 publizierte Studie zum Humanvermögen der polnischen Gesellschaft sucht die Gründe für ein wirtschaftliches Wachstum nicht nur im Steuersystem, sondern vor allem in der Wirkungsweise der Sozialpolitik. Das Problem der weiteren Entwicklung Polens, so die Autoren, liege vor allem in der Schwäche derjenigen staatlichen Institutionen, die Sozialleistungen und Bildung gewährleisten sollen, aber derzeit nicht in der Lage seien, in der Gesellschaft ein soziales Gleichgewicht herzustellen. perspektive21

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Der Regierungsbericht eröffnet der polnischen Politik den Weg zu einem Paradigmenwechsel, den Minister Boni als „den Schalter umlegen“ bezeichnet. Die liberal geprägten Kräfte in der PORegierung scheinen zu begreifen, dass man die Wälder nicht einfach abholzen kann, weil sie nicht von alleine nachwachsen. Sie erkennen, dass sie anfangen müssen, Bäume zu pflanzen. Diese Einsicht stellt einen wirklichen Fortschritt dar. Dementsprechend rückt der Boni-Bericht Instrumente einer modernen und investiven Sozialpolitik in den Vordergrund. Ganz im Sinne einer social investment strategy geht es etwa um Möglichkeiten der Umschulung und der lebensbegleitenden Weiterbildung, um gesundheitliche Prävention und die notwendige Balance zwischen Arbeit und Familie. Diesem Ansatz liegen also die Idee des Investierens sowie ein vollkommen anderes Verständnis von funktionierender Wirtschaft und deren Voraussetzungen zugrunde. Das Leben, ein kompliziertes Puzzle Die Aktivierung von Frauen etwa wird in dem Regierungsbericht als das dargestellt, was sie im wirklichen Leben ist: ein komplexes Puzzle aus verschiedenen Bedürfnissen und Nöten. Bestandteile dieses Mosaiks sind die Entscheidung für oder gegen ein Kind, der Zugang zu bezahlbarer und verlässli48

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cher Kinderbetreuung, finanzielle Nöte der Familien, berufliche Karriereplanung und der Wunsch von Frauen nach Selbstverwirklichung. Folgerichtig wird im Boni-Bericht auch eine kostenlose und allen zugängliche Kinderbetreuung von Dreijährigen empfohlen. Endlich ein Zukunftsdialog Setzt sich der Sozialinvestition und Nachhaltigkeit in den Vordergrund rückende Denkansatz des Boni-Berichts in Polen gegen rückwärts gewandte Narrative sowie allzu unterkomplexe marktliberale Konzepte durch, wird Polen nach Einschätzung des namhaften Publizisten Jacek Zakowski „endlich den Pfad eines nachhaltigen Wachstums ohne politische und soziale Verwerfungen betreten können… Das heißt, dass die PORegierung den Schalter vor allem in Richtung einer nachhaltigen Politik umlegen muss, die Polen so noch nicht kennengelernt hat.“ Es liegt auf der Hand, dass gerade das in Polen erwachte Interesse an einem erneuerten Wirtschafts- und Sozialmodell substanzielle neue Anknüpfungspunkte für deutsch-polnische sowie europäische Modernisierungspartnerschaften bietet, an denen die Bundesrepublik aus verschiedenen bereits genannten Gründen ein elementares Interesse haben muss.


tobias dürr und katarina niewiedzial – den schalter umlegen

Während solche Diskurse im Fall Rumäniens noch kaum existieren und überhaupt erst entwickelt werden müssen, kann im polnischen Fall an die bereits geführten Debatten angeknüpft werden. Das ist eine nahezu ideale Konstellation. Nicht zuletzt angesichts des Partnerschaft und nicht selten sogar Freundschaft stiftenden Effekts

gemeinsamen Problemlösens sollte zum beiderseitigen Vorteil jegliche Gelegenheit genutzt werden, diese Diskussionen voranzutreiben. ■ Die Autoren danken Michael Miebach, Wawrzyniec Smoczy´nski und Robert Vitalyos für ihre hilfreichen Vorarbeiten und Anregungen.

DR. TOBIAS DÜRR ist Vorsitzender des Think Tanks „Das Progressive Zentrum e. V.“ in Berlin. KATARINA NIEWIEDZIAL

ist Geschäftsführerin des Think Tanks „Das Progressive Zentrum e. V.“ in Berlin. perspektive21

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Gut und modern ÜBER DAS ERSTE JAHR DER REGIERUNG TUSK, DIE EURO UND DEN EURO SPRACHEN KLARA GEYWITZ UND THOMAS KRALINSKI MIT BASIL KERSKI

PERSPEKTIVE 21: Bei seinem Amtsantritt als Premierminister hat Donald Tusk versprochen eine „normale Regierung in einem normalen Land“ zu bilden. Ist Polen jetzt normal? BASIL KERSKI: Die Leute in Polen wollten endlich mal durchatmen und sich nicht für Politik interessieren müssen – denn das mussten sie zwischen 2005 und 2007 permanent. Denn da hatten die meisten Bürger den Eindruck, die Kaczynskis reizen die Grenzen der Demokratie aus. Die neue Regierung hat eine gewisse Normalität und Ruhe und vor allem mehr Sachlichkeit reingebracht. Man muss nicht ihr Anhänger sein um zu sehen, dass sie diesen wichtigen Wählerauftrag erfüllt hat.

Jetzt ist also Ruhe eingekehrt? KERSKI: Polen befindet sich weiterhin in einem Zustand großer politischer Anspannung, denn es hat einen Präsidenten, der Bruder des geschassten Premiers ist – und sein Amt in permanenter Opposition zur neuen TuskRegierung führt. Die Kaczy´nskis haben auf den Wahlmisserfolg letztes Jahr nicht etwa mit einer selbstkritischen Debatte reagiert, sondern haben sich der

kritischen Stimmen einfach entledigt. Sehr viele prominente PiS-Politiker sind gegangen: der ehemalige Kulturminister Ujazdowski, der ehemalige Parlamentspräsident Dorn oder der renommierte Außenpolitiker Zalewski. Und wie funktioniert die Zusammenarbeit zwischen der neuen Regierung und dem Präsidenten? KERSKI: Wir haben in Polen jetzt eine Art Cohabitation. Der Präsident hat eine hohe Legitimation, er ist direkt gewählt. Er ist Oberbefehlshaber der Streitkräfte und kann daraus eine gewisse Verantwortung für die Außenund Sicherheitspolitik ableiten. Der Präsident hat bei eigentlich jedem größeren Reformgesetz sein Veto eingelegt. Positiv ist aber der neue, sachliche Ton der Regierung und ihr mutiges Eintreten auch für unpopuläre Reformen – wie bei der Rentenreform oder der Haushaltssanierung. Ist denn mit der Wahl ein neues stabiles Parteiensystem entstanden? KERSKI: Nein, wir haben es mit keiner starken Parteienstruktur zu tun. Es gibt hier keine starke Volkspartei mit einer perspektive21

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halben Million Mitglieder. Wir haben eher ein amerikanisches System, in dem die Parteien mehr Wahlvereine sind. Tusk selber spricht zwar von seiner PO als einer Art Volkspartei – aber eher in dem Sinne, dass sie drei Strömungen aufgenommen hat: eine sozialdemokratische, eine konservative und eine liberale. Die Vorstellung, dass die PO eine neoliberale Partei sei, ist vollkommen falsch. Das kann man an der Person von Donald Tusk gut sehen. Tusk war nie Unternehmer, er ist von Hause aus Historiker und kommt aus einer sozial sehr schwachen Familie. Er war – wie viele aus seinem Umfeld – mit der Einführung des Kriegsrechts mit Berufsverboten belegt und musste bis 1989 knochenharte Jobs annehmen um zu überleben. Tusk war in der Zeit Bauarbeiter, Ende der achtziger Jahre war er sogar für kurze Zeit Saisonarbeiter in Norwegen. Wenn wir von der PO als „liberaler“ Partei reden, geht es vor allem um „geistigen“ Liberalismus. Vorbilder waren Intellektuelle wie Raymond Aron, Isaiah Berlin oder Ralf Dahrendorf. Das heißt, es ging um viel Freiheit für das Individuum, um geistige Freiheit, aber auch um freies und faires Unternehmertum für Kleinunternehmer. Die Idee war, dass man Marktwirtschaft nicht nur aufbauen kann, indem man Staatsbetriebe privatisiert und möglichst noch an ausländische Investoren abgibt – sondern dass man Bürgern die Chance gibt, selbstständig zu handeln. 52

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Gibt es denn das alte links-rechts-Schema in Polen überhaupt noch? KERSKI: Es gibt ein Potenzial für eine Linke in Polen, denn natürlich sind wir ein Land mit vielen sozial schwachen Menschen, ein Land, in dem eben auch die sozialen Interessen geschützt werden müssen. Es gibt keine Linke Eine starke Sozialdemokratie gab es ja mal in Polen. KERSKI: Ja, vor dem Krieg gab es eine sehr starke sozialdemokratische Bewegung. Die Polnische Sozialistische Partei PPS war demokratisch, stark anti-bolschewistisch und anti-totalitär – und zwar auch und gerade in den dreißiger Jahren. Diese Tradition ist unterbrochen worden. Diese Leute sind nach 1939 von Nazis und nach 1945 von Stalinisten systematisch verfolgt worden. Nach dem Krieg kam es – wie in Ostdeutschland – zu einer Zwangsvereinigung der Sozialdemokraten mit den Moskau-treuen Kommunisten von der PPR, es entstand die Polnische Vereinigte Arbeiterpartei PZPR. Und nach 1989 haben sich die gewendeten Machthaber zu Sozialdemokraten ernannt. Gesellschaftlich gesehen kann man jedoch nicht sagen, dass sie die „Linke“ repräsentieren. Bis heute ist das Lager der Postkommunisten eine Sammlung starker Lobbygruppen, die die Mitgliedschaft vor 1989 in der PZPR


basil kerski – gut und modern

eint, und im Gegensatz zu Ostdeutschland auch eine Partei der Wendegewinner. Wie in vielen postkommunistischen Staaten hat die damals herrschende Partei ihre Privilegien bei der Privatisierung des Staatseigentums genutzt, um gut funktionierende Unternehmen aufzubauen. Viele polnische Unternehmen und Joint Ventures werden heute noch von Personen geleitet, die vor 1989 in der Partei waren – und deren politische Ansichten sind heute mehr neoliberal als sozialdemokratisch. Das rechts-links-Schema funktioniert also nicht? KERSKI: Dieses Schema gab es vor 1939. Heute sind die Hauptkonfliktlinien keine traditionellen, sondern eher biografischer Natur. Die Fragen sind: Wo warst du 1989? Wie stehst du zum System? Welche Vergangenheitsbewältigung strebst du an? Die zweite Konfliktlinie ist das Verhältnis zur katholischen Kirche. Zwar sind alle Parteien für einen säkularen Staat, der Streit um die Kultur des Katholizismus spaltet jedoch die Nation. Und die dritte Konfliktlinie ist das Verhältnis zur europäischen Integration. Kaczynski ´ will EU schwächen … Und welche Rolle spielt die Kaczy´nskiPartei? KERSKI: Die PiS ist beileibe keine Rentner- oder Frustriertenpartei, wie das

manchmal dargestellt wird. Da sind neben alten Solidarno´sc´-Kämpfern, Unternehmer, Lehrer und Menschen aus freien Berufen, aber auch viele junge Intellektuelle mit extremen Ansichten. In der Partei gibt es ein starkes Misstrauen gegenüber der weiteren Integration Europas, aber auch sehr autoritäre Ansichten im Bereich von Erziehung und Familienbild. Kurzum: Die klassische Einordnung des Parteiensystems nach sozialer Stellung haut in Polen nicht hin – aber das ist ja mittlerweile auch ein typisch europäisches Phänomen. … Tusk stärken Wird denn die außenpolitische Entkrampfung der Regierung Tusk von der Bevölkerung mitgetragen? KERSKI: Die neue Regierung macht eine wesentlich sachlichere Außenpolitik. Wir hatten schon in der Kaczy´nski-Zeit Umfragen, die darauf hindeuteten, dass die PiS eine Politik macht, die nicht im Interesse ihrer Wähler ist. Die Regierung Tusk hat eine wichtige Forderung erfüllt: Polen ist raus aus dem Irak. Die Polen wollen eine wichtige Rolle in Europa spielen, aber im Mannschaftsspiel. Man will keine Sonderrolle und man will auch kein global player sein. Die meisten wissen, dass Polen nicht das Potenzial dazu hat. Die meisten Polen sehen in der europäischen Integration eine Chance – perspektive21

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auch um ihre Staatlichkeit gegenüber Russland zu erhalten. Sie wollen dabei in Europa nicht wahrgenommen werden als diejenigen, die ein Hindernis in der Russlandpolitik darstellen. Die meisten Polen wollen Europa nicht schwächen, weil das wiederum Russland stärkt. Das ist ein Hauptkonflikt zwischen der Regierung und dem Präsidenten. Die Kaczy´nskis glauben nicht an die europäische Integration. Dass sie skeptisch sind, könnte man ja noch als klugen Realismus abtun. Das Schlimme ist, dass sie sich daran beteiligen, die EU zu schwächen. Und wie steht es um das Verhältnis zu Deutschland? KERSKI: Die Wahlen haben auch gezeigt, dass die meisten Polen eine Partnerschaft mit Deutschland wollen – das heißt nicht, dass man sie gleich liebt. Und Tusk repräsentiert diesen Stil. Der Euro wird kommen Die Regierung hat vorgeschlagen, 2012 den Euro einzuführen. Ist Polen dafür reif? KERSKI: Die Kriterien sind größtenteils erfüllt. Die Regierung will Polen nicht nur fit machen für die Fußball-EM sondern zeitgleich auch den Euro einführen. Dafür muss die Verfassung geändert werden. Mit dem Beitritt zur EU hatte sich Polen schon generell zum Euro bekannt – das war auch großer 54

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Konsens der politischen Klasse. Eigentlich geht es nur darum, die Kriterien zu erfüllen, um Haushaltsdisziplin und einen Termin. Die PiS hingegen vermittelt derzeit den Eindruck, als gehe es um Einführung oder Nichteinführung des Euro. Die Opposition wird die Europapolitik als Themenfeld gegen die Regierung einsetzen. Und dabei kann man ganz schön viel Schaden anrichten. Reformen sind gewollt Verkraftet Polen denn einen schnellen Euro-Beitritt? KERSKI: Sehr viele Unternehmen und Institutionen machen die Erfahrung, wie schlimm sich Wechselkurschwankungen auswirken. In den letzten Jahren kam es zu erhebliche Schwankungen, teilweise bis zu 30 Prozent. Das führt zum Beispiel auch dazu, dass das Deutsch-Polnische Jugendwerk weniger Mittel hat, denn die eingezahlten Mittel der Bundesregierung sind nicht so viel wert wie erwartet. Polen und Deutschland sind im gleichen Wirtschaftsraum, aber ohne den Euro. Vor allem kleine Unternehmen quälen sich mit der Zusammenarbeit – obwohl die Grenzen offen sind. Da sind die Währungsschwankungen einfach katastrophal. Aber es sind auch noch etliche Hausaufgaben zu machen. KERSKI: In Polen herrscht zurzeit eine relativ reformwillige Stimmung. Die


basil kerski – gut und modern

meisten Menschen wissen, dass schmerzhafte Einschnitte zu machen sind. Sie fahren durch Europa und fragen sich, warum in Deutschland die Lehrer mit 62 oder 63 in Rente gehen und in Polen mit 50. Viele Polen verstehen auch, dass heute die Unterteilung in harte und weiche Themen nicht mehr funktioniert. Bildung, von der frühkindlichen Erziehung bis zur Universität, ist ein wichtiger Standortfaktor. Der Bildungshaushalt wird im kommenden Jahr um 25 Prozent erhöht. Vier Herausforderungen Was sind die anderen Herausforderungen der kommenden Jahre? KERSKI: Da ist zum einen das System der Frühverrentungen, das muss an europäische Standards angepasst werden. Die Bauern sind weiterhin in jeder Hinsicht privilegiert, da werden Strukturen zementiert, die haben nichts mit ökologischer Landwirtschaft zu tun. Das dritte Problem ist die Infrastruktur des Landes. Die ist eine Katastrophe und behindert massiv die Entwicklung des Landes – uns fehlen moderne Eisen- und Autobahnen. Viertens hat Polen seit dem Kommunismus beim Wohnungsbau ein Riesenproblem. Es gibt immer noch zu wenige erschwingliche Wohnungen für junge Familien, das führt automatisch zu einer Benachteiligung der sozial Schwachen.

Ist denn der polnische Sozialstaat wettbewerbsfähig? KERSKI: Beim Rentensystem gibt es zu viele Privilegien. In den Krankenhäusern herrscht de facto eine ZweiKlassen-Gesellschaft – mit vielen Privatpatienten, die ihre Ärzte direkt bezahlen. Der derzeitige polnische Sozialstaat benachteiligt viele, da greifen staatliche Programme nicht. Bei der Energieversorgung setzt Polen in Zukunft auf Atomkraftwerke. Sind die wirklich unumstritten? KERSKI: In den achtziger Jahren wollten die Kommunisten ein Atomkraftwerk im Norden Polens, in der Nähe von Danzig, bauen. Dass es dies heute nicht gibt, ist der große Erfolg der Anti-Atomkraftbewegung. Das hat tausende Menschen mobilisiert – und gleichzeitig die Solidarno´sc´ gestärkt. Tschernobyl hat dann sein übriges getan – und deshalb haben wir bis heute kein AKW. Und wir dürfen eins nicht vergessen: In Polen gibt es zwar keine grüne Partei aber eine starke ökologische Bewegung. Aber heute wird wieder über den Bau von AKWs nachgedacht. KERSKI: Ja, es sieht nach einem Stimmungsumschwung aus. Man denkt nach, ob es sich lohnt, bestimmte Risiken auf sich zu nehmen, um von Russland oder dem Nahen Osten unabhängiger zu sein. Tusk ist ein Anhänger perspektive21

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dieser Sichtweise. Hinzu kommt die Emissionsproblematik – mit Kohle und Steinkohle ist die CO2-Reduzierung nicht zu schaffen. Und wie steht es um neue CO2-arme Technologien? KERSKI: In Polen bin ich schon von einigen Menschen darauf angesprochen worden, dass Brandenburg die CCSTechnologie erprobt. Das wäre eine Chance für die Steinkohle. Zum Schluss noch zwei Fragen. Die erste: Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass 2012 der Euro in Polen gilt? KERSKI: Fifty-Fifty. Die Grundlagen für den Beitritt werden da sein, auch wenn sich das Wachstum verlangsamt – aber keine wirtschaftliche Katastrophe passiert. Das Problem ist eine

verfassungsändernde Mehrheit – das wird ein Wahlkampfthema für die Präsidentschaftswahlen 2010 und die Parlamentswahlen 2011. Der Euro wird kommen. Vielleicht schon Mitte 2012, spätestens aber zur Mitte des nächsten Jahrzehnts. 2012 wäre für die Fußballeuropameisterschaft sehr gut. Und wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass Polen die EURO 2012 gewinnt? KERSKI: Meiner Meinung nach: null. Daran glauben selbst in Polen nur wenige Fußballanhänger. Die EM ist kein sportliches Ziel. Polen will sich dabei als guter und moderner Gastgeber präsentieren. Und in einem Punkt sind sich alle Beobachter nach einem Jahr Tusk einig: Auf diesem Feld ist wirklich viel passiert. ■

BASIL KERSKI

ist Chefredakteur des zweisprachigen „Deutsch-Polnischen Magazins DIALOG“ und Geschäftsführer der Deutsch-Polnischen Gesellschaft, einer Dachvereinigung von 52 deutsch-polnischen Initiativen. 56

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Drei Wege zur Sozialdemokratie DIE PARTEIENENTWICKLUNG IN MITTEL- UND OSTEUROPA SEIT 1989/90 VON MERIN ABBASS

Mit dem Systemwechsel begann in den meisten Staaten in Mittel- und Südosteuropa der Transformationsprozess, der für das politische System einen Wechsel zur Mehrparteiendemokratie bedeutet. Die sozialdemokratischen Kräfte erhofften nach dem Systemwechsel, die politische Führung in ihren jeweiligen Ländern zu übernehmen und den Transformationsprozess sozialdemokratisch zu gestalten. Die tatsächliche Entwicklung der ersten Jahre war jedoch enttäuschend. Bei den meisten ersten freien Wahlen nach dem Zusammenbruch des sozialistischen Systems siegten die liberalnational-konservativ orientierten Kräfte. In Ungarn wurde 1990 die Regierung aus einer Koalition aus dem konservativ-wirtschaftsliberalen Ungarischen Demokratischen Forum (MDF), der Unabhängigen Partei der Kleinlandwirte, der Landarbeiter und des Bürgertums (FKGP) und der ChristlichDemokratischen Volkspartei (KDNP) gebildet. In der Tschechoslowakei und Tschechien gewann die Demo-

I.

kratische Bürgerpartei (ODS), die sich ebenfalls konservativ und wirtschaftsliberal einordnet, die Wahlen von 1992 und 1996. Lieber Bewegung als Partei Die angetretenen sozialdemokratischen Parteien scheiterten vor allem an der Skepsis der Wähler, die nach Jahren kommunistischer Parteidiktatur allem misstrauten, was mit Parteien und Sozialismus im Zusammenhang stand. Die Bevölkerung erhoffte sich mit der Wahl der wirtschaftsliberalen Bewegungen das Ende der Planwirtschaft und mehr Wohlstand. Die Abneigung gegenüber Parteien und Sozialismus führte dazu, dass alle nicht kommunistischen Parteien sich meist „Forum“, „Bewegung“ bzw. „Union“ nannten und dadurch die Bezeichnung „Partei“ vermieden. Auch Sozialdemokraten haben sich in einigen Fällen zunächst in solchen Bewegungen organisiert. Die heute aktiven sozialdemokratischen Parteien perspektive21

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in Mittel- und Osteuropa sind zahlreich und vielfältig. Verfolgt man ihren Ursprung, so können die meisten Parteien einem der drei folgenden Parteitypen zugeordnet werden. Spürbare Gegensätze Der erste Parteityp sind die Traditionsparteien, die an Parteien der vorkommunistischen Zeit anknüpfen und in der Zeit des Sozialismus verboten waren. Einige waren im Exil politisch aktiv. Die Parteien hatten Probleme, ihre traditionellen Konzepte an die besondere Situation der Transformation anzupassen. Damit einhergehend war es schwierig, sich im Spannungsfeld von liberalen und ex-kommunistischen Kräften zu positionieren. Zudem waren die Gegensätze zwischen den Generationen (Neu- und Exil-Mitglieder) zunehmend spürbar. All dies führte dazu, dass sich einige sozialdemokratische Traditionsparteien zu Beginn der Transformation spalteten. In Bulgarien beispielsweise koalierte ein Teil mit der konservativ-liberalen Opposition, während ein anderer Teil sich den reformierten Ex-Kommunisten anschloss. Nichtsdestotrotz gibt es sozialdemokratische Traditionsparteien, die heute noch existieren und als politische Akteure aktiv sind, wie z.B. die Lettische Sozialdemokratische Arbeiterpartei (LSDSP), die 1904 gegründet und 1991 aus dem Exil zurück kehrte. 58

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Der zweite Parteityp sind die reformierten ex-kommunistischen Nachfolgeparteien. In ihnen fanden tiefgreifende Reformen statt, die bei manchen Parteien zu einer „Sozialdemokratisierung“ geführt haben. Neben einer Namensänderung führte dies in der Regel zu massivem Mitgliederrückgang und einem Verzicht auf das Parteivermögen.1 Kennzeichnend für die „Sozialdemokratisierung“ waren vor allem die Unterstützung der demokratischen und marktwirtschaftlichen Reformen sowie der Kurs der Westintegration, der sich in den Bemühungen eines Beitrittes in die NATO bzw. in die Europäische Union ausdrückte. Trotz des Mitgliederrückgangs zählen diese Parteien heute in vielen Ländern zu den mitgliederstärksten Parteien; sie sind oft am besten landesweit vertreten und die Funktionäre verfügen über sehr gute Qualifikationen. Viele Nachfolgeparteien Zu diesem Parteityp gehören unter anderem die Bulgarische Sozialistische Partei (BSP) als Nachfolgepartei der Bulgarischen Kommunistischen Partei, die Sozialdemokratische Partei Kroatiens (SDP) als Nachfolger des Bundes der Kommunisten Kroatiens, die Sozialistische Partei (PS) in Albanien, das pol1 Einen Überblick bietet Michael Dauderstädt, Die Perspekti-

ven der Sozialdemokratie in Ostmitteleuropa, Friedrich-EbertStiftung, Politikinformation Osteuropa 72, Bonn 1997


merin abbass – drei wege zur sozialdemokratie

nische Bündnis der Demokratischen Linken (SLD) oder die Ungarische Sozialistische Partei (MSZP). Der dritte Parteityp sind die antikommunistischen demokratischen Oppositionsbewegungen. Ein Teil dieser Gruppierungen gründeten eigene Parteien, ein anderer Teil ist im sozialliberalen Flügel der anderen nicht-sozialdemokratischen Parteien mit geringem Einfluss verblieben. In Ungarn blieb beispielsweise der „linke“ Flügel als sozialliberaler Flügel innerhalb der liberal-konservativen Partei, dem Bund der Freien Demokraten. Trotz der Differenzierungen in den drei Parteitypen weisen alle sozialdemokratischen Parteien und Gruppen in Mittel- und Südosteuropa inhaltliche Kriterien auf, die sie von den Nationalisten, den Liberalen und den Kommunisten unterscheiden. Sie stehen für: ■ Demokratie im Sinne der Respektierung der Menschenrechte und der Mehrparteiendemokratie, ■ soziale Marktwirtschaft im Sinne der pragmatischen Fortsetzung der Reformpolitik ohne neoliberale Exzesse, ■ Frieden im Sinne eines Ausgleichs nationaler und ethnischer Interessenkonflikte.

II.

Neben solchen inhaltlichen Kriterien gilt die Anerkennung durch die internationale Sozialdemokratie mit

der Aufnahme in die „Sozialistische Internationale“ (SI) als ein weiteres Zeichen für die Zugehörigkeit zur sozialdemokratischen Gemeinschaft. Heute sind fast alle sozialdemokratischen Kräfte in Mittel- und Südosteuropa in die Sozialistische Internationale aufgenommen worden.2 Wenig Bindung und Orientierung Nicht alle sozialdemokratischen Parteien in den Ländern Mittel- und Südosteuropas lassen sich den beschriebenen drei Parteitypen zuordnen. Viel mehr ist es in den Jahren nach der Transformation auch zu Zusammenschlüssen von Traditionsparteien und reformierten ex-kommunistischen Parteien gekommen. So ist zum Beispiel die Litauische Sozialdemokratische Partei erst 2001 durch den Zusammenschluss der traditionellen Sozialdemokratischen Partei Litauens mit der Nachfolgepartei der Demokratischen Arbeitspartei Litauens entstanden. Andere Parteien sind durch Abspaltungen von den transformierten Nachfolgeparteien der Kommunistischen Parteien entstanden, wie zum Beispiel die Neugründung der slowakischen Smer Sozialdemokratie im Jahr 1999 durch die Abspaltung von der Partei der Demokratischen Linken (SDL), der 2 Die Mitglieder der SI sind abrufbar unter www.socialistinternational.org

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Nachfolgepartei der Kommunistischen Partei der Slowakei. Die Smer war damit 2004 die größte Partei im Slowakischen Parlament. 2005 verschmolz Smer mit weiteren kleinen sozialdemokratischen Parteien und gewann die Parlamentswahlen mit 29 Prozent der Stimmen. Daraufhin ging die Smer eine Koalition unter anderem mit der Slowakischen Nationalpartei (SNS) ein, die als ultranationalistisch gilt, weshalb die Mitgliedschaft der Smer in der Sozialdemokratischen Partei Europas (SPE) zunächst suspendiert wurde. Die Koalition brachte zwar eine gewisse politische Stabilisierung, vertieft aber die Risse in der slowakischen Gesellschaft. Die Regierungsbeteiligung der SNS führte zu erneuten Spannungen im Verhältnis zu den ethnischen Minderheiten, die fast ein Fünftel der Bevölkerung ausmachen sowie zum Nachbarn Ungarn. Trotz der Verlangsamung notwendiger Reformen in der Sozialpolitik, im Gesundheitswesen und in der Bildungspolitik, hat die Smer-Regierung in einigen Bereichen die neoliberalen Reformen ihrer Vorgänger korrigiert, die Arbeitslosenzahl ist gesunken. Am 14. Februar 2008 wurde die Smer wieder in die SPE aufgenommen. Insgesamt kommt es in den osteuropäischen Transformationsländern häufiger zu Zusammenschlüssen zwischen Parteien und zu Spaltungen innerhalb der Parteien als dies im westlichen Europa der Fall ist. Dadurch sind auch 60

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nicht alle Parteien den oben genannten drei Typen eindeutig zuzuordnen. Diese Abspaltungen und Zusammenschlüsse erschweren erheblich die Orientierung und Bindung von Stammwählern. Ein Beispiel für eine „historische“ sozialdemokratische Partei ist die Tschechische Sozialdemokratische Partei (CSSD). Sie ist die älteste politische Partei in der Tschechischen Republik und seit 1990 Vollmitglied der Sozialistischen Internationale. Die CSSD wurde im Jahr 1878 in Prag unter dem Namen „Tschechoslowakische Sozialdemokratische Arbeiterpartei“ gegründet und war eine der wichtigsten politischen Kräfte der Tschechoslowakei in der Zwischenkriegszeit. Nach der Machtübernahme der Kommunisten schloss sich im Jahr 1948 ein Teil der Partei mit der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei (KSC) zusammen. Im selben Jahr konstituierte sich die Tschechoslowakische Sozialdemokratische Partei im Exil mit Sitz in London und Vertretern in Frankreich, den USA, der Schweiz, Österreich und Deutschland. Sie war die einzige tschechoslowakische politische Partei, die bis zum November 1989 im Exil tätig war. Auf dem Erneuerungsparteitag der CSSD am 24./25. März 1990 wurde Jiri Horák zum Parteivorsitzenden gewählt. Er hatte zuvor seine Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit den Reform-

III.


merin abbass – drei wege zur sozialdemokratie

kommunisten angekündigt, so dass der „Club Obroda“ (eine Gruppe von Reformkommunisten, die sich Anfang 1989 formiert hatte) in die CSSD eintrat. Damit war die CSSD seit ihrer Wiedergründung nach der Wende 1989 und dem Erneuerungsparteitag 1990 neben der noch traditionellen kommunistischen Partei (KSCM) die einzige tschechoslowakische Partei links von der bürgerlichen Mitte. Am Anfang stand der Misserfolg Am 2. April 1990 vereinbarten die Vertreter der CSSD und der Sozialdemokratischen Partei in der Slowakei (SSS), dass sie bei den ersten freien Wahlen in einem Wahlbündnis unter dem Namen „Sozialdemokraten“ antreten wollen. Das Wahlbündnis verfehlte jedoch sowohl den Einzug in die Volkskammer als auch in die Nationenkammer. Der Hauptgrund für die Niederlage war die allgemeine Abneigung der Wähler gegen ein sozialistisches Programm. Nach den Wahlen löste sich die Wahlkoalition auf, und die zwei sozialdemokratischen Parteien organisierten sich selbständig und unabhängig voneinander. Im Jahr 1993 wurde die CSSD von der „tschechoslowakischen“ in die „tschechische“ Sozialdemokratische Partei umbenannt. Ab 1991 wuchs die Popularität der CSSD – insbesondere unter den Verlierern der 1991 eingeleiteten, radikalen

Wirtschaftsreformen von Premierminister Václav Klaus. Bereits bei den Wahlen 1996 wurde die CSSD mit 26,4 Prozent der Stimmen zweitstärkste Partei des Landes, nachdem sie 1992 nur 6,5 Prozent erreichen konnte. Bei den vorgezogenen Parlamentswahlen 1998 wurde die CSSD mit 32,3 Prozent und 2002 mit 30,2 Prozent stärkste Kraft. Der CSSD gelang es vor allem, die wirtschaftlichen Erfolge ihrer Regierungszeit gut zu vermitteln. Die Partei versprach, Familien mit Kindern zu fördern und innerhalb von fünf Jahren bis zu 50.000 neue Wohnungen jährlich zu errichten. Außerdem sah das Wahlprogramm die Einführung von Volksabstimmungen, eine gerechte Rentenreform sowie die Schaffung 200.000 neuer Arbeitsplätze vor. Von 1998 bis 2006 stellte die CSSD mit Milos Zeman, Vladimír Spidla, Stanislav Gross und Jirí Paroubek den Ministerpräsidenten. Seit 2006 ist sie die stärkste Oppositionspartei. Modern und pragmatisch Die Mitgliederzahl der CSSD ist nach der Wende gestiegen. Im Jahre 1994 gab es 10.500, im Jahr 1998 schon 17.300 Mitglieder; zurzeit sind es 18.100.3 Dennoch bleibt der Organisationsgrad gering, das Durchschnittsalter ist hoch. 3 Zum Vergleich: Die ODS verfügt über 26.000, die KSCM über 70.000, die KDU-CSL über 45.000 und die Grünen über 1.000 Mitglieder.

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Ähnlich den Jusos in der SPD gibt es in der CSSD die Jugendorganisation MSD (Mladi sociálni demokraté) mit Gliederungen in den wichtigsten Regionen und landesweit etwa 850 Mitgliedern. Der Parteivorsitzende Paroubek sieht sich als ein reformorientierter Politiker, der die Partei mit seinem Programm der „Modernisierung“ auf die kommenden Herausforderungen einstellen möchte. Die innerparteiliche Programmdiskussion und die damit verbundenen Positionierungen entsprechen den in allen westeuropäischen sozialdemokratischen Parteien typischen Debatten um die Interpretation der Grundwerte Freiheit, Gerechtigkeit, Solidarität und deren Umsetzung in praktische Politik. Mit der von Paroubek auf dem Parteitag 2007 angestoßenen Debatte zur Modernisierung der Partei soll die Partei für jüngere Wähler, Gebildete, die Mittelschicht, Gewerbetreibende und Frauen attraktiver werden. Während in Umfragen der Modernisierungskurs große Zustimmung in der Bevölkerung erhält, ist die Basis von der Notwendigkeit des Reformkurses nicht überzeugt. Es gibt in der Partei einen gewichtigen traditionell linken und gewerkschaftsnahen Flügel, der auf die Komponente eines fürsorgenden Sozialstaates setzt und „Modernisierungsexperimente“ ablehnt. Die nach dem „Prager Frühling“ zur Sozialdemokratie gestoßenen älteren Kräfte zeigen wenig Verständnis für 62

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eine Modernisierung als Folge der Globalisierung und veränderter politischer und sozioökonomischer Bedingungen. Unterschiede zwischen Parteiführung und Basis lassen sich ebenso an der Position zur Europapolitik sehen. Während die CSSD-Führung eindeutig pro-europäisch und multilateralistisch ausgerichtet ist, sehen große Teile der Gefolgschaft die europäische Integration (und den globalen Wettbewerb) eher als Bedrohung. Hinsichtlich der Zusammenarbeit mit anderen Parteien gilt für die sozialdemokratische Partei bis heute der 1995 gefasste Beschluss, nicht mit extremistischen Parteien, auch nicht mit der KSCM, zu kooperieren. Einige der heutigen sozialdemokratischen Parteien in Mittel- und Südosteuropa sind Nachfolgeparteien der alten kommunistischen Parteien, die sich nach der Wende grundlegend reformiert haben. Beispielhaft steht dafür die Ungarische Sozialistische Partei (MSZP). Bereits nach dem Ersten Weltkrieg wurde die Ungarische Sozialdemokratische Partei (MSDSP) gegründet. Im Jahr 1948 musste sich die MSDSP zwangsweise mit der Kommunistischen Partei vereinigen. Die Partei nannte sich ab diesem Zeitpunkt Partei der Ungarischen Arbeiter (MDP), nach 1956 Ungarische Sozialistische Arbeiterpartei (MSZMP).

IV.


merin abbass – drei wege zur sozialdemokratie

Im Frühjahr 1989 organisierten sich viele Mitglieder des MSZMP in den meisten größeren Ortschaften Ungarns in der so genannte „Reformkreisbewegung“. Sie begleiteten den Übergang zum Mehrparteiensystem mit einer intensiven politischen Diskussion über alle Tabu-Themen des Staatssozialismus und sahen sich als Bewahrer der Traditionen der ungarischen demokratischen Linken. Sie forderten die Rückgabe des Parteivermögens an den Staat und die Gründung einer neuen sozialistischen Partei. Den Reformkreisen ist es zu verdanken, dass sich die Staatspartei am 7. Oktober 1989 selbst auflöste und an ihre Stelle eine demokratisch-linke Partei, die MSZP trat. Ein wichtiger Meilenstein in der Entwicklung der Partei war das Votum der Mehrheit der Delegierten auf dem Parteitag vom 8./9. Oktober 1989 für die Umbenennung und für ein sozialdemokratisches Grundprofil. Auf dem Parteitag am 9./10. Oktober 1990 haben die Delegierten ein sozialdemokratisches Grundsatzprogramm angenommen. Ende der Isolation Trotz ihrer relativ frühen programmatisch-organisatorischen Erneuerung erreichte die MSZP als Nachfolgepartei bei den Wahlen im Frühjahr 1990 ein schlechtes Resultat. Dies führte zu einem radikalen Führungswechsel innerhalb der MSZP. Gyula Horn wurde

Parteichef. Unter seiner Führung gelang es der MSZP zwischen 1990 und 1994 sich aus der politischen Isolation einer postkommunistischen Partei zu befreien. Das spiegelte sich in einer steigenden Mitgliederzahl und zunehmender Wählerunterstützung wider. Das regierende konservativ-antikommunistische Bündnis wurde 1994 durch die MSZP mit 32,9 Prozent der Stimmen abgelöst. Die MSZP hatte bis dahin wirtschaftsund sozialpolitisch radikal mit dem Kommunismus gebrochen. Das konservative Bündnis wurde vor allem wegen seines wirtschaftspolitischen Kurses abgewählt. Die Privatisierung der Volkswirtschaft war für die Lohnempfänger besonders schwer zu verkraften, die zum Beispiel ihren vormals durch Kollektivvereinbarungen gewährleisteten Schutz verloren. Erstmals gelingt die Wiederwahl Trotz absoluter Mandatsmehrheit bildete Gyula Horn ein Koalitionskabinett aus MSZP und dem Bund der Freien Demokraten (SZDSZ). Die wirtschaftlichen Reformen und die Privatisierung des staatlichen Produktivvermögens wurden allerdings nicht rückgängig gemacht. Sie hatten negative Auswirkungen auf die Einkommen der lohnabhängigen Bevölkerung und der Rentner. So sanken die Reallöhne um 20 Prozent im Vergleich zu 1989, besonders die Lehrer und Angestellten hatten Einkommensperspektive21

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einbußen hinzunehmen. Der Arbeitnehmerschutz nahm stark ab, wobei die Gewerkschaften zunehmend an Bedeutung verloren. Der wachsende Unmut in der Bevölkerung führte zur Ablösung der MSZP im Jahr 1998 durch den konservativen Bürgerbund FIDESZ. Die MSZP kam jedoch 2002 wieder an die Macht. 2006 wurde die von der MSZP geführte Regierung als erste Regierung Ungarns seit 1990 im Amt bestätigt. Es ist diese sozialistische Regierung von Ferenc Gyurcsány, die den Bürgern nach wie vor ein hartes Konsolidierungsprogramm zumutet. Geringe soziale Verankerung Die MSZP hat heute etwa 35.000 Mitglieder, von denen 5.000 bis 7.000 politisch aktiv sind. Damit ist die MSZP die einzige Partei in Ungarn mit einer nennenswerten Mitgliedschaft. Die Partei gliedert sich in Orts- und Kreisverbände. Die MSZP ist die einzige ungarische Partei mit einer Frauenquote, nach der in den Führungsgremien Frauen zu mindestens 30 Prozent vertreten sein müssen. Noch wichtiger ist, dass Frauen in der MSZP – anders als in anderen ungarischen Parteien – herausragende Positionen besetzen: Katalin Szili ist Parlamentspräsidentin, Kinga Göncz ist Außen- und Mónika Lámperth Arbeitsministerin. Die MSZP findet überdurchschnittliche Zustimmung bei den ehemaligen 64

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Mitgliedern der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei, insbesondere bei Rentnern, Bewohnern von Budapest und anderen großen Städten sowie Arbeitern, die in den Plattenbau-Siedlungen leben und wenig privilegiert sind. Allgemein führt der Mangel an sozialer Partizipation jedoch zur zunehmenden Entfremdung der Politik von der Gesellschaft. Dadurch empfängt die ungarische Politik von der Gesellschaft keine oder nur schwache Impulse, so dass Probleme der Gesellschaft von der Politik nur schwer wahrgenommen werden. Hiervon ist die MSZP genauso betroffen. Die Sozialistische Partei ist heute eine pro-westliche und pro-europäische an Reformen orientierte Partei. Von der EU-Südosterweiterung erhofft sich die MSZP eine verbesserte Lage der ungarischen Minderheiten in den Nachbarländern und damit eine Entschärfung der Minderheitenfrage, die von der Rechten immer wieder zur Mobilisierung ihrer Anhänger missbraucht wird. Die Proteste halten an Die Perspektiven der MSZP sind zurzeit extrem unsicher, insbesondere weil sie als sozialdemokratische Partei die Interessen der Unterprivilegierten wenig vertritt. Wahlpolitisch wird die Position umso schwieriger, da die Rechte zunehmend das Feld des „Sozialen“ für sich in Anspruch nimmt. Die Proteste gegen die Regierung und deren


merin abbass – drei wege zur sozialdemokratie

Konsolidierungsprogramm verdeutlichen den Unmut der Bevölkerung. Die konservative Bürgerpartei (FIDESZ), in Zusammenarbeit mit radikalen und gewaltbereiten Rechten, nutzen die Lage, um die Transformations- und Globalisierungsverlierer an sich zu binden. Ein Beispiel für eine Nachfolgepartei, die ihre Möglichkeit der Politikgestaltung gegenwärtig verspielt hat, ist das Bündnis der Demokratischen Linken (SLD) in Polen. Unter diesem Namen kooperierten diverse, meistens ehemalige staatssozialistische linke Parteien und gesellschaftliche Organisationen erstmals im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen von 1990. Aufgrund der antisozialistischen Stimmung holte die SLD bei den Wahlen nur 9,2 Prozent der Stimmen. Die dominante Partei in diesem Bündnis war von Anfang an die Sozialdemokratie der Republik Polen (SdRP). Sie trat 1990 an die Stelle der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei (PZPR). Die SLD distanzierte sich weder von der PZPR, noch trennte sie sich von ihrem Vermögen. Der SdRP, die sich schnell in die sozialdemokratische Richtung entwickelte, gelang es, eine bestimmende Position im Mitte-Links-Spektrum des Parteiensystems zu erreichen. Davon zeugen die Wahlergebnisse des von ihr dominierten SLD bei den Parlamentswahlen 1993, als sie mit 20,4 Prozent

V.

der Stimmen das beste Resultat unter den Parteien erreichte und mit der Volkspartei (PSL) eine Regierungskoalition bildete. Nach einem Misstrauensvotum gegen Regierungschef Pawlak (PSL) stellte die SLD ab 1995 bis zu den Sejm-Wahlen 1997 den Ministerpräsidenten. Trotz eines guten Wahlergebnisses wurde die SLD 1997 zur größten Oppositionspartei. In der folgenden Periode wurde die SLD zu einer einheitlichen Partei umgestaltet. Eine neue Partei sollte zur Bildung eines unbelasteten und integrativen Erscheinungsbildes der Linken beitragen. Im Jahr 1999 löste sich die SdRP auf, im selben Jahr fand der Gründungsparteitag der SLD statt. Die Parteigründung hatte positive Folgen für die SLD: Sowohl ihre Mitgliederzahl als auch die Unterstützung durch die Wähler nahm zu. Die Partei, der noch 1998 ca. 62.000 Personen angehörten, zählte im Jahre 2000 etwa 80.000 und 2001 schon ca. 100.000 Mitglieder. Ein neuer Hoffnungsträger Die SLD schloss im Dezember 2000 ein Wahlbündnis mit der Arbeitsunion (UP). Das SLD-UP-Bündnis gewann die Sejmwahlen von 2001 mit großem Vorsprung. Es erreichte 41 Prozent der Stimmen. Die Unzufriedenheit vieler Bürger mit den Härten der von der Mitte-Rechts-Regierung durchgeführten Reformen sowie mit ihren fortschreiperspektive21

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tenden internen Konflikten, machte die SLD zum fast alleinigen Hoffnungsträger breiter Bevölkerungsschichten hinsichtlich einer sozial verträglicheren Politik. Viele interne Konflikte Während der letzten Regierungszeit der SLD (2001–2004) wurden die Beitrittsverhandlungen mit der EU erfolgreich abgeschlossen und ein nicht unerhebliches wirtschaftliches Wachstum erreicht. Während einer tiefen politischen Krise spaltete sich 2004 ein Teil der Partei ab und gründete die ebenfalls sozialdemokratische Sozialdemokratie Polens (SdPl). Auch andere Politiker verließen die SLD. Im Mai 2005 trat das gesamte Präsidium und der Vorstand der Partei zurück. Der ehemalige Landwirtschaftsminister Olejniczak strebte danach als neuer Vorsitzender eine Rückintegrierung der SLD in die Parteienlandschaft an. Bei den Sejmwahlen erreichte die Partei nur noch 11 Prozent (2005) bzw. 13,5 Prozent (2007). Zur Wahl 2007 ging die SLD mit der linken Unia Pracy, der Sozialdemokratie Polens und der sozialliberalen Partia Demokratyczna ein Bündnis ein. Gemeinsam traten die Parteien unter der Bezeichnung Linke und Demokraten (LiD) zur Wahl an. Das Bündnis wurde 2008 aufgelöst. Die Ursache für den Vertrauensverlust lag in dem äußerst negativen Bild 66

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der SLD in der Öffentlichkeit und internen Konflikten. Ihre Politik wurde als unsozial empfunden (Abschaffung der Milchbars, Einschränkung der Rentenanpassungen, Idee der flat tax etc.). Außerdem wurden die Interessen der Gewerkschaften nicht ausreichend berücksichtigt. Die Fortsetzung der inneren Konflikte bis heute machen die SLD auf der politischen Landkarte immer unsichtbarer. Der Zusammenbruch des Sozialismus ermöglichte auch die Gründung von neuen sozialdemokratischen Parteien, von denen ein Teil aus Abspaltungen von Nachfolgeparteien stammt – wie das Beispiel der Sozialdemokratischen Partei (PSD) in Rumänien zeigt. Bereits 1863 wurde die erste Sozialdemokratische Partei Rumäniens gegründet, jedoch ohne nennenswerte Wahlerfolge. Nach 1989 und der Aufhebung des Verbots politischer Parteien, entstanden viele Parteien und Allianzen. Darunter auch die Front der Nationalen Rettung (FSN). Sie definierte sich selbst als revolutionäre Bewegung und neue Macht im Staat. 1992 spaltete sich die FSN in die Sozialdemokratische Partei Rumäniens (PDSR) um Staatspräsident Ion Iliescu und die Demokratische Partei (PD). Im Vergleich zum ursprünglichen Programm des FSN von 1990 sind bei der PDSR erhebliche Veränderungen festzustellen.

VI.


merin abbass – drei wege zur sozialdemokratie

Sie versteht sich als moderne sozialdemokratische Partei der linken Mitte. Das Programm beruht auf den Prinzipien und Ideen der europäischen Sozialdemokratie des 20. Jahrhunderts und setzt die Tradition der sozialdemokratischen Bewegung Rumäniens fort. Die Partei setzt sich für die Verwirklichung von Freiheit, Demokratie, sozialer Gerechtigkeit, Solidarität und Wohlstand ein. Neben der FSN wurden viele Parteien der Zwischenkriegszeit neugegründet. Darunter auch die Rumänische Sozialdemokratische Partei (PSDR), die sich als Nachfolgerin der 1893 gegründeten Sozialdemokratischen Partei der Arbeiter Rumäniens (PSDMR) definiert, sich aber nach der Wende neu strukturierte. Die Leitfigur gibt den Ton an Im Jahr 2001 fusionierten die PSDR und die PDSR zur Sozialdemokratischen Partei Rumäniens (PSD), nachdem beide Parteien bei den Wahlen 2000 eine erfolgreiche Wahlallianz gebildet hatten. Die PSD ist die größte Partei Rumäniens. Sie ist die einzige rumänische Partei, die über eine landesweite Struktur von Lokal- und Ortsverbänden verfügt. Die PSD weist heute im Vergleich zu den anderen Parteien in der rumänischen Parteienlandschaft sowohl strukturell als auch programmatisch die klarsten Konturen auf. Allerdings genießen Parlament und Parteien generell in der Bevölkerung nur geringes Vertrauen.

Nach offiziellen Angaben hat die PSD derzeit ca. 350.000 Mitglieder. Allerdings sind diese Zahlen nur bedingt aussagekräftig, da es keine klare und transparente Erhebung von Mitgliederzahlen gibt. Die rumänische Sozialdemokratie verfügt über verschiedene Vorfeldorganisationen, insbesondere im Nachwuchsbereich. Die Jugendorganisation der PSD, die TSD, hat nach eigenen Angaben 75.000 Mitglieder. Dank ihrer dynamischen Führung erreichte die TSD in den vergangenen Jahren eine deutliche Öffnung der Partei für den politischen Nachwuchs. Die Sozialdemokratie verfügt zudem über eine Frauenorganisation, Studentenverbände und Schülerorganisationen. Das parteiinterne Leben der PSD ist bis heute stark von der Person Ion Iliescus geprägt. Er ist die Leitfigur der rumänischen Politik nach 1989 und Ehrenvorsitzender der PSD. Unter seinem Einfluss gelang es, das sozialdemokratische Spektrum Rumäniens in einer Partei zusammenzuführen. Allerdings wuchsen mit der äußeren Konsolidierung des sozialdemokratischen Lagers auch die inneren Spannungen und der Ruf nach parteiinterner Modernisierung. Ein wichtiger Gesichtspunkt ist dabei der Mangel an innerer Demokratie und die intransparenten Auswahlprozesse und Karrierestrukturen der Partei. Mit der Wahl des als Reformer geltenden Mircea Geoana zum perspektive21

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Parteivorsitzenden 2005 erhoffte sich die Partei eine Modernisierung, die aber nur teilweise erfolgreich war. Die Sozialdemokratische Partei Rumäniens gilt in der rumänischen Öffentlichkeit als Partei der Rentner und der ländlichen Bevölkerung. Tatsächlich bilden die Rentner weiterhin die nach den abhängig Beschäftigten zweitgrößte Wählergruppe der Sozialdemokraten. Umgekehrt konnte die PSD im (groß-)städtischen Milieu und unter der jungen Bevölkerung bisher nur relativ wenige Wähler gewinnen. Neuer Erfolg? Ein besonderes Merkmal der PSD ist die fehlende Unterstützung der Intellektuellen und die schwache Verbindung zwischen der Sozialdemokratie und den Gewerkschaften. In Ablehnung der kommunistischen Vergangenheit definieren sich die rumänischen Intellektuellen meist rechtsliberal, teilweise auch nationalkonservativ. Mit den Gewerkschaften des Landes gibt es nur wenig etablierte Kooperationsbeziehungen. Die PSD umfasst ein relativ breites Spektrum programmatischer Strömungen, das von traditionell sozialistischen bzw. post-kommunistischen Positionen bis hin zu progressiven, aber auch sozialliberalen Standpunkten reicht. Feste programmatische Plattformen existieren in der PSD jedoch nicht. Innerparteilich umstritten ist vor allem die sozial68

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politische Rolle des Staates – Umverteilung, Existenzversorgung oder Sicherstellung der Chancengleichheit – und das Verhältnis der Partei zu Wirtschaft und Wirtschaftsinteressen. Die PSD ist als Mitglied der Sozialistischen Internationale und der Sozialdemokratischen Partei Europas fest in die Strukturen der internationalen Sozialdemokratie eingebunden. Die PSD tritt für das gemeinsame Europa und die Einbindung in die westliche Wertegemeinschaft ein. Als Regierungspartei (2000-2004) kam der PSD eine entscheidende Rolle beim erfolgreichen Abschluss der Verhandlungen mit der Europäischen Union und bei der Vorbereitung des Beitritts zu. Belastend für die Parteien, somit auch für die PSD, sind vor allem die zunehmenden Korruptionsvorwürfe, die das Image der Partei schädigen. Der knappe Sieg mit 33 Prozent der Stimmen bei den Parlamentswahlen im November 2008 zeigt, dass die PSD mit ihrer Programmatik wieder auf einem Erfolgskurs ist. Der Überblick über die sozialdemokratischen Kräfte in den Ländern Mittel- und Osteuropas zeigt, dass seit 1989/90 eine Vielzahl von sozialdemokratischen Parteien entstanden ist. Sie sind in ihrem Organisationsgrad und ihrer Größe verschieden und haben sich auch bisher unterschiedlich erfolgreich an Wahlen in ihren Ländern beteiligt. Einige Parteien waren zu Beginn

VII.


merin abbass – drei wege zur sozialdemokratie

der Wende erfolgreich, sind zurzeit aber weniger von Bedeutung, wie die SLD in Polen, andere sind erstarkt wie CSSD in Tschechien und die Sozialdemokraten (SD) in Slowenien, wie die letzen Kommunal- und Parlamentswahlen zeigten. Alle Parteitypen verbindet, dass sie sich für Demokratie, soziale Marktwirtschaft, Frieden und Westintegration einsetzen, denn in allen Transformationsländern wurde der EU-Beitritt besonders beschleunigt, als sozialdemokratische Parteien an der Macht waren. Die Erfolge in der Außenpolitik jedoch bedingten „Abstrafungen“ im Inland. Nichtsdestotrotz konnte im Laufe der Transformationsprozesse die herrschende Skepsis gegenüber sozialdemokratischen Werten, die sich in Niederlagen bei Wahlen ausdrückte, überwunden werden. Den meisten sozialdemokratischen Parteien ist es zudem gelungen, sich im neuen System zu relevanten Akteuren ihrer Länder zu entwickeln. Dennoch stehen den Transformationsländern noch große politische und gesellschaftliche Herausforderungen bevor, die sozialdemokratische Lösungsansätze erfordern. Deshalb müssen die

Agenden der Parteien in den Transformationsländern Mittel- und Osteuropas vom Willen zur sozialdemokratischen Gesellschaftsgestaltung geprägt sein. Bessere programmatische Positionen, nachhaltige Nachwuchsförderung und verstärkte Zusammenarbeit mit den sozialdemokratischen Kräften in Westeuropa wären gute Ansätze zur Bewältigung der kommenden Probleme. ■ Weiterführende Literatur zum Thema Hermann Bünz, Polen vor der Wahl: Ein Überblick über Parteien, Wirtschaft und Außenbeziehungen, FriedrichEbert-Stiftung, Politikinformation Osteuropa 91, Bonn 2001 Michael Dauderstädt, Die Sozialdemokratie in Mittelund Osteuropa zwischen Triumph und Krise, FriedrichEbert-Stiftung, Politikinformation Osteuropa 104, Bonn 2002 Michael Ehrke, Länderanalyse Ungarn: Strukturen eines postkommunistischen Transformationslandes, FriedrichEbert-Stiftung, Internationale Politikanalyse, Bonn 2007 Florian Grotz, Politische Institutionen und post-sozialistische Parteiensysteme in Ostmitteleuropa, Opladen 2000 Csilla Machos, Organisationsstrukturen linker Parlamentsparteien in Ostmitteleuropa, Erkrath 2002 Dorothèe Nève de, Sozialdemokratische und sozialistische Parteien in Südosteuropa – Albanien, Bulgarien und Rumänien 1989-1997, Opladen 2002 Karel Vodicka, Das Parteiensystem Tschechiens, in: Dieter Segert/Richard Stöss/Oskar Niedermayer (Hg.): Parteiensysteme in postkommunistischen Gesellschaften Osteuropas, Opladen 1997, S. 90-134 Emil Vorácek, Die Entstehung einer linken Opposition in der Tschechoslowakei vor dem November 1989, in: Segert, Dieter (Hg.), Spätsozialismus und Parteienbildung in Osteuropa nach 1989, Berlin 1996, S. 121-146 Nenand Zakosek, Kroatien – das Ende des Fassadendemokratie, Friedrich-Ebert-Stiftung, Politikinformation Osteuropa 83, Bonn 2000

MERIN ABBASS

arbeitet im Referat Mittel- und Osteuropa der Friedrich-Ebert-Stiftung in Berlin. perspektive21

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Politische Antworten gesucht DER DEMOGRAFISCHE WANDEL UND DER NACHHOLBEDARF BEI INNOVATIONEN SIND ZENTRALE HERAUSFORDERUNGEN DER RUSSISCHEN INNENPOLITIK VON RAINER LINDNER

ie globale Finanzkrise hat deutlich gemacht, dass Russland längst zum Bestandteil der weltweiten Wirtschafts- und Finanzströme geworden ist. Daran haben die empfindlichen Reaktionen des russischen Finanzsektors und der Wirtschaft insgesamt keinen Zweifel gelassen. Die Krise trifft Russland in einer Phase des gesamtwirtschaftlichen Umdenkens. Längst herrscht bei Politik und Wirtschaft die Überzeugung vor, dass das Land nicht als Energiemacht allein die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts meistern kann. Die Lehre der Krise für die künftige wirtschaftliche Kooperation ist klar: Gemeinsame Chancen sind immer von gemeinsamen Risiken begleitet. Zukunftsfragen wie Finanzsicherheit, aber auch Energie- und ökologische Sicherheit können Deutschland und Russland nur noch gemeinsam angehen. Das gilt auch für die anhaltende demografische Krise Russlands, deren Lösung von der alten und neuen Führung der Russischen Föde-

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ration zur entscheidenden Zukunftsaufgabe erklärt wurde. Dieser Beitrag analysiert deshalb zwei zentrale Herausforderungen, vor denen Russland in den kommenden Jahren steht: die Demografie und die Innovationskraft. Demografische Veränderungen Russlands Bevölkerung wird bis 2050 von derzeit 142 Millionen auf 100 Millionen Menschen schrumpfen. Dafür werden zumeist die geringe Geburtenrate, die zunehmende Mortalitätsrate und der schlechte Gesundheitszustand verantwortlich gemacht. Die schwachen Geburtsjahrgänge in den Jahren des Umbruchs nach 1991 werden in Russland in absehbarer Zeit für weiter sinkende Geburtenzahlen sorgen. Der russische demografische Sonderweg im Vergleich zu anderen europäischen und außereuropäischen Staaten ist vor allem ein Ergebnis der hohen Sterberate. Gegenwärtig liegt die Lebenserwartung in Russland bei Männern bei 58,4 Jahren perspektive21

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und bei Frauen bei 71,9 Jahren. Damit belegt das Land den 136. Platz weltweit. Vor allem die Sterberate für Männer im arbeitsfähigen Alter ist auf einen dramatischen Tiefstand zurückgefallen. Trotz der starken Mortalität und einer in den letzten fünfzig Jahren gesunkenen (vor allem männlichen) Lebenserwartung ist in Russland die Alterung ein zentrales Problem. Der Bevölkerungsanteil der über 65-Jährigen wird 2025 bei 18 Prozent liegen, verglichen mit 12 Prozent im Jahr 2000. Die staatlichen Ausgaben für Altenpflege und medizinische Versorgung werden ebenso zunehmen wie der Reformdruck zur Umsetzung neuer gesundheitspolitischer und anderer Vorsorgekonzepte für ältere und pflegebedürftige Menschen. 2050 wird nach moderaten Schätzungen der UN ein Drittel der Bevölkerung (32,8 Prozent) älter als 60 Jahre sein; zugleich ist ein Rückgang der Zahl der 18-jährigen Männer um 50 Prozent bereits in den kommenden 15 Jahren zu erwarten. Russlands demografische Koordinaten werden sich stärker als im übrigen Europa deutlich verschieben. Das Problem ist erkannt Die demografische Lage eines Landes – der langfristigen Sicherung des Bevölkerungsbestands in absoluten Zahlen und in der regionalen Verteilung – hat unmittelbare Auswirkungen auf staatliche Stabilität und regionale Sicherheit. 72

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Demografie gilt als Strukturfaktor, der destabilisierende Wirkung für die Staatlichkeit haben kann. Die demografische Sicherheit ist auch dann gefährdet, wenn Abwanderung die Wirtschaftskraft von Regionen und damit die nationale Wirtschaft beeinträchtigt. Staatliche Stabilität wird unter anderem durch ökonomische Sicherheit gewährleistet, während Arbeitskräftemangel und Migrationsprozesse die Stabilität einschränken können. So werden der russischen Wirtschaft bis 2025 zwischen 13 und 19 Millionen weniger Arbeitskräfte zur Verfügung stehen. Eine schrumpfende Bevölkerung produziert und konsumiert zudem weniger. Der demografische Negativtrend trifft die Wirtschaft jedoch zusätzlich: kleine Kohorten der nachwachsenden Generationen verheißen eine geringere Innovationskraft und Wettbewerbsfähigkeit der russischen Wirtschaft. Dies gilt insbesondere dann, wenn keine ausreichende Zuwanderung qualifizierter Arbeitskräfte stimuliert werden kann. Insbesondere in der zweiten Amtsperiode des vormaligen russischen Präsidenten Wladimir Putin wurden administrative und materielle Ressourcen für die demografische Sicherheit bereitgestellt. Der russische Präsident sah sich angesichts alarmierender Trends einer weiter sinkenden Lebenserwartung, geringen Geburtenraten und den sich abzeichnenden Kon-


rainer lindner – politische antworten gesucht

sequenzen für Wirtschaft und Verteidigungsfähigkeit gezwungen, Demografie zu einem Thema der „nationalen Sicherheit“ zu machen. Die „Konzeption der demografischen Politik der Russischen Föderation bis 2025“ vom Oktober 2007 ist ein wichtiger Schritt der russischen Führung zur Bestandswahrung der Bevölkerung und der Verbesserung der sozialen und medizinischen Versorgung. Die Konzeption ergänzt und erweitert zugleich die so genannten „Nationalen Projekte“ in den Bereichen „Gesundheit“, „Bezahlbarer Wohnraum“, „Bildung“ und „Landwirtschaft“. Dafür werden seit 2007 jährlich ca. 3,5 Prozent der Haushaltsausgaben aufgewendet. Noch ist offen, ob die Initiativen tatsächlich zur Verringerung der Sterblichkeit, zur Erhöhung der Lebenserwartung und zur Abfederung des jährlichen Netto-Bevölkerungsverlustes von ca. 800.000 Menschen beitragen können. Russlands neuer Präsident Medwedew, der mit einem umfassenden Modernisierungsprogramm angetreten ist, kennt die Nationalen Projekte aus erster Hand, war er doch als Stellvertretender Ministerpräsident lange für deren Umsetzung direkt zuständig. Die demografische Krise wird in jedem Fall ein Zukunftsthema der russischen Politik aber auch für die deutsch-russische Kooperation sein. Während seines Antrittsbesuches in Moskau hat Außenminister Frank-

Walter Steinmeier die Demografie als wichtiges Feld der künftigen deutschrussischen Beziehungen bezeichnet. Die deutschen und EU-Erfahrungen im Umgang mit Abwanderung und regionaler Entvölkerung sowie Integrationsaufgaben könnten dabei genutzt werden. Für die deutsche Wirtschaft, insbesondere den deutschen Mittelstand, ergeben sich große Chancen im Bereich der Modernisierung des Gesundheitssektors, der kommunalen Infrastruktur oder sozialen Einrichtungen. Innovationen gegen die Krise Schon vor den Markt- und Finanzturbulenzen wurde wiederholt auf die Gefahren der sogenannten „Holländischen Krankheit“ hingewiesen. Gemeint ist die einseitige Ausrichtung der Volkswirtschaft auf Rohstoffexporte – ein Phänomen, das in den sechziger Jahren in den Niederlanden beobachtet wurde, als dort größere Erdgasvorkommen erschlossen wurden, die zur Aufwertung der Währung und hohen Inflationsraten führten. So rief gleich zu Beginn seiner Amtszeit der russische Präsident Dmitri Medwedew seine Landsleute dazu auf, es sich nicht „unter der warmen Dusche der Petro-Dollars“ bequem machen. Ähnlich warnende Stimmen hatte es in Russland schon früher gegeben. Die wohl wichtigste staatliche Gegenmaßnahme war der bereits im perspektive21

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Februar 2004 nach norwegischem Vorbild eingerichtete Stabilisierungsfonds, der die steigenden Rohstoffeinnahmen auffing, um sie für Krisenzeiten vorzuhalten und den Inflationsdruck zu mindern. Die Rechnung ist zum Teil aufgegangen: In der gegenwärtigen Weltfinanzkrise kann Russland anders als viele vergleichbare Länder noch auf mehrere hundert Milliarden Dollar zurückgreifen und zur Stützung der eigenen Wirtschaft investieren. Auch der tiefe Fall des Ölpreises von einem Jahres hoch von über 140 Dollar pro Barrel auf unter 50 Dollar lässt sich so für eine gewisse Zeit abpuffern, ohne dass der Staatshaushalt in Bedrängnis geräte. Doch trotz Stabilisierungsfonds liegen die Inflationsraten in Russland seit Jahren auf hohem Niveau von ca. 10 Prozent. Und was gerade angesichts der derzeitigen Wirtschaftskrise beunruhigend ist: Das Innovationspotenzial der russischen Wirtschaft hat sich in den vergangenen Jahren nicht signifikant verbessert. Nur wenige Unternehmen setzen auf eigene Forschungs- und Entwicklungsabteilungen. So ist nach Angaben der OECD aus dem Jahr 2008 der Anteil Russlands an international registrierten Patenten im Bereich der weltweiten Hochtechnologie-Industrie nicht messbar – er liegt bei 0,0 Prozent. Die USA kommen hier auf einen Anteil von 36,5 Prozent, Japan erreicht 15,9 Prozent und 74

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Deutschland immerhin noch neun Prozent. Bei nanotechnologischen Patenten weist Russland einen Anteil von 0,5 Prozent auf (Deutschland: 8,8 Prozent) und nur in der Nuklearenergie ist der Anteil des größten Flächenstaates der Erde mit drei Prozent erkennbar. Der fehlende Markt bremst Fraglos spielt eine Rolle, dass die russische Wirtschaft auch angesichts des ausstehenden Beitritts zur Welthandelsorganisation WTO noch nicht vollständig in den Weltmarkt integriert ist, eigene Forschungsleistungen international wenig verwertet werden, zumal wenn sie überwiegend im militärisch-industriellen Bereich erzielt werden. Doch unbestreitbar ist, dass es in Russland an einer Innovationsdynamik fehlt, die eine Volkswirtschaft dieser Größenordnung dringend benötigt, um nachhaltig wachsen zu können. Ein hemmender Faktor ist die bestehende Wirtschaftsstruktur in Russland, die immer noch von großen Industriekomplexen und einer Dominanz von Monopolen geprägt ist. Nach Umfragen aus dem Jahr 2008 spüren 20 Prozent der Unternehmen in Russland keinen wesentlichen Konkurrenzdruck und lediglich 34 Prozent würden die Konkurrenzsituation auf dem russischen Binnenmarkt als scharf bezeichnen. Innovationsdruck kann sich nur


rainer lindner – politische antworten gesucht

ansatzweise entwickeln, wenn mehr als die Hälfte der Unternehmen sich nicht in einem tatsächlichen Wettbewerb befinden. Das deutsche Beispiel zeigt, dass gerade kleine und mittelständische Unternehmen innovativ sind und die Dynamik einer Wirtschaft ausmachen. Deutschland ist stolz auf seine vielen „Hidden Champions“, die mit innovativen Lösungen zu Weltmarktführern aufgestiegen sind. Während in Deutschland mittelständische Unternehmen für rund 60 Prozent des Bruttoinlandsproduktes stehen, liegt der Anteil in Russland aktuell nur bei 17 Prozent. Dass das Potenzial für Hoch-Technologie auch in Russland vorhanden ist, zeigen kleine, agile Firmen wie Kaspersky, Abbyy oder FAS, die mit Antiviren-Programmen, elektronischen Wörterbüchern oder Office-Programmen auch auf dem deutschen Markt erfolgreich sind. Veredelung statt Förderung Durch die aktuelle Finanzkrise und den Rückgang der Rohstoffpreise wird die russische Wirtschaft nach fast zehn Jahren starken Wachstums dazu gezwungen, langfristiger zu denken und entschlossen den Weg Richtung Innovationen und Hoch-Technologie zu gehen. Nicht mit der Förderung, sondern erst mit der Veredelung der reichlich vorhandenen Rohstoffe wie Öl, Gas,

Buntmetalle und Holz wird echte Wertschöpfung erzielt. In einer Umfrage des russischen Meinungsforschungsinstituts VCIOM vom 15. November 2008 bezeichneten 34 Prozent der Befragten die „Entwicklung von Produktion und innovativen Technologien“ und die „Einführung von fortschrittlichen Technologien“ als dringlichstes Problem in Russland. Häufiger genannt wurden nur die „Entschiedene Bekämpfung der Korruption“ (59 Prozent) und die „Überwindung der Weltfinanzkrise“ (56 Prozent). Die Stimmung für eine Neuausrichtung des Wirtschaftssystems ist also günstig. Der Mittelstand muß wachsen Das staatliche Wirtschaftsprogramm bis 2020 sieht unter anderem den Auf- und Ausbau von Wissenschaftsstädten (Obninsk, Dubna, Korolew) und die Schaffung so genannter Technoparks in Tjumen, Kasan, Nowosibirsk, Obninsk und Sarow mit besonders günstigen Investitionsbedingungen vor. Ein Schwerpunkt liegt im Bereich Nanotechnologie. So wurde der staatliche Konzern „RosNanoTech“ gebildet und im September 2008 der Wirtschaftsreformer Anatoli Tschubais zum Vorstandsvorsitzenden berufen. Auch in der Luft- und Raumfahrt, in der Materialforschung, im Energiebereich oder im IT-Sektor gibt es in Russland Potenzial. perspektive21

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Staatsunternehmen allein aber werden den Sprung an die Hochtechnologie-Spitze nicht schaffen. Die Diversifizierung der Wirtschaft und der Aufbau eines breiten Mittelstandes als ihr Rückgrat müssen das Ziel sein. Dies setzt aber auch einen Mentalitätswandel hin zu mehr privatem Unternehmertum und Risikofreude voraus, den die russische Regierung flankieren muss. Auf der vom OstAusschuss mitorganisierten DeutschRussischen Mittelstandskonferenz in Stuttgart kündigte Russlands Ministerin für wirtschaftliche Entwicklung, Elvira Nabiullina, Anfang November 2008 Hilfen für den Mittelstand an. Dabei geht es um die Beseitigung institutioneller Investitionsbeschränkungen, um die Modifizierung staatlicher Genehmigungs- und Kontrollmaßnahmen, um finanzielle Hilfen und Steuersenkungen. Technologische Brücken bauen Die deutsche Wirtschaft kann Russland auf seinem Modernisierungskurs unterstützen. Gute Gelegenheiten der nachhaltigen Zusammenarbeit bieten sich

beispielsweise auf den Feldern Medizintechnik, Fahrzeugbau, Chemie, Elektrotechnik, Energie-Effizienz und erneuerbare Energien. Gegenwärtig studieren etwa 12.000 junge Russen an deutschen Universitäten – sie können dabei helfen, technologische Brücken zwischen beiden Volkswirtschaften zu bauen, so wie dies bereits in der Raumfahrt gelungen ist: Das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt und Roskosmos werden 2011 gemeinsam ein Röntgenteleskop ins All bringen. Dank des Rohstoffbooms der vergangenen Jahre ist in Russland das Geld vorhanden, das Land technologisch zu modernisieren. Die EU sollte im Rahmen der Verhandlungen um ein neues Partnerschafts- und Kooperationsabkommen mit Russland eine „Knowhow-Kooperation“ anbieten. Diese könnte von der Unterstützung bei der Manager- und Ingenieursausbildung bis hin zu gemeinsamen Forschungsprojekten und Kooperationsangeboten zur Entwicklung von Technoparks reichen. Dabei sollten Science-to-Busines-Formate ebenso einbezogen werden wie die Zusammenarbeit bei der industrienahen Forschung. ■

PROF. DR. RAINER LINDNER ist Geschäftsführer des Ost-Ausschusses der Deutschen Wirtschaft.

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Warum es im Kaukasus so schwierig ist GEORGISCHE UND RUSSISCHE INTERESSEN NACH DEM SÜDOSSETIEN-KRIEG VON DIETER BODEN

ie Welt war geschockt, als am 7./8. August 2008 ein kurzer, heftiger Krieg zwischen Russland und Georgien um Südossetien ausbrach. Seit dem 22. August schweigen die Waffen auf der Grundlage eines von der EU in Moskau und Tbilissi ausgehandelten Abkommens. Erst allmählich werden wir uns der Folgen des Krieges bewusst: Der Kaukasus, noch vor zehn Jahren auf der politischen Landkarte westlicher Hauptstädte kaum vorhanden, ist zu einem Krisenherd internationaler Dimension geworden. In den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts war zwar immer wieder von den Kriegen in Tschetschenien die Rede, das zum russischen Nordkaukasus gehört. Die schon damals virulenten „eingefrorenen“ Konflikte im Südkaukasus schienen jedoch weit hinter dem Horizont zu liegen und die Sicherheit Europas kaum zu berühren. Viel näher lag damals der Balkan mit den bewaffneten Auseinandersetzungen, die im Gefolge der Auflösung Jugoslawiens entstanden waren.

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Dies hat sich heute grundlegend gewandelt. Der georgisch-russische Krieg ist nur der vorläufige Schlusspunkt einer Entwicklung, der den Kaukasus zu einem Schauplatz werden ließ, auf dem zusehends auch weltpolitische Rivalitäten ausgetragen werden, vor allem solche zwischen Russland und den USA. Eine Rolle spielen dabei sicherlich auch die bedeutenden Energievorräte an Gas und Erdöl, die in den letzten Jahren im Becken des Kaspischen Meeres entdeckt wurden. Der strategische Wert des Südkaukasus als Korridor für die Durchleitung dieser Ressourcen an Russland vorbei auf die Märkte Westeuropas ist damit enorm gewachsen. Der Krieg um Südossetien ist auch vor diesem Hintergrund zu sehen. Unmittelbar ausgelöst wurde er jedoch durch einen interethnischen Konflikt zwischen Georgiern und Osseten, der im Gefolge des Zusammenbruchs der Sowjetunion entstanden war. Darüber kam es 1991-92 zu einem ersten Krieg, der eindeutig von georgischer Seite perspektive21

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provoziert wurde. Unter der Parole „Alle Nichtgeorgier sind nur Gäste in unserem georgischen Haus“ hatte der damalige Präsident Gamsakhurdia gleich nach der Unabhängigkeit versucht, Südossetien seine aus sowjetischer Zeit stammenden AutonomieRechte zu nehmen. In einem brutal geführten Krieg starben ca. 2.500 Menschen, etwa 50.000 Menschen wurden vertrieben. Südossetien mit seiner Bevölkerung von lediglich 70.000 Menschen konnte sich damals nur durch russische militärische Unterstützung gegen Georgien behaupten. 1992 wurde die OSZE als internationaler Vermittler ins Land gerufen. Deren Mandat umfasste sowohl die Kontrolle der Waffenstillstandslinien mithilfe unbewaffneter Militärbeobachter als auch die aktive Mitwirkung bei einer politischen Regelung des Konfliktes. Jedoch blieb der Konflikt über mehr als 15 Jahre „eingefroren“, ohne dass der Status quo des Waffenstillstandes überwunden werden konnte. Internationalisierung der georgischen Konflikte Aus dem ursprünglich innerstaatlichen georgisch-südossetischen Konflikt ist nun definitiv ein internationaler Konflikt geworden. Gleiches gilt für den georgisch-abchasischen Konflikt, dessen Entwicklungsgeschichte seit 1992 ähnlich verlief. Dabei erscheint die 78

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Rolle Georgiens bei Auslösung des August-Krieges in einem zwiespältigen Licht. Die politischen Führungen in Georgien – zunächst unter Präsident Schewardnadse, dann unter Saakaschwili – hatten seit jeher auf eine Internationalisierung der Konfliktlösung gedrängt, um in dieser Sache nicht allein dem übermächtigen Nachbarn Russland ausgesetzt zu sein. Dieses Ziel ist nun erreicht worden, wenngleich zu einem hohen Preis: Ein drittes Mal innerhalb der letzten Jahre endete ein Krieg um die beiden innerstaatlichen Konflikte mit einer erneuten Niederlage Georgiens. Er zog Verluste an Menschen, Flüchtlingsströme, erhebliche Zerstörungen an Gebäuden und Infrastruktur, sowie eine weitere tiefgreifende Entfremdung zu den Ethnien der abtrünnigen Provinzen nach sich. Hinzu kommt, dass mit der am 26. August 2008 ausgesprochenen Anerkennung der Unabhängigkeit Abchasiens und Südossetiens durch Russland die Wiederherstellung der territorialen Integrität Georgiens in weite Ferne gerückt ist. Bedeutend gestiegen ist sicherlich das internationale Engagement zur Lösung der georgischen Konflikte. Aufgrund entsprechender Mandate, die auch von Russland mitgetragen wurden, waren seit 1992 die OSZE im georgisch-südossetischen Konflikt, sowie die Vereinten Nationen mit der Friedensmission UNOMIG seit 1993


dieter boden – warum es im kaukasus so schwierig ist

im georgisch-abchasischen Konflikt tätig geworden. Als neuer Spieler ist in den letzten Jahren die EU immer stärker in Erscheinung getreten, für die der Südkaukasus zuvor eine Art strategischer terra incognita gewesen war. In ihrer im Dezember 2003 neu konzipierten Sicherheitsstrategie hatte sie angekündigt, „ein stärkeres und aktiveres Interesse an den Problemen des Südkaukasus“ zu zeigen. Mit der „Neuen Nachbarschaftspolitik“ von 2004 und darauf aufbauenden Aktionsplänen hat die EU diese Absicht glaubhaft in die Tat umgesetzt. Seither ist ein Betrag von annähernd 500 Millionen Euro für Projekte in Georgien verwendet worden. Zunächst vermied es Brüssel tunlichst, in politische Bemühungen um Lösungen der Konflikte hineingezogen zu werden. Dies änderte sich erst durch Ernennung eines Sonderbeauftragten für den Südkaukasus, den der Europäische Rat im Juli 2003 einrichtete und nach entsprechender Mandatsanpassung ausdrücklich auch mit der Unterstützung des Friedensprozesses beauftragte. Der russisch-georgische Krieg vom August 2008 brachte nun einen politischen Durchbruch. Es war die EU in Gestalt ihres Ratsvorsitzenden Sarkozy, die in schwierigen Verhandlungen mit Russland und Georgien eine Waffenstillstands-Vereinbarung aushandelte und durchsetzte. Als sichtbaren Beitrag zur Lösung der Krise entsandte die EU

eine unbewaffnete Mission von 300 Militärbeobachtern, die seit Anfang Oktober 2008 im Konflikt-Gebiet um Südossetien tätig ist. Damit hat sich die EU deutlich zu einer neuen, dezidiert politischen Rolle in Georgien bekannt – und dies, obwohl unter ihren Mitgliedsstaaten die Prinzipien dieser Rolle bis heute nicht unumstritten sind. Es wird sich noch zeigen müssen, ob es der EU gelingt, dieser neuen Verantwortung gerecht zu werden. Konfliktlösung unter erschwerten Voraussetzungen Nach dem Krieg um Südossetien stellt sich dringender denn je die Frage, wie die Bemühungen um Lösung der Konflikte in Georgien weitergeführt werden können. Priorität haben sicherlich zunächst konkrete Belange – wie die Versorgung der Flüchtlinge sowie die Sicherung der neuen WaffenstillstandsLinien. Hier hat Russland durch Anerkennung der staatlichen Unabhängigkeit von Südossetien und Abchasien Fakten neu geschaffen, die als Hindernisse wirken. Der Zugang zu diesen Gebieten, wie auch zu den sich dort aufhaltenden Flüchtlingen und ethnischen Minderheiten ist gegenwärtig blockiert. Kontrovers ausgelegt werden einige Bestimmungen des Waffenstillstandsabkommens, darunter solche, die die territoriale Abgrenzung Südossetiens betreffen. Die übermäßige Verperspektive21

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stärkung des russischen Militärpotenzials in Südossetien – geplant ist ein Kontingent von 3.700 Mann an Truppen – steht einer Friedensregelung zusätzlich im Wege. Neuanfang gesucht Wie ist unter solchen erschwerten Voraussetzungen ein Neuanfang von Gesprächen um eine politische Beilegung der Konflikte vorstellbar? Festzustellen ist zunächst eines: Durch den Krieg und seine Folgen sind sämtliche bisher geläufigen Konfliktregelungsmechanismen irrelevant geworden. Dies ergibt sich schon aus dem neuen Status Russlands, das mehr denn je eine Schlüsselrolle bei der Konflikt-Lösung im Südkaukasus spielen wird. Bisher galt Russland als Vermittler in den Konflikten und trat bei Verhandlungen oder Gesprächen in entsprechender Funktion auf. Als Patronatsmacht von Abchasien und Südossetien und erklärter Feind des „reaktionären“ Georgiens unter Saakaschwili ist es jetzt eindeutig Partei. Dies wird tiefgreifende Auswirkungen auf zukünftige Verhandlungsformate haben. Insbesondere wird Russland auf volle Beteiligung seiner beiden Klienten-Staaten drängen. Die ergebnislos verlaufene erste Runde an politischen Gesprächen zu den beiden georgischen Konflikten, die am 15. 80

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Oktober 2008 in Genf stattfand, vermittelt einen Vorgeschmack auf noch bevorstehende Probleme. Gleichfalls überholt sind die Formate für die beiden bisher in georgischen Konfliktgebieten tätigen Friedensmissionen. Sie beruhten ganz wesentlich auf bewaffneten Kontingenten, die von Russland gestellt wurden – zur Unterstützung der von OSZE und Vereinten Nationen bereitgestellten unbewaffneten Militärbeobachter. Zu Recht war dieses Modell von Georgien seit langer Zeit wegen seiner Unausgewogenheit kritisiert worden. Dass es in seiner, bis zum Krieg vom August 2008, praktizierten Form überlebt, ist wegen der geänderten Rolle Russlands nicht vorstellbar. Ebenso ungewiss ist jedoch, was an seine Stelle treten könnte. Auch hier hat die deklarierte Unabhängigkeit Abchasiens und Südossetiens neue Fakten geschaffen. Neue Mandate Ebenfalls offene Fragen gibt es zur Weitergeltung der Mandate für die mit der Konfliktregelung befassten internationalen Organisationen. Relativ klar ist die Lage bezüglich des Mandats für die Militärbeobachter der EU, das bis Oktober 2009 ausgestellt ist. Das Mandat von UNOMIG wurde Mitte Oktober 2008 provisorisch für zunächst vier Monate verlängert,


dieter boden – warum es im kaukasus so schwierig ist

während das der OSZE-Mission in Georgien bis Ende 2008 durch den Ständigen Rat dieser Organisation in Wien verlängert werden müsste. In beiden Fällen ist die Zustimmung Russlands notwendig, die keinesfalls als selbstverständlich gelten kann. Perspektiven am Horizont? Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion ist die Situation im Südkaukasus durch anhaltende, sich immer wieder zuspitzende Instabilität gekennzeichnet. Der Krieg um Südossetien hat keines der bestehenden Probleme gelöst, sondern durch einseitige Anerkennung zweier neuer, allein kaum lebensfähiger Staaten durch Russland eher noch zusätzliche geschaffen. Durch das erstmalige militärische Eingreifen in seinem ehemaligen kaukasischen „Hinterhof“ hat Russland die ohnehin komplizierte Partnerschaft mit Europa und Nordamerika aufs Spiel gesetzt. Ganz überwiegend vertritt die internationale Staatengemeinschaft den Standpunkt, dass eine politische Lösung nur unter Wahrung der territorialen Integrität Georgiens zu finden ist. Eine solche Lösung zu suchen bleibt auf der Tagesordnung der internationalen Politik. Dabei wird auch viel davon abhängen, welchen Beitrag Georgien selbst zu diesem Prozess leisten wird. Der August-Krieg hat die in den letzten

Jahren erreichten Fortschritte bei der Konfliktregelung wieder zunichte gemacht, die in mühsamer Detailarbeit bei der Vertrauensbildung, bei der Wiederherstellung menschlicher Kontakte und bei der wirtschaftlichen Rehabilitation erzielt werden konnten. Gefragt sind nun erneut vor allem nachhaltige Bemühungen, um den Dialog mit den entfremdeten Ethnien in den abchasischen und südossetischen Landesteilen Georgiens wieder zu knüpfen. Dabei wird vertrauensbildenden Maßnahmen eine besondere Bedeutung zukommen; ihren Wert hat Georgien in zurückliegender Zeit lange genug unterschätzt. Jede wie auch immer geartete politische Regelung der Konflikte wird von vornherein brüchig sein, wenn sie sich nicht auf ein Minimum an Vertrauen zwischen Abchasen und Osseten auf der einen, und den Georgiern auf der anderen Seite stützen kann. Die Beschwörung einer vermeintlichen ethnischen Harmonie aus vergangenen Tagen wird nicht ausreichen, denn spätestens seit dem letzten Krieg um Südossetien sind fast unüberwindbare Gräben des Misstrauens und der Feindschaft entstanden. Erforderlich ist aber auch die Fortsetzung des demokratischen Reformprozesses in Georgien, der zuletzt, wie die Präsidentschaftswahlen vom Januar und die anschließenden Parlamentswahlen vom Mai 2008 zeigen, bedenklich ins Stocken geraten ist. Georgien perspektive21

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muss sich zu einem Staat weiterentwickeln, der sich politisch, sozial, wirtschaftlich und kulturell modernisiert und damit auch in den Augen der abtrünnigen Ethnien attraktiv macht. In einer Rede vom 3. Mai 2008 versprach Präsident Saakaschwili, dass er Georgien zu einem „Flaggschiff der Demokratie in der Region“ entwickeln werde. Die Einlösung dieses Versprechens ist ein politisches Gebot. Nur in diesem Rahmen ist eine Lösung der Konflikte in Georgien und eine gedeihliche Entwicklung des Landes vorstellbar. Bei seinen Bemü-

hungen wird sich Georgien mehr als je zuvor auf verlässliche Bündnispartner und Freunde in den europäischen und nordamerikanischen Demokratien stützen können. Sie alle teilen ein Interesse daran, dass der Südkaukasus nicht auf Dauer zu einer Region der Instabilität wird. Und schließlich muss auch Russland ein vitales Interesse an einer konfliktfreien Entwicklung dieser Region haben, die direkt vor seiner Haustür liegt. Eine Entschärfung der Konfrontation in Georgien, dem strategischen Kernland des Kaukasus, ist von daher auch eine Priorität russischer Politik. ■

DR. DIETER BODEN

ist Botschafter a.D. und war 1995/96 Leiter der OSZE-Mission und 1999-2002 Sondergesandter des UN-Generalsekretärs in Georgien. 82

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Unser langer Weg nach Osten IN OSTEUROPA ENTSTEHT EINE NEUE EUROPÄISCHE LITERATUR VON TILL MEYER

„Dass wir in Europa waren, ahnten wir ja nicht.“ Jáchym Topol stblock“, das klingt feindselig. Wie bleigraues Sedimentgestein. Ostblockliteratur, die war so billig wie fleckig. Erinnert sei an jene Volk und Welt-Schinken aus SERO-grauem Papier, das so dünn war wie die Kommunisten-Prosa darauf. Viel wurde verlegt, viel wurde zu Recht vergessen, nicht wenig Gedrucktes war und bleibt wunderschön. Osteuropäische Literatur nach 1989, die ist weißgechlort und hip. Und nach Meinung nicht-osteuropäischer Feuilletonisten, irgendwie menschlicher, was den Menschen, irgendwo natürlicher, was die Natur betrifft, duftend wie Salman Rushdie, sentimental wie Paulo Coelho, diesem Esoterikpanscher, und trashig wie Charles Bukowski. Geheimnisvoll klingt das Wort „Osteuropa“, wild, gefährlich, natürlich rückständig, gewollt primitiv, auch absonderlich in westeuropäischen Ohren. Der tsche-

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chische Schriftsteller Jáchym Topol gibt in Kiew den galanten Westler und in Paris den osteuropäischen Eingeborenen. Dabei reden wir von Mitteleuropa, jenem Zentrum, das sich nach einem Jahrhundert des Niedergangs und der Zerstörung neubildet. Jenem Teil Europas, aus dem die Einheit des Kontinents erwächst – weil neue Generationen neue Denkmöglichkeiten, neue Erfahrungshorizonte einbringen. Mitteleuropa, das ist kein Unwort, keine Erfindung, keine Utopie, sondern eine Tatsache und ein großes Geschenk. Wer den Reifungsprozess nach 1989 weder sieht noch würdigt, hat sich an die Grenzziehung gewöhnt, an die Teilung, die eine Auflösung der Mitte bedeutet. Urlaube werden von Irland bis Kalabrien gemacht, Südamerika durch Gabriel Garciá Márquez erschlossen. Dabei ist das Nächstliegende exotisch, Mitteleuropa eine terra incognita, eine Welt der Vorurteile und Klischees. Wer kennt die Dobrudscha, wer die Walachei? Wer kennt die Namen der Karpatenpässe, die Spitzen der perspektive21

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Weißen Tatra oder die Flüsse Uh, Laborec, Latorica, die im ungarischukrainischen Grenzgebiet ihr Wasser vereinigen und den Anfang des Bodrog bilden? Wer weiß, dass in Warschau, Prag, Budapest und Bratislava nahezu Vollbeschäftigung herrschen? Dass die Roma in wenigen Jahrzehnten die Bevölkerungsmehrheit in der Slowakei stellen? Dass Polen Europas größter Steinkohleförderer und Russland der bedeutendste Automarkt ist? Wie Hans im Glück In Berlin den saturierten Westen, östlich der Oder die leere Peripherie zu sehen, ist borniert. Das war früher nicht stimmig und stimmt heute nicht (mehr). Polen hat beim Blick gen Westen umgekehrt ähnliche Schwierigkeiten; beispielsweise eine Debatte über Europa und eigene Identität ohne den Verweis auf NS-Deutschland zu führen, dem viele unterstellen, ein Junkie zu sein, der zwar seit sechzig Jahren auf Entzug ist, aber jederzeit wieder nach der Droge greifen könnte. Dabei ist jüngeren Generationen längst klar: Der Mythos einer kleinen, immer in seiner Freiheit bedrohten Nation mit bösen Nachbarn ist zusammengebrochen. Aber was an seine Stelle tritt, ist noch offen. Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs bestand Konsens, durch NATOund EU-Erweiterung die Länder 84

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„Zwischeneuropas“ aus der geopolitischen Falle zwischen Deutschland und Russland zu befreien und ein neues Kapitel europäischer Geschichte aufzuschlagen. Ein Schriftsteller aus Czarne, einem abgeschiedenen Nest in den Beskiden, schlägt dieses Kapitel auf und reist nach Deutschland. Andrzej Stasiuk (Jahrgang 1960) fühlt sich fremd in dieser Euro-Welt, zumal er sie ausgezeichnet kennt. Er versucht auf 93 Seiten Dojczland das, was umgekehrt noch kürzer kommt: Das rechte Mitgefühl mit dem Nachbarland aufzubringen. Stasiuks Reiseessay aus 38 deutschen Städten1 ist vor dem Hintergrund zu lesen, den in Polen jeder und in Deutschland kaum einer kennt oder würdigt, weil man heuer lieber über die Vertreibung der eigenen Landsleute spricht: Die Gräuel, die Massenmorde, die Opfer durch Auslöschung der Intelligenz, Generalplan Ost und Warschauer Aufstand, die derart groß waren, dass Deutsche noch heute im Schatten der Schuld stehen und sich dessen nur deshalb nicht bewusst sind, weil sie sich nach 1945 eher mit dem Holocaust beschäftigten. Und weil die Germanen es laut Stasiuk mögen, dass man über sie nachdenkt, kommt er zum Schluss: „Ich habe sogar den leisen Verdacht, dass sie (…) es uns ein bisschen übel nehmen, dass wir nicht so über die Stränge geschlagen haben wie sie (…).“ 1 Andrzej Stasiuk, Dojczland, Frankfurt am Main 2008


till meyer – unser langer weg nach osten

Mitgefühl mit dem Nachbarn ist nicht einfach für einen Polen, zumal der Respekt vor Deutschland groß ist. Noch schöner wäre Deutschland freilich ohne Deutsche, neckt Stasiuk, spielt mit den Ressentiments, legt dann seine Reflexe ab und zeigt Selbstbewusstsein: „Wer wären wir, wenn wir nur einen Nachbarn hätten, und an der anderen Seite zum Beispiel das Meer oder das Großfürstentum Luxemburg? Wir wären ein Niemand. Allenfalls eine weitere vor Langweile vergehende westliche Demokratie, eine weitere postmodernistische Republik, die keine größeren Probleme hat als die Freizeitgestaltung, Organtransplantation und die Unsterblichkeit. Mit solchen Nachbarn indes sind wir doch länger Menschen guten alten Schlages geblieben. Die Welt erstaunt uns noch immer und nie wird uns langweilig. Man kann sagen, wir sind der Hans im Glück Europas (…).“ Panta rhei Alles fließt. So schlägt man sich dann gerne mit den Problemen herum. Polen stellte nach dem EU-Beitritt 2004 ein Viertel aller Bauern und Landarbeiter der Gemeinschaft, leidet unter massiver Unterbeschäftigung (nur knapp die Hälfte aller Polen im erwerbsfähigen Alter geht einer bezahlten Beschäftigung nach) und hat das niedrigste Renteneintrittsalter in der

EU (57,5 Jahre). Wer dieser schläfrigen, sepia-farbenen Landschaft auf der Spur ist, der lese Stasiuks Meisterwerk Die Welt hinter Dukla, vertiefe sich in eine plastische Landschaft, die in ihrem Alltag mal fossil, mal bukolisch und vermeintlich zeitlos ist.2 Die unglaubliche Transformation seit 1989 beschreibt auch der ukrainische Dichter, Prosaautor und Essayist Jurij Andruchowytsch (ebenfalls Jahrgang 1960), beispielsweise in der Aufsatzsammlung Das letzte Territorium oder in dem mit Stasiuk gemeinsam verfassten Geopoetik-Bändchen Mein Europa. Politische Wellen verursachte der Orangene Revolutionär im Jahre 2005, längst gesegnet mit allen Stipendien europäischer Kulturpolitik, als er den Leipziger Buchpreis für Europäische Verständigung verliehen bekam und in einer mit standing ovations bejubelten Rede bemängelte, dass die Ukraine – anders als er – nicht nach Europa eingeladen werde. Da sei ein ur-europäischer Staat, der keine europäische Perspektive habe, sondern sich damit zufrieden gebe müsse, ein guter Nachbar – aber eben außen vor – zu sein. „Die europäische Verständigung hat nicht stattgefunden“, konstatierte Andruchowytsch bitter und appellierte an die Länder der EU: „Ihre Hilfe für dieses verfluchte Land, in dessen Sprache ich 2 Andrzej Stasiuk, Die Welt hinter Dukla, Frankfurt am Main 2002

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schreibe und mich erkläre, ist für mich lebensnotwendig. Und es wäre gar nicht so fantastisch schwer, diese Hilfe zu leisten. Sie bestünde lediglich in einem: Nichts formulieren, was die Hoffnung tötet.“ Zuvor hatte Günter Verheugen, Vizepräsident der Europäischen Kommission, erklärt, dass in zwanzig Jahren alle europäischen Länder Mitglied der EU sein würden – „mit Ausnahme der Nachfolgestaaten der Sowjetunion, die heute noch nicht in der EU sind.“ Wer drei Jahre später durch die alte Universitätsstadt Lemberg spaziert, der hört noch immer die Klagen der Studierenden, die sich von EU-Europa ausgeschlossen fühlen, nur über die Grenze kommen, wenn sie eine formelle Einladung eines EU-Bürgers und dessen beglaubigte Einkommenserklärung für ein Visum erhalten. Wie viel Zeit, so muss man fragen, geben wir noch der Ukraine, bis sie für uns interessant wird? Die Zukunft des post-sowjetischen Raumes ist zwischen EU, NATO und Russland nie ausreichend diskutiert worden – ein Fehler, wie sich in Georgien zeigte. Ein Fehler, der in Kiew und auf der Krim schlimme Folgen haben kann. Topografie und Transformation „Zerfall ist Verwandlung des Vergangenen in Künftiges“, schreibt Andruchowytsch, dabei ist Mitteleuropa 86

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keine Ruine, noch ein Schatz der Erinnerung. Ohne Ordnung, aber ein Feuerwerk an Historie, Mythologie und Postmoderne ist Andruchowytschs Roman Zwölf Ringe.3 In dieser windschiefen galizischen Groteske lesen wir von den Erlebnissen Karl-Joseph Zumbrunnens, der aus Österreich stammend (Habsburg!) und verliebt in eine Ukrainerin in deren Land reist. Dort herrscht die Ungleichzeitigkeit der 1990er Jahre: postsozialistischer Kommerz, kapitale Folklore, nationales „Go West“. „Wir mögen sie zwar nicht, aber wir wollen leben wie sie, im Wohlstand, und dafür müssen wir werden wie sie, müssen wir dort leben, weil das hier einfach unmöglich ist, müssen uns amerikanisieren“, schreibt Andruchowytsch in einem Beitrag für Sprache im technischen Zeitalter im Juni 2004. Zumbrunnens Reise führt ihn in die Wildnis, in das „Wirtshaus auf dem Mond“ und endet mit einem lyrischen Nachtflug über Mitteleuropa. Den größten Wurf, literarisch auf dem höchsten Niveau der hier vorgestellten Bücher, stellt das Opus magnum des rumänischen Schriftstellers Mircea Cartarescu (Jahrgang 1956) dar: Die Wissenden, eine der sprachgewaltigsten Schöpfungen, die man je Papier anvertraut hat.4 In seiner Generation der prominenteste Schrift3 Juri Andruchowytsch, Zwölf Ringe, Frankfurt am Main 2007 4 Mircea Cartarescu, Die Wissenden, Wien 2007


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steller des schlecht beleumundeten Rumäniens, liefert er „eine literarische Kathedrale des Manierismus – ein Buch für Leser, die sich von einem Roman Aufschwünge in ungeahnte, unerhörte Dimensionen versprechen“, wie die Frankfurter Allgemeine am 4. August 2008 schreibt. Die Wissenden, erschienen 1996, ist der erste Teil einer 1.500-Seiten-Trilogie mit dem Titel Orbitor, einer Familiensaga, einem Drogenrausch, einer maßlosen Grille, mit der er Bukarest als phantasmagorische Stadt in den Atlas der Weltliteratur brennt. Vielleicht als Gegenreaktion auf die profane Wirklichkeit des Sozialismus erweckt Cartarescu die rumänische Neigung zu romantischsurealer, wundersüchtiger Literatur zu neuem Leben. Er steht damit in der Tradition des Phantastischen in der rumänischen Literatur, von Mihai Eminescu, dem rumänischen Novalis, bis hin zu Mircea Eliade. Wie es leuchtet Cartarescus Blick auf die Geschichte seines Landes und dessen Hauptstadt ist ein magischer. Träumerisch, tiefsinnig bringt er Bukarest zum Leuchten, erzählt die Geschichten vieler rumänischer Menschen im 20. Jahrhundert und meint, sie stünden „zwischen Vergangenheit und Zukunft wie der wurmförmige Körper eines Schmetterlings zwischen seinen beiden Flügeln.“ Es riecht

nach angebrannter Polenta, dem Weihrauch des Dorfpopen und dem Schmierfett der Fabriken, man sieht die Vorstadtmädchen der 1950er Jahre, noch bäuerisch, im Kittel, aber mit Träumen von Nylon und Kajal. Ilja Ilf und Jewgeni Petrow kommen einem in den Sinn („Mich lockt dein Blick, der so verhangen/ Der Kaukasus erstrahlt vor mir/ Dein Mund, dein duftendes Figürchen … / Oh weh, ich bin verhext von dir…“) – doch sprengen diese beide fantastischen Russen den hier gesteckten Rahmen. Wer den tödlichen Aberwitz der „goldenen Ära“ Ceausescus in einer Slapstick-Fiction-Studie lesen will, dem sei Ich küsse dir den Hintern, geliebter Führer! von Daniel Banulescu empfohlen.5 Absurdistan at its best und doch wieder Rumänien. Oder man liest ein lakonisches Buch, gleichermaßen attraktiv wie aggressiv: György Dragománs Roman Der weiße König, der die Schrecken der Securitate aus dem Blick des 11-jährigen Dzsátá beschreibt.6 Dessen Vater ist verschwunden, abgeholt zur Arbeit am Donaukanal, wie es so harmlos heißt, und der Sohn stellt Nachforschungen an. In 18 Episoden werden die schwer erträglichen und absurden Seiten einer Diktatur gezeigt, wobei der Kinderblick deren Schikanen und 5 Daniel Banulescu und Aranca Munteanu, Ich küsse dir den Hintern, geliebter Führer!, Wien und Lana 2005 6 György Dragomán, Der weiße König, Frankfurt am Main 2008

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Alltagsgift noch unerbittlicher und niederträchtiger macht. Dragomán (Jahrgang 1973) gehört zur ungarischen Minderheit in Siebenbürgen und schreibt „große, intensive Literatur, aus dem zeithistorischen Mutterboden weit hinausgewachsen, in der Atmosphäre nahe bei manchen Filmen von Stanley Kubrick oder David Lynch“ (Frankfurter Allgemeine, 21. Juni 2008). Also nicht nur für Ceausescu-Fans von Interesse! Barbaren ohne Makel Weniger ein Problem für uns als für „die da draußen im Osten“ ist, dass in Ostdeutschland die Übergangsperiode kurz, homogener und weniger schmerzvoll als in anderen Staaten Mittel- und Osteuropas war, wo noch immer alles Übergang oder besonders schmerzvoll ist. Auch eine Art der Vergangenheitsbewältigung, in Form des „jugonostalgischen“ Experiments wagt die Kroatin Dubravka Ugresic (Jahrgang 1949) in ihrem Roman Das Ministerium der Schmerzen7. Er spielt an der Amsterdamer Universität: Eine kleine Gruppe von Exilanten und Bürgerkriegsflüchtlingen um die junge Literaturwissenschaftlerin Tanja Lucic wagt eine „Katalogisierung“ des ex-jugoslawischen Alltags – und zwar von den Anfängen bis zum barbarischen Ende. 7 Dubravka Ugresic, Das Ministerium der Schmerzen, Berlin 2007

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Einer Zeit, die fortläuft, die keine Wunden heilt, sondern neue schlägt. Denn die Erinnerungen an Kindheit, Sprache, Elternhaus, Schule, Lektüre, Tanzunterricht, Ferienerlebnisse, Essgewohnheiten, Einkaufs- und Schmuggelreisen nach Triest gipfeln in Verbrechen, Exil und der Frage jedes einzelnen von Tanjas Studenten, was aus dem zerbrochenen Leben noch zu retten ist. Die balkanische Barbarei hat sie aus der Bahn geworfen, selbst wenn mancher Exilant Familie hat, verheiratet ist, ein holländisch makelloses Leben führt und eine Fassade wie folgt errichtet: „Unsere Ansichten interessieren niemanden, nicht einmal die Zahlen sprechen für uns. Was wir für die große Sintflut halten, ist für die anderen ein kleiner Zwischenfall. Hunderttausende von Toten, eine oder zwei Millionen Vertriebene, all das Niedergebrannte, Zerstörte, Geplünderte – alles nur Peanuts. Bei Flutkatastrophen in Indien gehen mehr Menschen hops!“ Begleitendes Denken Metternich hat im frühen 19. Jahrhundert gesagt, östlich des Wiener Rennwegs beginne „der Balkan“ (also: nichts Gutes). Angeblich zog Adenauer die Vorhänge am Fenster seines Eisenbahnabteils zu, wenn er über die Elbe nach Berlin fuhr, mit der Begründung, er wolle die sibirische Steppe nicht sehen. Es ist dieser Provinzialismus des Wes-


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tens, der Osteuropa als misslungene Kopie seiner selbst betrachtet und stets die nachholende Moderne einfordert, den wir im ureigenen Interesse ablegen müssen. Genau wie im innerdeutschen Verhältnis lohnt ein Ende von Arroganz und Abwehrmechanismen. Denn solange die Menschen im Westen den Osten als Osten abbuchen, kommt er ihnen nicht nahe. Statt Vorurteile und Nachkriegseuropas nebelhaften Blick zu konservieren, sollten wir den Osten entdecken, die Menschen an uns ranlassen, in die Einsamkeit Wolhyniens reisen, in die Haná, an die March oder an die Thaya fahren, die wild schlingernd die Grenze zu Österreich bildet – statt in Kolonne auf dem Jakobsweg zu pilgern. Wer Bücher liest, so sagt man, dem stehen alle Türen offen. Sie ermöglichen jenes „begleitende Denken“, das uns der Osteuropa-Experte der Viadrina-Universität, Karl Schlögel, in sei-

nen großartigen Büchern im Umgang mit dem neuen alten Kontinent empfiehlt. Dort sind die Staaten zwar frei, aber die Gesellschaften sind es noch lange nicht. Selbstständige Bürger und Zivilgesellschaft entstehen nicht von heute auf morgen. Genauso wenig wie sich ein zusammenwachsendes Europa per Unterschrift beschließen lässt. Selbst wer kein Faible für die Historie und das pathetische Spiel von Verlust und Wiederfinden hat, findet in Mittel- und Osteuropa die derzeit jüngsten, dynamischsten und flexibelsten Länder. Freie Gesellschaften setzen weniger einen festgelegten Gründungskonsens als eine stete kreative und demokratische Emanzipation voraus, die die freien Schriftsteller als erste vollziehen. Freie Gesellschaften gehen aufeinander zu, suchen den Austausch. Wer nicht morgen gen Osten verreisen will, aber das Lauschen in die Welt liebt, kann jetzt den ersten Schritt in Richtung Buchhandlung machen. ■

TILL MEYER

ist Referent der SPD-Landtagsfraktion und Stadtverordneter in Potsdam. Er hat zahlreiche Länder Mittel- und Osteuropas von Tallinn bis Bukarest bereist und im Sommer 2008 an der School of International Relations der St. Petersburg State University und der Mohyla-Akademie in Kiew studiert. perspektive21

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