perspektive21 - Heft 45

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HEFT 45 JULI 2010 www.perspektive21.de

BRANDENBURGISCHE HEFTE FÜR WISSENSCHAFT UND POLITIK

WIE DIE SPD WIEDER NEUE MEHRHEITEN GEWINNEN KANN

Neue Chancen MANFRED STOLPE: DIETMAR WOIDKE: KLAUS NESS:

Heimat, Halt und Hoffnung

Wo Energie zu Hause ist

Zuerst das Land

WOLFGANG SCHROEDER: ERNST HILLEBRAND:

Der Beginn der Normalität

We want our money back!

HEIKO GEUE UND HUBERTUS HEIL:

Intelligente Konsolidierung

MICHAEL BRIE:

Die Linke in der Krise des Neoliberalismus

PETER SILLER:

Gleichheit und Freiheit

WOLFGANG BIERMANN:

Alle sollen mitkommen


Eine persรถnliche Bestandsaufnahme

20 Jahre nach der friedlichen Revolution von 1989: Wie viel Einheit haben wir erreicht? Welchen Aufbruch braucht Deutschland jetzt?

224 Seiten, gebunden

| Hoffmann und Campe | Das will ich lesen


vorwort

Neue Chancen eit neun Monaten ist Schwarz-Gelb in Berlin an der Macht – doch die Wunschpartner regieren nicht. Wie zerrüttet die Koalition ist, hat die quälende Wahl eines neuen Bundespräsidenten jedem vor Augen geführt. Mittlerweile liegen die Oppositionsparteien 15 bis 20 Prozentpunkte vor Schwarz und Gelb, auch die SPD erholt sich von ihrer schweren Niederlage bei der Bundestagswahl. Klar ist aber auch: Die neue Stärke der Sozialdemokraten ist nur eine geliehene – und noch keine eigene. Dazu muss die SPD Fehler analysieren, neue Themen erschließen und am Ende auch neue Partner gewinnen. Mit der neuen Ausgabe der Perspektive 21 wollen wir dazu einen Beitrag leisten. Wir konnten dazu viele interessante Beiträge von Ernst Hillebrand bis Michael Brie gewinnen. Entscheidend für die Durchsetzungsstärke fortschrittlicher Politik wird auch sein, wie sich die Linkspartei in Zukunft entwickeln wird. Interessant ist dabei das Beispiel Norwegens, das in diesem Heft beschrieben wird: Erst die Zustimmung zur NATO-Mitgliedschaft und zur Entsendung von Soldaten nach Afghanistan im Rahmen eines UNO-Einsatzes ermöglichte die Regierungsbeteiligung der norwegischen Linkspartei. In Deutschland steht dieser Klärungsprozess der Linken noch aus – und ihre Ablehnung von Joachim Gauck lässt befürchten, dass er noch sehr lange brauchen wird. Brandenburg feiert in diesem Jahr seinen 20. Geburtstag. Aus diesem Anlass hat Manfred Stolpe auf dem jüngsten SPD-Landesparteitag eine viel beachtete und sehr berührende Rede gehalten, die wir in diesem Heft gerne dokumentieren. Schon lange vor der Wende hatte Manfred Stolpe Brandenburg als „Idee“ im Kopf. Sein größtes Verdienst ist es, diese „Idee“ in die Wirklichkeit umgesetzt und in den Herzen der Brandenburgerinnen und Brandenburger wieder verankert zu haben. Zweifellos ist Manfred Stolpe als Gründervater des modernen Brandenburg ein enormer Glückfall für unser Land.

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IHR KLAUS NESS

perspektive21

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impressum

HERAUSGEBER n n

SPD-Landesverband Brandenburg Wissenschaftsforum der Sozialdemokratie in Berlin, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern e.V.

REDAKTION

Klaus Ness (V.i.S.d.P.), Thomas Kralinski (Chefredakteur), Ingo Decker, Dr. Tobias Dürr, Klaus Faber, Tina Fischer, Klara Geywitz, Lars Krumrey, Christian Maaß, Till Meyer, Dr. Manja Orlowski, John Siegel ANSCHRIFT

Alleestraße 9 14469 Potsdam Telefon 0331 / 730 980 00 Telefax 0331 / 730 980 60 E-MAIL

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Layout, Satz: statement Werbeagentur Kantstr. 117A, 10627 Berlin Druck: Lewerenz GmbH, Klieken/Buro BEZUG

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inhalt

Neue Chancen WIE DIE SPD WIEDER NEUE MEHRHEITEN GEWINNEN KANN MAGAZIN

Heimat, Halt und Hoffnung ................................................ 7 Über die schwierigen Aufbaujahre in Brandenburg MANFRED STOLPE:

Wo Energie zu Hause ist ........................................................ 17 Energie ist eines der spannendsten Felder der Zukunft – zukunftsfähig wird sie nur mit internationaler Zusammenarbeit DIETMAR WOIDKE:

Zuerst das Land ............................................................................ 21 Eine erste Zwischenbilanz der neuen Landesregierung von SPD und Linkspartei KLAUS NESS:

THEMA

Der Beginn der Normalität ........................................ 27 Das Fünf-Parteien-System eröffnet der SPD mehr Chancen als Zumutungen WOLFGANG SCHROEDER:

We want our money back! .................................................. 33 Warum die Verteilungsfrage von der SPD wieder gestellt werden muss ERNST HILLEBRAND:

Intelligente Konsolidierung .......................... 41 Ein neues Konzept für Steuern und Abgaben soll für mehr Gerechtigkeit sorgen HEIKO GEUE UND HUBERTUS HEIL:

Die Linke in der Krise des Neoliberalismus ................................ 47 Ein alternatives Konzept mit realistischer Machtoption? MICHAEL BRIE:

Gleichheit und Freiheit ................................................................ 59 Wie eine neue Modernisierungslinke aussehen kann PETER SILLER:

Alle sollen mitkommen ................................................ 65 Wie die rot-rot-grüne Koalition in Norwegen zum Erfolgsmodell wurde WOLFGANG BIERMANN:

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Heimat, Halt und Hoffnung ÜBER DIE SCHWIERIGEN AUFBAUJAHRE IN BRANDENBURG VON MANFRED STOLPE

m 75. Lebensjahr – und nach mehr als einer Grenzsituation des Lebens – will ich zurückblicken. Ich will sagen, was mir das Wichtigste war und bis heute das Wichtigste geblieben ist. Mehr als drei Jahrzehnte lang habe ich versucht, Gespräche zu fördern, Zuspitzungen zu verhindern, Isolation und Gewalt abzuwenden, die den Menschen zu überwältigen und zu zerbrechen drohen. Da waren die Einschüchterung und die Gewalt durch staatliche Organe in der DDR. Dann aber war es und ist es auch die Isolation, die Einsamkeit und die drohende Abwertung des Menschen in einem manchmal erbarmungslosen kapitalistischen Konkurrenzsystem. Ich habe versucht, den Zusammenhalt zu unterstützen. Denn dort, wo Menschen zusammenhalten, wächst der Mut sich zu wehren und große Leistungen zu vollbringen. Nicht die Faust und nicht der Ellenbogen, sondern die ausgestreckte Hand ist die wahre Stärke des Menschen und der Gesellschaft. So habe ich immer an die Solidarität geglaubt und für sie gearbeitet. Für den Zusammenhalt zwischen Nachbarn, Bürgern, Brandenburgern und Deutschen. Es galt in Zeiten der deutschen Teilung, den Zusammenhalt zwischen Deutschen nicht verloren zu geben. Es galt und es gilt im politisch geeinten Deutschland, den sozialen Zusammenhalt zwischen Ost und West, zwischen starken und schwachen Regionen zu wahren.

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Die Neugründung fand im aufrechten Gang statt Zusammenhalt und Solidarität vertragen nicht den arroganten Blick von oben. Sie vertragen nicht die Verachtung für den Schwächeren. Sie vertragen auch nicht das zerstörerische Gefühl, den Verhältnissen machtlos ausgeliefert zu sein. Wo Menschen wirklich zusammenhalten, da tun sie es als Gleiche, auf Augenhöhe, gleich an Würde und Wert, gleich im Recht und gleich an Chancen. Das ist das Versprechen einer wahren Demokratie. Das ist die Lehre unserer Vergangenheit, der dunklen ebenso wie der helleren Tage. Das ist die Stärke und die Zukunft unseres Landes. perspektive21

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Und deshalb galt es und es gilt noch immer: Wir wollen kein Leben, das nur ein Oben und ein Unten kennt. Wir dürfen eine Zweiklassengesellschaft niemals hinnehmen! Das ist die Idee, die wir mitgenommen haben aus dem Jahr 1989. Niemals dürfen wir das bitter-gefährliche Gefühl der Zweitklassigkeit akzeptieren. Niemals mehr Menschen erster und zweiter Klasse! Das ist das Vermächtnis, das ist der Auftrag! Wir erinnern uns an Weggefährten, die nicht bei uns sind. Ich denke vor allem an Regine Hildebrandt. Ich denke daran, wie früh sie die vielen Umbrüche erkannt hat, die auf uns zukamen. Wie beherzt und mit welcher Tatkraft sie den Menschen beistand und wie sie Mut machte und Hoffnung gab für den Neuanfang: Ihr müsst Euch nicht ducken. Ihr müsst Euch nicht verbiegen. Ihr müsst nicht so tun, als wäret Ihr erst am 3. Oktober 1990 geboren. Euer Leben in der DDR verdient Achtung. Und Eure Erfahrungen in Diktatur und Umbruch sind wertvoll für den Neuanfang. Das war ihre und unsere Botschaft. Ich weiß, dass dies nicht unumstritten ist. Wir haben Wellen der Kritik, auch der Schmähkritik dafür bekommen. Aber ich habe keinen Zweifel daran: Nicht als Gebeugte und nicht als Gebrochene, sondern im aufrechten Gang haben wir unser Land neu gegründet. Der Stolz der Ostdeutschen auf die Leistung der letzten 20 Jahre ist berechtigt und wird historisch Bestand haben. Am Anfang war der Mut Unser Brandenburg ist das Kind einer friedlichen Revolution. Am Anfang war der Mut. Der Mut von Hunderten, der Mut von Tausenden und schließlich der Mut von Hunderttausenden Menschen, die sich nicht mehr einschüchtern ließen. Ich will bekennen, dass ich in den Wochen des Jahres 1989, als alles auf Messers Schneide stand, oft mehr Sorge als Zuversicht hatte. Es gab andere, die entschiedener auf den Wandel drängten und den Staatsorganen die Stirn boten – wir schulden ihnen größten Respekt und Dank. In meiner Generation saßen die Erfahrungen des Krieges, der blutig niedergeschlagenen Aufstände vom 17. Juni 1953, von 1956 und 1968 sehr tief. Zu tief vielleicht, um im Sommer 1989 nicht von Unruhe und Sorge vor einem Gewaltausbruch erfüllt zu sein. Wir hatten den Mauerbau 1961, die nachts rollenden Armeelaster und Panzer und die eiserne Klammer des Kalten Krieges als tief einschneidende und prägende Erlebnisse erfahren. Wenn ich dies sage, denke ich noch immer, dass diese friedliche Revolution ein Wunder war und ein unfassbares Glück. Und ich bin dankbar, dass es so 8

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manfred stolpe – heimat, halt und hoffnung

kam. Dankbar denen, die mutiger demonstriert haben und entschlossener an eine bessere Zukunft glauben konnten. Sie haben den Anfang gemacht. Am Anfang war der Mut zur Hoffnung. Aber auch der Schritt in die Verantwortung wurde nötig. Die Runden Tische, die im Revolutionsherbst entstanden, verbanden beides. Sie gaben der friedlichen Revolution ein Organ des Dialogs und des Ausgleichs, dessen Bedeutung man gar nicht hoch genug einschätzen kann. Die staatlichen Institutionen brachen in sich zusammen. Nach der Maueröffnung verließen täglich Tausende die DDR, die Versorgung und die medizinische Betreuung waren gefährdet, das Finanzsystem kollabierte, das öffentliche Leben und die gesamte innere Ordnung hingen am seidenen Faden. Auch die Angst, dass doch noch sowjetische Panzer rollten, war noch berechtigt. Nur freie Wahlen konnten Stabilität schaffen In diese Lage hinein, mitten im Umbruch in die Verantwortung zu gehen, erforderte nicht weniger Courage und Bürgermut als die Demonstrationen der ersten Stunde. Chaos zu verhindern, war wichtig. Den Freiheitsgewinn auf einen halbwegs gesicherten Weg zu einer neuen legitimierten Ordnung zu führen, daraus sprach die große Reife dieser Revolution. Deshalb war sie etwas historisch Neues und Einzigartiges, das in aller Welt bewundert wurde. Im September und Oktober 1989 hießen die Forderungen: Meinungsfreiheit, freie Wahlen, Reisefreiheit, Rechtssicherheit. Auch das Evangelische Kirchenparlament hat sie im September ultimativ erhoben. Viele vertraten die Meinung, eine andere DDR müsse entstehen. Und auch die vier Siegermächte sahen es so. Dann kam am 9. November der Sturm auf die Mauer und veränderte die Lage schlagartig. Nie wurde ich als Chef-Jurist der Evangelischen Kirche so intensiv von Vertretern der Vier Mächte befragt wie im November und Dezember 1989. Baker, Mitterand, Jakovlew und Primakow gehörten dazu. Alle wollten wissen: Gibt es jetzt Chaos und Bürgerkrieg in der DDR? Sind internationale Spannungen und Konfrontationen in Europa die Folge? Die Mauer war das am meisten verhasste Symbol der Diktatur. Ihr Sturm war so etwas wie der Sturm auf die Bastille 200 Jahre zuvor. Unsere Antwort konnte also nur sein: Am Tag des Mauerfalls haben die DDR-Bürger ihren Freiheitswillen durchgesetzt und ihr Selbstbestimmungsrecht zurückerobert. Und nur freie Wahlen konnten neue Ordnung und neue Stabilität schaffen. Die Runden Tische, die in dieser heiklen Phase mit Geduld, Geschick und Einfühlungsvermögen eine neue Gesprächskultur schufen, ohne Hass und Rache perspektive21

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agierten, sie trugen dazu bei, dass die internationale Achtung wuchs und alle Vier Mächte dem Weg zu schnellen freien Wahlen zustimmten. Schließlich kam das Politbüro der KPdSU Anfang 1990 zu dem entscheidenden Beschluss, dass die Fortsetzung der Ost-West-Annäherung wichtiger sei als die gewaltsame Aufrechterhaltung der DDR. Ein anständiges Leben im falschen System Die Diktatur hat eine große Bürde hinterlassen. An erster Stelle das Unrecht, das sich in die Lebensläufe vieler Menschen eingegraben hat. Ich war der Auffassung: Schwere Unrechtstaten mussten geahndet werden. Was strafrechtlich relevant war, musste mit den Mitteln des Rechts aufgeklärt und bestraft werden. Dabei musste der unerbittliche Grundsatz gelten: Recht, nicht Rache. Hans Otto Bräutigam hatte als erster Justizminister des Landes einen untrüglichen Kompass dafür. Dass es keinen Rachefeldzug geben durfte, ist vor allem ein Gebot des Rechtsstaates, den wir aufbauen mussten. Es ist aber auch ein Gebot der Menschlichkeit, nicht alles über einen Kamm zu scheren und nicht blind zu werden für die Besonderheiten individueller Lebenswege. Ich hoffe sehr, dass eine jüngere Generation, die kaum oder keine eigene Anschauung mehr von der DDR hat, diese Wahrheit nicht vergisst: Es gab nicht nur Täter und Opfer. Es gab in der überwältigenden Mehrheit vielfache Versuche, im falschen System ein anständiges Leben zu führen. Vergessen wir nicht die Menschen, die 1989 in staatlichen Funktionen waren, Polizisten, Soldaten, Grenzbeamte, Parteisekretäre, von denen viele Anteil daran hatten, dass nicht geschossen wurde. Auch sie gehören zur Geschichte dieser friedlichen Revolution. Menschen, die ihre Macht abgaben, auf die mögliche Gewaltanwendung verzichteten. Recht, nicht Rache, Wahrheit und Versöhnung – das war der Weg, den wir eingeschlagen haben. Wie es mir der südafrikanische Erzbischof Desmond Tutu, ein Vertrauter von Nelson Mandela, nahelegte. Wir sprechen von der Wiedergeburt Brandenburgs. Die Geburtsurkunde, die den Geist von 1989 in einer kristallklaren Sprache aufnimmt, ist unsere Verfassung. Ihre ersten Worte sind die Worte aufrechter Bürger. Keine Gebückten und Gebeugten, sondern aufrechte und stolze Bürger einer siegreichen Revolution: „Wir, die Bürgerinnen und Bürger des Landes Brandenburg, haben uns in freier Entscheidung diese Verfassung gegeben, im Geiste der Traditionen von Recht, Toleranz und Solidarität in der Mark Brandenburg ...“ So wurde es von allen 10

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Parteien des damaligen Landtages gemeinsam formuliert und am 14. Juni 1992 in einer Volksabstimmung von 94 Prozent bestätigt. Man darf nicht außer Acht lassen: Brandenburg war ein vergessenes Land, schon als Begriff nicht mehr existent. Thüringer und Sachsen hatten auch in der DDR noch eine Identität. Der Landstrich zwischen Elbe und Oder jedoch war geschichtslos geworden. Als dieses Brandenburg neu aus der Taufe gehoben wurde, galt es daher, auch die tieferen historischen Wurzeln wieder zu entdecken. Manche haben das abschätzig betrachtet, als Ablenkung von den Tagesproblemen, gewissermaßen neues Opium fürs Volk. Ich glaube aber, die Bindung an Landschaft und Kultur und die Sorge um unschätzbare Baudenkmäler ist eine Quelle der Kraft. Sie gibt Heimat, Halt und Hoffnung. Und eine große Mehrheit der Brandenburgerinnen und Brandenburger sah es ebenso. Es mutet heute ja beinah märchenhaft an, dass die erste Koalition, die bei der Geburt des Landes Hebammendienste leistete, ausgerechnet eine „Ampel“ aus FDP, Bündnis 90 und SPD war. Und die Leute reiben sich die Augen, wenn ich ihnen zu erklären versuche, dass PDS und CDU im Landtag oft mit im Boot waren und dass bis 1994 15 Gesetze von allen Fraktionen gemeinsam eingebracht wurden. Aber gerade die an sich heterogene Formation der „Ampel“ repräsentierte das damalige Brandenburgbündnis, das in schwieriger Zeit und vor immensen Herausforderungen Brücken zwischen den Lagern bauen wollte. „Konsensdemokratie“ nannten es manche Beobachter abfällig. Mir war dies wichtiger als eine „Konfrontationsdemokratie“ mit parteipolitischer Rechthaberei unter Vernachlässigung der Landesinteressen. Das größte Problem war die Arbeitslosigkeit Ich kann über 20 Jahre Brandenburg nicht sprechen, ohne das zu benennen, was oft beschönigend als „Transformationsprozess“ beschrieben wird. Man kann das Schockartige dieses Totalumbruchs nur erfassen, wenn man die Hochstimmung von 1989 und 1990 begreift. Zuerst der Aufstieg in die Freiheit, das Aufatmen, der bedrückenden Käseglocke des SED-Regimes entronnen zu sein. Dann dieser beängstigende Sturzflug des Ostens in die deutsche Einheit, in ein unbekanntes System. Die Sieger der Revolution drohten zu Verlierern der Einheit zu werden! Der politisch-rechtliche Umbruch brachte ein neue Art der Verwaltung auf allen Ebenen, das gestandene Fachleute wie Hilfsschüler aussehen ließ und erst noch gelernt und eingeübt werden musste. Es brachte zum Beispiel viel Verunperspektive21

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sicherung, ob selbstgenutztes Grund- und Wohneigentum, das im guten Glauben vom Staat erworben wurde, gegen Rückübertragungsansprüche Bestand haben würde. Der Umbruch von Wirtschaft und Arbeit beseitigte schlagartig die staatliche Kontrollwirtschaft und führte den Markt als zentrale Bestimmungskraft über Leben und Sterben der Betriebe ein mit verheerenden Folgen für tausende Unternehmen und hunderttausende Arbeitsplätze. Alles bündelte sich in dem sozialen und mentalen Umbruch, der das Leben der Menschen in praktisch jeder Beziehung aus den Angeln hob und sie einem beispiellosen Veränderungsstress aussetzte. Man müsste lange und differenziert über all das sprechen. Ich will mich auf ein einziges Problem konzentrieren, das wie kein zweites zur Ursache von Verunsicherung wurde und das wie nichts anderes das um sich greifende Gefühl der Deklassierung heraufbeschworen hat: Arbeitslosigkeit, Langzeitarbeitslosigkeit, Massenarbeitslosigkeit. Das wurde Dreh- und Angelpunkt aller unserer politischen Aufgaben. Wir wollten gestalten und nicht erdulden Ich kann mich gut erinnern an Gespräche mit Kanzler Kohl und mit Bundesarbeitsminister Blüm, die uns sagten: Regt Euch nicht auf, es muss keiner unter der Brücke schlafen, es gibt Arbeitslosen- und Sozialhilfe und dann geht es den Leuten immer noch besser als in der DDR. Regine Hildebrandt und ich haben uns den Mund fusselig geredet, um diese fatale Banalisierung zu verhindern. Denn wir ahnten, was bald zur Gewissheit wurde: Wer die Sorge um Arbeit gering schätzt, der verletzt den innersten Nerv der Selbstachtung und droht die gesamte Gesellschaft zu lähmen. Arbeit begründet als aktive Teilhabe unsere Gesellschaft und ihr massenhafter Verlust kann die Gesellschaft zerstören. Ich hatte den Eindruck, dass die damalige Bundesregierung in ihrem eigenen Weltbild gefangen war: Was dem Markt nicht standhielt, musste nicht gehalten werden. Zum reinen Markt gehört auch die Vertilgungskonkurrenz, bei der etablierte Unternehmen ostdeutsche Betriebe aufkauften, um sie stillzulegen und als Wettbewerber auszuschalten. Stilllegung Ost – das war die verheerende Folge einer falschen Politik. Stilllegung von Betrieben, Stilllegung von ostdeutschen Talenten und Potenzialen, Stilllegung von Arbeitskraft. Und dann die Ruhigstellung der Arbeitslosen mit Sozialleistungen, die die Kosten der Einheit in die Höhe trieben und die gesamtdeutsche Solidarität der ersten Stunde gefährdeten. 12

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manfred stolpe – heimat, halt und hoffnung

Wir haben mit den beschränkten Mitteln eines Landes dagegen angekämpft. Wir wollten das Selbstbewusstsein und damit die Selbstheilungskräfte der Brandenburger wecken. Nicht erdulden, sondern gestalten, Aktivität statt Passivität fördern, Arbeit statt Arbeitslosigkeit finanzieren – das war unsere Maxime. In den Worten Regine Hildebrandts, deren herzlich-raue Stimme Ihr alle im Ohr habt: „Geht nicht, gibt’s nicht!“ 47 erfolgreiche Großprojekte Wir haben in den neunziger Jahren die menschenmöglichen Kräfte einer Landesregierung aufgeboten und wir haben manches erreicht. Wir haben mit allen nur möglichen Förderansätzen 47 Industriekerne gesichert und ein Geflecht industriebezogener Dienstleistungen ermöglicht. Wie zum Beispiel die Stahlstandorte in Brandenburg an der Havel, Hennigsdorf und Eisenhüttenstadt, die Chemie in Schwarzheide, Schwedt und Guben, die Fahrzeugindustrie in Ludwigsfelde. Wir haben Stadtkerne gerettet, Straßen modernisiert und die Infrastruktur des Landes binnen weniger Jahre ins 21. Jahrhundert geführt. Wir haben Universitäten gegründet und Forschungsstätten angesiedelt. Wir haben die Bildungsund Weiterbildungsangebote hochgefahren, damit die Menschen mitkommen, wo alles sich wandelt. Wir haben Investoren umworben und Existenzgründer ermutigt und stark unterstützt. Einhunderttausend Frauen und Männer haben sich in Brandenburg selbständig gemacht. Das ist prozentual mehr als in jedem anderen ostdeutschen Land. Nicht zuletzt haben wir für Brandenburg Freunde, Förderer und Bündnispartner gesucht, im Westen, aber auch im Osten, diesseits und jenseits der Grenzen. Und man darf nicht unterschätzen, wie sehr uns die gute Freundschaft unserer polnischen Nachbarn einbettet in das größere europäische Netzwerk wissenschaftlicher und wirtschaftlicher Beziehungen. Wir haben von Anfang an auf enge Zusammenarbeit mit Berlin gesetzt. Wir wollten ein gemeinsames Land bilden. Nach dem Scheitern der Volksabstimmung über die Bildung eines Landes Berlin-Brandenburg haben wir den „Plan B“ vertiefter Kooperation verfolgt, der uns zum Beispiel zu gemeinsamen Gerichten und einer gemeinsamen Rundfunkanstalt geführt hat und den Flughafen Berlin-Brandenburg-International. Aber Ermüdung und Selbstzufriedenheit machen sich gelegentlich breit. Eine übereilte neue Fusionsdebatte brauchen wir nicht. Aber wir brauchen den entschlossenen Willen zur guten Zusammenarbeit. Denn wer zusammenarbeitet, der wächst zusammen. Berlin und Branperspektive21

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denburg bilden eine ideale Metropolenregion, die sich in ihren Stärken ergänzt. Sie ist unsere Zukunft. Aber wir sind an manchen Dingen gescheitert. Und jedes Scheitern schmerzte. Ansiedlungen, die mehr auf Hoffnung als auf Realismus gebaut waren und sich zerschlugen. Betriebe, die nach dem zweiten oder dritten Rettungsversuch trotzdem dichtmachen mussten. Regionen, die trotz hoher Fördersummen keine selbsttragende Wirtschaft entwickelten. Ich musste bitter lernen, dass auch der äußerste politische Wille nicht ausreicht, um Unternehmen an bestimmten Standorten zu halten. Manchmal wurde ich als starrsinniger Gärtner verspottet, der überall mit seiner Gießkanne herumzieht und doch nichts zum Blühen bringt. Dann und wann aber hat es geklappt. Da ist der Samen doch noch aufgegangen. Und daraus ist einiges gewachsen. Unter anderem bin ich froh, dass der Optikstandort Rathenow wieder lebt und für Frankfurt (Oder) sich eine neue Perspektive als Solar-Stadt ergab. Wir haben wie die Löwen um jeden Arbeitsplatz gekämpft und niemanden einfach abgeschrieben oder verloren gegeben. Ehrgeiziges Ziel war, die Arbeitslosenquote unter 10 Prozent zu bringen. Wir haben keine schnellen Siege errungen. Aber wir haben vielleicht den Grundstein dafür gelegt, dass Brandenburg im Mai 2010 mitten in einer Wirtschaftskrise mit knapp über 10 Prozent hinter Thüringen die niedrigste Arbeitslosenquote der neuen Bundesländer hat. Brandenburg hat sich behauptet. Vor uns stehen zwei große Gefahren Die letzten 20 Jahre haben Brandenburg gefestigt. Worauf kommt es für die nächsten 20 Jahre an? Die gegenwärtigen Krisen des Finanzkapitalismus schärfen unseren Blick für zwei große Gefahren. Die erste ist die Aushöhlung der Demokratie, wenn das Parlament nur noch Erfüllungsgehilfe der anonymen Befehle des Kapitalmarktes wird. Und die zweite Gefahr ist die Rückkehr der Klassenspaltung, wenn die Demokratie ihre Aufgabe des sozialen Ausgleichs nicht erfüllt. Wie können wir diesen Gefahren wehren? Im Bewusstsein unserer Erfahrungen und im Blick nach vorn sage ich: Arbeit, Bildung, Zusammenhalt, diese Drei: Arbeit, weil der Mensch seinen Teil beitragen will zur Wohlfahrt einer Gesellschaft, ohne die er nicht leben kann. Weil es nicht reicht, den Menschen Geld in die Hand zu drücken. Weil erzwungene Arbeitslosigkeit erniedrigt und ausgrenzt. 14

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manfred stolpe – heimat, halt und hoffnung

Bildung, weil der Wandel nicht aufhört. Weil wir nur dann nicht Getriebene, sondern Gestaltende dieses Wandels werden, wenn wir seine Kräfte begreifen und das Lernen lernen. Schließlich Zusammenhalt, weil der Mensch als isolierte Existenz am Rande oder außerhalb der Gesellschaft der Verrohung preisgegeben ist. Zusammenhalt darf keine schöne Theorie bleiben. Zusammenhalt muss zu einem Tätigkeitswort werden. Und ob wir als Mitmenschen zusammenhalten, zeigt sich in der Praxis. Nicht nur gucken, sondern kümmern – das muss unsere goldene Regel sein. Eine neue Generation Mir ist um die Zukunft nicht bange. Ich sehe die nachwachsende Generation brandenburgischer Sozialdemokraten. Ich sehe Matthias Platzeck. Er steht für eine neue Ära des wiedergeborenen Landes. Er steht für Erneuerung aus eigener Kraft. Ich habe keinen Zweifel: Er ist der erste einer neuen politischen Generation, die für Brandenburg, für den Osten, für ganz Deutschland die innere Einheit der Gesellschaft erreichen wird. Vergiss’ zum Schluss nicht danke zu sagen, lautete eine Dauerermahnung meiner Mutter. Deshalb, liebe Freunde, will ich mit einem Dank schließen: Ich will Dank sagen den Männern und Frauen der friedlichen Revolution, die 1989 die Angst überwanden und das Unterdrückungssystem aufbrachen. Ich will Dank sagen den Politikern der ersten Stunde, die den Weg von den Runden Tischen zu einer neuen Ordnung wiesen. Sie waren nicht vorbereitet, aber sie wichen der Verantwortung nicht aus. Als die DDR im Frühjahr 1990 praktisch schon nicht mehr existierte, eine neue Landesverwaltung aber noch weit entfernt war, da führten sie die Kommunen. Ich will Dank sagen den Abgeordneten im ersten Landtag. Ja, wir waren „Laienspieler“. Aber Laien zu sein war unser Vorteil, denn wir kannten das wirkliche Leben und wussten, was dieses Land und die Menschen brauchten. Dank sage ich den Menschen, die als Aufbauhelfer zu uns gekommen sind. Es waren zumeist selbstlose Helfer, die verhinderten, dass wir wie Blinde im neuen Rechtssystem herumirrten. Leute, die anfangs unter schier unglaublich schwierigen Bedingungen Verwaltung, Medien, soziale Organisationen ins Laufen brachten. Dank sagen will ich meiner Partei, der SPD, der ich seit 20 Jahren angehöre. Bis Anfang 1990 habe ich nicht geglaubt, eine Parteimitgliedschaft sei nötig, um Einfluss zu nehmen. Anfang 1990 fragte mich Bundeskanzler Kohl, ob ich der perspektive21

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„Allianz für Deutschland“ beitreten wolle. Ich habe das abgelehnt. Aber mir wurde in den folgenden Monaten immer klarer: Jeder braucht Verbündete, um die Interessen zu wahren, die für ihn entscheidend sind. Die SPD, das ist für mich die Partei Willy Brandts, der von West-Berlin aus zu uns in den Osten ausstrahlte und im August 1961 sagte: Wir werden Euch nicht vergessen. Die Schandmauer wird fallen. Die SPD, das ist für mich die Partei von Johannes Rau, der die Sorgen in Ostdeutschland sehr ernst nahm, im Umbruch einfach beiseite gedrängt zu werden. Der selbst große Umbrüche von den Industrierevieren Nordrhein-Westfalens kannte und der uns sagte, dieser Strukturumbruch dauert nicht drei Jahre, wie Kohl versprach, sondern 30 Jahre. Und genau diese drei Jahrzehnte wurden dann zum Maßstab des Solidarpaktes II bis 2020. Die SPD, das ist für mich die erste neu gegründete ostdeutsche Partei, die am 7. Oktober 1989 unweit von hier in Schwante startete. Parteien vertreten Interessen. Und die SPD vertritt die Interessen der kleinen Leute. Wir sind und wir werden die kleinen Leute sein. Brandenburg braucht die SPD! n Der Beitrag basiert auf der Rede, die Manfred Stolpe auf dem Landesparteitag der Brandenburger SPD am 12. Juni 2010 gehalten hat.

MANFRED STOLPE

war von 1990 bis 2002 Ministerpräsident des Landes Brandenburg und ist Ehrenvorsitzender der Brandenburger SPD. 16

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Wo Energie zu Hause ist ENERGIE IST EINES DER SPANNENDSTEN FELDER DER ZUKUNFT – ZUKUNFTSFÄHIG WIRD SIE NUR MIT INTERNATIONALER ZUSAMMENARBEIT VON DIETMAR WOIDKE

nergie kommt aus der Steckdose – das ist eine weit verbreitete Haltung. Die wenigsten Menschen fragen sich leider, auf welchen Wegen der Strom dorthin kommt. In der Lausitz ist das zum Glück anders, denn hier ist Energie zu Hause – seit dem 19. Jahrhundert wird hier Kohle abgebaut, in den vergangenen Jahren sind die Windkraft und Sonnenenergie dazu gekommen. 10 Prozent des deutschen Stromes werden heute in der Lausitz hergestellt – noch dazu in den modernsten Kraftwerken Europas. Doch wir sind beileibe keine Insel. Vattenfall, der größte Energieproduzent in der Lausitz, ist ein schwedisches Unternehmen, das europaweit tätig ist. Europa hat sich strenge Auflagen verordnet, um dem Klimawandel entgegenzuwirken. Und internationale Krisen bedrohen immer wieder die Energieversorgung Deutschlands, seien es Terroranschläge, Pipelineschließungen oder Kriege. Vor diesem Hintergrund ist Energiepolitik eines der spannendsten Politikfelder der Zukunft – vor allem aber ist es eines der strategisch wichtigsten. Ziel ist es, Energiesicherheit zu gewährleisten, das Klima zu schonen und Preise möglichst stabil zu halten. Und dabei sollen auch noch Arbeitsplätze, Forschung und Entwicklung sowie Wertschöpfung sicher gestellt werden – und zwar hier bei uns in Brandenburg, dem Energiezentrum Ostdeutschlands. Diese Ziele werden wir in Zukunft jedoch nur erreichen, wenn wir in Europa zusammenarbeiten. Und genau deshalb habe ich zusammen mit Gewerkschaftern und Betriebsräten einen Dialog mit Partnern in Schweden begonnen, der Heimat von Vattenfall. Das größte Unternehmen in Brandenburg ist nämlich komplett in staatlicher – und zwar schwedischer – Hand. Wer sich also für Arbeits- und Ausbildungsplätze in der Lausitz einsetzt, wer sich für mehr Umwelt- und Klimaschutz in Europa engagiert, muss intensiv mit der schwedischen Politik reden. Schon wenn man in Stockholm ankommt, spürt man einen Unterschied. Auf dem Weg vom Flughafen in die Stadt weist der Ansager im Flughafenexpress auf die besondere Klimafreundlichkeit des Zuges hin. In den Stadtbussen fehlt nirgendwo der Hinweis, dass sie mit Biodiesel betrieben werden. In einem neuen

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Stadtteil hat man durch Infrastrukturverbesserungen und neue Architektur die Umweltbelastungen um etwa die Hälfte gesenkt. In Stockholm ist man stolz, die „grüne Hauptstadt“ Europas zu sein – der Titel wurde der schwedischen Kapitale 2010 von der EU-Kommission verliehen. Umwelt- und Klimaschutz stehen ganz oben auf der politischen Agenda bei unseren nördlichen Nachbarn. Eine wichtige Rolle spielt dabei die Energiepolitik. Darüber hinaus gilt: Energie-, Umwelt- und Klimafragen machen nicht an Grenzen halt. Das haben wir bei der Katastrophe von Tschernobyl schmerzlich erfahren müssen, das zeigen die Auseinandersetzungen um Erdgaslieferungen in der Ukraine, die Krisenanfälligkeit des Ölpreises oder die weltweiten Auswirkungen der Erderwärmung. Ein Austausch über Erfahrungen im Umgang mit Klimaschutz und Energieerzeugung ist deshalb nicht nur nützlich. Er ist zwingend nötig, um grenzüberschreitende Probleme auch grenzüberschreitend zu lösen. Auch die Industrie muss klimafreundlich werden Was natürlich auch heißt, dass jedes Land eigene Erfahrungen macht und auch eigene Wege beschreitet. Strom wird in Schweden zum Beispiel zu 45 Prozent aus Wasserkraft und zu 45 Prozent aus Kernenergie gewonnen. Aus Wasser können wir in Brandenburg (fast) keine Energie gewinnen – dafür fehlen uns einfach die Berge. Atomkraft ist in Schweden deutlich weniger umstritten als in Deutschland – manch einer vergleicht sie wegen des niedrigen CO2-Ausstoßes sogar mit den erneuerbaren Energiequellen. Ein anderes Land, andere Erfahrungen, andere Maßstäbe – und doch lohnt sich der Erfahrungsaustausch. So verbrauchen die Schweden acht bis zehn mal mehr Strom als wir Brandenburger. In Punkto Energieeffizienz und Energiesparen lässt sich also viel von uns lernen – denn auch das sind zwei wichtige Bausteine, wenn wir umwelt- und klimabewusster leben wollen. In vielen Gesprächen habe ich ein großes Maß an Gemeinsamkeit festgestellt. Einig sind wir uns mit unseren schwedischen Partnern, dass die Energieversorgung in den nächsten Jahren nicht allein aus erneuerbaren Energien erfolgen kann. Dies sehen nicht nur Politiker, sondern auch Gewerkschafter, Unternehmer und Betriebsräte so. An einem großen runden Tisch im altehrwürdigen schwedischen Reichstag sitzt Tomas Eneroth, der Energieexperte der schwedischen Sozialdemokraten. Er formulierte das so: „Wir müssen gemeinsam daran arbeiten, um den Ausstoß von CO2 zu reduzieren. Dazu müssen die Gewinne von Vattenfall in umweltfreundliche Technologien investiert werden.“ Der 44-Jährige will dabei auf die CCS-Technologie setzen, 18

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dietmar woidke – wo energie zu hause ist

mit der CO2 abgetrennt und unterirdisch gespeichert wird: „Diese Technik ist wichtig für ganz Europa.“ So sieht das auch die Gewerkschaft IF Metall, die die großen Industrieunternehmen in Schweden vertritt. Ihr Energieexperte Pär Öhman arbeitet in einem Hightech-Büro in Stockholms Olof-Palme-Straße. Er sieht vor allem die großen Stahlunternehmen in der EU gefährdet – denn sie verbrauchen viel Strom und stoßen derzeit noch viel CO2 aus. Nicht ohne Stolz verweist er darauf, dass es die Schweden waren, die als erste eine Technologie entwickelt haben, mit der man Kohlendioxid aus den Abgasen abtrennen konnte. Doch er sagt auch: „Wir Schweden haben leider nachgelassen, diesen Weg weiter zu verfolgen.“ Wir brauchen in Europa heute einen Mix aus unterschiedlichen Energieträgern. Die Schweden setzen dabei neben der Wasserkraft auch weiterhin auf Kernenergie – eine Energieerzeugung, die ich aus Sicherheitsgründen ablehne. Wir Brandenburger setzen in den nächsten Jahrzehnten auf Kohle und die CCS-Technologie, mit der es gelingen wird, den CO2-Ausstoß massiv zu reduzieren. Das weltweit erste Pilotkraftwerk mit CCS arbeitet seit dem Herbst 2008 in Schwarze Pumpe – und seine Ergebnisse stoßen auch in Schweden auf großes Interesse. Die neue Technologie ist nämlich nicht nur für Brandenburg und die Kohleverstromung interessant. Auch Industriebereiche wie die Stahl-, Holz-, Zement- oder Chemieindustrie werden in Zukunft Kohlendioxid abspalten und unterirdisch speichern müssen. Denn auch dort muss der CO2-Ausstoß reduziert werden, um diese Wirtschaftszweige in Zukunft in Europa zu halten. Dabei können wir von Schweden eine Menge lernen. Zum einen wurde die CCS-Technologie ursprünglich dort entwickelt und zum anderen geht man dort bereits erste Schritte, um diese Technologie auch für die Stahlindustrie zu erproben. Brandenburg steht an der Spitze Großes Interesse hat man in Schweden auch an unserer Energiestrategie. Brandenburg liegt deutschlandweit an der Spitze beim Ausbau der erneuerbaren Energien, bei der Nutzung von Wind, Sonne und Biomasse. Auf diesen Gebieten beginnt der Ausbau in Schweden erst. So schaut man in der Stockholmer Vattenfall-Zentrale, aber auch im schwedischen Parlament, ganz genau auf die Erfahrungen in Brandenburg, das für seine Technologie- und Wirtschaftspolitik und seine Anstrengungen bei den regenerativen Energien mit dem „Leitstern 2008“ als bestes Bundesland ausgezeichnet wurde. Im Übrigen lohnt auch ein Blick zu unserem östlichen Nachbarn Polen. Dort kommen über 90 Prozent des Stroms aus Kohle. In den nächsten Jahren werden perspektive21

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viele der alten Kohlekraftwerke erneuert – und für das Klima wäre es wichtig, wenn dabei die CCS-Technologie angewendet wird, damit möglichst wenig CO2 in den Klimakreislauf gerät. Die CCS-Technologie mag in Schweden entwickelt worden sein, ihren Praxistest besteht sie in Brandenburg – und das ist gut für die Arbeitsplätze und das Klima in der Lausitz und nicht nur dort. Denn so etwas wie in Tschechien darf nicht wieder passieren: Dort wird gerade ein altes Kohlekraftwerk erneuert – aber nur ein bisschen, denn auch nach der Modernisierung wird das Kraftwerk noch (zu) viel Kohlendioxid ausstoßen und einen Wirkungsgrad haben, der unter den in Brandenburg üblichen Werten liegt. Gemeinsam für neue Technologien Die Zukunft gut bezahlter und hoch qualifizierter Arbeitsplätze ist das wichtigste Anliegen der Gewerkschaften und Betriebsräte hier bei uns in Brandenburg wie auch in Schweden. Arbeitnehmer müssen an einem Strang ziehen und dürfen sich nicht auseinander dividieren lassen. Genau deshalb haben deutsche und schwedische Gewerkschafter und Betriebsräte von IG BCE und Vattenfall nun verabredet, in Zukunft enger zusammenzuarbeiten und sich enger abzustimmen. Denn nur so kann eine Energiepolitik aus einem Guss entstehen, die in Deutschland und Schweden gleichermaßen Akzeptanz findet, Arbeitsplätze in der Industrie sichert und gut ist für Klimaschutz und Energiesicherheit. Jan Rudén ist der Chef der schwedischen Kommunikationsgewerkschaft SEKO – und damit auch für Vattenfall zuständig. Er sagt: „Wir brauchen neue Technologien, um den Klimawandel in den Griff zu bekommen.“ Genauso ist es. Und wir werden alles dafür tun, damit Brandenburg dabei ein wichtiger Schrittmacher sein wird. n

DR. DIETMAR WOIDKE ist Fraktionsvorsitzender der SPD im Brandenburger Landtag.

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Zuerst das Land EINE ERSTE ZWISCHENBILANZ DER NEUEN LANDESREGIERUNG VON SPD UND LINKSPARTEI VON KLAUS NESS

er 27. September 2009 hat die politische Architektur der Parteienlandschaft durcheinandergewirbelt. An diesem Tag wurde die SPD aus der Bundesregierung abgewählt. Gleichzeitig zog die Partei Die Linke zum zweiten Mal und gestärkt wieder in den Bundestag ein. Damit hat sich vorläufig ein Fünf-Parteiensystem in Deutschland etabliert, das die Debatten über Mehrheitsbildungen in den Parlamenten in den nächsten Jahren bestimmen wird. Ebenfalls am 27. September 2009 wurde in Brandenburg ein neuer Landtag gewählt. Dass Landtagswahlen und Bundestagswahl an einem Tag stattfinden, hat es auch schon in anderen Bundesländern gegeben. Die Erfahrung bisheriger Zusammenlegungen zeigt, dass das Wahlverhalten bei der Bundestagswahl auch die Stimmabgabe zur Landtagswahl bestimmte. Die Abweichungen zwischen Landtagswahl- und Bundestagswahlergebnissen der jeweiligen Parteien bewegten sich bisher bei 1 bis 2 Prozent. Eine Analyse des Wahlverhaltens der Brandenburger zeigt jedoch, dass diese Regel in Brandenburg durchbrochen wurde. Die Brandenburger SPD erhielt bei der Bundestagswahl 25 Prozent der Zweitstimmen und landete hinter der Linkspartei auf Platz 2, bei der Landtagswahl erreichte die SPD aber 33 Prozent und wurde erneut vor den Linken stärkste Kraft. Im Vergleich zur Landtagswahl 2004 legte die Brandenburger SPD gegen jeden Bundestrend sogar ein Prozent zu, während die Linke leicht verlor. Die Brandenburger CDU übrigens scheiterte wie auch 2004 an der ungeschriebenen VolksparteiHürde von 20 Prozent. Eine Spreizung von 8 Prozent bei einer Wahl an ein und demselben Tag für eine Partei ist eine Besonderheit, deren Ursachen genauer betrachtet werden müssen. Möglicherweise lässt sich daraus auch etwas für die Zukunft der SPD auf Bundesebene lernen. Was unterschied also die Brandenburger SPD aus Sicht der Wählerinnen und Wähler von der Bundes-SPD? Der wichtigste Punkt zuerst: Die Brandenburger SPD hatte im Gegensatz zur Bundes-SPD eine klare Machtperspektive. Die Brandenburger SPD ging zwar ohne Koalitionsaussage in den Wahlkampf, konnte aber glaubhaft vermitteln, dass sie stärkste Partei werden

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kann, da sowohl CDU als auch die Linke unter ihrer Führung mit ihr koalieren wollten. Auf Bundesebene hingegen konnte die SPD keine realistische Mehrheitsbildungsoption vermitteln. Eine Partei, die aber ihre Anhänger zur Stimmabgabe mobilisieren will, muss deutlich machen können, dass sich die Stimmabgabe für sie „lohnt“, der Wähler also eine Chance hat, mit seiner Stimmabgabe auf der „Siegerseite“ zu sein. Da die Bundes-SPD aber keine realistische Mehrheitsoption vermitteln konnte, demobilisierte sie ihre eigenen Anhänger. Geschlossen und entschlossen Ein weiterer wesentlicher Unterschied zwischen Brandenburger SPD und BundesSPD, den die Wählerinnen und Wähler aufmerksam registrierten, war das Verhältnis zur eigenen bisherigen Regierungsarbeit. Während die Bundes-SPD ihr eigenes Unbehagen an den Ergebnissen ihrer elfjährigen Regierungsarbeit auf Bundesebene und ihrer Rolle als Juniorpartner in der Großen Koalition zelebrierte, verwies die Brandenburger SPD voller Stolz auf ihre Regierungsbilanz der vergangenen Jahre. Während die Bundes-SPD den Eindruck vermittelte, sich nach der Regeneration in der Opposition zu sehnen, stellte sich die Brandenburger SPD als „naturwüchsige“ Brandenburger Regierungspartei dar. Während die Bundes-SPD in den vergangenen Jahren es – auch bedingt durch häufige Personalwechsel an der Spitze – nicht vermochte, den Eindruck einer geschlossenen und entschlossenen Partei zu vermitteln, gelang dies der Brandenburger SPD mit ihrem Ministerpräsidenten Matthias Platzeck an der Spitze. Vom früheren Bundeskanzler Gerhard Schröder stammt der schöne Satz „Zuerst das Land, dann die Partei“. Dieser Satz hat bei zahlreichen Mitgliedern und Funktionären der SPD in den vergangenen Jahren viel Unbehagen ausgelöst, da sie die Notwendigkeit von Regierungspolitik und das Seelenleben der Partei nicht mehr in Einklang bringen konnten. Wählerinnen und Wähler interessieren sich für das Seelen- und Binnenleben von Parteien aber nur sehr begrenzt. Sie erwarten zu Recht, dass Parteien als „Dienstleister der Demokratie“ Geschlossenheit und Entschlossenheit demonstrieren – und sich nicht im Selbstfindungsprozess gerieren. Das gelang der Brandenburger SPD in den zurückliegenden Jahren deutlich besser als der Bundes-SPD. Am Tag nach der Wahl musste die Brandenburger SPD entscheiden, mit welchem Partner sie in den kommenden fünf Jahren die Regierungsverantwortung teilen will. Die vergangenen zehn Jahre hatte die SPD eine Koalition mit der CDU gebildet. Diese Regierungsarbeit hatte eine deutlich ökonomische Moder22

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nisierung Brandenburgs zur Folge. Der Regierungspartner CDU hatte sich in dieser Zeit aber innerparteilich deutlich verschlissen. Andauernde Personalkämpfe innerhalb der CDU hatten immer wieder auch zu Spannungen in der Regierungszusammenarbeit geführt. Das Ausscheiden wichtiger Regierungsmitglieder wie des Innenministers Jörg Schönbohm und des Wirtschaftsministers Ulrich Junghanns in Folge der innerparteilichen Auseinandersetzungen in der CDU haben bei der Brandenburger SPD das Vertrauen in die dauerhafte Verlässlichkeit der CDU deutlich schrumpfen lassen. Weiter waren die Auseinandersetzungen zwischen der Brandenburger SPD und der CDU in Fragen der Sozial- und Bildungspolitik in der Regierungszusammenarbeit deutlich angestiegen. Aus der Brandenburger SPD heraus war in den vergangenen Jahren das Konzept des „vorsorgenden Sozialstaates“ entwickelt worden und in die bundesweite Debatte der SPD eingebracht worden. Daraus abgeleitete konkrete Politikprojekte wie etwa die Einführung eines Schüler-Bafögs oder ein längeres gemeinsames und integratives Lernen waren aber mit der CDU nicht umsetzbar. Auch die Tatsache, dass auf Bundesebene in Zukunft eine schwarzgelbe Koalition regieren würde, ließ in der Brandenburger SPD den Wunsch nach einem Partnerwechsel wachsen, um im Bundesrat durch den Koalitionspartner CDU nicht in eine Dauerenthaltung gezwungen zu werden. Keine einfache Entscheidung Trotzdem fiel den Brandenburger Sozialdemokraten die Bildung einer Koalition mit der Nachfolgerpartei der SED nicht leicht. Diese erklärt sich vornehmlich aus der Geschichte der ostdeutschen SPD. Die SPD ist in Ostdeutschland in bewusster Gegnerschaft zur Diktatur der SED in der DDR gegründet worden. Ziel der Gründung war es, das Machtmonopol der SED zu brechen und der Demokratie zum Durchbruch zu helfen. Dazu war es notwendig, die SED von der Macht zu verbannen. Nun 20 Jahre später die Nachfolgepartei der SED wieder an der Regierungsmacht zu beteiligen, bedurfte daher vieler innerparteilicher Debatten in der Brandenburger SPD. Zu der Entscheidung trug letztlich auch bei, dass 20 Jahre nach der friedlichen Revolution die Demokratie in Ostdeutschland unzweifelhaft gefestigt ist. Und zu dieser Demokratie gehört auch die Linkspartei, der in Brandenburg sowohl von der organisatorischen Verankerung als auch der Wählerakzeptanz der Status einer demokratischen Volkspartei zugesprochen werden kann. Die Brandenburger Linke in ihren Führungsstrukturen als Partei von „Altkommunisten“ zu definieren, führt an der Realität vorbei. Die perspektive21

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meisten Funktionsträger auf Landesebene sind heute um die 50, waren also zur Zeit der Wende Ende 20/Anfang 30. Diese Gruppe für die Zwangsvereinigung, stalinistische Verbrechen in den fünziger Jahren oder den Mauerbau verantwortlich zu machen, ist widersinnig. Trotzdem ist von der Linkspartei weiter zu verlangen, dass die Auseinandersetzung mit der DDR-Diktatur nicht nachlässt. In der Präambel des Koalitionsvertrages nimmt dieses Thema breiten Raum ein und es ist ausdrücklich festgehalten, dass diese Regierung keine „Schlussstrichkoalition“ ist. Trotzdem wurde die neue Brandenburger Landesregierung von Anfang an unter starken Beschuss genommen. Der damalige Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble sprach noch vor der Wahl Platzecks im Landtag von einer „Koalition der Schande“. „Bild“ sprach nur noch von „Platzecks Stasiregierung“ und in den übrigen Blättern der Springerpresse bekam jeder bedeutende und unbedeutende Zeitgenosse breiten Raum, wenn er nur seine Abscheu über den „Verrrat Platzecks an 1989“ möglichst lautmalerisch ausbreitete. Keine Landesregierung der vergangenen Jahrzehnte sah sich mit einer solchen bundesweiten publizistischen Gegenkampagne konfrontiert. Die Probleme der Zeit erkennen und lösen Vor diesem Hintergrund ist es nicht überraschend, dass diese offensichtlich überzogene Gegenkampagne die beiden neuen Koalitionspartner in den ersten Monaten eher zusammengeschweißt hat. Überraschender ist hingegen, dass die Brandenburger die Kampagne vollständig unbeeindruckt lässt. In der jüngsten Umfrage erklärten 34 Prozent, die SPD zu wählen und weitere 28 Prozent sprachen sich für die Linke aus. Der Vorsprung der rot-roten Regierung Brandenburgs vor dem schwarz-gelben Oppositionslager ist damit auf 36 Prozent gestiegen! Darin zeigt sich sicherlich der schon fast sprichwörtliche „Brandenburger Eigensinn“, aber natürlich auch die Akzeptanz der bisherigen Regierungsarbeit. Denn die neue Regierung macht mit ihrem Ansatz aus dem Koalitionsvertrag, eine „vorsorgende Politik“ zu betreiben, Ernst. Zu den ersten Maßnahmen gehört, dass ab 1. Oktober 2010 knapp 1.000 neue Erzieher eingestellt werden, um den Betreuungsschlüssel in den Kitas deutlich zu verbessern, außerdem werden zum nächsten Schuljahresbeginn 450 neue Lehrer eingestellt, im Laufe der Legislaturperiode insgesamt 1.250. Ebenfalls zum nächsten Schuljahresbeginn führt Brandenburg als erstes Bundesland ein Schüler-Bafög für die gymnasiale Oberstufe für Kinder aus einkommensschwachen Familien ein. Mehr Bildungsgerechtigkeit und gleichzeitige Qualitätsverbesserung wird damit zu einem ersten Schwer24

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punkt der neuen Landesregierung. Bis zum Ende des Jahres wird Brandenburg darüber hinaus ein Vergabegesetz haben, mit dem festgelegt wird, dass öffentliche Auftragsvergabe an einen Mindestlohn gekoppelt ist. Ob die Brandenburger Landesregierung ein Modell für andere Bundesländer oder gar den Bund wird, ist gegenwärtig nicht abschließend zu beurteilen. Das ist zumindest für die Brandenburger SPD nicht der Anspruch. Eine Landesregierung sollte immer zuerst mit dem Anspruch gebildet werden, dem jeweiligen Land eine Regierung zu geben, die die Probleme der Zeit erkennt und löst. Wenn dabei Erfahrungen gemacht werden, die in anderen Ländern helfen, ist das ein schöner Nebeneffekt. In Brandenburg haben zwei Landesverbände ihrer Partei mit ihrer spezifischen Geschichte und Erfahrung vereinbart, eine Regierung für den Zeitraum von fünf Jahren zu bilden. Die Erfahrungen der ersten Monate zeigen, dass es gelingen kann, die für das Land vereinbarten Ziele zu erreichen. Die Erfahrungen der Brandenburger Linken werden auch sicherlich in die Debatte ihrer Bundespartei eingebracht werden. Welche Konsequenzen die Bundespartei daraus zieht, ist gegenwärtig noch nicht absehbar. In den ostdeutschen Landesverbänden der Linken setzt sich zusehends ein Kurs realistischer Politik durch, der eine respektvolle Akzeptanz der SPD als bevorzugten Bündnispartner einschließt. Ob dieser Kurs mehrheitsfähig in der Bundespartei wird, wird darüber entscheiden, ob die Partei „Die Linke“ eine Zukunft hat und sich zu einem potenziellen Bündnispartner für SPD und Grüne auf Bundesebene entwickeln kann. Das ist gegenwärtig offen und die Klärung dieser Frage wird auch noch einige Jahre in Anspruch nehmen. n

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ist Generalsekretär der Brandenburger SPD. perspektive21

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Der Beginn der Normalität DAS FÜNF-PARTEIEN-SYSTEM ERÖFFNET DER SPD MEHR CHANCEN ALS ZUMUTUNGEN VON WOLFGANG SCHROEDER

Soviel Bewegung und Wandel waren selten im deutschen Parteiensystem, vor allem nicht in so kurzer Zeit. Das hat auch Auswirkungen auf unser strategisches Denken, das sich immer weniger an tradierten Leitbildern und immer mehr an neuen strukturellen Herausforderungen orientieren muss. Gut beraten sind wir deshalb, den Diskurs über die Krise des Parteiensystems und der Volksparteien als beendet zu betrachten. Denn er rekurriert auf normative Grundorientierungen, die so immer weniger anschlussfähig sind und so nicht mehr wiederkehren werden. Wir brauchen einen Perspektivwechsel, wo die mitunter larmoyante Rückschau weder politisch noch intellektuell einen zählbaren Mehrwert oder gestalterische Optionen für die Zukunft bringt. Die SPD als älteste Partei Deutschlands mit ihrer stolzen Tradition sollte diese Herausforderung nicht als Zumutung, sondern als Chance begreifen. Die Parteiendemokratie in ihrem aktuellen Zustand befindet sich in einem strukturell veränderten Kontext, der mit den Begriffen des Fünf-Parteien-Systems

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und der Transformation der Parteien einhergeht. Wenn das bundesrepublikanische Parteiensystem der Bonner Republik sich ausdifferenziert, führt irgendwann dazu, dass es aufhört zu existieren. Das meint, dass die Situation auf den Wählermärkten und damit die Konkurrenzsituation zwischen den Parteien sich so verändert, dass die Integrations- und Mobilisierungskraft der großen Parteien im Allgemeinen und ihres Verhältnisses zu den mittleren und kleinen Parteien im Besonderen neu zu denken sind. Kein Ausnahmefall Ein wesentlicher Faktor, der die Existenz des gegenwärtig bestehenden Fünf-Parteiensystems verursacht hat, ist die Ausdifferenzierung des linken Lagers in drei Parteien. Ob ein ähnlicher Prozess auf Seiten der rechten Mitte denkbar ist, ist gegenwärtig noch Spekulation. Der Blick auf die Parteiensysteme in den europäischen Nachbarstaaten mit ihren fest etablierten Parteien und Akteuren rechts der Konservativen, aber auch auf die kommuperspektive21

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nale Ebene in Deutschland mit ihren kleinen und Kleinst-Gruppierungen jenseits der Volksparteien deuten an, dass die Ausdifferenzierung der deutschen Parteienlandschaft durchaus noch nicht abgeschlossen sein muss. Jedenfalls dürften die 23 Prozent für die SPD vom September 2009 vermutlich kein Ausnahmefall bleiben, sondern sie markieren eher den Beginn einer neuen Normalität. Auch wenn dies keinesfalls bedeutet, dass nicht auch in Zukunft bessere Wahlergebnisse möglich sind und einer SPD-Regierungsbeteiligung nichts grundsätzlich im Wege stehen muss, so geht es doch nicht mehr darum, sich an den westdeutschen Wahlergebnissen der siebziger Jahre zu orientieren, sondern um eine innovative strategische Neupositionierung der SPD im Fünf-Parteiensystem. Dazu bedarf es erstens der Selbstvergewisserung hinsichtlich der eigenen politischen Mission, zweitens eines rationalen, ideologiefreien Blickes auf die sich bietenden machtpolitischen Optionen und drittens mutiger organisationspolitischer Konzepte, um die SPD strukturell zukunftsfähig zu erhalten. Führend im linken Lager Der Ausgangspunkt dieser strategischen Neupositionierung ist es, den Markenkern der SPD so zu positionieren, dass sie als Partei in ihrem Gesellschaftsund Gerechtigkeitsdenken dem Leit28

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bild der solidarischen Arbeitnehmergesellschaft verpflichtet ist. Das heißt im Kern, diese Sozialdemokratie präferiert eine gesellschaftliche Integrationsperspektive durch Erwerbsarbeit. Diese Haltung der erwerbsarbeitsbezogenen Inklusion präferiert eine Integration durch Transferzahlungen bestenfalls als zweitbeste Möglichkeit. Auf dieser Basis beansprucht die SPD sich als hegemoniale Partei im linken Lager zu festigen, ohne ihre Koalitionsfähigkeit zu den Parteien der rechten Mitte einzuschränken. Arbeitnehmerschaft als Kern Dazu gehört auch die Rückgewinnung einer selbstbewussten politischen Körpersprache, die die Deutungshoheit über die Interessen der Arbeitsgesellschaft offensiv für sich in Anspruch nimmt. Denn nicht zuletzt das Spannungsverhältnis zwischen einer ultrarationalen Sachzwangs-Politik einerseits, die die Konsequenzen des demographischen Wandels oder der Globalisierung ohne ein politisches Deutungsangebot an die eigene Klientel durchstellte, und einer gewundenen Politik des schlechten Gewissens andererseits, die getrieben von der Linkspartei das eigene Regierungshandeln sukzessive dementierte, haben maßgeblich zum tiefen Fall der SPD beigetragen. Gefragt ist vielmehr eine Politik, die sich wieder unmittelbar zur Arbeitneh-


wolfgang schroeder – der beginn der normalität

merschaft als Kern und Magneten einer solidarischen Gesellschaft bekennt und den Zugang zu ihr organisiert, unabhängig von Alter, Herkunft und Geschlecht. Die strategische Chance liegt für die SPD mithin darin, die zentrifugale Entwicklung innerhalb des Parteiensystems, die zur Maximierung des Transfersystems einerseits und radikalem Rückbau des „nanny states“ andererseits tendiert, positiv einzuhegen, um aus dieser Perspektive umgekehrt wieder neue machtpolitische Perspektiven entstehen zu lassen. Denn perspektivisch sind bis auf weiteres im Fünf-Parteien-System die wahrscheinlichsten Koalitionsoptionen Dreier-Bündnisse oder die Große Koalition. Minderheitsregierungen wie jetzt in NRW wirken in einer Übergangsphase lediglich als Provisorien und politische Katalysatoren auf dem Weg zu neuen realen Mehrheiten. In diesem neuen Parteiensystem behalten die großen Parteien ihre Dominanz durch ihre relative Größe und die strukturelle Fähigkeit Lager (und perspektivisch Koalitionen) zu bilden und anzuführen. Die alten Volksparteien der Bonner Republik transformieren sich gleichsam zu Führungsparteien im neuen Parteiensystem. Die SPD ist aktuell weder das eine noch das andere: Sie ist einerseits kaum mehr Volkspartei im klassischen Sinne angesichts sinkender Wahlergeb-

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nisse sowie Mitgliederzahlen, einer z.T. dramatischen Überalterung der Partei und damit einhergehend der fortschreitenden Erosion der kommunalen Basis. Angesichts dieses Ressourcenschwundes steht die Partei gleichsam vor einem nachholenden Strukturwandel im Bund und in der Fläche, den ihre Milieus (im Westen) oftmals bereits erfahren haben. Vieles deutet darauf hin, dass die Erfahrungen ähnlich schmerzhaft werden. Ein Schlaglicht auf die Herausforderungen werfen die immer größeren Probleme der Gliederungen, kommunale Mandatsträger zu gewinnen sowie die demographischen Realitäten: Von den rund 10 Millionen Wählern, die der SPD im Zeitraum 1998-2009 auf Bundesebene abhanden gekommen sind, sind 0,5 Mio. ganz unpolitisch schlicht verstorben. Den Nachteil überwinden Andererseits ist die SPD längst noch nicht strukturell Führungspartei im linken Parteienspektrum angesichts der grassierenden „Ausschließeritis“. In den vergangenen zehn Jahren endeten nicht weniger als zwei Bundestagswahlen und 15 Landtagswahlen mit einer Mehrheit der linken Parteienfamilie, ohne dass diese durch die SPD in eine Regierungsmehrheit umgesetzt wurde. Aus strategischer Perspektive ergibt sich daraus jenseits aller normativen Begründungszusammenhänge für die perspektive21

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SPD im Parteienwettbewerb ein struktureller Nachteil. In dieser „asymmetrische Lagerstruktur“ (Raschke/Tils) ist das bürgerliches Lager real und eine machtpolitische Option, das linke Lager jedoch nur in seiner Latenz vorhanden. Selbstbewußt und effizient Die Alternative einer lagerübergreifende Strategie hingegen hat die SPD in den letzten Jahren zwar prominent in Großen Koalitionen realisiert, ohne als Juniorpartner jedoch politisch glücklich zu werden: Die ungeliebte Koalition mit der Union auf Bundesebene war geprägt von einem nachgerade schizophrenen Spannungsverhältnis zur eigenen Regierung, in dem der Dualismus von Kooperation und Konfrontation zu keinem Zeitpunkt konstruktiv aufgelöst wurde. Auch die sozialliberale Koalition und die „Ampel“ existieren heute nicht mehr auf Bundes- oder Landesebene, obwohl sie angesichts der Mehrheiten bei elf Landtagswahlen und zwei Bundestagswahlen rechnerisch möglich gewesen wäre. Für die SPD haben Linkspartei und FDP letztlich einen spiegelbildlichen Effekt: In beiden Fällen ist nur für eine Minderheit innerhalb der SPD eine Koalition überhaupt vorstellbar. Der Rest der Partei lehnt eine Zusammenarbeit ebenso vehement ab. Die Sondierungsgespräche der Parteien in NRW haben deutlich vor Augen ge30

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führt, wie stark der politische Entfremdungsprozess im Sinne einer Ideologisierung fortgeschritten ist und durch die Widersprüchlichkeit zwischen Avancen und Affront mittlerweile ein strategisches Kernproblem der SPD darstellt. Gleichwohl verdeutlichen die krisenhaften Entwicklungen innerhalb der schwarz-gelben Regierungsparteien bereits die nächste Veränderung im Parteiensystem an: Es gibt keine Gewissheit mehr und mittlerweile eine immer weiter abnehmende Wahrscheinlichkeit, dass Schwarz-Gelb 2013 einen echten Lager-Wahlkampf führen werden. Vielmehr verdichten sich die Anzeichen, dass sich die FDP angesichts ihrer bisher verheerenden Bilanz innerhalb der bürgerlichen Koalition von der orthodoxen Lagerpartei, quasi der Linkspartei des bürgerlichen Lagers, hin zu einer Scharnierpartei wie den Grünen entwickeln könnte, um ihre Koalitionsoptionen zu maximieren. Für die SPD verschlechtern sich die strategischen Perspektiven im neuen Parteiensystem somit nicht zwangsläufig, sofern die Partei Neuaufstellung konsequent im Sinne einer Strategie des Offenlassens fortführt. Wie das gehen kann, zeigt der Blick nach Ostdeutschland. Denn unterhalb der Bundesebene teilt sich das deutsche Parteiensystem nach wie vor in zwei Teile. Das ost-

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wolfgang schroeder – der beginn der normalität

deutsche Sub-System funktioniert auch im Jahr 20 der Deutschen Einheit nach anderen Strukturprinzipien als das westdeutsche, das noch in weit stärkerem Maße auch das Gesamtsystem prägt. Tatsächlich ist Ostdeutschland auch mit Blick auf die Parteienlandschaft „Avantgarde wider Willen“ (Matthias Platzeck) und damit auch für die SPD nolens volens Labor für die Zukunft: Gerade in den ostdeutschen Flächenstaaten sind die großen Parteien nie Volksparteien im westdeutschen Sinne gewesen. Ein wesentlich niedrigerer Organisationsgrad, ein von Beginn an etabliertes Fünf-Parteiensystem mit deutlich nivellierten Mehrheitsverhältnissen und ein funktionsfähiges linkes Lager schaffen für die Ost-SPD grundsätzlich andere Voraussetzungen und strategische Optionen: In der Konsequenz regiert die SPD erfolgreich in vier der fünf neuen

Ländern – sowohl mit der Linken in Potsdam und Berlin als auch mit der CDU in Erfurt, Magdeburg und Schwerin. In Brandenburg hat die SPD bereits in drei verschiedenen Koalitionen regiert und stellt seit nunmehr 20 Jahren den Ministerpräsidenten. Keine Frage – das deutsche Parteiensystem wird ostdeutscher. In den kommenden Jahren wird es für die SPD also darum gehen in einem Fünf-Parteiensystem dies- und jenseits des linken Lagers mehrheits- und regierungsfähig zu werden und zu bleiben. Eine selbstbewusste Verortung als Führungspartei im linken Lager, die strategisch und organisationspolitisch in der Lage ist mit weniger Mitgliedern politisch effizient und partizipatorisch attraktiv zu agieren, wechselnde Koalitionen zu dominieren und zunehmend volatile Wählermärkte anzusprechen, wird dafür die notwendige Bedingung sein. n

PROF. DR. WOLFGANG SCHROEDER ist Staatssekretär für Arbeit, Soziales, Frauen und Familie des Landes Brandenburg. perspektive21

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We want our money back! WARUM DIE VERTEILUNGSFRAGE VON DER SPD WIEDER GESTELLT WERDEN MUSS VON ERNST HILLEBRAND

ie Frage, mit welchen Themen die SPD nach dem Debakel vom September 2009 wieder Anschluss an verlorene Wähler findet, ist nicht einfach zu beantworten. Zu vielfältig waren die Abwanderungs- und Enthaltungsmuster, zu vielfältig die Motivationen der Enttäuschten. Zudem gälte es, spezifisch nationale Entwicklungen von europaweiten Entwicklungen in der sozialen, wirtschaftlichen und politischen Landschaft zu trennen. Dennoch soll hier der Versuch gemacht werden, ein einziges Thema herauszugreifen und auf seine Bedeutung als zentrale politische Herausforderung für die deutsche, aber auch für die europäische Sozialdemokratie hinzuweisen: die Verteilungsfrage. Hierbei geht es zunächst nicht um Umverteilung, sondern um die Primärverteilung – also um die Frage, wie die Wertschöpfung innerhalb der Wirtschaft zwischen Kapital und Arbeit verteilt wird. In der Phase der neoliberalen Dominanz der letzten Jahrzehnte hat sich dieser Verteilungsschlüssel massiv zuungunsten des Faktors Arbeit entwickelt. Diese Ent-

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wicklung zu korrigieren, ist eine der wichtigsten Herausforderungen, denen die Sozialdemokratie in Europa heute gegenüber steht. Die Lohnquoten sinken Die bisherige Strategie – zu versuchen, die gravierendesten sozialen Folgen dieser Verteilungsverschiebung durch Leistungen des Sozialstaats zu kompensieren – ist dauerhaft nicht durchhaltbar. Sie droht vielmehr, sich zu einem massiven Überforderungsprogramm für den Sozialstaat auszuwachsen. Dies gilt zumal für die kommenden Jahre, wenn die Langzeitfolgen der aktuellen Wirtschafts- und Finanzkrise sich mit voller Härte in den öffentlichen Haushalten und Sozialsystemen niederschlagen werden. Aber noch ein weiterer Grund spricht dafür, diese Frage politisch sehr viel wichtiger als bisher zu nehmen: Es handelt sich hier auch um eine Frage elementarer sozialer und ökonomischer Gerechtigkeit, deren Auswirkungen und Konsequenzen weit über das Feld des Ökonomischen hinausreichen. perspektive21

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thema – neue chancen

In den letzten Jahrzehnten hat sich die Verteilung der Wertschöpfung in ganz Europa zu Lasten des Faktors Arbeit verschlechtert. Die Lohnquote – also der Anteil des Einkommens aus unselbständiger Arbeit am gesamten Volkseinkommen – ist in der Europäischen Union in den letzten 25 Jahren kontinuierlich von 72,1 Prozent auf 68,4 Prozent gefallen. Parallel hierzu hat die Zahl der arbeitenden Menschen deutlich zugenommen: Die Beschäftigungsquote stieg von 61,2 Prozent Mitte der neunziger Jahre auf heute 64,5 Prozent an. Praktisch bedeutet dies, dass eine gestiegene Anzahl von Arbeitnehmern eine relativ geringere Menge an Lohneinkommen unter sich aufteilt. Deutschland war von dieser Entwicklung nicht ausgenommen, im Gegenteil: In Deutschland ist die Arbeitseinkommensquote in den Jahren 1991 bis 2008 von etwa 80 Prozent auf etwa 73 Prozent gesunken. Die zentrale Ursache hierfür war eine Umverteilung zugunsten der Kapitalseite. In der Technokratensprache des Bundesfinanzministeriums heißt es hierzu: „Der Rückgang der Arbeitseinkommensquote ist insbesondere auf einen deutlichen Anstieg der Entlohnung des Produktionsfaktors Kapital zurück zu führen.“ Unter dieser Entwicklung haben sowohl die unteren wie die mittleren Einkommenskategorien gelitten. 34

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Die deutsche Lohnzurückhaltung der letzten Jahre hat diesen Trend noch einmal verstärkt: Die Lohnentwicklung hierzulande blieb in den letzten zehn Jahren deutlich hinter der Entwicklung in anderen Ländern Europas zurück. Im selben Zeitraum hat die Polarisierung der Einkommen erheblich zugenommen. Auch in dieser Hinsicht hat Deutschland besonders schlecht abgeschnitten: Seit 1995 hat die Lohnspreizung nur in Polen und den USA in ähnlicher Form zugenommen wie in Deutschland. Insgesamt führte diese Entwicklung zu dramatischen Verschiebungen bei der Einkommensverteilung: Von den zusätzlichen 202 Milliarden Euro, um die das Volkseinkommen Deutschlands zwischen 2001 und 2006 wuchs, gingen 85 Prozent (!) an Unternehmensund Vermögenseinkommen, und lediglich 15 Prozent an die 34 Millionen abhängig Beschäftigten unseren Landes.1 Ungleichheit wächst Die Folge dieser Umverteilung ist der deutliche Anstieg der gesellschaftlichen Ungleichheit. Auch hier war die Entwicklung in den letzten zehn Jahren in Deutschland besonders ausgeprägt. Während diese Zunahme der Ungleich1 Bontrup, Heinz, Keynes wollte den Kapitalismus retten, Friedrich-Ebert-Stiftung, Berlin, 2006


ernst hillebrand – we want our money back

heit in den USA vor allem mit einer Explosion der Spitzeneinkommen verbunden war, ist sie in Deutschland, so die International Labour Organisation, stärker als anderswo auf das Phänomen des „collapsing bottom“ zurückzuführen: der deutlichen Absinken der Löhne in den unteren Segmenten des Arbeitsmarktes.2 Wie erreicht man Gerechtigkeit? Die SPD wird – wie andere Parteien in Westeuropa auch – angesichts dieser Entwicklung noch einmal über ihr Verständnis von Gerechtigkeit nachdenken müssen. Im Verlauf der neunziger Jahre hatten sich die entsprechenden Konzepte, analog zu den Debatten in andern Ländern (vor allem in Großbritannien), immer stärker weg von Vorstellungen einer „Ergebnisgerechtigkeit“ (also einer ausgeglicheneren Einkommensverteilung) hin zur Konzentration auf eine „Chancengerechtigkeit“ entwickelt. Problematisch waren diesen Überlegungen zufolge weniger die real existierende Ungleichheit in Einkommen und Besitz, sondern vielmehr die sozial ungleich verteilten Zugangschancen zu Bildung und Ausbildung als Grundvoraussetzungen eines individuellen Leistungsaufstiegs in der neuen Welt der Wissensökonomie. Aufgabe der Sozialdemokratie ist es demnach nicht, für Outcome-Gerechtigkeit zu sorgen, son-

dern dafür, dass die Start- und Qualifizierungschancen (junger) Menschen möglichst wenig durch soziale Milieuzugehörigkeiten verzerrt werden. Die Konsequenz war eine starke Konzentration der sozial- und gerechtigkeitspolitischen Debatte auf Qualifizierungs- und Bildungsfragen und, damit verbunden, eine Tendenz zur „Pädagogisierung der Armut“ (Christoph Butterwegge).3 Der Fortbestand erheblicher gesellschaftlicher Ungleichheit wurde als gleichsam unvermeidliches Beiprodukt einer dynamischen kapitalistischen Wirtschaftsordnung akzeptiert. Die grundlegenden Ziele dieses Ansatzes – Erhöhung der Bildungschancen und Ausgleich von Milieuunterschieden im Zugang zu Ausbildung und Wissen – sind natürlich richtig und als genuin sozialdemokratische Politikziele immer relevant. Angesichts der immer stärker polarisierenden Verteilungsdynamik von Einkommen und Vermögen ist es aber ausgesprochen unwahrscheinlich, dass diese „Kulturalisierung“ der Frage sozialer Gerechtigkeit ausreichend und langfristig wirksam ist. Vermutlich ist sogar das Gegenteil richtig: Mit diesem Ansatz wurde ver2 ILO, Global Wage Report 2008/09. Minimum Wages and collective bargaining: Towards policy coherence, Genf 2009 3 Christoph Butterwegge, Bildung macht nicht reich – Kritische Anmerkungen zur Pädagogisierung der Armut, in Soziale Sicherheit, 4/2010, S. 139-142

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sucht, dass Pferd gleichsam von hinten aufzusäumen. Richard Wilkinson und Kate Pickett zeigen in „The Spirit Level – Why Equality is Better for Everyone” in welch hohem Maße Bildungsergebnisse durch die Frage der gesellschaftlichen Gleichheit determiniert werden.4 Das gute Abschneiden der relativ egalitären Gesellschaften Skandinaviens bei PISA und anderen Tests wäre demzufolge nicht zuletzt eine Folge von geringeren sozialen Unterschieden. Wachsende Einkommensungleichheit, steigende Armutsquoten und soziale Abstiegstendenzen behindern die „Chancengleichheit“ möglicherweise in einem weit höheren Maße als dies durch eine voluntaristische Bildungspolitik je kompensiert werden kann. Aber auch andere zentrale politische Probleme und Lebensqualitätsindikatoren – von der öffentlichen Sicherheit über das Niveau zwischenmenschlichen Vertrauens bis zur durchschnittlichen Lebenserwartung – sind in einem hohen Maße mit dem Niveau der Verteilungsgerechtigkeit korreliert. Eine gerechte Einkommensverteilung erscheint in diesem Lichte als der zentrale Hebel, um eine sicherere, gesündere und lebenswertere Gesellschaft zu erreichen. 4 Richard Wilkinson/ Kate Pickett, The Spirit Level. Why Equality is Better for Everyone, Penguin Books, 2010 5 Michael Dauderstädt/Ernst Hillebrand, Exporteuropameister Deutschland und die Krise, Friedrich-EbertStiftung, April 2009

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Eine Frage der Vernunft Eine Rückkehr zu einer ausgeglicheneren Einkommensverteilung ist aber nicht nur eine moralische oder sozialpolitische Notwendigkeit, sondern auch eine ökonomische. Deutschlands Wachstumsmodell der letzten Jahre war einseitig auf Exporte ausgerichtet. Der Exportanteil am BIP hat sich in den letzten 15 Jahren verdoppelt und liegt heute deutlich vor dem etwa Chinas oder Japans. Ein Großteil der Exporte geht dabei nach Europa – 80 Prozent unseres Außenhandelsüberschusses erwirtschaften wir mit den Ländern der EU.5 Dieses Wachstumsmodell führte mit einer gewissen Zwangsläufigkeit zu einer Fixierung auf die außenwirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit des „Standortes Deutschland“ und zu einer Politik der Lohnstagnation. Der Preis dieser Politik waren ein schwaches gesamtwirtschaftliches Wachstum – Deutschlands Wirtschaftswachstum lag in den letzten Jahren konstant unter dem Durchschnitt der Eurozone und betrug etwa ein Drittel des britischen und französischen Niveaus – und ein unterentwickelter Konsum der privaten Haushalte. Vieles deutet darauf hin, dass dieses Modell in den nächsten Jahren in schweres Fahrwasser kommen wird. Es ist durchaus vorstellbar, dass eine der Konsequenzen der aktuellen Krise eine


ernst hillebrand – we want our money back

gewisse „Deglobalisierung“ der Weltwirtschaft und eine stärke Autarkiepolitik der USA und der wachstumsstarken Schwellenländer sein wird. Für die Exporte Deutschlands nach Europa stehen ohnehin schwere Zeiten an: Die deutschen Exporte profitierten nicht zuletzt von einer explodierenden Verschuldung der privaten und öffentlichen Haushalte in vielen Ländern Europas. Beide – Privathaushalte und der Staat – werden in den nächsten Jahren gezwungen sein, ihre Verschuldungssituation zu konsolidieren. Der Eurozone droht ein Japan-Szenario einer lang anhaltenden Rezession mit deflationärer Entwicklung, sinkenden Löhnen und einer wachsenden Wirkungslosigkeit staatlicher Konjunkturimpulse. Es wird unter diesen Umständen immer unwahrscheinlicher, dass die europäischen Partner auf Dauer willig sein werden, die deutsche „beggar-thyself-and-thy-neighbour“-Politik und ihre Exportüberschüsse dauerhaft zu tolerieren.6 Die Bemerkungen der französischen Finanzministerin Christine Lagarde bezüglich wünschenswerter Importanstrengungen Deutschlands im März 2010 deuteten diese Entwicklung bereits an. Die Antwort auf diese Probleme wird nur in einer Dynamisierung der Nachfrage der privaten Haushalte in Deutschland liegen können. Dafür ist es aber notwendig, die Politik der Lohnstagnation zu überwinden und

den Verteilungsschlüssel von den sparorientierten Kapitaleinkommen hin zu den konsumorientierten Arbeitseinkommen zu verschieben. Dies kann nur durch eine aktive politische Intervention geschehen: Da unter den Bedingungen der Globalisierung die „spontane“ Dynamik der Einkommensverteilung in die andere Richtung geht, liegt es, so der französische Volkswirtschaftler Patrick Artus, „in der Verantwortung des Staates, für eine Verteilung zu sorgen, die Wachstum und Beschäftigung stärkt“.7 Wie vorgehen? Natürlich ist die Verteilung der Wertschöpfung zwischen Arbeitnehmern und Kapital in Marktwirtschaften ein politisch nur schwer direkt zu beeinflussendes Problem. Ordnungspolitische Überlegungen prinzipieller Art stellen dabei nur einen Aspekt dar. Wichtiger sind andere Faktoren: Globalisierung, europäische Integration, verfestigte Massenarbeitslosigkeit und Zuwanderung haben zu einer erheblichen Einschränkung der Wirksamkeit staatlicher Politiken (aber auch gewerkschaftlicher Strategien) in diesem Bereich geführt. Das Kräfteverhältnis zwi6 C. Lapavitsas/A. Kaltenbrunner et.al., Eurozone Crisis: Beggar Thyself and Thy Neighbour, Research on Money and Finance, SOAS, London, März 2010 7 Patrick Artus/Marie-Paule Virard, Pourquoi il faut partager les revenus, Edition La Découverte, Paris 2010, S. 154

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thema – neue chancen

schen Kapital und Arbeit hat sich in der Folge dieser Entwicklungen erheblich zuungunsten des Faktors Arbeit verändert. Dazu haben, wenn zum Teil auch unfreiwillig, auch die Arbeitsrechts- und Arbeitsmarktreformen seit den achtziger Jahren beigetragen, die alle anderen Aspekte dem Ziel der Schaffung von Arbeitsplätzen unterordneten. Parallel wuchs der Druck auf die Unternehmen, im Rahmen des globalisierten „shareholder capitalism“ vorzeigbare Renditen zu produzieren, erheblich an. Was man tun kann Dennoch sind Handlungsmöglichkeiten für die Politik vorhanden. Das Ziel muss es zunächst sein, die Verhandlungsposition des Faktors Arbeit wieder zu verbessern: Die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns, erweiterte Mitbestimmungsrechte der Belegschaften, Stärkung von Arbeitnehmerbeteiligungen an den Betriebsergebnissen, die Re-Regulierung von Arbeitsmärkten, die Stärkung von Arbeitnehmerrechten und Organisationsmöglichkeiten für Gewerkschaften sind hier mögliche Mittel. Andere Mittel, die dem Staat zur Verfügung stünden, sind eine offensive Lohnpolitik im öffentlichen Dienst, die Druck auf den Privatsektor schafft, eine stärkere Besteu38

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erung von Spitzeneinkommen, Boni und Erbschaften und ein offensiver Umgang mit den enorm gewachsenen Renditeerwartungen in der Privatwirtschaft: KfW-Kredite, HermesBürgschaften, öffentliche Zuschüsse und Aufträge könnten beispielsweise an Selbstverpflichtungen der Unternehmen gekoppelt werden, Mindestlohnquoten und Höchstgrenzen für Renditen zu respektieren. Es fehlt die Nachfrage Ein weiterer verteilungspolitischer Hebel wäre eine Revision der steuerpolitischen Entwicklung der letzten Jahrzehnte, die die Kosten der Finanzierung der öffentlichen Hand und der Sozialsysteme immer stärker auf den Faktor Arbeit verlagert hat. Eine stärkere Besteuerung der Kapitaleinkünfte (und eine entsprechende Entlastung des Faktors Arbeit) würde sowohl die Kaufkraft der privaten Haushalte wie die Finanzierungsgrundlage der Sozialsysteme stärken. Angesichts der weltweit vorhanden Kapitalüberschüsse, so argumentiert Patrick Artus, wäre eine solche Politik ohne Risiken für die langfristigen Investitionsperspektiven: Das Problem Europas ist nicht fehlendes Kapital, sondern fehlende Nachfrage. „Eine Steuerreform, die die Arbeitskosten dadurch senkte, dass sie die Sozialabgaben durch die Erhöhung der Besteuerung der Kapitaleinkünfte ver-


ernst hillebrand – we want our money back

ringert, wäre effizient, da sie die Nachfrage stimulieren und dadurch Arbeitsplätze schaffen würde.“8 Ziel der Politik muss es sein, die wachstumsschädliche Umverteilung von den Löhnen zu den Gewinnen der letzten Jahrzehnte zu korrigieren, die Entkoppelung von Produktivitäts- und Lohnentwicklung zu bekämpfen und 8 ebd., S. 156

den Sozialstaat von der wachsenden Subventionierung unzureichender Arbeitseinkommen zu entlasten (die Kosten für Lohnaufstockung für Niedrigverdiener in Deutschland liegen bei mittlerweile 8 Milliarden Euro jährlich). Gelänge dieses, dann hätte Deutschland einen erheblichen Schritt in Richtung Zukunftssicherheit, Stabilisierung der Sozialsysteme und sozialer Gerechtigkeit getan. n

DR. ERNST HILLEBRAND ist Direktor der Friedrich-Ebert-Stiftung in Paris. perspektive21

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Intelligente Konsolidierung EIN NEUES KONZEPT FÜR STEUERN UND ABGABEN SOLL FÜR MEHR GERECHTIGKEIT SORGEN VON HEIKO GEUE UND HUBERTUS HEIL

n ihrem spannenden Buch „Gleichheit ist Glück: Warum gerechte Gesellschaften für alle besser sind“ begründen Richard Wilkinson und Kate Pickett mit viel Empirie, warum wohlhabende Gesellschaften viel besser funktionieren, wenn mehr Gleichheit herrscht. Die von den beiden britischen Wissenschaftlern klug zusammengetragene Fülle von Daten lässt nur einen Schluss zu, der uns Sozialdemokraten nicht wirklich überrascht: Die gesellschaftlichen Kosten von immer mehr Ungleichheit sind enorm. Je größer die Ungleichheit desto größer die sozialen Probleme, desto mehr Gewalt, mehr Erkrankungen, mehr Sorgen und Ängste, weniger Vertrauen und Zufriedenheit mit der eigenen Situation. Die Liste ließe sich problemlos fortsetzen. Weltweit nimmt die soziale Ungleichheit zu. Im Jahr 2007, bis kurz vor der epochalen Finanzmarktkrise, entfielen auf die reichsten 1 Prozent der US-Amerikaner sage und schreibe 23 Prozent des US-amerikanischen Volkseinkommens. 1980 betrug dieser Anteil noch

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8 Prozent. Die CEO’s großer amerikanischer Kapitalgesellschaften erhielten (von „verdienen“ kann da keine Rede mehr sein) im gleichen Jahr ein bis zu 350 Mal höheres Einkommen als der typische Angestellte in den Unternehmen. Da ist jedes Maß und Mitte verloren gegangen. In Deutschland sind wir von solchen Einkommensungleichheiten zwar weit entfernt. Aber wenn wir bei der Begleichung der Rechnung für die Rettung von Banken, Unternehmen, Staaten und des Euro nicht aufpassen, riskieren wir, dass auch in unserem Land die Einkommensschere immer weiter aufgeht und unsere Gesellschaft immer ungerechter und instabiler wird. Die Mitte entlasten Wie aber kann gerechte Konsolidierung gehen? Sicher nicht so, wie es die Bundesregierung plant: Mit Kürzungen bei den Langzeitarbeitlosen und den Familien, ohne Belastungen der oberen Einkommensetagen. Gerade in Konsolidierungszeiten ist es notwendiger denn je, perspektive21

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thema – neue chancen

durch eine intelligente Umgestaltung des Steuer- und Abgabensystems mehr Gerechtigkeit und Wirtschaftswachstum zu erreichen. Dazu haben wir einige Ideen entwickelt, die wir hier vorstellen wollen. Unser Ziel ist es, zu konsolidieren und dabei gleichzeitig die Menschen bis weit in die Mitte der Gesellschaft hinein zumindest moderat zu entlasten. Finanzmärkte fair besteuern Erstens. Aus unserer Sicht fängt gerechte Konsolidierung bei denen an, die uns allen die Finanzmarktkrise eingebrockt haben. Deswegen wollen wir eine faire internationale Finanztransaktionssteuer mindestens europaweit, besser weltweit einführen. Nach Berechnungen des renommierten WIFO-Instituts in Wien könnte eine weltweite Finanztransaktionssteuer in der minimalen Höhe von 0,05 Prozent auf alle Transaktionen Einnahmen von 0,6 Prozent bis knapp 1,4 Prozent des nominellen Bruttoinlandsprodukts für Deutschland ergeben. Selbst wenn die Steuer nur europaweit käme, könnten nach Schätzungen für Deutschland so Einnahmen in Höhe von 10 bis 20 Milliarden Euro pro Jahr erzielt werden. Diese Steuer wird vor allem von denjenigen getragen, die täglich sehr viele Transaktionen auf den Finanzmärkten durchführen – in erster Linie also von den Investmentbanken, die die Epochen42

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krise ausgelöst haben und die ihren Bankern schon wieder Boni in Millionenhöhe zahlen. Progressive Sozialabgaben Zweitens. Am anderen Ende der Einkommensskala stehen die vielen, hart arbeitenden Menschen, die für ihre ehrliche Arbeit einen so niedrigen Lohn erhalten, dass sie ihn bei der Bundesagentur für Arbeit aufstocken müssen. Lohndumping schwächt nicht nur die Binnennachfrage, sondern ist auch unwürdig für die Betroffenen, die ergänzende Sozialleistungen beantragen müssen, obwohl sie hart arbeiten. Deswegen muss gerechte Konsolidierung aus unserer Sicht auch für richtige Rahmenbedingungen auf den Arbeitsmärkten sorgen. Ein gesetzlicher Mindestlohn, der jährlich Aufstocker-Leistungen in Höhe von 1,5 Milliarden Euro erspart, ist ein Gebot der Fairness und eine unabdingbare Grundlage für erfolgreiche Konsolidierung. Gleiches gilt für die Leiharbeit: Die hier Beschäftigten müssen nach einer Einarbeitungszeit den gleichen Lohn bekommen wie die Stammbelegschaft. Nur so kann wirkungsvoll verhindert werden, dass notwendige Arbeitsmarktflexibilität auf dem Rücken der Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter ausgetragen wird und die strukturellen Ungleichgewichte in der deutschen Volkswirtschaft den Erfolg der Konsolidierungspolitik gefährden.


heiko geue und hubertus heil – intelligente konsolidierung

Drittens. Gerade wer wenig verdient, zahlt zwar keine oder kaum Einkommensteuern, spürt dafür die Belastung mit Sozialabgaben besonders. Bei der Einkommensteuer gibt es einen Freibetrag, einen niedrigen Eingangssteuersatz und eine moderate Progression. Das stärkt die Konsumkraft von Geringverdienern, da die Steuerbelastung erst parallel zur steuerlichen Leistungsfähigkeit steigt. So zahlen beispielsweise Familien mit zwei Kindern bis fast 40.000 Euro Jahreseinkommen keine Einkommenssteuern, wenn man ihr Kindergeld gegen rechnet. Das alles ist bei den Sozialabgaben anders. Hier gilt bereits ab einem Monatseinkommen von 800 Euro, dass Arbeitgeber und Arbeitnehmer auf jeden verdienten Euro die volle Summe von rund 40 Prozent Abgaben (für Renten-, gesetzliche Kranken, Pflegeund Arbeitslosenversicherung) bezahlen müssen. Das schwächt Kaufkraft und zieht die Binnennachfrage wie einen Stein nach unten. Deswegen wollen wir das ändern. Kaufkraft stärken Wir verfolgen die Idee, eine Progression auch im Bereich der Sozialabgaben einzuführen. Dies sollte aber nur auf der Arbeitnehmerseite und nur in dem Einkommensbereich von 400 Euro bis 1.500 Euro Monatseinkommen geschehen (die Minijob-Regelung wollen wir

nicht antasten). Um Missbrauch zu verhindern, sollte diese Regelung für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gelten, die eine noch festzulegende Mindestanzahl an Wochenstunden arbeiten. Wichtig ist uns, dass die volle Absicherung in den Sozialversicherungen erhalten bleiben soll. Die Konzentration der Abgabenentlastung auf den unteren Einkommensbereich ermöglicht eine Finanzierung aus Steuermitteln ohne Leistungseinschränkungen bei den Sozialversicherungen und stärkt die Kaufkraft gerade derjenigen, die über ihre hohe Konsumquote die Binnennachfrage stützen. Keine neuen Schulden Wichtig ist uns, dass progressive Sozialabgaben solide finanziert werden. Weder der Staat noch die Sozialversicherungen sollten deswegen neue Schulden machen müssen. Deshalb schlagen wir zur Gegenfinanzierung vor, die Abgeltungssteuer auf Kapitaleinkünfte in einem vertretbaren Ausmaß von 25 Prozent auf 33 Prozent anzuheben. Eine Erhöhung der Abgeltungssteuer belastet die Binnennachfrage kaum, weil die Steuer weitestgehend von denjenigen getragen wird, die eine sehr hohe Sparquote haben – teilweise von über 20 Prozent. Wenn die hohen Einkommensbezieher wegen der Steuer weniger sparen können, Normalund Niedrigverdiener aber weniger Soperspektive21

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zialabgaben zahlen müssen, steigt die nachfragewirksame Kaufkraft. Das trägt dazu bei, die gefährlichen Schieflagen in der deutschen Volkswirtschaft zu beseitigen und das Wachstum zu stärken. Höher und später Viertens. Neben der Progression der Sozialabgaben wollen wir die Belastung durch die Einkommensteuer so umgestalten, dass die Mittelschichten moderat entlastet werden, damit sie mit ihrer Konsumkraft die Binnennachfrage stärken und somit für mehr Wirtschaftswachstum sorgen können. Die gegenwärtige Ausgestaltung des Einkommensteuertarifs trägt zwei Gerechtigkeitsprobleme in sich: Der zu niedrige Spitzensteuersatz von 42 Prozent greift zu früh bereits ab einem Jahreseinkommen von 52.882 Prozent. Dadurch werden mittlere Einkommen überproportional stark belastet und der Spitzensteuersatz trifft auch Menschen, die tatsächlich keine Spitzenverdiener sind. Beides wollen wir ändern. Unsere Lösung liegt in einer aufkommensneutralen Reform des Steuertarifs: Wir wollen den Spitzensteuersatz auf 50 Prozent erhöhen, dafür aber deutlich später greifen lassen, erst ab einem individuellen Jahreseinkommen von 85.000 Euro, statt bisher bei knapp 53.000 Euro. Diese Reform ermöglicht es uns auch, das Steuerrecht durch die Integration der so genannten Reichensteuer in den 44

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Steuertarif zu vereinfachen, ohne neue Ungerechtigkeiten zu schaffen. Mit dieser Reform würden wir die arbeitende Mitte der Gesellschaft ab einem individuellen Jahreseinkommen von 13.500 Euro entlasten. Ab diesem Einkommen steigt die Entlastung an und erreicht mit rund 900 Euro im Jahr bei einem Jahreseinkommen von rund 62.000 Euro ihren Höhepunkt. Auf der anderen Seite erhöht sich der Spitzensteuersatz für echte Spitzenverdiener ab einem individuellen Jahreseinkommen von 85.000 Euro auf 50 Prozent. Für Personenunternehmen bedeutet die Reform keine Steuererhöhung, da die im Rahmen der Unternehmensteuerreform eingeführte Thesaurierungsrücklage weiterhin gelten soll und von den Unternehmen genutzt werden kann. Ein handlungsfähiger Staat Fünftens. Gerechte Konsolidierung verbindet im Kern die Belastung von Investmentbanken und echten Spitzenverdienern mit einer Entlastung von normalen Sozialabgaben- und Steuerzahlern. Die Korrektur der Klientelgeschenke im Rahmen des so genannten Wachstumsbeschleunigungsgesetztes brächte zudem Mehreinnahmen für die öffentliche Hand von über 5 Milliarden Euro – ohne volkswirtschaftlich negative Effekte. Insgesamt sind so nicht nur Konsoli-


heiko geue und hubertus heil – intelligente konsolidierung

dierungsvolumina von 17 bis 27 Milliarden Euro pro Jahr erreichbar. Hier handelt es sich um eine intelligente Konsolidierung, die auf mehr Gerechtigkeit und auf mehr Gleichheit setzt, ohne dabei die Mittelschichten zu belasten, sondern im Gegenteil moderat sogar zu entlasten. Eine solche Konsolidierung hätte auch den Vorteil, dass der innere Zusammenhalt unserer Gesellschaft gestärkt und das bedrohliche Problem der ökonomischen Ungleich-

gewichte über eine Stärkung der Binnennachfrage angegangen würde. Das sind die Ziele, die wir mit unseren nicht abschließenden Anstrichen verfolgen. Wir sind sicher, dass weitere Ideen hinzukommen werden und müssen, um ein umfassendes sozialdemokratisches Konsolidierungskonzept zu erarbeiten. Wichtig ist: Es gibt Alternativen zur Regierungspolitik, die sowohl gerechter als auch wirtschaftlich sinnvoller sind. n

HUBERTUS HEIL

ist stellvertretender Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion. DR. HEIKO GEUE ist Unterabteilungsleiter im Bundesfinanzministerium. Der Autor vertritt in diesem Beitrag ausschließlich seine persönliche Auffassung. perspektive21

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Die Linke in der Krise des Neoliberalismus EIN ALTERNATIVES KONZEPT MIT REALISTISCHER MACHTOPTION? VON MICHAEL BRIE

I.

DER KRISE ERSTER AKT: DIE STUNDE

DER HERRSCHENDEN. »Die Krise«, so Max Frisch, „ist ein produktiver Zustand. Man muss ihr nur den Beigeschmack der Katastrophe nehmen.“ Dieses „nur“ ist Krisenkunst. Sie so zu beherrschen, dass Krisen nicht zur Katastrophe für die Schwächeren in der Gesellschaft werden, ist linke Krisenkunst. Das erste Paradoxon dieser Krise war die Fähigkeit der Herrschenden dafür zu sorgen, dass diese Krise nicht zur Krise ihrer Vormacht wurde. Dazu wurden fast alle neoliberalen Vorurteile einfach über Bord geworfen. Verstaatlichung, Beschränkung von Managergehältern, Verbote, Gebote, gigantische staatliche Programme, eine ungeheure Welle neuer Verschuldung waren plötzlich eine Selbstverständlichkeit. Pragmatische Machtsicherung siegte über die Dogmen. Die sorgsam verdeckte enge Verbindung von neoliberaler Marktradikalität und Staat wurde offenbar. War der Staat über dreißig Jahre lang die aktivste Kraft von Privatisierung, Deregulierung, sozialer

Entsicherung, Öffnung der Märkte und Umbau der Sozialsysteme hin zu Standortwettbewerb und Verwertungsdruck, so wurde er jetzt über Nacht als Garant der Stabilität dieses Kapitalismus eingesetzt. Der Run auf die Autohäuser Das zweite Paradoxon ist die Tatsache, dass die Linke in der schwersten Krise des Kapitalismus seit achtzig Jahren selbst in der Krise ist. Zumindest in den USA und auch Europa ist nicht sie es, die die Agenda bestimmt. Teilweise konnten die gewerkschaftliche, die soziale oder die politische Linke Zugeständnisse erwirken, konnten sie soziale und ökologische Elemente in die Krisenprogramme einbringen. Der Preis aber war die Einbindung der Linken in weitgehend strukturkonservative Antworten. Die gemeinsam durch IG Metall, Arbeitgeber und Regierung in Deutschland ausgehandelte Abwrackprämie, ist ein Beispiel für eine strukturkonservative Antwort auf sinkende Nachfrage und drohende perspektive21

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Betriebsschließungen. Die größte Massenbewegung der Bürgerinnen und Bürger der Bundesrepublik war nicht etwa die Demonstration „Wir zahlen nicht für Eure Krise!“ im März 2010, sondern der zeitgleiche millionenfache Run auf die Autohäuser, um die 2.500 Euro mitzunehmen. Eine kleine Delle Dieses doppelte Paradoxon einer handlungsfähigen Elite und fragmentierten Linken hat den ersten Akt des Dramas der Krise ausgemacht. Es handelt sich jedoch nicht nur um eine konjunkturelle Krise, nicht um eine kleine Delle im ungebrochenen Aufstieg des neoliberalen Finanzmarkt-Kapitalismus. Es ist eine strukturelle und organische Krise, die sich mit einer ganzen Kette von Krisen der globalen Zivilisation (Klima, Ernährung, Rohstoffsicherung) verbindet. Die Akteure des Krisendramas sind im zweiten Akt deshalb vor eine neue Situation gestellt. In den Jahren 2008 und 2009 war das eklektische Nebeneinander gegensätzlicher Maßnahmen ein beeindruckendes Rezept der Herrschenden, um die Kontrolle nicht zu verlieren. Monetarismus und Keynesianismus, europäische Rettungsschirme und Wettbewerbsstaaten, Green New Deal und Abwrackprämie, Schuldenbremse und Konjunkturprogramme, Lohn48

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zurückhaltung und Steuergeschenke, subventionierte Kurzarbeit und Investitionsspritzen, sektorale Mindestlöhne und stagnierende Renten wurden zugleich realisiert. Es wurde ein Block geschmiedet von exportorientierten Großunternehmen und Banken, zentralen Gruppen der organisierten Lohnarbeiterschaft und breiteren Mittelschichten, der unter Inkaufnahme von enorm wachsender Staatsverschuldung und sehr gegensätzlichen Politikansätzen zusammengehalten wurde. Die Basis dafür war schon nach den Wahlniederlagen der Sozialdemokratie und der allgemeinen Diskreditierung neoliberaler Politik spätestens seit Mitte des vergangenen Jahrzehnts gelegt worden. Was aus stolzen Herren wurde Die Kraft, in verschiedene Richtungen zugleich zu gehen, nimmt jedoch ab. Die jetzige Krisenkoalition basiert nicht auf einem produktiven Akkumulationsregime, die benutzten Regulationsweisen sind völlig gegensätzlich, die Interessen divergieren und die Ressourcen, um Konsens zu erkaufen, werden mit jeder neuen Krise weiter verheizt. Aus den stolzen Herren der Krise sind jämmerliche Knechte des eigenen Krisenmanagements geworden. Ein Weiter-So scheint immer unwahrscheinlicher.


michael brie – die linke in der krise des neoliberalismus

II.

DER KRISE ZWEITER AKT: EIN WEITER-SO WIRD UNMÖGLICH.

Der zweite Akt ist die 2010 eingetretene Krise in der Krise. Es wird immer deutlicher, dass die Rettung des Finanzmarkt-Kapitalismus zu neuen und noch tieferen Erschütterungen führt. Die Herrschenden haben mit ungeheurem Aufwand und beträchtlichem Geschick zwar die Symptome der Krise bearbeitet, zugleich sind sie aber die Ursachen in keiner Weise angegangen. Schlimmer noch: Sie haben zugelassen, dass die Krise neue Kraft gewinnt, und zugleich haben sie die Staaten als letzte Garanten der Stabilität geschwächt und in eine noch tiefere Verschuldung getrieben. Was im ersten Akt als Großtat der Rettung erschien, wird jetzt bei den Bemühungen, die europäische Währungsunion zu bewahren, ohne sie grundsätzlich zu reformieren, zur Farce. Die Krisen des Jahres 2010 in Europa haben vor allem die Wahrnehmung der Situation geändert: Es ist unübersehbar geworden, dass auf der Geschäftsgrundlage neoliberaler Politik in absehbarer Zeit keine Besserung zu erwarten ist. Die Rezepte der herrschenden Politik gegen die Pest der Krise sind wie die Cholera. Aus der Wirtschafts- und Finanzkrise ist nun eine Krise der Staaten und der Europäischen Union geworden. Der lender of last resort, die Staaten, sind selbst gefährdet – finanziell, wirtschaftlich,

sozial und letztlich auch politisch. Es wird immer schwieriger, die gegensätzlichen Interessen zu befriedigen. Damit zerbricht aber die Koalition von Kräften, die die Stabilität in der ersten Phase der Krise gesichert hatten. Es kommt zur Krise in der Krise. Der Kampf um Hegemonie läuft Zwei Szenarien sind in Deutschland relativ wahrscheinlich. Einerseits kann nicht ganz ausgeschlossen werden, dass es dem herrschenden Block auf einige Zeit gelingt, für zwei oder drei Jahre, die Krisenkoalition zusammenzuhalten. Die Reserven dafür sind noch nicht völlig aufgebraucht und es hat sich bisher auch keine Alternative formiert. Andererseits können jähe Wendungen nicht mehr länger ausgeschlossen werden. Die Instabilität ist so groß geworden, dass ein schneller Wechsel der Politik seitens bestimmter Machtgruppen und eine Neuausrichtung immer wahrscheinlicher werden. Weitere Schocks können das Gebäude politischer Stabilität zum Einsturz bringen. Dieser zweite Akt der Krise wird seine Zeit brauchen. Und verschiedene Akteure werden diese Zeit zu nutzen versuchen, um sich als Alternative aufzubauen. Dies betrifft die Konservativen genauso wie die Linken. Der Kampf um die Hegemonie ist voll entbrannt und er ist offen. In der so genannten „politiperspektive21

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schen Mitte“ wird es einsam werden. Es wird schwer und schwerer, das Unvereinbare zu vereinbaren. Die Fragen spitzen sich zu und immer weniger kann einer Antwort ausgewichen werden: n

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Die extreme Vermögensakkumulation muss beendet werden. Die Ansprüche jener, die übermäßige und parasitäre Gewinne angehäuft haben, sind abzubauen. Die Frage ist nur, ob dies über eine Inflation erfolgt, die alle und vor allem die Schwächeren der Gesellschaft trifft, oder vor allem die wenigen Privilegierten über Vermögensabgaben, Millionärssteuern und Entschuldung von Staaten. Die Handlungsfähigkeit der Staaten muss wieder hergestellt werden. Wird dazu der Weg des Schuldenabbaus durch Sozialkürzungen gegangen? Oder wird ein anderer Entwicklungspfad eingeschlagen, der die Produktions- und Lebensweise ökologisch umbaut und anstelle der Güterproduktion die „Reproduktionsarbeit“ (Bildung, Gesundheit, Pflege, Kultur) – schon heute die größten Sektoren der Wirtschaft – ins Zentrum rückt? Nicht Vernichtung von Ressourcen, sondern die Erschließung neuer anderer Ressourcen von Entwicklung stände im Vordergrund. Der Umbau aber wäre nur möglich, wenn eine längere Phase sogar erhöhter Verschuldung in Kauf genommen würde. juli 2010 – heft 45

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Wird jeder versuchen, auf Kosten der anderen aus der Krise gestärkt herauszukommen oder gibt es grundlegende Veränderungen der Kooperation? Wird Deutschland die Politik von Lohnzurückhaltung und aggressiver Exportsteigerung fortsetzen oder auf eine balancierte Entwicklung in der EU und global setzen? Wird eine neue Runde des Standortwettbewerbs durch Steuersenkungen und niedrigere Sozialausgaben in der Europäischen Union entfacht oder wird zu einer Sozialunion übergegangen? Entwicklungshilfe und Klimapolitik sind die ersten Opfer der Krise. Wird nun diese Politik fortgesetzt, wird der ökologische Umbau weiter hinausgeschoben, bleibt globale Solidarität eine bloße Phrase. Oder wird die Krise als Chance begriffen, endlich gemeinsam die Zivilisationskrise zu bewältigen? Dies aber ist auch eine Alternative zwischen imperialen Kriegen und Terror einerseits und Frieden und gemeinsamer Sicherheit andererseits.

III.

DER KRISE DRITTER AKT: DER AUFBAU VON ALTERNATIVEN.

Der dritte Akt der Krise, die Stunde, da sich die Akteure entscheiden müssen für eine der beiden Seiten, wird kommen. Angesichts des enormen Zeitdrucks der globalen Zivilisationsprobleme und der Sprengkraft der angehäuften Ungleichgewichte des


michael brie – die linke in der krise des neoliberalismus

Finanzmarkt-Kapitalismus wird viel, sehr viel davon abhängen, wer dann den Zeitgeist bestimmt. Gegen-Hegemonie hat drei entscheidende Bedingungen: neue Bündnisse, transformatorische Projekte, kooperationsfähige linke Kräfte und eine realistische Machtoption. NEUE BÜNDNISSE. Gegen-Hegemoniale Politik beruht auf Interessenbündnissen, die sehr unterschiedliche Kräfte einbeziehen: die Beschäftigten in den deutschen Exportindustrien und in den binnenmarktorientierten Bereichen, vor allem auch der Dienstleistungen; Partnerschaften mit Kindern und Kinderlosen, Jüngeren und Älteren; Menschen in hochtechnologischen Ballungsgebieten und abgehängten Regionen; Arbeitslose, Marginalisierte, den Kerngruppen in der Industrie und im Dienstleistungsgewerbe und den höher qualifizierten Mittelschichten; öffentlicher und privater Dienst usw. usf. Diese Spaltung trifft auch linksaffine Gruppen. Wie Ernst Hillebrand feststellt, hat die jüngere Entwicklung „Lebens- und Entfaltungschancen von Menschen unterschiedlich betroffen und zu einer neuen Spaltung der Gesellschaft in ‚kosmopolitische‘ Entgrenzungsbefürworter und ‚kommuntaristische‘ Entgrenzungsskeptiker geführt, die mitten durch die Wählerbasis der linken Mitte geht … Hinzu kommt eine durch die Zuwanderung in den

letzten Jahrzehnten exponentiell gestiegene ethnische, kulturelle und religiöse Vielfalt, die hochgradig unterschiedliche Werte, Verhaltensnormen und Sozialisationsprägungen in den westlichen Gesellschaften alltagswirksam werden lässt.“ Vereinzelt wird jede dieser Gruppen strukturkonservativ um die Verbesserung seiner eigenen Lage kämpfen. Dies kann spalten und lässt1 zudem die Herrschenden als einzige innovative Kraft der Modernisierung erscheinen. Diese Situation einer strukturkonservativen Vereinzelung defensiver Kämpfe kann nur dann überwunden werden, wenn es eine gemeinsame Zielperspektive gibt, die allen gemeinsam bessere Chancen gibt – sei es höhere soziale Sicherheit, seien es neue Entwicklungschancen, sei es sozialer Aufstieg. Im Folgenden soll ganz kurz auf einige dieser Ansätze eingegangen werden. Sie sind nicht repräsentativ für das Ganze der Linken, aber sie verweisen auf neue Entwicklungen, die sich von denen nach 2005 deutlich unterscheiden. Der Anlass für diese Konzepte waren die Bundestagswahlen 2009 und das Bemühen, alternative Positionen in die Diskussion zu bringen.

TRANSFORMATORISCHE PROJEKTE.

1 Ernst Hillebrand, Eine Gesellschaft selbstbestimmter Bürger. Konturen eines sozialdemokratischen Projekts für das 21. Jahrhundert. FES 2009, S. 4

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Erstens entstand das Konzept eines „guten Kapitalismus“ eines globalen und europäischen Keynesianismus. Das Konzept ruht auf vier Säulen: n

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Strikte Regulierung des Finanzsystems: mehrgliedriges Banksystem mit starkem öffentlichen Sektor, enge Regeln zum Eigenkapital, antizyklische Finanzmarktregulierung, umfassende Transparenz und Aufsicht, Schaffung staatlicher Ratingagenturen, Kapitalverkehrskontrolle, Überwindung des Primats der Shareholder in der Unternehmensführung neue Lohn- und Arbeitsmarktpolitik: Orientierung der Lohnentwicklung an der gesamtwirtschaftlichen Produktivität und Inflationsausgleich, Einführung von einheitlichen gesetzlichen Mindestlöhnen (auch europäisch) und Stärkung des Flächentarifvertrags durch Zwangsmitgliedschaft der Unternehmen in den Verbänden und generelle Allgemeinverbindlichkeit der Verträge, Stärkung der Mitbestimmung, koordinierte europäische Lohnpolitik und Europäisierung des Systems der Tarifverhandlungen Stärkung der öffentlichen Haushalte: Universalisierung der sozialen Sicherungssysteme, Koordination der europäischen Steuer- und Finanzpolitik, Abbau von Leistungsbilanzungleichgewichten und verstärkter Finanzausgleich in der EU juli 2010 – heft 45

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eine neue globale Finanz- und Wirtschaftsordnung: stabilere Wechselkurse und Schritte hin zu einem „Weltgeld“ durch die Sonderziehungsrechte des IWF, Koordination der Wirtschaftspolitik und internationale Aufsicht der Finanzmärkte, globale Förderung der Bereitstellung internationaler öffentlicher Güter.2

Zweitens wurde durch die Friedrich-Ebert-Stiftung noch vor den Bundestagswahlen das Konzept „Deutschland 2020“ entwickelt. Grundlage ist der Ansatz des „sozialen Wachstums“, das der neoliberalen Wachstumspolitik gegenübergestellt wird und Nachhaltigkeit und Gerechtigkeit miteinander verbinden soll. Nachfragesicherung und Produktivitätssteigerung stehen im Zentrum, aber sie sollen völlig neu gestaltet werden. Auch dieses Modell ruht auf vier Säulen: n

Steigerung der Produktivität durch Investitionen in Bildung, flächendeckende und entgeltfrei angebotene qualifizierte Kinderbetreuung, besondere Förderung von Menschen mit Migrationshintergrund, überdurchschnittliche öffentliche Investitionen

2 Sebastian Dullien/Hansjörg Herr/Christian Kellermann, Der gute Kapitalismus... und was sich dafür nach der Krise ändern müsste, Bielefeld 2009


michael brie – die linke in der krise des neoliberalismus

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Erhöhung der Beschäftigung durch den massiven Ausbau eines starken öffentlichen und privaten Dienstleistungssektors mit hoher Qualifikation insbesondere in den Bereichen Bildung und Gesundheit, aktive Arbeitsmarktpolitik und Schritte zur besseren Vereinbarkeit von Beruf und Familie Sicherung der Binnennachfrage durch eine gerechtere Einkommensverteilung und eine expansive Geldpolitik der EZB sowie eine europäische koordinierte Steuer- und Lohnpolitik Verbesserung der Verteilung durch Teilhabe der Löhne entsprechend des Produktivitätsfortschritts und wachsende Lohnquote auf der Basis von hoher Beschäftigung, angemessenen Mindestlöhnen und einer steuerlichen Entlastung der unteren Einkommen.3

Drittens legte die IG Metall im März 2009 ihren Aktionsplan „Aktiv aus der Krise. Gemeinsam für ein gutes Leben“ vor. Dieser Plan versucht, die Verteidigung bedrohter Arbeitsplätze und Unternehmen mit der Transformation der volkswirtschaftlichen Strukturen und dem Ausbau der Wirtschaftsdemokratie zu verbinden und zur Finanzierung vor allem die großen Vermögen heranzuziehen. Die Unterstützung der Unternehmen in der Realwirtschaft soll nicht durch Kredite, son-

dern in Form von öffentlichen Beteiligungsfonds (public equity) erfolgen. Dazu soll öffentliches Beteiligungskapital in Höhe von 100 Milliarden Euro bereitgestellt werden. Die Finanzierung sollte über eine obligatorische Zukunftsanaleihe auf Geld- und Immobilienvermögen oberhalb der Freigrenze von 750.000 Euro erfolgen. Verstärkte betriebliche Mitbestimmung, aktive europäische, bundesdeutsche und regionale Strukturpolitik unter Nutzung der Rechte, die mit diesen Beteiligungsfonds einhergehen, deutliche Orientierung auf neue Wertschöpfungsketten, die mit den Erfordernissen des ökologischen Umbaus und der Wissensgesellschaft kompatibel sind, stellen Elemente dieses Konzepts dar. Die auch in anderen Ansätzen vertretenen Vorschläge zur Regulierung der Finanzmärkte sind aufgenommen. Die Bedeutung dieses Konzepts liegt vor allem darin, dass ein Vertreter einer sehr spezifischen Gruppe (Arbeitnehmer im Bereich der Metall-Elektro-, TextilBekleidung-, Holz-Kunststoff- sowie der Informations- und Kommunikationstechnologiebranchen) deren besondere Interessen in ein breiteres Umbauprojekt zu einem neuen sozialökonomischen Entwicklungsmodell gefügt hat und damit tatsächlich um Hegemoniefähigkeit bemüht ist. 3 Eine soziale Zukunft für Deutschland. Strategische Optionen für mehr Wohlstand für alle. Wiso Diskurs der FES, Februar 2009

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Viertens: Die Partei Bündnis 90/Die Grünen beschloss im Mai 2009 ein Bundeswahlprogramm, das unter dem Leitbild eines Grünen Neuen Gesellschaftsvertrags mit den Stichworten „Klima – Arbeit – Gerechtigkeit – Freiheit“ steht. Damit werden Lehren aus der Abwahl der Regierung Schröder/Fischer 2005 gezogen und der Versuch unternommen, die ökologische und die soziale Frage organisch zu verbinden und einen Gesellschaftsvertrag zu skizzieren, der wichtige soziale Gruppen der Arbeitnehmer, des Bereichs der qualifizierten Dienstleistungen, des kleinen und mittleren Unternehmertums und kreativer Selbständiger im Green New Deal für neue Arbeit und Innovation zusammenzuführen. Breite Unterstützung Im Zentrum stehen die Schaffung neuer Arbeitsplätze durch eine ökologische Modernisierung, Bildungsinvestitionen, Ausbau des Gesundheitssystems und einer öffentlich geförderten Beschäftigung. Auch sie setzen sich für die direkte Beteiligung der öffentlichen Hand bei der Stützung bedrohter Unternehmen ein und wollen das gesamte Banksystem am Gemeinwohl ausrichten und insbesondere die Sparkassen stärken. Die höheren Einkommen und großen Vermögen sollen höher belastet wer54

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den. Die Steuerlast soll vom Faktor Arbeit hin zum Faktor Umwelt verlagert werden. Fünftens bildete sich Ende 2008 ein gemeinsames Bündnis „Wir zahlen nicht für Eure Krise“ und rief zu Demonstrationen gegen den Kurs der Bundesregierung auf. Der Aufruf wurde u. a. unterstützt von dem Aktionsbündnis Sozialproteste, Attac Deutschland, dem Bundesverband der Migrantinnen in Deutschland, den Euromärschen, Gruppen der GEW und von Ver.di, Kairos Euro, der Partei Die Linke, dem Zukunftsforum Gewerkschaften Stuttgart. Als grundsätzliches Ziel wurde der Schutz der Opfer der Krise in Verbindung mit dem „ökologischen und demokratischen Umbau der Wirtschaft … als Schritte auf dem Weg in eine solidarische Gesellschaft“ genannt. Deren wichtigsten Punkte waren: n

n

n

ein umfangreiches Investitionsprogramm in Bildung, Umweltund Klimaschutz, die öffentliche Infrastruktur und die Gesundheitsvorsorge, ein sozialer Schutzschirm mit armutsfesten gesetzlichen Mindestlöhnen und Renten, Arbeitszeitverkürzung, Abschaffung der Rente mit 67, eine Sonderabgabe auf große Vermögen und die Millionärssteuer,


michael brie – die linke in der krise des neoliberalismus

n

n

Schritte hin zu einer Wirtschaftsdemokratie bis hin zum Vetorecht der Beschäftigten bei wichtigen Entscheidungen und dem politischen Streikrecht, die gesellschaftliche Kontrolle der Banken und des globalen Finanzsystems sowie die Bereitstellung von Ressourcen für Klimaschutz, Bekämpfung der Armut und solidarische globale Entwicklung.

von 100 Milliarden Euro geplant, der den sozialökologischen Umbau fördern soll. Primat hat die Ausweitung öffentlicher und öffentlich geförderter Beschäftigung. Die gemeinsamen Eckpunkte dieser und anderer Konzepte linker Kräfte in Deutschland sind (wenn auch mit unterschiedlicher Gewichtung): n

Sechstens stelle das Programm der Partei Die Linke zur Bundestagswahl 2009 drei Antworten auf die Krise ins Zentrum: n

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n

mit einem Zukunftsfonds Arbeitsplätze sichern und mit einem öffentlichen Investitionsprogramm neue Arbeitsplätze schaffen, die sozialen Sicherungssysteme wieder befestigen und das öffentliche Eigentum stärken, eine Millionärssteuer einführen, die Banken vergesellschaften und staatliche Hilfen nur im Tausch gegen entsprechende Eigentumsanteile und Entscheidungsrechte der öffentlichen Hand und Belegschaften vergeben. Das Investitionsprogramm soll für Bildung, Klimaschutz, Verkehr, Gesundheit und eine Energiewende verwendet werden. Darüber hinaus ist ein Zukunftsfonds für eine nachhaltige Wirtschaft in der Größenordnung

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n

die Zentralität des sozialökologischen Umbaus, der Ausbau eines stark öffentlich geförderten und hochqualifizierten Dienstleistungssektors auf den Gebieten Bildung und Gesundheit sowie Pflege, die Stärkung der Mitbestimmungsrechte von Staat und Belegschaften in der Wirtschaft (Wirtschaftsdemokratie), die strikte Regulierung der Finanzmärkte, ihre Unterordnung unter die Realwirtschaft und die Stärkung öffentlicher Finanzinstitutionen, die Orientierung auf die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im industriellen und vor allem auch Dienstleistungssektor sowie auf schwächere soziale Gruppen (Jugendliche, Arbeitslose, Rentnerinnen und Rentner sowie Menschen mit migrantischem Hintergrund) sowie Sektoren einer ökologischen Transformation und der Wissensgesellschaft. perspektive21

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thema – neue chancen

IV.

KOOPERATIONSFÄHIGE LINKE AKTEURE UND EINE REALISTISCHE

Die gewerkschaftlichen, sozialen und politischen Kräfte sind auf die Doppelstrategie von dosiertem Konflikt und Kooperation mit den Herrschenden angewiesen, solange keine andere Option erkennbar ist. Protest und Arrangement bis hin zur Ein- und Unterordnung sind unvermeidlich, wenn kein Richtungswechsel möglich scheint. Radikalismus und Realpolitik fallen auseinander. Ein und dieselben Organisationen verfolgen auf fast schizophrene Weise gegensätzliche Ansätze. Die Mobilisierung von unten stößt auf enge Grenzen jenseits einmaliger Aktionen wie der Anti-Hartz-IVDemonstrationen oder des G8-Protests.

MACHTOPTION.

Es braucht Ideen und Macht Jenseits der überschaubaren Milieus von Überzeugungsaktivisten, die durch eine hohe interne Gruppendynamik zusammen gehalten werden, ist die Bereitschaft zu öffentlichem Handeln an kurzfristige Empörung und erkennbare Erfolgschancen gebunden. Das in Deutschland vorhandene Potential der Ablehnung neoliberaler Politik wird auch deshalb nur begrenzt freigesetzt, weil hier die Traditionen des öffentlichen Protests besonders schwach ausgeprägt sind und kaum positive Erfahrungen bestehen. Der „Marsch 56

juli 2010 – heft 45

durch die Institutionen“ ist hier der Hauptweg politischer Veränderung und hat sich zugleich immer wieder als Sackgasse erwiesen. Außerparlamentarischer Protest wird erst dann wirkungsvoll, wenn er die Bedingungen der Akteure innerhalb des politischen Systems verändert und sei es als glaubwürdige Drohung der Stärkung von Konkurrenten bzw. der Abwahl. Es gibt deshalb überhaupt nicht die Alternative des EntwederOder, außerparlamentarisch oder parlamentarisch, sondern nur die Frage der Gestaltung des Wie im Zusammenwirken eines Und. Wie Albrecht von Lucke formuliert: „Denn eines steht fest: Ohne gestalterische Perspektive – was in letzter Konsequenz auch Regierungsorientierung bedeutet – verfängt bei eigentlich sympathisierenden Wählern und potentiellen Koalitionspartnern sehr schnell die ‚Verlockung der Macht‘ … Ohne die Verbindung von politischer Idee und konkreter Machtoption droht der linken Strömung die politische Bedeutungslosigkeit in Folge struktureller Regierungsunfähigkeit. Damit fände das sozialdemokratische Jahrhundert endgültig sein Ende.“4 Gerade erst sind die Sondierungsgespräche von SPD, Grünen und Linkspartei in Nordrhein-Westfalen 4 Albrecht von Lucke, Europa und die Krise der Linken, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Heft 7/2009


michael brie – die linke in der krise des neoliberalismus

gescheitert und die SPD auf dem Weg in eine große Koalition. Was aber will die SPD langfristig? Es ist kaum vorstellbar, dass sie die CDU in den nächsten Jahren an Wählerstimmen wieder übertrifft. Will sie also dauerhaft Juniorpartner der CDU sein oder mit einer geschwächten FDP und den Grünen eine Ampelkoalition ohne gemeinsame Geschäftsgrundlage bilden? Das schnelle Siechtum der schwarz-gelben Koalition wie aber auch schon die Schwäche der Schröder-Fischer-Regierung beweisen, dass eine Regierung nur dann dauerhaft handlungsfähig ist, wenn sie über einen hinreichenden andauernden Rückhalt in der Mehrheit der Bevölkerung verfügt. Die SPD verurteilt sich auf dem jetzigen Weg tatsächlich zu einem langen Siechtum, das die ganze Linke paralysiert und zu bloßem Protest verdammt. Wohin gehen die Grünen? Und wohin führt der Weg der Grünen? Sie verfügen zwar über ein sehr umfassendes programmatisches Konzept mit beträchtlicher Hegemoniefähigkeit, könnten dieses aber nie mit der CDU durchsetzen. Es bliebe dann davon nur eine mittelschichtsorientierte Modernisierung übrig, aber kein grüner und solidarischer Gesellschaftsvertrag. Dies reicht zwar durchaus für eine stabile Stellung im Fünf-Partei-

ensystem der Bundesrepublik, kann die FDP massiv unter Druck setzen, regional auch den Aufstieg zu einer bürgerlichen modernen Volkspartei eröffnen. Aber links ist dies nicht. Und es würde den Verzicht auf eine sozialökologische Transformation bedeuten. Die Linke muß sich entscheiden Die Linkspartei hat sich parteipolitisch dauerhaft etabliert. Dies verdankt sie vor allem ihrem klaren Protest gegen eine neoliberale Politik sowie der Fähigkeit, gerade in Ostdeutschland eine Reformkraft mit dem Charakter einen linken Volkspartei zu sein. Ihren Beitrag zu einem Richtungswechsel wird sie nur dann erfüllen können, wenn sie ihre eigenständigen Positionen, eine sozialökologische Politik und eine veränderte Außenpolitik mit der Bereitschaft verknüpft, sich in ein breites linkes Reformbündnis einzubringen. Dies wird ihr Veränderungen abverlangen. Die Kräfte der fragmentierten Linken müssen sich entscheiden: Sind sie überzeugt, dass eine andere Politik real möglich ist? Haben sie den Mut, auf einen wirklichen Richtungswechsel zu setzen? Sind sie bereit, alles Notwendige zu tun, damit die dafür erforderlichen gesellschaftlichen und politischen Bündnisse geschlossen werden? Haben sie die Entschlusskraft, den eigenen Preis für solche Bündnisse zu perspektive21

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thema – neue chancen

zahlen und Partner nicht zu überfordern? Finden sie eine Grundlage für Kooperation jenseits des „kleinsten gemeinsamen Nenners“? Nach zwan-

zig Jahren der Entfesselung eines zerstörerischen Finanzmarkt-Kapitalismus ist es an der Zeit: Hic Rhodus, hic salta! n

PROF. DR. MICHAEL BRIE ist Direktor des Instituts für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Berlin.

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Gleichheit und Freiheit WIE EINE NEUE MODERNISIERUNGSLINKE AUSSEHEN KANN VON PETER SILLER

ine historische Betrachtung dessen, was den schillernden Begriff der „Linken“ zusammenhalten könnte, kommt ohne den Begriff „Fortschritt“ nicht aus. Die Idee von der gesellschaftlichen Veränderung zum Besseren ist geradezu konstitutiv für die verschiedenen Etappen und Ausprägungen linker Theorie und Praxis – in ihren hellsten, wie auch in ihren dunkelsten Phasen. Brüder, zur Sonne, zur Freiheit. Eine bessere Welt ist möglich. Vor diesem Hintergrund wird das ganze Ausmaß der Verunsicherung und der Krise deutlich, in der sich die gesellschaftliche Linke heute befindet. Verdrehte Welt: Es sind heute nicht nur, aber auch und gerade linke Milieus, die ein tiefes Misstrauen gegen gesellschaftliche Veränderung mobilisieren. Aus dieser Sicht stehen Begriffe wie „Reform“ oder „Modernisierung“ für eine unheilvolle Dynamik, gegen die man sich sträubt und zur Wehr setzt. Linke Politik heißt heute vielfach die Verteidigung des Status quo gegen Veränderung. Wenn man das Rad schon nicht zurückdrehen könne in ein goldenes Zeitalter des Früher, so solle

E

doch bitte wenigstens alles so bleiben, wie es ist. Left is the new conservatism? Realismus und Substanz Dieser Paradigmenwechsel mag im Ergebnis falsch sein, aber seine Gründe liegen auf der Hand. Die Katastrophen des 20. Jahrhunderts haben dem linken Fortschrittsoptimismus einen schweren Schlag versetzt. Und wo die Linke ungebrochen an der Vollstreckung der Geschichte festhielt, waren Gulag und Stacheldraht nicht weit. Hinzu kommen für die bundesrepublikanische Linke die Reformerfahrungen der rotgrünen Jahre im neuen Jahrtausend, an der sie sich bis heute abarbeitet. So richtig zahlreiche Schritte auch in der Wirtschafts- und Sozialpolitik waren – die damalige Modernisierungsrethorik hatte etwas Hohldrehendes, Ungerichtetes. Zu Recht stieß sie zunehmend auf Unverständnis. Im Rahmen des allgemeinen Hyper-Pragmatismus fehlte oft das nachvollziehbare Ziel, eine „Philosophie“ und eine dazugehörige „Erzählung“. Es ist die Tragik dieser Jahre, dass Rot-Grün für diese „Philosophie“ zu wenig Kraft hatte. perspektive21

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thema – neue chancen

Menschen lassen sich auf Dauer nur bewegen, wenn das Ziel klar und nachvollziehbar ist. Pragmatismus ist nur dann eine Tugend, wenn er sich an Zielen und Grundsätzen messen lässt. Politik braucht Realismus und Substanz. Herzen und Köpfe gewinnen So nachvollziehbar also die Gründe für die Entstehung des linken Konservatismus der Gegenwart sein mögen, so kritikwürdig ist diese Entwicklung gleichwohl. Unsere Gesellschaft braucht eine neue Idee von Fortschritt, weil Veränderung zum Besseren in vielen Bereichen nicht nur wünschenswert, sondern auch möglich ist. Eine Linke, die diese Fortschrittsidee nicht formuliert, verfehlt eine ihrer zentralen Aufgaben und darüber hinaus die Herzen und Köpfe ihrer Unterstützer und Wähler. Welche Effekte ein Optimismus der Veränderung zeitigen kann, hat Barack Obama eindrucksvoll vorgeführt. Es ist deshalb an der Zeit, den Anspruch und die Konturen einer „Modernisierungslinken“ neu zu formulieren, auch in einer produktiven Auseinandersetzung mit dem herrschenden Linkskonservatismus. Das Ergebnis sollte ein dynamischer Prozess sein, der berechtigte Ängste und Sorgen aufnimmt und den Menschen einen neuen Optimismus der Veränderung zum Besseren ermöglicht. 60

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Dieser Ansatz hat jedoch nur dann Aussicht auf Erfolg, wenn man sich zugleich auf eine vertiefte Auseinandersetzung über Begriffe wie „Fortschritt“ und „Modernisierung“ einlässt, aus Fehlern lernt und ihnen Kontur und Richtung gibt. Ein nostalgischer Rückgriff auf einen ungebrochenen Fortschrittsgedanken ist normativ falsch und strategisch zum Scheitern verurteilt. Diese Suchbewegung ist gerade aus zwei Gründen dringend: Zum einen mobilisiert sich in der SPD und bei den Grünen als Gegenreaktion auf die jeweiligen Linksverschiebungen schon wieder ein Pragmatismus, der Begriffe wie „Fortschritt“ oder „progressive Politik“ nur als leere Signifikanten verwendet. So wird „Fortschritt“ wieder nur zu einem rhetorischen Instrument, um beliebige Anliegen etwa im wirtschaftspolitischen Bereich mit Appeal zu versehen. Der Aufruf etwa, die „progressiven Kräfte“ müssten sich über die Parteigrenzen hinweg zusammen tun, bleibt leer, solange ungeklärt ist, an welchen Zielen und Grundsätzen dieser Fortschritt zu messen ist. Man braucht Bündnispartner Zum anderen gibt es in der traditionalistischen Linken Ansätze, den Linkskonservatismus wieder durch einen linken Fortschrittsgedanken zu ergänzen, der sich die Mühe einer neuen Kontu-


peter siller – gleichheit und freiheit

rierung und Ausrichtung erst gar nicht macht und so tut, als gebe es dabei keine zu bewältigenden Fragen und Probleme. Bei genauer Betrachtung offenbart sich etwa die Strategie des Ypsilanti-Scheer-Wahlkampfs in Hessen als ein abstraktes Fortschrittsversprechen ohne Wege und Grenzmarken. Konzepte? Kompromisse? Bündnispartner? Fehlanzeige. So wenig ein blinder Pragmatismus für linksprogressive Politik taugt, so wenig taugen groß verschlagwortete Ziele ohne Route und Wegbegleiter. Ein lernfähiges Programm Für das Unterfangen, einen linken Fortschrittsgedanken problembewusst zu aktualisieren, gibt es Vorarbeiten. Jürgen Habermas hat zu den diskursiven Voraussetzungen im Entwicklungsprozess der Moderne Grundlegendes formuliert. Ulrich Beck hat mit der „reflexiven Moderne“ ein entscheidendes Stichwort geliefert; demnach darf Modernisierung kein statisches Programm sein, sondern muss ein lernfähiges Programm sein, das Risiken prüft und Korrekturen zulässt. Analog könnte man von „reflexivem Fortschritt“ sprechen, der erfahrungsoffen und lernfähig Mittel und Wege immer wieder neu an den Zielen ausrichtet. Schließlich lohnt auch ein Blick auf die so genannte Politik des Dritten

Weges Ende der neunziger Jahre, die versuchte, Positionen jenseits von Neoliberalismus und Linkskonservatismus mit sozialem Fortschritt zu verbinden. Bei einer solchen bewertenden Rückschau käme es allerdings darauf an, die konzeptionellen und strategischen Fehler und Irrtümer offen in den Blick zu bekommen, um Konsequenzen für eine neue Strategie linker Modernisierung ziehen zu können. Die notwendige Neuformulierung eines linken Fortschrittsgedankens ist ein vielschichtiges und anspruchsvolles Unterfangen. Sie braucht Zeit für Reflexion und Debatte. Im Zentrum einer links-progressiven Politik sollte dabei die Idee des sozialen Fortschritts stehen. Dies ist der tiefe Grund, warum wir Veränderung wollen: eine Verbesserung der Ausgangs- und Lebensbedingungen für die Menschen. Ganz einfach. Und doch so kompliziert, denn wir befinden uns bereits mitten in der Auseinandersetzung um die Auffassungen und Konzepte von sozialer Gerechtigkeit. Fest steht: Es reicht nicht aus, von „sozialem Fortschritt“ zu sprechen, sondern es muss klarer werden, wohin die Reise gehen soll. Wie Fortschritt aussieht Eine Hauptaufgabe für die Reformulierung des Fortschrittsgedankens ist es, Gleichheit und Freiheit zueinander in perspektive21

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thema – neue chancen

Bezug zu setzen und damit egalitäre und liberale Auffassungen zu verbinden. Fortschritt hin zu gleichen realen Verwirklichungschancen aller, Fortschritt mit Blick auf die reale Chance, sein eigenes Leben zu leben. Fortschritt als echter Fortschritt auch für die nachfolgenden Generationen, auch für Menschen in ganz anderen Regionen des Planeten. Das führt auch auf eine Idee von institutionellem Fortschritt, der die Möglichkeit zu Selbstverwirklichung und Teilhabe für alle überhaupt erst schafft.

Teil der undogmatischen Linken prägte. Sicher: Die brachiale Gewalt, die von einer blinden Politik des technologischen Fortschritts ausgehen kann, ist nicht zu bestreiten. Die in Beton gegossenen sozialdemokratischen Innenstadt-Sanierungen der sechziger und siebziger Jahre sind ein kleines Beispiel für die Narben eines ungerichteten technologischen Fortschrittgedankens. Gleichwohl wäre es ein schwerer Fehler, wenn eine progressive Linke auf eine solche Idee verzichten würde – das gilt auch und insbesondere für die Grünen.

Die Mitte integrieren n

Eine zentrale und neu zu verhandelnde Dimension links-progressiver Politik ist die Frage des technologischen Fortschritts. Der Gedanke der Produktivitätssteigerung durch technologischen Fortschritt steht im Mittelpunkt der Fortschrittsidee bei Karl Marx wie auch bei späteren linken Fortschrittserzählungen. Eben diese Hoffnung auf sozialen, emanzipatorischen Fortschritt durch technologische Entwicklung hat in Teilen der Linken – gerade im grünen Milieu – einen schweren Knacks bekommen. Von der Unbeherrschbarkeit der Atomenergie über die Klimazerstörung bis hin zur Herausbildung moderner Herrschaftstechnologien war es ab den siebziger Jahren eher die Kritik am technologischen Fortschrittsgedanken, der den grünen 62

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n

n

Erstens basieren unser Wohlstand und die gesellschaftlichen Partizipationsmöglichkeiten unter anderem auf technologischem Fortschritt – von Energiegewinnung über industrielle Rationalisierung bis hin zu Mobilitätstechnologien. Zweitens können wir die dramatischen ökologischen Probleme gar nicht lösen, ohne auch auf technologischen Fortschritt zu setzen. Dafür gilt es, starke Bilder zu finden und technologie- und industriepolitische Maßnahmen zu ergreifen. Die dritte – grüne – industrielle Revolution steht nach wie vor aus. Drittens wäre es ein Fehlschluss, die uneingelösten emanzipatorischen Versprechen technologischen Fortschritts mit der Verabschiedung der Idee des technologischen Fortschritts


peter siller – gleichheit und freiheit

zu beantworten. Technologischer Fortschritt muss also mit dem Anspruch sozialen Fortschritts im Sinne gleicher realer Teilhabechancen einhergehen. Wir dürfen uns mit der

bestehenden Schichtengesellschaft nicht arrangieren. Ziel muss die Integration aller in die sozialökonomische Mitte unserer Gesellschaft sein. n

PETER SILLER

ist Scientific Manager des Exzellenzclusters „Formation of Normative Orders“ an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Zuvor war er Leiter der Inlandsabteilung der Heinrich-Böll-Stiftung. perspektive21

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thema – neue chancen

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juli 2010 – heft 45


Alle sollen mitkommen WIE DIE ROT-ROT-GRÜNE KOALITION IN NORWEGEN ZUM ERFOLGSMODELL WURDE VON WOLFGANG BIERMANN

bwohl aktuelle Wahlumfragen immer wieder der norwegischen rot-rot-grünen Regierungskoalition eine bürgerliche Mehrheit voraus sagten und sagen, gibt es einen breiten Optimismus in der Norwegischen Arbeiterpartei – bis hinein in die Medien: Beispiel ist die Überschrift des Boulevardblattes „dagbladet“ am 26. Juni 2010 im Bericht über den norwegischen Außenminister Jonas Gahr Støre in Berlin: „Die Deutschen wollen von Norwegen lernen – beeindruckt von den erfolgreichen Verhandlungen mit den Russen – Jonas Gahr Støre sonnt sich im Glanze seines Vertrages mit den Russen über die Seegrenze“ (die 40 Jahre umstritten war). Was ist los in Norwegen – Linke Koalitionsregierung und erfolgreiche Reformpolitik der Sozialdemokratie, während sie in vielen Ländern Europas vor sich hin schwächelt? Liegt es am Öl? Die Antwort ist aus norwegischer Sicht ein eindeutiges „Nein“. Denn nur 4 Prozent der Öleinnahmen fließen in den Staatshaushalt, der Rest in einen internationalen Fonds.

O

Aber mit dem „Ölargument“ kämpften die bürgerlichen Parteien wiederholt für die Senkung von Steuern und Abgaben – und verloren die letzten beiden Wahlen gegen die sozialdemokratische „Staats- und Steuerpartei“ mit ihren links-roten Koalitionspartnern. Bis 2001 regierte die Norwegische Arbeiterpartei (AP) mit zwei Minderheitsregierungen und wechselnden parlamentarischen Mehrheiten. Im September 2001 erlebte die AP dann bei den Wahlen – ähnlich wie die SPD acht Jahre später – mit rund 24 Prozent ihre Katastrophe. In der Opposition wuchs die Erkenntnis, dass eine neue Perspektive von „Minderheitenregierungen“ der Arbeiterpartei unrealistisch geworden war. Die wichtigsten Lektionen waren: n

Das Parlament, der Stortinget, mit seinen wechselnden Mehrheiten raubte der Arbeiterparteiregierung am Ende der neunziger Jahre immer mehr die „Richtlinienkompetenz“ bis hin zur Unkenntlichkeit. So wurde die AP durch die dramatische perspektive21

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thema – neue chancen

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Wahlniederlage mit 24 Prozent im September 2001 konsequent abgestraft. Der Traum von absoluten Mehrheiten für die Sozialdemokraten (wie in den fünfziger Jahren) war endgültig vorbei. Die AP wollte über Koalitionen wieder eine stabile Mehrheit erzielen, „die hinter uns steht“. Aber ohne regelmäßige Kommunikation und Kontakt miteinander ließ sich keine Perspektive stabiler Mehrheiten mit ehemaligen, zum Teil feindseligen Gegnern erarbeiten.

Der Wandel durch Annäherung war nicht einfach: Die Sozialistische Linkspartei (SV) war aus Feindschaft gegen die positive NATO-Linie der AP entstanden – als Zusammenschluss frustrierter Sozialdemokraten und Kommunisten. Die ökologisch-bauernnahe Zentrumspartei (SP) hatte schon öfter mit den bürgerlichen Parteien paktiert. Sollte man diesen Gegnern der Sozialdemokratie hinterherlaufen? Ein neuer Anlauf So nicht – aber doch. Während der Oppositionszeit entwickelte der sozialdemokratische Fraktionsvorsitzende Jens Stoltenberg ein völlig neues Herangehen an künftige Wahlen: Gemeinsame Wahlkämpfe im rot-rotgrünen Bündnis für eine gemeinsame Regierung. Die Annäherung zwischen 66

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AP, SPV und später SP fand zunächst zwischen Abgeordneten im Stortinget statt: Dieses neue „Miteinander“ erleichterte auch die Sitzordnung des Stortinget. Dort sitzen die Abgeordneten nicht nach Fraktionen, sondern nach Wahlkreisen. Zufällig saßen die SV-Vorsitzende Kirstin Halvorsen und der APFraktionsvorsitzende Jens Stoltenberg an einem Tisch ihrer benachbarten Wahlkreise und „verstanden sich“. Sie verabredeten informelle thematische Dialoggruppen zwischen Abgeordneten der AP und der SV, zunächst nur zu den wenig kontroversen sozial- und frauenpolitischen sowie ökologischen Themen. Nachdem aus „Kellergesprächen“ fraktionsübergreifende „Arbeitsgespräche“ wurden, lud die AP auch die SP als dritte Partei ein. Erst am Schluss der Themenbearbeitungen wurden die kontroversen Themen (NATO, Afghanistan, EU) behandelt – mit dem gemeinsamen Ergebnis des Festhaltens an außenpolitischer „Kontinuität“ (Präsenz in Afghanistan und Mitgliedschaft in der NATO und im Europäischen Wirtschaftsraum) und der Überordnung des Prinzips „Einheit vor Freiheit“ der künftigen Koalitionspartner in der Selbstdarstellung. Als die Presse von den „Geheimgesprächen“ Wind bekam, hatten die Arbeitsgruppen bereits Ergebnisse aufgeschrieben und festgestellt: „Wir können miteinander“. Im Juli 2005 – zwei Monate vor den Stortinget-Wahlen –


wolfgang biermann – alle sollen mitkommen

stellten die drei Parteivorsitzenden auf einer Pressekonferenz ihre „155 Punkte, in denen wir einig sind“ vor. Bei den Stortingetswahlen im September 2005 erreichten die Sozialdemokraten 32,7 Prozent und bildeten die erste rot-rot-grüne Koalitionsregierung mit Links- und Zentrumspartei. AP-Leute erklären ihren Erfolg folgendermaßen: n n

n

n

gemeinsamer Wahlkampf der Koalition auf Basis der „155 Punkte“, Inhaltlich-politische Weichenstellungen der AP. Unmittelbar nach ihrer Niederlage 2001 verfolgten die Sozialdemokraten wieder den „traditionellen“ Kurs der engen Abstimmung mit den Gewerkschaften. Die (bis heute erfolgenden) wöchentlichen informellen Treffen mit der Spitze des Gewerkschaftsbundes (LO) dienten zur Absprache über eine „Solidaritätsalternative“ als Wirtschafts- und Steuerpolitik zur Förderung von Investitionen und Arbeitsplätzen und Vermeidung oder Lösung von Arbeitskonflikten, stärkere Zusammenarbeit mit gesellschaftlichen Gruppen der Zivilgesellschaft, konsequente Stärkung und Verbesserung der öffentlichen Dienste für die Bevölkerung – gegen Konzepte der Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen.

Bis zu den Septemberwahlen 2009 konnte die AP so mit „rot-rot-grün“ ihre Stellung als dominierende politische Kraft in Norwegen ausbauen – obwohl Umfragen und Medien monatelang und noch wenige Tage vor der Wahl Stimmenverluste der Arbeiterpartei und eine Mehrheit des bürgerlichen Blocks vorher sagten. Bei der Wahl legte die AP dann auf 35,4 Prozent zu und konnte erneut mit der rot-rot-grünen Koalition und einer Drei-StimmenMehrheit im Parlament (86:83 Mandate) weiterregieren, auch wenn die Linkspartei mit 6,1 Prozent (-2,7) und die Zentrumspartei mit 6,2 Prozent (-0,2) Wählerstimmen verloren. Das Erfolgskonzept lässt sich in vier Punkten zusammenfassen. ERSTENS: DAS PROGRAMM. Grundlage für die Arbeit der Regierung waren die in der Opposition mit SV und SP erarbeiteten „155 Punkte“ und das im Oktober 2005 – unter Ausschluss der Öffentlichkeit – erarbeitete und in der Öffentlichkeit stets eingehaltene Regierungsprogramm „Soria Moria I“. (Der Name des Konferenzzentrums „Soria Moria“ stammt übrigens aus dem populären norwegischen Märchen über das Traumschloss „Soria Moria“ von Peter Christian Asbjørnsen.) Im Oktober 2009 einigten sich die Parteien erneut auf ein „Soria Moria II“ mit Bekräftigung der Grundlinie perspektive21

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thema – neue chancen

„mehr Solidarität, Gerechtigkeit, sozialer Ausgleich und Integration“, aber einigen neuen Festlegungen, die die veränderte innen- und außenpolitische Situation sowie neue Arbeitsteilung in der Regierung widerspiegeln (zum Beispiel übernahm die Finanzministerin Kristin Halvorsen (SV) das Bildungsressort. Die Internetplattformen der Parteien bekräftigen „Soria Moria“ als gemeinsame Arbeitsprogramme der Parteien. Im „Soria Moria“ werden auch Positionen in Fragen der Außenpolitik, zum Beispiel der Beibehaltung der Präsenz in Afghanistan unter der Voraussetzung des UN-Mandats, festgeschrieben. Konsequente Modernisierung „Soria Moria I“ enthielt eine Reihe von gesellschaftspolitischen Festlegungen zur Modernisierungen der öffentlichen Dienstleistungen, die die Koalition konsequent umsetzte. So setzte die Koalition im Bildungswesen auf den Ausbau der staatlichen „Einheitsschule für alle“, damit „alle sich kennen und gefördert werden und die Neuen wirklich integriert werden“. Ferner wurde die Modernisierung der überwiegend staatlichen Unternehmen (Telenor, Statoil usw.) konsequent vorangetrieben. Die strategische Ausrichtung bestimmte zwar das jeweilige Fachministerium durch die staatliche Mehrheit in der Generalversamm68

juli 2010 – heft 45

lung, aber der Staat greift nicht in die kaufmännischen Abläufe ein, während die privaten Eigentümer einen positiven Einfluss auf die Modernisierung der Gesellschaften hatten. Modernisierung statt Privatisierung galt auch für staatliche und regionale Krankenhäuser sowie kommunale Pflegedienste. Das wurde begleitet durch die seit 2005 – weltweit für Aufmerksamkeit sorgende – gesetzlich vorgeschriebene 40-prozentige Genderquote in den Aufsichtsräten von öffentlichen wie privaten Großunternehmen. ZWEITENS: DIE POLITISCHE PRAXIS.

Der Wahlkampf 2009 konnte auf eine ganze Reihe von Erfolgen der Regierungskoalition bauen, u. a.: n

n

die volle Kindergarten-Deckung für alle Kinder ab dem 2. Lebensjahr (2005 versprochen und ab Januar 2009 komplett umgesetzt), Verbesserung der Integration von Schulkindern aus Einwandererfamilien. Ein Ergebnis: Die muslimischen Schulabgängerinnen hatten 2009 in Oslo zu 79 Prozent die Hochschulreife. Zahlreiche Schulen mit einer Mehrheit von Einwandererkindern erweisen sich – seit Einführung systematischer Verantwortung der Lehrer für die Förderung von Benachteiligten – oft als leistungsstärker als „rein weiße“ Schulen in bürgerlichen Bezirken,


wolfgang biermann – alle sollen mitkommen

n

Management der Finanzkrise durch Finanzministerin Halvorsen (SV). Große Geldmengen wurden über die Kommunen investiert um vor allem in der Bauindustrie Arbeitsplätze zu erhalten. Die Überlebensfähigkeit der Banken wurde u. a. durch den Austausch von „schwachen“ Immobilien-Obligationen gegen eine Art von Staatsobligationen gesichert.

DRITTENS: GEMEINSAME ÖFFENTLICHE DARSTELLUNG DER EINHEIT DER KOA-

AP, SV und SP traten im Wahlkampf gemeinsam als „WahlKoalition“ auf. Streitpunkte in der Regierung wurden sachlich und ohne Polemik gegeneinander öffentlich, sogar in den gemeinsamen Wahlveranstaltungen diskutiert. Während die Sozialdemokratie ihre eigene Korrekturfähigkeit in der Regierung demonstrierte, präsentierten sich SV und SP – jeweils mit der AP abgesprochen – als wichtiges Korrektiv in der Regierung (z. B. in Umweltfragen durch Verzögerung der Ölproduktion im Naturschutzgebiet der Lofoten). Im gesamten Wahlkampf zogen die Koalitionsparteien konsequent die „Linie A“ (Koalition) durch und verweigerten jegliche Debatte über eine „Alternative B“. Darüber hinaus kombinierte die AP den gemeinsamen Wahlkampf mit den Führern der Koalition konsequent mit modernen Internet- und MobilteLITION.

lefonkampagnen der eigenen Partei und demonstrativer Nähe von Partei und Parteiführung zur Bevölkerung vor Ort (so gab es zum Beispiel allein 160.000 Hausbesuche der AP in Oslo, ferner Schulbesuche und gemeinsame lokale Aktionen der Koalition). VIERTENS: EIGENE UND KLARE PROGRAMMLINIE DER ARBEITERPARTEI.

Die AP profilierte sich im Wahlkampf bewusst als programmatische Partei mit dem – von Anbeginn der Sozialdemokratie verfolgten – Ziel der Integration der gesamten Gesellschaft. Der (immer noch propagierte) Hauptslogan der AP „alle skal med“ („alle sollen mitkommen“) durchzog die programmatische Linie der AP. Zwei Wochen vor der Wahl veröffentlichte das Massenblatt „Dagbladet“ eine doppelseitige Präsentation der umfassenden gesellschaftspolitischen Vision der AP als Partei der „Integration“ und „Inklusion“: Laut Ministerpräsident Stoltenberg habe die Sozialdemokratie habe zwei große historische Projekte in Norwegen – Integration der Arbeiterklasse und Integration und Gleichstellung der Frauen – bereits verwirklicht und packe nun das dritte Projekt an: Die weitere Integration und Inklusion der Einwanderer und anderer „marginalisierten Gruppen“. Damit setzte die AP zugleich einen gesamtgesellschaftlichen Punkt als Volkspartei für die Integration der gesamten Gesellschaft. perspektive21

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thema – neue chancen

Insgesamt gewann die „Links-Regierung“ die Wahlen durch Verbesserungen der staatlichen Leistungen. Die Mehrheit der Bevölkerung akzeptierte lieber die hohe Mehrwertsteuer zur Finanzierung und Verbesserung des Sozialstaates als die Privatisierungs- und Sparankündigungen der Konservativen Partei (mit einem Wähleranteil von knapp 15 Prozent) oder den populistischen Griff nach dem „Ölfonds“ durch die Fortschrittspartei (22 Prozent). Trotz immer noch zahlreicher Gemeinsamkeiten im linken Regierungs-

bündnis leiden die kleinen Koalitionsparteien unter Stimmenverlusten aufgrund der Dominanz der Sozialdemokratie. Längerfristig stellt sich für die AP die Herausforderung – ohne Schädigung der Koalition mit der SP und der SV – im Interesse künftiger Mehrheiten auch einen Teil der Oppositionsparteien zu gewinnen und andererseits die immer noch große Resonanz der (in Teilen fremdenfeindlichen) „Fortschrittspartei“ in großen Bereichen der Arbeitnehmerschaft und der Gewerkschaften zu schwächen. n

WOLFGANG BIERMANN

arbeitet in der Abteilung Internationale Politik des Willy-Brandt-Hauses in Berlin. Er ist Sprecher des SPD-Freundeskreises in Oslo und auch Mitglied der norwegischen Arbeiterpartei. 70

juli 2010 – heft 45


DAS DEBATTENMAGAZIN Wie werden wir im 21. Jahrhundert leben? Die alten Lösungen taugen nicht mehr, die neuen kommen nicht von selbst. Die Berliner Republik ist der Ort für die wichtigen Debatten unserer Zeit: progressiv, neugierig, undogmatisch. Weil jede Zeit ihre eigenen Antworten braucht.

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SPD-Landesverband Brandenburg, Alleestraße 9, 14469 Potsdam PVST, DPAG, Entgelt bezahlt, A47550

Seit 1997 erscheint „perspektive 21 – Brandenburgische Hefte für Wissenschaft & Politik“. Wenn Sie Interesse an bisher erschienenen Ausgaben haben, können Sie ältere Exemplare auf unserer Homepage www.perspektive21.de als pdf herunterladen. Einzelne Exemplare von bisher erschienenen Ausgaben schicken wir Ihnen gerne auch auf Wunsch kostenlos zu. Senden sie uns bitte eine E-Mail an perspektive-21@spd.de. Zur Zeit sind folgende Titel lieferbar: Heft 17 Ende der Nachwendezeit. PDS am Ende? Heft 18 Der Osten und die Berliner Republik Heft 19 Trampolin oder Hängematte? Die Modernisierung des Sozialstaates Heft 20 Der Letzte macht das Licht aus? Heft 21/22 Entscheidung im Osten: Innovation oder Niedriglohn? Heft 23 Kinder? Kinder! Heft 24 Von Finnland lernen?! Heft 25 Erneuerung aus eigner Kraft Heft 26 Ohne Moos nix los? Heft 27 Was nun Deutschland? Heft 28 Die neue SPD Heft 29 Zukunft: Wissen Heft 30 Chancen für Regionen Heft 31 Investitionen in Köpfe Heft 32 Auf dem Weg ins 21. Jahrhundert Heft 33 Der Vorsorgende Sozialstaat Heft 34 Brandenburg in Bewegung Heft 35 10 Jahre Perspektive 21 Heft 36 Den Rechten keine Chance Heft 37 Energie und Klima Heft 38 Das rote Preußen Heft 39 Osteuropa und wir Heft 40 Bildung für alle Heft 41 Eine neue Wirtschaftsordnung? Heft 42 1989 - 2009 Heft 43 20 Jahre SDP Heft 44 Gemeinsinn und Erneuerung


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