4 minute read
THEATERDONNER S
Bei „der Widerspenstigen Zähmung” in Mainz stülpt Obermatscho Petruchio sein Inneres nach außen. „Me too” -Alarm. Das fastnächtliche Kostüm entlarvt den misogynen Egomanen als vorsintflutlichen Dinosaurier
Der herausragende Mainzer „Freischütz” von Alexander Nerlich fesselt mit exzellentem Ensemble, plastischen Klangbildern und nachhallenden Szenen.
Advertisement
Der Freischütz mit Adriana & Victor*ia bei den Gespenstern
TheaterDonner auf den Bühnen in Wiesbaden, Darmstadt und Mainz
Wenn Adriana Lecouvreur mit dem Freischütz auf Tristan und Isolde trifft, beendet Vicor*ia der Widerspenstigen Zähmung. Auf den Brettern der Region tut sich Spannendes & Entspannendes.
Blick nach Wiesbaden
Glamour satt. „Sunset Boulevard“ lässt grüßen. Pérelà-Kostümbildner Gianluca Falaschi (Regie, Bühne & Kostüm) zeigt Francesco Cileas alternde Diva „Adriana Lecouvreur“ mit der hervorragenden Nadja Stefanoff in hollywoodreifer Kulisse und Revuekostümen der Zwanziger Jahre. Sie ist ja nur „demütige Magd“ der Kunst á la Marlene. Zum bestens aufgelegten Ensemble zählen Sanja Anastasie, Vincenzo Constanza, Michael Dahmen und Stephan Bootz. Daniel Montané sorgt mit dem Staatsorchester für üppigen Breitwandsound.
Gefeiert für wunderbare Stimmen und berührend intensive Darstellung: „Tristan” Marco Jentzsch und seine „Isolde” Barbara Haveman.
Frau ist als Mann ganz Frau. Julie Andrews in Blake Edwards rasanter Gender-Verwirrkomödie „Victor/ Victoria“ ist ein Klassiker. Den 90erJahre-Musicalhit von Henri Mancini zeigt Erik Petersen beswingt und berührend. Sspielfreudig legt sich das Staatsorchester unter Tjaard Kirsch als veritable Bigband mit Jazzpianist Paul-Johannes Kirschner ins Zeug. Choreografin Sabine Arthold setzt auf Revueglanz. Stimmwunder Zodwa Selele ist als Victoria brillant, als Victor zu wenig androgyn (Ausstatter Christopher Kempf), um Henner Momanns „Kings Dilemma“ zu beglaubigen. Beatrice Reece ist ein erfreulich selbst-bewusstes Weibsbild. Michael Dahmens Toddy und Armin Dillenbergers Nachtclubchef sind kleine Kabinettstückchen.
Me too-Alarm! Regisseurin Stephanie van Batum knüpft sich mit Bühnenbildnerin Bettina Kirmair, Kostümbildnerin Janine Dollmann und einem höchst engagierten Ensemble Shakespeares Sexismus-Schinken „Der Widerspenstigen Zähmung“ vor. Das Testosteron trieft nur so bei der spätpubertären Boygroup mit Zoten aus Trumps Mottenkiste. Alphamännchen diverser Couleur sind Baptista (Rainer Frank), Lucentio (Mark Ortel), Hortensio (Simon Braunboeck) und Ulrich „Gremio“ Cyran, der zur „Witwe“ mutiert. Schauspielerin Gesa Geue lässt ihre „brave“ Bianca auch eigene Worte sprechen. Klaus Köhlers Psychopath „Aggro Alan“ Petruchio tobt häusliche Gewalt aus an Zwangsgemahlin Katharina (Lisa Eder) und entlarvt sich als Dino selbst. Die „Mädels“ sind final für eine Überraschung gut. Der Rest ist: „Ups!“ Die „Fülle des Wohllauts“ und fesselnde Bilder erstmals in großer Besetzung seit 20 Monaten, im Saal bleibt (freiwillig!) die Maske auf. Ein großer Wurf ist Alexander Nerlichs Sicht auf Carl Maria von Webers 200 Jahre alten „Freischütz“. Er zieht in den Bann, anrührend leise und spannende Bilder mit einer schauerlichen Wolfsschlucht im Zentrum. GMD Hermann Bäumer dirigiert in historischer Orchesteraufstellung, aus dem Graben tönen plastische Klangbilder. Das Ensemble ist bestechend: Titelheld Alexander Spemann, Derrick Ballard, Brett Carter, Stefan Stoll, Dennis Sörös, Nadja „Agathe“ Stefanoff und Julietta „Ännchen“ Aleksnyan. Samiel (Alessia Ruffolo) ist androgyn teuflisch immer dabei. Der Applaus hat Sturmstärke und will nicht enden. Unbedingt hingehen!
Uwe Kraus ist ein anrührender Schreiner Engstrand in Johannes Leppers Wiesbadener Inszenierung von Ibsens „Gespenstern”.
Blick nach Wiesbaden
Zwiespältigen Operngenuss bietet Wagners „Tristan und Isolde“ in der Sicht von Intendant Uwe-Eric Laufenberg.
Verlass ist auf Rolf Glittenbergs treffsicher spartanisches Bühnenbild und ein exzellentes Ensemble mit Kammersänger Thomas de Vries als Kurvenal, Young Doo Park als König Marke, Khatuna Mikaberidzes als Brangäne und Erik Biegels als berührender Hirt. Hinreißende Gaststars: Marco Jentzsch als Titelheld Tristan mit tenoralem Wohlklang und Barbara Haveman als warm timbrierte Isolde. Doch manches Video von Gerard Naziri ist verzichtbar. Manch szenischer Einfall (tänzelnde Pärchen) wirkt peinlich. „Wagner braucht keine Mätzchen“, raunt es im Parkett.
Ausdauernd herzlicher Beifall für Gesangsensemble und blendend spielendes Orchester. Michael Güttler ist ein zupackender Gastdirigent. GMD Patrick Lange geht ja vorzeitig nach „künstlerischen Differenzen“ mit dem Hausherrn. Das Publikum quittiert mit Buhrufen und Pfiffen.
Ibsens wuchtiges Skandalstück „Gespenster, in seiner Analyse unverändert aktuell, bringt Johannes Lepper auf die Wiesbadener Bühne (Doreen Back). Die Familie als asozialer Hort der Willkür. Lebenslänglich. „Mutter, gib mir die Sonne!“ Osvald (Tobias Lutze) und seine Mutter (Anne Lebinsky), Michael Birnbaums Pastor Mandners, Uwe Kraus als Schreiner Engstrand und Lina Habichts Regine gehen nahe. Spannung bis zum traurigen Ende. Erst nach einem Moment löst sich die Beklemmung in langem Beifall. „Willkommenskultur“ im Kit KatKlub Anno 1930 mit Tanz auf dem Vulkan, als wäre kein Nazi ante portas. Die grandiose Elissa Huber ist als lebenshungrige Sally Bowles eine Wucht mit Rockröhre. Gottfried Herbe als gutmütiger jüdischer Händler Schulz mit Gänsehaut-Gesang und Gemahlin Evelyn Faber als spät entflammte Vermieterin setzen berührende Akzente. Regisseur Tom Gerber als Einspringer für Iris Limbarth gelingt in ergänzender Fortführung ihrer Inszenierung ein temporeicher Coup mit plastischen Bildern, historischem Tiefsinn und gruseligem „Vaterland“-Getöse. Begeisterter Applaus für das Junge Staatsmusicals in Bestform.
Blick nach Darmstadt
Mucksmäuschenstille. In den Bann zieht ein exzellentes Gesamtkunstwerk. Tanz, Licht, Stille, Wortgebilde. Musik (Max Richters Version der „Vier Jahreszeiten“) und atmosphärische Klangflächen. Eine eigene Rolle spielt das faszinierende „Luftobjekt“ von Frank Fierke. Atemlos folgt das Publikum den getanzten Szenen von „memento“ im Darmstädter Musentempel. Keine Handlung. Freiraum für Assoziationen „Stirb und werde“, Orpheus & Eurydike, Wandel & Verwandlung, Totentanz & leiser Humor.
Computeranimationen (Frieder Weiss & Matthias Härtig) machen Tanzende zu faszinierenden LichtKörpern. Nähe und Distanz, Spiegelung, Trennung und Trauer. Gestalten in schwarz. Ein bewegliches Labyrinth aus Vorhängen (Andreas Auerbach) und austarierte Lichtstimmungen (Tanja Rühl) runden Tim Plegges packendes Konzept ab.Mehrfach verschoben, wird die Uraufführung anhaltend mit standing ovations bejubelt. Ein Tanzereignis für den FAUST.
Text und Fotos: Gesine Werner