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Editorial

Editorial

Liebe Leserinnen und Leser!

Seit mehreren Monaten leben wir bereits in einer veränderten Welt. Das Coronavirus hat unser gewohntes gesellschaftliches Leben aus dem Takt gebracht. Diese Veränderung kam plötzlich, quasi über Nacht, so dass wir in eine gewisse Schockphase verfallen sind. Für viele von uns war dies vermutlich eine Überforderung.

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Leider ist unser gesellschaftliches Leben, trotz erster Öffnungen, immer noch nicht so, wie wir es vor Corona gewohnt waren. Unser Alltag ist immer noch bestimmt von Abstandsregeln, Mundschutz, Desinfektionsmitteln und Hygienekonzepten.

Da der Mensch ein soziales Wesen ist, das auf Beziehung ausgerichtet ist, stellt sich mir die Frage: Wie können wir auch zukünftig in der Kirche verantwortlich unser Gemeinschaftsleben unter den veränderten Bedingungen gestalten?

In den ersten Monaten unter Corona haben viele Menschen in unseren Kirchengemeinden versucht, sich auf die veränderte Situation einzustellen und sind sehr kreativ gewesen: Es gab und gibt geistliche Impulse und Gottesdienste, die wir über das Internet übertragen. Ehrenamtliche haben Lichter aus der Osternacht zu den Menschen nach Hause gebracht. Ein solistisches Konzert wurde aus der Kirche übertragen. Die Messen sind mit Gesangs- bzw. Instrumentaleinlagen umrahmt und Ehrenamtliche gestalten Andachten. Neben sogenannten „Fenstergottesdiensten“ an den Seniorenstiften und Behinderteneinrichtungen, gab es „Kinderkirche in der Tüte“ und „on tour“, einen meditativen Weg für die Firmbewerber und Firmbewerberinnen, eine auf Compact Disc aufgenommene Maiandacht für die Kranken zu Hause, Seelsorgetelefon und caritative Hilfsangebote, Gutscheine der Tafel für Hilfsbedürftige und vieles mehr. Unsere Haupt- und Ehrenamtlichen haben versucht, mit Hilfe der modernen Kommunikationsmittel die Arbeit in ihren Bereichen so gut wie möglich zu gestalten.

Die beispielhafte Auflistung könnte ich vermutlich noch ein ganzes Stück ergänzen. Mir zeigt sie: Trotz der äußeren Einschränkungen unseres öffentlichen und kirchlichen Lebens scheint hier ein kirchliches Leben zu keimen, das neue Formen und Möglichkeiten der Seelsorge und Verkündigung hervorbringen kann. Das hat mich überrascht, dafür bin ich aber auch allen Engagierten sehr dankbar.

Was können uns die zaghaften Keime neuen kirchlichen Lebens und Verkündigung sagen?

Ich denke, dass hier für uns alle eine Chance liegt. In den letzten Tagen hörte man in den Medien immer wieder den Begriff der Systemrelevanz. Der Begriff soll aus der Finanzwirtschaft kommen und meint wohl, dass eine Einrichtung, wie eine Bank oderVersicherung, für die Gesamtgesellschaft insofern bedeutsam ist, als dass ihr Konkurs so gravierende wirtschaftliche Nachteile für alle Menschen hätte, dass ihr Ausfall –auch durch staatliche Eingriffe –zu verhindern ist; „too big to fail“ sagt man dazu in Finanzkreisen. In Zeiten der Corona-Krise sind dies aber nicht nur Finanzinstitute oderVersicherungen. Alle Einrichtungen und Berufe, die eine gravierende Relevanz für die Versorgung und den Erhalt einer Gesellschaft haben, sind zu retten.

Wie ist es nun mit den Kirchen: Ist Kirche auch noch systemrelevant für unsere Gesellschaft? Provokant gefragt: Brauchen die Menschen heute noch Kirche? Darüber wird viel diskutiert. Ich denke, auch, wenn es vielleicht nicht so scheint: Ja, Kirche ist und muss systemrelevant bleiben! Auch wenn in unserer westlichen Wohlstandsgesellschaft vielen der Zugang zum christlichen Glauben und den Kirchen fehlt, wird gerade in Corona-Zeiten deutlich, dass Menschen Antworten suchen für ihre existenziellen Fragen von Leben und Tod. Diese Antworten können Staat und Wissenschaft nur bedingt geben. Die Bilder der Massenbestattungen, die schweigend nebeneinander aufgereihten Särge in Italien oder den Vereinigten Staaten haben mir erschreckend deutlich gemacht, dass staatliche Verwaltungsbehörden im Umgang mit dem Tod nur begrenzt Antworten geben können. Ihre Ausdrucksformen im Umgang mit dem Tod wirken eher stumm und kalt.

Nicht nur im Umgang mit existenziellen Fragen von Leben und Tod, sind wir als Kirchen besonders gefragt den Menschen Antworten und Hoffnungen zu geben bzw. Formen und Riten religiöserVollzüge. Auch in Fragen von Gerechtigkeit und Verantwortung haben wir etwas zu sagen.

Ich halte es für wichtig, dass wir uns als Kirche aus einer anfänglichen Schockstarre herausbewegen und die Deutungshoheit über religiöse und existenzielle Frage nicht einfach anderen überlassen, sonst riskieren wir in der Tat unsere Systemrelevanz ganz.

Als Christen haben wir den Auftrag, den Menschen Antworten zu geben auf die wichtigsten Fragen gesellschaftlichen Zusammenlebens und menschlicher Existenz, auf Leben und Tod. Unsere Antworten auf diese Fragen gehen letztendlich alle von Jesus Christus aus. Er, durch den alles Leben in seinem Ursprung entstanden ist und der als erster durch seine Auferstehung den Tod überwunden hat, ist die christliche Antwort auf die wesentlichen Fragen unserer menschlichen Existenz.

Ihr Pfarrer Josef Gerards

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