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MAGAZIN Erstmals auf Deutsch:
Hannah Arendt „Französischer Existenzialismus“
Mit zahlreichen Originaltexten von Jean-Paul Sartre Simone de Beauvoir • Albert Camus und Beiträgen von Peter Trawny • Alice Schwarzer • Sarah Bakewell u.v.m.
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LEBE DEINE FREIHEIT
Deutschland 9,90 €; Österreich 9,90 €; Schweiz: 16,50 CHF; Benelux: 10,40 €; Italien & Spanien: auf Nachfrage
Die Existenzialisten
Inhalt ***
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Ohne Trost Zitatseite
EDITORIAL
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DENKER / IMPRESSUM
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Ekel in den Händen Jean-Paul Sartre
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LITERATUR
114 Kierkegaards Einsicht: Das Prinzip Verzweiflung Dominique Kuenzle 28
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Vorläufer und Nachfolger SCHAUBILD
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Heideggers Vermächtnis: Wir sind in die Welt geworfen Peter Trawny 33
Drei Leben CHRONOLOGIE
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WAGNIS DER FREIHEIT
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Sprung in die Freiheit Karl Jaspers 40
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Leben im Trotz Hannah Arendt 41
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Das Seinsloch Jean-Paul Sartre 42
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Sartres Weg zur Selbstbefreiung Hans-Martin Schönherr-Mann 44
Von der Unaufrichtigkeit Jean-Paul Sartre
Von Berlin nach Paris Gespräch mit Frédéric Worms 12
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Am Beispiel des Kellners Birthe Mühlhoff 53
Hannah Arendt Französischer Existenzialismus 19
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Das Schicksal der anderen Simone de Beauvoir 55
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Fremd ist die Welt und absurd Albert Camus 58
Philosophie Magazin
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Sonderausgabe 09
Illustration: Studio Nippoldt, Bildvorlage: Original Foto von Henri Cartier-Bresson/Magnum Photos und Hulton Archive/Getty Images
URSPRUNG ANGST
GEGEN DIE WELT
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Camus: Von der Revolte in die Versöhnung André Comte-Sponville 60
1940: Das besetzte Paris Simone de Beauvoir
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1944: Republik des Schweigens Jean-Paul Sartre
Mord ohne Motiv Albert Camus 67
Unschuldig! Jean-Paul Sartre 68
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Der kleine Schwarze Barbara Vinken 72
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Eine Nacht in Paris Simone de Beauvoir 74
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Zur Pose verkommen Karl Jaspers 76
VON DER REVOLTE ZUR AKTION
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Ein Ende setzen Albert Camus
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1945: Die Atombombe Albert Camus 80
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1948: Spanische Diktatur Albert Camus
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„Jeder Selbstmord braucht Mut“ Gespräch mit Roland Quilliot 91
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„Sartre wollte einen modernen Marxismus“ Gespräch mit Vincent von Wroblewsky 96
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Verhütung ist Freiheit Simone de Beauvoir
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1955: Algerien Albert Camus
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1956: Einmarsch in Ungarn Jean-Paul Sartre 85
„Der Feminismus steht auf Beauvoirs Schultern“ Gespräch mit Alice Schwarzer 104
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Das gewählte Geschlecht Catherine Newmark 108
1968: Vietnamkrieg Jean-Paul Sartre 86
1968: Studentenrevolte Jean-Paul Sartre 87
1971: Frauenbewegung Simone de Beauvoir 88
Die Existenzialisten 7
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„Niemand kann ein perfekter Existenzialist sein“ Gespräch mit Sarah Bakewell 111
Philosophie Magazin
Friedrich Nietzsche 1844 – 1900 stellt sich verzweifelt der Herausforderung, in einer Welt zu leben, in der Gott tot ist
Søren Kierkegaard 1813 – 1855
Martin Heidegger 1889 – 1976
Illustration: Studio Nippoldt, Bildvorlage: Original Foto von Henri Cartier-Bresson/Magnum Photos und Hulton Archive/Getty Images
beschreibt die menschliche Existenz als In-der-Welt-Sein, als Sein zum Tode, das sich um sein Sein sorgen muss: Das Dasein ist Entwurf, der in die Welt geworfen ist
versucht, das Leiden an der eigenen melancholischen Befindlichkeit mit Einsichten in wesentliche Aspekte der menschlichen Existenz zu verbinden und macht das autonome Individuum zur Grundlage einer individuellen Ethik
Sartre Beauvoir
Karl Jaspers 1883 – 1969
1905 – 1980
befasst sich mit der menschlichen Erfahrung der „Grenzsituation“: Tod, Schuld, Leiden und Geschichtlichkeit
1908 – 1986
Camus
Gabriel Marcel
1913 – 1960
1889 – 1973
ein christlicher Existenzialist, auch wenn er sich selbst nicht als solcher bezeichnen lassen wollte
FEMINISMUS ANTIKOLONIALISMUS Philosophie Magazin
STUDENTEN BEWEGUNG 68ER 8
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Marquis de Sade 1740 – 1814 schreibt zügellose erotische und „sadistische“ Fantasien und wird damit zum Inbegriff eines Denkers der radikalen Freiheit
Edmund Husserl 1859 – 1938
beschreibt in Abgrenzung zum cartesianischen Cogito die Struktur des Bewusstseins als etwas, das sich immer auf einen Gegenstand bezieht
Vorläufer und Nachfolger Die Wirkung ihres Denkens auf die Befreiungskämpfe und Emanzipationsbewegungen der sechziger und siebziger Jahre ist kaum zu überschätzen. Aber Sartre, Beauvoir und Camus waren auch selbst tief beeinflusst von philosophischen Vorläufern und Wegbereitern
Maurice Merleau-Ponty
von BIRTHE MÜHLHOFF
1908 – 1961
stellt in den Mittelpunkt seiner phänomenologischen Philosophie den Leib, als den der Mensch sich selbst und die Welt erfährt
SEXUELLE BEFREIUNG
BÜRGERRECHTS BEWEGUNG Die Existenzialisten
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SCHWULEN BEWEGUNG
DIE EXISTENZIALISTEN
Von
Berlin nach Paris
Die französischen Existenzialisten sind in vielem von der deutschen Existenzphilosophie beeinflusst – aber sie schaffen auch etwas Neues, das den Fragen ihrer Zeit und ihres Ortes entspricht. Kleine Familiengeschichte der Denker der Existenz
GESPRÄCH MIT FRÉDÉRIC WORMS
von Sven Ortoli
Ist der Existenzialismus eine deutsch-französische Geschichte? FRÉDÉRIC WORMS / Die europäische Philosophie hat seit der Französischen Revolution, sagen wie seit Kant und Rousseau, einen deutsch-französischen Antrieb. Wenn wir speziell den Existenzialismus betrachten, so haben wir es hier noch viel deutlicher mit einer deutsch-französischen Geschichte zu tun, die meiner Meinung nach – denn irgendwo muss man den Punkt ja ansetzen – 1933 beginnt, als Raymond Aron, nach seiner Rückkehr aus Berlin, Simone de Beauvoir und Jean-Paul Sartre wiedertrifft, seine ehemaligen Kommilitonen von der École normale supérieure, in einem Café am Montparnasse, dem Bec de Gaz. Während sie die Spezialität des Hauses, einen Aprikosencocktail kosten, so Beauvoirs Erinnerung, sagt Aron zu Sartre: „Siehst du, mon petit camarade, wenn du Phänomenologe bist, kannst du über diesen Cocktail sprechen, und das ist dann Philosophie!“ Kann schon sein, dass Sartre damals eher ein Bier trank, wie Aron berich-
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tet, aber Tatsache ist, dass er nach dieser Diskussion den Entschluss fasst, selbst nach Deutschland zu fahren, um diese Phänomenologie zu studieren, die ihm helfen sollte, wie Beauvoir weiter erzählt, „den Gegensatz von Realismus und Idealismus überwinden“. Es geht also um eine philosophische Positionsveränderung. Doch diese erfolgt über die Geografie und die Geschichte: Ich möchte fast sagen, es war für die jungen französischen Philosophen der dreißiger Jahre eine Notwendigkeit, nach Deutschland zu reisen.
Eine Notwendigkeit? Aber gibt es 1933 nicht eher die Notwendigkeit, Deutschland zu verlassen wie für Günther Anders oder Hannah Arendt? / Das stimmt natürlich, aber von Frankreich aus gesehen bleibt Deutschland Anfang der dreißiger Jahre ein Magnet für eine junge Generation von Philosophen, die das tiefe Bedürfnis haben, mit der Generation ihrer Lehrer zu brechen, der sie vorwerfen – ob nun zu Recht oder zu
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Simone de Beauvoir im Café Prokope in Paris mit Boris Vian (links) und Jean-Paul Sartre (rechts), 1951
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Unrecht – nicht konkret zu sein und kein historisches Bewusstsein zu haben.
Warum Deutschland und nicht etwa die angelsächsischen Länder? / Weil in Deutschland die Philosophie am spannendsten ist. Diese Hinwendung zu Deutschland ist auch vergleichbar mit einem Pendel, das zurückschwingt. Die „deutsche“ Philosophie war zuvor schon nach Frankreich gekommen: Sartre fährt nach Berlin, weil Aron von dort zurückkehrt und ihn überzeugt, dass dort philosophisch etwas völlig Neues passiert. Levinas, der selbst aus Litauen stammt, hat zwischen 1928 und 1929 zwei Semester bei Husserl verbracht, und danach nahm er an dem berühmten Hochschulkurs in Davos teil, wo auch Heidegger war. Nicht zu vergessen die beiden Alexandres: Koyré und Kojève, die von Russland nach Frankreich kommen über Göttingen beziehungsweise Heidelberg, der eine hatte Vorlesungen bei Hilbert und Husserl gehört, der andere eine Neuinterpretation von Hegel im Gepäck. Als sie in Frankreich ankommen, verkünden alle, dass die deutsche Philosophie im Aufruhr sei durch die drei Hs – Husserl, Heidegger und Hegel. Das sind also die drei transnationalen Geister, die an der Wiege des Existenzialismus stehen.
/ Sagen wir, dass er in dieser Zeit auf der Suche nach einer neuen Philosophie ist und sich zunächst von der Welt zurückzieht, so viel ist sicher. Er vertieft sich in Husserl. Und seine Lektüre bringt ihn schließlich dazu, 1938 einen wichtigen Artikel zu veröffentlichen mit dem Titel „Eine fundamentale Idee der Phänomenologie Husserls: die Intentionalität“. Sartre versteht diese Intentionalität als das, was uns in die Welt hinausschleudert. Das bedeutet letztlich: Schluss mit der Innerlichkeit, wenn er im berühmten Schluss seines Artikels schreibt: „So sind wir von Proust befreit“! Aber Husserl ist nur eine Etappe. Sartre war ausgezogen, um eine Phänomenologie kennenzulernen, die behauptet, dass die Phänomene einem Bewusstsein gegeben sind. Doch er trifft eine andere, die besagt, dass es das Dasein ist, das menschliche Subjekt, das auf die Möglichkeit des Nichts und des Todes ausgerichtet ist, das der Welt Sinn gibt! Nach Husserl, dem Denker des Konkreten und der Rückkehr zu den Sachen selbst, lernt er Heidegger kennen, jenen Denker, der behauptet, dass wir Subjekte sind, weil wir metaphysische Fragen stellen: Warum gibt es überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts? In Anlehnung an Kierkegaard macht Heidegger die Freiheit und die Angst, die diese hervorruft, zur Triebkraft des menschlichen Lebens. Bei seiner Lektüre entdeckt Sartre, wie vor ihm der junge Levinas, dass die Zeitlichkeit der Seinssinn eines Subjektes ist, das der Welt Sinn gibt, indem es sich auf die Zukunft hin entwirft. Die Zeit ist also keine objektive
Foto: bpk/Georges Dudognon/adoc-photos
Sartre geht also für das akademische Jahr 1933/34 nach Berlin, historisch ist das nicht gerade die ruhigste Zeit. / Das stimmt, doch im Gegensatz zu seinem Vorgänger, der die Ereignisse besonders aufmerksam verfolgte, angefangen beim Reichstagsbrand, interessiert Sartre sich nicht für diese Geschichte, die da ihren Lauf nimmt: Er sieht nichts, hört nichts und erzählt nichts über den Aufstieg des Nationalsozialismus. In seinen Tagebüchern schreibt er sogar: „Ich hatte Ferien für ein Jahr in Berlin, ich fand dort die Verantwortungslosigkeit der Jugend wieder.“
Er tut also genau das, was seine Generation der vorherigen vorwirft? Gleichgültigkeit gegenüber den historischen Ereignissen und der konkreten Welt?
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Hannah Arendt: Französischer
Existenzialismus Popstars – nichts anderes sind die Existenzialisten in den vierziger Jahren. Was es mit dieser gefeierten Intellektuellenszene auf sich hat, erklärt die selbst erst seit fünf Jahren im amerikanischen Exil lebende Hannah Arendt schon 1946 ihren neuen Landsleuten. Den zuerst in der Wochenzeitschrift The Nation unter dem Titel „French Existentialism“ veröffentlichten Text drucken wir hier erstmals in deutscher Übersetzung ab
von HANNAH ARENDT
Foto: akg-images/Denise Bellon
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ren. Und wie es scheint, kann nicht einmal der Erfolg sie in respektable Langweiler verwandeln. So geschieht es, allen Berichten zufolge, derzeit in Paris. Wenn die Résistance nicht die europäische Revolution lostreten konnte, so scheint sie doch, zumindest in Frankreich, eine echte Rebellion der Intellektuellen ausgelöst zu haben. Und deren Fügsamkeit im Hinblick auf die moderne Gesellschaft zählte ja zu den traurigsten Aspekten des traurigen Spektakels, das Europa zwischen den Kriegen bot. Fürs Erste halten die Franzosen die Argumente ihrer Philosophen offenbar für wichtiger als die Reden und Streitereien ihrer Politiker. Natürlich könnte dies den Wunsch widerspiegeln, sich aus dem politischen Handeln in eine Theorie zu flüchten, die vom Handeln bloß redet, sprich: in Aktivismus. Doch es könnte auch bedeuten, dass angesichts des spirituellen Bankrotts der Linken und der Sterilität der alten revolutionären Elite – die bei allen politischen Parteien zu einem hoffnungslosen Drang nach der Wiederherstellung alter Ordnungen geführt hat – mehr Menschen, als wir
ine Vorlesung über Philosophie löst Krawalle aus, Hunderte drängen sich herein und Tausende werden abgewiesen. Bücher zu philosophischen Problemen, die keine Binsenweisheiten und Patentrezepte bieten, sondern im Gegenteil so kompliziert sind, dass sie echtes Denken erfordern, verkaufen sich wie Detektivgeschichten. Theaterstücke, in denen sich die Handlung in Worten entfaltet, nicht in Taten, und in denen Reflexionen und Ideen miteinander in Dialog treten, laufen monatelang vor begeistertem Publikum. Analysen zur Situation des Menschen in der Welt, zu den Grundlagen menschlicher Beziehungen, zu Sein und Nichts bringen nicht nur eine neue literarische Bewegung hervor, sondern treten obendrein als mögliche Leitlinien zur politischen Orientierung in Erscheinung. Aus Philosophen werden Zeitungsmacher, Dramatiker, Romanautoren. Sie gehören keinen Universitätsfakultäten an, sondern sind „Bohemiens“, die in Hotels wohnen, ihre Tage in Cafés verbringen – ein öffentliches Leben bis hin zur völligen Aufgabe ihrer Privatheit füh-
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Hannah Arendt in einem Pariser CafĂŠ, 1935
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URSPRUNG ANGST u Das Gefühl der eigenen Sterblichkeit, die Angst vor dem Tode, der Ekel vor der Welt oder die Verzweiflung über den Tod Gottes und den daraus folgenden Sinnverlust: Ausgangspunkt für das existenzialistische Denken bilden eine Reihe von ganz grundsätzlichen menschlichen Erfahrungen, die in der Philosophie der Moderne zentral geworden sind. Ein prägender Vorläufer für die französischen Existenzialisten ist der Däne Søren Kierkegaard mit dem Nachdenken über Angst und Verzweiflung; ein anderer Martin Heidegger mit der Zuspitzung der Philosophie auf das je individuelle menschliche Leben als ängstliches „Sein zum Tode“
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ANGST
JEAN-PAUL SARTRE
Ekel in den Händen Nirgends wird das Gefühl des Ekels, diese Grundunzufriedenheit mit der Welt, so kleinteilig und geradezu liebevoll detailreich beschrieben wie in Sartres frühem Roman „Der Ekel“
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gangen: Es war eine linierte Seite, zweifellos aus einem Schulheft herausgerissen. Der Regen hatte sie durchnässt und verzogen, sie war blasig und aufgedunsen wie eine verbrannte Hand. Der rote Randstrich hatte sich in einen rosa Nebel aufgelöst; die Tinte war stellenweise ausgelaufen. Der untere Teil der Seite verschwand unter einer Dreckkruste. Ich habe mich gebückt, ich freute mich schon darauf, diese weiche, frische Masse anzufassen, die sich zwischen meinen Fingern zu grauen Kügelchen rollen würde … Ich habe es nicht gekonnt. Ich bin gebückt stehengeblieben, eine Sekunde lang, ich habe gelesen: „Diktat: die weiße Eule“, dann habe ich mich aufgerichtet, mit leeren Händen. Ich bin nicht mehr frei, ich kann nicht mehr machen, was ich will. Die Gegenstände, das dürfte einen nicht berühren, denn das lebt ja nicht. Man bedient sich ihrer, man stellt sie wieder an ihren Platz, man lebt mitten unter ihnen: Sie sind nützlich, mehr nicht. Aber mich, mich berühren sie, das ist unerträglich. Ich habe Angst, mit ihnen in Kontakt zu kommen, als wären sie lebendige Tiere. Jetzt begreife ich; ich entsinne mich besser an das, was ich neulich am Strand gefühlt habe, als ich diesen Kiesel in der Hand hielt. Das war eine Art süßliche Übelkeit. Wie unangenehm das doch war! Und das ging von dem Kiesel aus, ich bin sicher, das ging von dem Kiesel in meine Hände über. Ja, das ist es, genau das ist es: eine Art Ekel in den Händen.
ch hebe sehr gern Maronen, alte Fetzen, vor allem Papier auf. Ich finde es angenehm, sie zu greifen, meine Hand um sie zu schließen; es fehlt nicht viel, und ich würde sie in den Mund stecken wie die Kinder. Anny geriet in helle Wut, wenn ich schwere und prächtige Papierfetzen an einer Ecke hochhob, die aber wahrscheinlich mit Scheiße beschmiert waren. Im Sommer oder zu Beginn des Herbstes findet man in den Parks Zeitungsfetzen, von der Sonne ausgedörrt, trocken und spröde wie verwelktes Laub, so gelb, dass man meinen könnte, sie wären in Pikrinsäure getaucht. Andere Blätter werden im Winter festgestampft, zermahlen, beschmutzt, sie kehren zur Erde zurück. Andere, ganz neue und sogar vereiste, stehen ganz weiß und zuckend da wie Schwäne, aber schon heftet sich die Erde von unten an sie. Sie krümmen sich, sie winden sich aus dem Morast, aber nur um sich etwas weiter weg flach hinzulegen, für immer. Das alles lässt sich gut anfassen. Manchmal betaste ich sie nur, wobei ich sie ganz genau ansehe, manchmal zerreiße ich sie, um ihr langanhaltendes Knistern zu hören, oder aber, wenn sie sehr feucht sind, zünde ich sie an, was nicht ohne Mühe geht; dann wische ich meine dreckverschmierten Handflächen an einer Mauer oder an einem Baumstamm ab. Heut also sah ich die fahlroten Stiefel eines Kavallerieoffiziers an, der aus der Kaserne kam. Als ich ihnen mit den Augen folgte, habe ich ein Stück Papier gesehen, das neben einer Pfütze lag. Ich habe geglaubt, der Offizier würde das Papier mit seinem Absatz in den Matsch bohren, aber nein: Er ist mit einem einzigen Schritt über das Papier und die Pfütze hinweggestiegen. Ich bin hinge-
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„Der Ekel“, a. d. Frz. v. Uli Aumüller, S. 19–20
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ANGST
Kierkegaards Einsicht: Das Prinzip
Verzweiflung
Auf den ersten Blick mag es geradezu paradox erscheinen, dass der tief religiöse Søren Kierkegaard als Gründer des Existenzialismus gilt – einer Haltung und Tradition, die heute oft als Reaktion auf den Tod Gottes verstanden wird. Tatsächlich aber finden sich fast alle Motive und Aussagen, die etwa Sartres Existenzialismus prägen, schon in seinen Schriften
von
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Natürlich ist es kein Zufall, dass Anthony Jr. mit Nietzsche und dem französischen Existenzialismus provoziert: Das Wort vom Tod Gottes eignet sich hervorragend für einen Aufstand gegen den heuchlerischen Mafia-Vater, auch wenn der sich unbeeindruckt zeigt („Even if God is dead, you’re still gonna kiss his ass“). Und Sartres wohl eingängigste und verständlichste Erläuterung des existenzialistischen Über-Slogans „Existenz vor Essenz“ beruht auf atheistischen Voraussetzungen: Der Mensch habe kein vorgegebenes Wesen, so Sartre, weil es eben keinen Gott gebe, zu dem der Mensch sich so verhalte wie ein Gebäude zu seinem Architekten. Kein Planer, Designer und Schöpfer – keine Idee, keine Essenz. Keine Vor-
n für heutige populärkulturelle Adaptionen des Existenzialismus typischer Weise bedient sich das Drehbuch der bekannten US-Serie „The Sopranos“ bei Aussagen von Nietzsche, Camus und Sartre, um die pubertäre Rebellion zu illustrieren, mit der sich Tony Sopranos Sohn gegen seinen Vater wendet. „Gott ist tot“, verkündet der Teenager Anthony Jr. nun plötzlich, „das Leben ist absurd“ und „ich lasse mich nicht firmen“. Schließlich verrät ihm ein Kumpel beim Baseballtraining, wo das richtig gute Zeug zu holen sei: „Sartre“, meint er, „war ein verdammter Hochstapler. Alles abgeschrieben. Du solltest am Anfang starten. Schau dir mal Kierkegaard an!“
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Foto: akg-images
DOMINIQUE KUENZLE
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gaben, keine Orientierung, keine Moral. Eine verwirrte Kreatur in einer leeren, düsteren Welt, geprägt von Angst und Verzweiflung angesichts ihrer überwältigenden Freiheit und der damit einhergehenden erdrückenden Verantwortung. Wenn wir davon ausgehen, dass dieses Bündel von Ideen und Motiven tatsächlich zumindest einiges von dem erfasst, was wir heute als „existenzialistisch“ beschreiben, so mutet es geradezu paradox an, dass der Gründer des Existenzialismus ein tief christlicher Søren Kierkegaard, skizziert von seinem Cousin Niels Christian Kierkegaard, um 1840 Denker ist. Wie wurde ausgerechnet der dänische Philosoph Søren Kierkegaard, der zeit seines Lebens um echten christlichen Glauben kämpfte, zum Begründer einer Tradition, Leserschaft sowie vielfältigen literarischen und philosodie erst in ihrer atheistischen Form auch außerhalb der phischen Schreibstilen, wirkt Kierkegaard außerordentlich faszinierend und vielschichtig, entzieht sich aber Philosophie einflussreich und berühmt wurde? Kierkegaard wurde 1813 in Kopenhagen als jüngstes auch der Pflicht zur Konsistenz. Eine konventionelle arguvon sieben Kindern eines wohlhabenden Textilkaufmanns mentative Rekonstruktion „seines Existenzialismus“, wie und dessen zweiter Gattin, Ane Lund Kierkegaard, gebo- sie im Folgenden gewagt werden soll, ist deshalb nur ren. Der Haushalt war geprägt von einem überaus erns- dann legitim, wenn wir uns dieser komplexen textuellen ten, düsteren Luthertum. Der Vater, den Kierkegaard in Situation bewusst bleiben. seinen Tagebüchern einen „depressiven alten Mann“ nannte, lebte in der festen Überzeugung, dass er als Folge DAS UNGLÜCK DES MODERNEN LEBENS einer mysteriösen, tiefen Schuld dazu verflucht sei, alle seine sieben Kinder zu überleben. Trotzdem studierte sein Jüngster recht gemütlich Theologie, spazierte stundenlang kreuz und quer durch Kopenhagen, nervte Passanten mit spontanen sokratischen Kreuzverhören und begann seine ausgesprochen intensive und erfolgreiche Publikationstätigkeit erst 1843 nach einer viel diskutierten persönlichen Krise, der Ver- und Entlobung mit Regine Olsen. Nun publiziert Kierkegaard in rascher Folge ein Meisterwerk nach dem andern: „Entweder – Oder“, „Die Wiederholung“, „Furcht und Zittern“ (alle 1843), „Der Begriff der Angst“ (1844), die „Unwissenschaftliche Nachschrift“ (1846), „Krankheit zum Tode“ (1849). Alle diese Werke erscheinen pseudonym, fiktiven Autoren und Herausgebern zugeschrieben, die jeweils Profile und klar erkennbare Perspektiven erhalten. Dank dieses Spiels mit Autorschaft, der ständigen Reflexion auf die Beziehung zur
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Ein guter Ausgangspunkt für eine solche Rekonstruktion ist Kierkegaards Tendenz, unsere modernen Einstellungen und Lebensführungen in Kategorien einzuteilen. Auf seinen Spaziergängen durch Kopenhagen beobachtet und erfragt Kierkegaard zunächst, wie seine Mitbürgerinnen und Mitbürger ticken: Die Hedonisten jagen Luxus, Spaß und Vergnügen nach, die Ästhetikerinnen erfreuen sich an Geschichten, Schönheit und Kunst; Spießbürger sind motiviert von einem ausgeprägten Sicherheitsbedürfnis, Ethikerinnen widmen ihr Leben einer guten Sache, und die meisten von uns orientieren sich sowieso hauptsächlich an dem, was andere tun, was sich gehört, was man halt so macht und erwartet. Während Kierkegaard die sonntagschristliche Version dieses Konformismus, die er in Kopenhagen beobachtet, ganz besonders verachtet, hält er auch fast alle alternativen Einstellungen und Lebensbewältigungsstrategien für
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„ Wie tief ein Individuum auch gesunken ist – es kann noch tiefer sinken, und dieses ‚kann‘ ist der Gegenstand der Angst “ Søren Kierkegaard, „Der Begriff Angst“, Kapitel 4, §1, S. 133
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Heideggers Vermächtnis:
in die Welt geworfen
Wir sind
Kaum ein Denker hat mehr Einfluss auf Sartre ausgeübt als Heidegger, der schon 1927 in „Sein und Zeit“ schreibt: „Das Wesen des Daseins liegt in seiner Existenz.“ Heideggers Zurückgehen auf das je eigene menschliche Leben als Ausgangspunkt der Philosophie machte ihn zu einem der wirkmächtigsten Erneuerer des Denkens im 20. Jahrhundert von PETER TRAWNY
Foto: Brendan George Co
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Elfrides. Wer Heideggers Briefe jener Zeit an Elfride liest, meint zuweilen einen dostojewskischen Roman vor sich zu haben. Dann beginnt Heideggers kometenhafter Aufstieg als Philosoph. Später wird Hannah Arendt sich an diese Zeit erinnern, wenn sie Heidegger den „heimlichen König“ „im Reich des Denkens“ nennt. Und wirklich war Heideggers Auftritt in der verknöcherten deutschen Philosophie sensationell. Doch zurück zu Heideggers ersten Briefen an seine Frau. Das Frappierende an ihnen ist, dass Heidegger hier vor allem eines verfolgt: seiner Frau klarzumachen, dass er ein Philosoph sei, der, wie es einmal in Nietzsches „Also sprach Zarathustra“ heißt, nicht nach Glück, sondern nach einem Werk trachte. „Ich weiß heute, daß es eine Philosophie des lebendigen Lebens geben darf – daß ich dem Rationalismus den Kampf bis aufs Messer erklären darf – ohne dem Bannstrahl der Unwissenschaftlichkeit zu verfallen“, schreibt er 1916. Das war das Programm, das natürlich vom eigenen Leben nicht absieht. Das „lebendige Leben“, das sollte auch das mit Elfride sein;
rinnern wir uns! Zu Beginn des 20. Jahrhunderts lebt der junge Martin Heidegger in einer katholischen Welt. Glocken rufen zur Messe: Leib wird Brot, Blut wird Wein. Der Theologiestudent liest Bücher, die ihn aufwühlen: Friedrich Nietzsche spricht vom Tode Gottes, Søren Kierkegaards und Fjodor Dostojewskis Werke lassen zerquälte Seelen zum ersten Mal in deutscher Übersetzung sprechen, und die wichtigen Dichter sind Rainer Maria Rilke und Stefan George. Dann bricht der Große Krieg aus. Heidegger durchsucht 1915 zuerst Feldpostbriefe auf feindliche Propaganda, dann wird er zur Wetterbeobachtung abkommandiert. Franz Kafka veröffentlicht „Die Verwandlung“; es ist die Zeit, in der sich sehr gewöhnliche Bürger in Käfer verwandeln. Der Krieg endet für Deutschland in einem Desaster. 1917 heiratet Heidegger Elfride Petri. Nicht nur der Beginn der Ehe ist turbulent. Der zweite Sohn Hermann, geboren im August 1920 (der erste Sohn Jörg wird im Januar 1919 geboren), entstammt einer kurzen Affäre
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FREIHEIT
Camus: Von der Revolte in die
Versöhnung
Das Absurde ist „meine erste Wahrheit“, schreibt Camus in „Der Mythos des Sisyphos“. Um den besonderen Sinn dieser Wahrheit ans Licht zu bringen, analysiert André Comte-Sponville die Komplexität des Absurden bei Camus, jene Entzweiung von Mensch und Welt, und zeigt deren Entwicklung von der Revolte zu einer Form letzter Zustimmung
von ANDRÉ COMTE-SPONVILLE
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ziemlich gleichgültig; doch ich würde es für sie, für ihr Leben als Mensch, bedauerlich finden, wenn sie nicht eines Tages, und wenn möglich in ihrer Jugend, den „Mythos des Sisyphos“ lesen. Das ist freilich nicht der einzige Fall; das Gleiche würde ich im Hinblick auf Pascals „Gedanken“ oder auf die „Essays“ von Montaigne sagen. Wenn Camus auch nicht an deren unerschöpflichen Reichtum heranreicht, so muss man doch sagen, dass er für einen jungen Menschen von heute leichter zugänglich und vielleicht in gewisser Hinsicht auch notwendiger ist. Stefan Zweig merkte an, dass Montaigne eher ein Autor für das reifere Alter sei: „Man darf nicht allzu jung, nicht ohne Erfahrungen und Enttäuschungen sein, um ihn richtig würdigen zu können.“ Camus wäre eher – was man ihm oft und unüberlegt zum Vorwurf gemacht hat – ein Autor für die Jugend. Was freilich nicht heißt, dass man ihn nicht später lesen oder wiederlesen könnte, doch setzt er keine besondere Anhäufung von Erfahrungen, kein spezielles Wissen voraus und berührt, egal wie alt der Leser ist, vor allem die in ihm erhaltene oder wiedergefundene
amus ist nicht nur ein großer Schriftsteller. Er ist auch ein bedeutender Philosoph, einer jener selten zu findenden, die eine neue Orientierung der menschlichen Empfindsamkeit und Intelligenz anzeigen. Man hat ihn allzu rasch dem Stoizismus zugeordnet – in der Philosophie der bunten Säulenhalle hat das Absurde aber keinen Platz, weshalb Camus offensichtlich kein Stoiker ist. Oder aber er erfindet einen Stoizismus des Absurden, einen Stoizismus für unsere Zeit, und das wäre bereits ein recht hübsches Geschenk, was er uns da gemacht hätte. Dass man bestimmte Akzente von Epiktet und vor allem von Marcus Aurelius bei ihm wiederfinden kann, dieselbe brüderliche Größe, dieselbe Würde, dieselbe Noblesse, schmälert in keiner Weise das, was wir ihm schuldig sind, ganz im Gegenteil: In der heutigen Zeit und dem bei uns herrschenden geistigen Klima bedürfen wir genau dieser Größe. Gestatten Sie mir ein vertrauliches Geständnis: Ob meine Kinder die „Kritik der reinen Vernunft“ oder die „Phänomenologie des Geistes“ lesen oder nicht, ist mir
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Albert Camus auf der Insel Saint-Honorat, April 1945
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GEGEN DIE WELT
Das besetzte Paris 1940
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ie grünen und grauen Uniformen, das Hakenkreuz, das über dem Senat flatterte, waren mir vertraut geworden. Ich gab meine Stunden in Duruy, und ich las Hegel in der Bibliothek, die schon vormittags öffnete. Hegel beruhigte mich ein wenig. Wie ich mit zwanzig Jahren, als mir um meinen Vetter Jacques das Herz blutete, Homer gelesen hatte, um „die ganze Menschheit zwischen mich und meinen persönlichen Kummer zu rücken“, so versuchte ich jetzt, den gegenwärtigen Augenblick im „Lauf der Welt“ aufgehen zu lassen. Rings um mich schlummerte die Vergangenheit, in Tausenden von Folianten einbalsamiert, und die Gegenwart erschien mir als eine Vergangenheit von morgen. Ich klammerte mein Ich aus. Indessen verleiteten diese Träumereien mich keineswegs dazu, mich mit dem Faschismus abzufinden. Wenn man Optimist war, konnte man ihn als die notwendige Antithese zum bürgerlichen Liberalismus betrachten, als eine Etappe also auf dem Weg zur Synthese, die wir erhofften: zum Sozialismus. Aber um den Faschismus eines Tages zu überwinden, war es nötig, ihn zunächst einmal abzulehnen. Keine Philosophie hätte mich dazu bringen können, ihn zu bejahen. Er stand im Widerspruch zu allen Werten, auf die mein Leben sich gründete. Und jeder Tag lieferte mir neue Argumente, ihn zu hassen. Welcher Ekel jeden Morgen, wenn ich im Le Matin, in La Victoire diese moraltriefenden Rechtfertigungen Deutschlands las, diese nörgelnden Predigten, mit denen die Sieger uns überhäuften! Seit Ende Juli sah man an den Schaufenstern verschiedener Geschäfte Schilder mit der Aufschrift: „Für Juden verboten“. Le Matin veröffentlichte eine schmutzige Reportage über das „Ghetto“ und forderte, es solle verschwinden. Radio Vichy brandmarkte die „jüdischen Drückeberger“, die Parade französischer Widerstandskämpfer in Paris
Illustrationen (Porträts): Studio Nippoldt, Bildvorlage: Original Foto von Henri Cartier-Bresson/Magnum Photos und Hulton Archive/Getty Images; (Weltkugel) Trident, thenounproject.com; Foto: Keystone/Getty Images
Mit der militärischen Niederlage gegen das Deutsche Reich im Sommer 1940 beginnen für weite Teile Frankreichs vier Jahre der Okkupation. In Paris beobachtet Simone de Beauvoir, wie Antisemitismus und Verbrechen von den Besatzern aktiv gefördert und von Teilen der französischen Gesellschaft bereitwillig umgesetzt werden. Sartre spricht von der Freiheit, die angesichts der Unterdrückung, der Folter und des Todes ihre wahre Bedeutung bekommt
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aus Frankreich desertiert waren. Pétain hob das Gesetz auf, das jede antisemitische Propaganda verbot. Antisemitische Demonstrationen wurden in Vichy, Toulouse, Marseille, Lyon und auf den Champs-Élysées provoziert. Zahlreiche Fabriken entließen die „Juden und andere Ausländer“. Mich erschreckte der gewalttätige Charakter, den diese Kampagne alsbald annahm. Wohin würde das führen? Ich hätte gern mit jemandem meine Furcht und vor allem meinen Zorn geteilt. Mein einziger Beistand waren die Briefe, die Sartre mir aus Bacharach schickte. Er versicherte, dass unsere Idee, unsere Hoffnungen am Ende triumphieren würden. (14.7.1940) Simone de Beauvoir, „In den besten Jahren“, a. d. Frz. v. Rolf Soellner, S. 393–394
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kostbar wie eine Grundsatzerklärung; da wir verfolgt wurden, hatte jede unserer Gesten das Gewicht eines Engagements. Die oft grauenvollen Umstände unseres Kampfes versetzen uns endlich in die Lage, ungeschminkt und unverhüllt jene zerrissene, unhaltbare Situation zu durchleben, die man die Conditio humana nennt. Exil, Gefangenschaft und vor allem der Tod, den man in glücklichen Zeiten geschickt kaschiert, machten wir zu ständigen Gegenständen unserer Sorgen, wir lernten, dass das keine unvermeidbaren Unfälle, ja nicht einmal dauernde, aber äußere Bedrohungen sind: Es galt, darin unser Los, unser Schicksal, die tiefe Quelle unserer menschlichen Realität zu sehen; jede Sekunde erlebten wir die volle Bedeutung des banalen kleinen Satzes: „Alle Menschen sind sterblich.“ Und die Wahl, die jeder von sich traf, war echt, weil sie angesichts des Todes fiel, weil sie sich stets in der Form: „Lieber den Tod als …“ hätte ausdrücken lassen. Und ich spreche hier nicht von der Elite, welche die echten Widerstandskämpfer darstellten, sondern von allen Franzosen, die vier Jahre hindurch zu jeder Tages- und Nachtstunde nein gesagt haben. Gerade die Grausamkeit des Feindes trieb uns an die äußersten Grenzen unseres Menschseins und zwang uns dazu, uns jene Frage zu stellen, die man in Friedenszeiten umgeht: Alle von uns (…), die einige Einzelheiten über die Résistance wussten, fragten sich voller Angst: „Wenn man mich foltert, werde ich durchhalten?“ So stellte sich die eigentliche Frage der Freiheit, und wir standen am Rande der tiefsten Erkenntnis, die der Mensch von sich haben kann. Denn das Geheimnis eines Menschen ist nicht sein Ödipus- oder sein Minderwertigkeitskomplex, es ist die eigentliche Grenze seiner Freiheit; es ist seine Widerstandskraft gegen Martern und Tod. Denen, die im Untergrund arbeiteten, brachten die Umstände ihres Kampfes eine neue Erfahrung: sie kämpften nicht offen wie Soldaten; in der Einsamkeit verfolgt, in der Einsamkeit verhaftet, widerstanden sie den Folterungen in völliger Verlassenheit und Wehrlosigkeit: allein und nackt vor gutrasierten, gutgenährten, gutgekleideten Peinigern, die sich über ihr armseliges Fleisch lustig machten und denen ein befriedigtes Gewissen, eine maßlose gesellschaftliche Macht allen Anschein gaben, recht zu haben. Doch in ihrer tiefsten Einsamkeit verteidigten sie die anderen, alle anderen, alle Widerstandskameraden; ein einziges Wort
Republik des Schweigens 1944
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iemals waren wir freier als unter der deutschen Besatzung. Wir hatten alle unsere Rechte verloren und in erster Linie das Recht zu sprechen; jeden Tag warf man uns Schmähungen ins Gesicht, und wir mussten schweigen; massenweise verschleppte man uns als Arbeiter, als Juden, als politische Gefangene; überall an den Mauern, in den Zeitungen, auf der Leinwand begegneten wir dem abscheulichen und faden Gesicht, das unsere Unterdrücker uns von uns geben wollten: Auf Grund all dessen sind wir frei. Da das Nazigift bis in unser Denken eindrang, war jeder richtige Gedanke eine Eroberung; da eine allmächtige Polizei versuchte, uns zum Schweigen zu zwingen, wurde jedes Wort
Die Existenzialisten
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GEGEN DIE WELT
Die in den siebziger Jahren einsetzende zweite Frauenbewegung reklamiert Simone de Beauvoir als Vordenkerin für sich. Und Beauvoir selbst engagiert sich zunehmend für die Sache. Sie verfasst 1971 das ungeheuer wirkmächtige „Manifest der 343 Schlampen“, in dem 343 prominente Frauen erklären, abgetrieben zu haben
Frauenbewegung
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nser Bauch gehört uns: In Frankreich nehmen jedes Jahr eine Million Frauen eine Abtreibung vor. Sie tun es unter gefährlichen Bedingungen, weil sie zu Geheimhaltung gezwungen sind, obwohl der Eingriff, wenn er unter ärztlicher Aufsicht durchgeführt wird, zu den allereinfachsten gehört. Über diesen Millionen Frauen herrscht Stillschweigen. Hiermit erkläre ich, dass ich eine von ihnen bin. Ich erkläre, dass ich abgetrieben habe. Genauso wie wir den freien Zugang zu Verhütungsmitteln fordern, so fordern wir das Recht auf freie Abtreibung. (…) Die freie Abtreibung gehört nicht zu den obersten Zielen im Kampf der Frauen. Im Gegenteil: Sie ist lediglich eine der grundlegenden Forderungen, ohne die ein politischer Kampf nicht einmal beginnen kann. Es ist eine lebenswichtige Notwendigkeit, dass Frauen sich ihren Körper zurückholen und wieder eins werden mit ihm. Ihre Lage ist tatsächlich einzigartig in der Geschichte: In unseren modernen Gesellschaften sind sie menschliche Wesen, die nicht frei über ihren eigenen Körper verfü-
gen können. Bis zu diesem Tag haben sich nur Sklaven in einer ähnlichen Lage befunden. (…) Die Möglichkeit einer freien und kostenlosen Abtreibung bedeutet: – sofort aufzuhören, Scham über den eigenen Körper zu empfinden, und stattdessen frei und stolz im eigenen Körper zu sein, ganz so wie diejenigen, denen er bis heute stets zur vollsten Verfügung stand; – sich nicht mehr dafür zu schämen, eine Frau zu sein. Ein Ichgefühl, das sich in Stücke zerschlagen aus dem Staub macht – das ist die Erfahrung von allen Frauen, die eine heimliche Abtreibung vornehmen lassen müssen; – sie bedeutet, in jedem Augenblick man selbst zu sein, nicht mehr diese schambehaftete Angst zu haben, „genommen“ zu werden, in die Falle zu laufen, zwiegespalten zu sein und ohnmächtig angesichts dieser Art von Tumor im Bauch; – ein Kampf, der Menschen begeistert, denn, wenn ich ihn gewinne, beginne ich endlich, mir selbst zu gehören, und nicht mehr dem Staat, der Familie, dem Kind, das ich nicht will; – eine Etappe auf dem Weg hin zur vollständigen Kontrolle über die Zeugung von Kindern. Frauen haben wie alle Produzenten ein absolutes Recht auf die Kontrolle über ihre Produktion. Diese Kontrolle setzt ein radikales Umdenken der Frauen v oraus, sowie eine nicht weniger radikale Veränderung der gesellschaftlichen Strukturen. (...)
Übersetzt von Birthe Mühlhoff
Das „Manifeste des 343 salopes“ erschien im Nouvel Observateur n°334, 5. April 1971
Demonstration gegen das Abtreibungsverbot, Paris 1971
Foto: Gilles Peress/Magnum Photos/Agentur Focus; Illustration: Vladimir Belochkin, thenounproject.com
1971
VON DER REVOLTE ZUR AKTION u Wenn die Welt absurd ist und der Suizid keine Lösung, dann bleibt nur die Revolte. Oder gibt es doch die Möglichkeit zur politischen Aktion? Diese Frage wird für den späteren Sartre wichtig und führt ihn zu einer Annäherung an den Marxismus. Indes Beauvoir, die schon früh über die Freiheit des Individuums als verbunden mit der Freiheit und Befreiung anderer nachdenkt, mit ihrer Ethik der Geschlechterverhältnisse den Weg für die zweite Frauenbewegung ebnet
Die Existenzialisten
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„Sartre wollte
einen modernen
Marxismus“
Sartres politisches Engagement führt ihn schon früh in eine Weggenossenschaft mit den Kommunisten. Wie aber lassen sich individualistische existenzialistische Freiheitsideale mit marxistischer Systemkritik verbinden?
GESPRÄCH MIT VINCENT VON WROBLEWSKY
von Catherine Newmark
Wie kommt Sartre von seinem existenzialistischen Freiheitsverständnis zum Marxismus, der sein späteres Werk prägt? Dass er sich in den fünfziger und sech ziger Jahren dem Kommunismus zuwendet, mehrfach in die Sowjetunion reist … Steht sein existenzialistisches Freiheitsverständnis nicht im Widerspruch zum marxistisch-leninistischen Dogmatismus? VINCENT VON WROBLEWSKY / Doch, natürlich! Den Dogmatismus hat Sartre immer abgelehnt. Sartre beschreibt sich selbst schon früh als anarchistisches Individuum oder als individueller Anarchist, der es nicht akzeptieren konnte, von irgendjemandem Befehle zu bekommen, sich zu unterwerfen – und auch nie jemandem Befehle geben wollte. Das war ihm gleichermaßen zuwider.
Wie kommt dann aber dieser Übergang zustande von einem individuellen Anarchismus hin zu einem organisierten politischen Ansatz?
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Wie beantwortet Sartre diese Frage für sich? / Während der Besatzung versucht er, sich Widerstandsgruppen anzuschließen, was mehr oder weniger gelingt.
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/ Man kann das in der Entwicklung von Sartres Denken recht genau beobachten, nämlich in seinen Kriegstagebüchern von 1939/1940, die für mich zum Spannendsten zählen, was Sartre geschrieben hat, weil man hier alles, wie in einem Laboratorium, im Entstehen verfolgen kann. Man sieht nicht nur das Ergebnis, sondern den Prozess einer Auseinandersetzung, die Entwicklung seines Denkens. Der Krieg und die Kriegsgefangenschaft sind ein Erlebnis, das Sartre vor Fragen stellt. Der Kern seines Denkens ist die Freiheit. Aber gerade die Kriegssituation stellt ihn vor die Frage: Wie kann ich diese Freiheit leben? Als historisches Subjekt, das sich in Situationen wiederfindet, über die es nicht entschieden hat? Da stellt sich die Frage der Authentizität in verschärfter Weise. Wie kann man innerhalb der Historizität authentisch sein?
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Er bemerkt dann, nach 1945: Mein Widerstand war begrenzt. Fast könnte man sagen, er hat ein schlechtes Gewissen und will kompensieren. Jedenfalls bekommt für ihn dann die Konzeption des Engagements eine ganz starke Bedeutung, auf allen Gebieten: die engagierte Literatur, die Verantwortung des Schriftstellers, die Kritik an den Schriftstellern, die Jean-Paul Sartre mit Daniel Cohn-Bendit in Stuttgart-Stammheim beim Besuch von Andreas Baader, 1974 nicht begriffen haben, dass das, was sie schreiben, eine Wirkung hat. Und er sucht Vorwand, dass die Tauben, die er im Auto hatte, BrieftauMenschen, die das, was er erkannt hat, was er nun will – ben seien, mit denen er nach Moskau geheime Nachrichten eben nicht mehr nur individuell, isoliert frei sein, sondern übermitteln wollte – also ein Beweis für Spionage. Das historisch wirksam werden –, auch wollen, und die Gefähr- waren zum Teil schon sehr groteske Begebenheiten wähten werden können. So kommt er zu den Kommunisten, rend des Kalten Krieges … die ja einen wesentlichen Anteil am französischen Widerstand hatten. Die keine der beiden Seiten im Kampf der Systeme als
besonders attraktiv erscheinen lassen … Aber der stalinistische Kommunismus steht doch quer zu seinen Freiheitsvorstellungen?
/ Sartre sucht zunächst auch nach Alternativen. Ganz wichtig ist die kurze Phase 1948, als er im Rassemblement démocratique révolutionnaire eine politische Organisationsform gefunden zu haben meint, die einen dritten Weg darstellt. Die nicht kapitalistisch, kommunistisch oder gar stalinistisch ist, die nicht dogmatisch ist, sondern sowohl individuelle Freiheit hochhält als auch Organisationsformen, über die man entscheiden kann und aus denen man auch jederzeit austreten kann. Es kommt dann jedoch sehr schnell zum Streit mit seinen Mitstreitern, David Rousset und anderen. Und dann folgt die allerdings auch sehr begrenzte Phase der Weggenossenschaft mit den Kommunisten. Aber auch in dieser Zeit engagiert sich Sartre vor allem für die Weltfriedensbewegung. Der Hintergrund ist hauptsächlich die Atombombe, die für ihn auch in theoretischer Hinsicht eine große Rolle spielt. Denn mit der Atombombe ist eine völlig neue historische Situation gegeben: Zum ersten Mal in ihrer Geschichte hat die Menschheit die Möglichkeit, sich selbst zu zerstören – Selbstmord zu begehen, womit sie ein für ihr Fortleben verantwortliches Sub-
/ Gewiss. Aber er sieht eben auch deutlich, dass er sich die Geschichte und die Subjekte nicht aussuchen kann. Sie sind da. Bei den real vorhandenen Bedingungen muss man sich fragen: Wie entscheide ich mich, wie kann ich wirksam werden innerhalb der historischen Situation, in der ich mich befinde. Und in dem entstehenden Kalten Krieg zwischen den USA und der Sowjetunion sieht er sich trotz aller Vorbehalte mehr bei den Kommunisten.
Er ist also der Meinung, dass er seine Ideale und Ziele besser mit den Kommunisten als innerhalb des westlichen Liberalismus erreichen kann? / Ja. Zumal die Politik der Vereinigten Staaten zu diesem Zeitpunkt eben auch nicht besonders liberal war. Desgleichen die französische Innenpolitik der Zeit. Da gab es ja auch abstruse Sachen, wie etwa die Verhaftung von Jacques Duclos, dem damaligen Fraktionsvorsitzenden der Kommunistischen Partei Frankreichs, mit dem fadenscheinigen
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„Der
Feminismus steht auf Beauvoirs Schultern“
Alice Schwarzer, die den Feminismus in Deutschland seit Jahrzehnten wie kaum eine andere energisch und streitbar vertritt, war ihrerseits zutiefst von Simone de Beauvoir als Denkerin und als Vorbild beeinflusst. Im Gespräch erzählt sie von einer peinlichen ersten Begegnung und einer lang anhaltenden späteren Weggefährtenschaft
GESPRÄCH MIT ALICE SCHWARZER
von Catherine Newmark
ALICE SCHWARZER / Ich habe Simone de Beauvoir persönlich absurderweise als Begleiterin von Sartre kennengelernt. Das war im Mai 1970. Ich machte ein Interview mit Sartre über die schon damals aktuelle Frage der „revolutionären Gewalt“. Er hatte mir eine halbe Stunde gewährt – was für eine junge Korrespondentin wie mich eine aufregende Sache war. Ich saß also mit ihm in seiner kleinen, sehr bescheidenen Einzimmerwohnung am Boulevard Raspail – und da ging, ohne Klopfen, die Türe auf. Beauvoir betrat den Raum. Sie warf einen spürbar irritierten Blick auf mich – ich war damals 27 Jahre alt, blond und trug ein englisches Minikleid, das mir auf den halben Oberschenkel gerutscht war – und sagte kühl: Sartre, denken Sie daran, wir haben gleich eine Pressekonferenz. Sodann setzte sie sich an Sartres Schreibtisch, drehte uns den Rücken zu und las. Es war klar, was sie dachte: Hat dieser Trottel sich mal wieder von einer Blondine überre-
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den lassen … Mir war das sehr peinlich. Ausgerechnet. Ausgerechnet Beauvoir, die mir, mit Verlaub, noch viel wichtiger war als Sartre. Aber ich führte das Interview diszipliniert zu Ende. Und als ich dann mit den beiden im Aufzug stand und schüchtern versuchte, Beauvoir anzusprechen, prallte ich an einer Mauer des Schweigens ab.
Dabei blieb es aber dann ja offensichtlich nicht … / Nein, ein Jahr später war alles ganz anders. Ich war inzwischen aktiv im MLF (Mouvement de libération des femmes). Freundinnen von mir hatten Beauvoir gefragt, ob sie mitmacht, und sie hatte Ja gesagt. Wir, sie und ich, landeten sehr schnell in derselben kleinen Gruppe. 1972 habe ich dann das erste von insgesamt sieben großen Interviews mit ihr geführt. Es wurde international publiziert und beeinflusste die Frauenbewegungen in der ganzen Welt. Denn Simone de Beauvoir kündigte darin ihre Solidarität mit „den kleinen Lieblingen von der frauenfeindlichen Linken“ auf, sie appellierte an die Feministinnen, sich
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Foto: JOHANNES EISELE/AFP/Getty Images
Wann und wo haben Sie Simone de Beauvoir kennengelernt?
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autonom zu organisieren und die Männer zunächst einmal aus ihrer politischen Arbeit auszuschließen. Das war das Ende der von ihr am Schluss von „Das andere Geschlecht“ 1949 verkündeten Hoffnung, „die Revolution“ des Proletariats werde schon alles richten, inklusive der Befreiung der Frauen. Von da an arbeiteten wir eng zusammen. Das heißt, Beauvoir stellte sich uns, den jungen Frauen vom MLF, zur Verfügung, wo sie gebraucht wurde. Und bei den Debatten war sie immer eine der Radikalsten. Tabubruch? Klar! Regelbruch? Selbstverständlich! Gesetzesbruch? Na und, wenn es der Sache dient! Sie wurde zur „compagne de route du mouvement“, zur Weggefährtin der Bewegung. Und für mich wurde sie eine Freundin bis zu ihrem Tod 1986.
ALICE SCHWARZER
Die Verfasserin des feministischen Klassikers „Der kleine Unterschied und seine großen Folgen“ von 1975 ist seit mehr als 40 Jahren Herausgeberin der feministischen Zeitschrift Emma und die einflussreichste und streitbarste feministische Stimme Deutschlands. Über Simone de Beauvoir, mit der sie in den siebziger und achtziger Jahren eine Freundschaft verband, hat sie mehrere Bücher veröffentlicht, u.a. „Simone de Beauvoir. Rebellin und Wegbereiterin“ (Kiepenheuer & Witsch, 1999) und „Simone de Beauvoir. Ein Lesebuch mit Bildern“ (Rowohlt, 2007)
Wie sehr hat Beauvoir Sie als feministische Denkerin geprägt? / Wir radikalen feministischen Pionierinnen hatten alle „Das andere Geschlecht“ von Beauvoir in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre gelesen. Gleichzeitig mit dem „Weiblichkeitswahn“ von Betty Friedan. Mein Denken – wie das meiner gesamten Feministinnen-Generation, von Kate Millett bis Monique Wittig – ist tief von Beauvoir geprägt worden. Beauvoir war, wie Millett es einmal formuliert hat, der „Leuchtturm“ des Neuen Feminismus. Wir wären nicht da, wo wir heute sind, ohne das Denken von Simone de Beauvoir. Dank ihr haben wir weiter denken und weiter sehen können, sowohl durch ihr Werk, die epochale Analyse „Das andere Geschlecht“ und ihre Romane, wie auch durch ihr Leben. Und das auch lange vor und unabhängig von unserer persönlichen Begegnung. In Zeiten, in denen eine Frau eigentlich erst in der Ehe Sex haben und sich aus der Welt raushalten sollte, haben wir frühen Rebellinnen alle das Lebensmodell von Beauvoir und Sartre bewundert: eine „freie Liebe“ in ewiger Verbundenheit, intellektuelle Gefährtenschaft und engagierte Teilnahme gegen die Unrechtsverhältnisse der Welt. Wir fanden das großartig. Auch wenn das mit der „freien Liebe“ beim genaueren Hinsehen nicht immer so einfach war, zumindest für sie nicht, führte Beauvoir doch bis zuletzt ein gewagtes, ein mutiges, ein erfülltes Leben.
Wie stand Simone de Beauvoir, deren bahnbrechende Schrift „Das andere Geschlecht“ ja bereits
Die Existenzialisten
1949 erschienen war, den Anfängen der zweiten Frauenbewegung in den frühen siebziger Jahren gegenüber? Hat sie sich darüber nur gefreut, oder war sie auch kritisch? / Im Prinzip hat sie uns mit offenen Armen empfangen. Aber sie hat schon sehr früh gewisse Tendenzen in der Frauenbewegung in aller Schärfe kritisiert. Ab Mitte der siebziger Jahre den erneuten „Weiblichkeitswahn“: die Mystifizierung der sogenannten „neuen Weiblichkeit“ und „neuen Mütterlichkeit“ und auch den Rückzug auf „weibliche Qualitäten“, wie die vorgebliche Friedfertigkeit oder Gefühligkeit von Frauen. Beauvoir war ganz im Gegenteil der Auffassung – und ich bin es auch –, dass Frauen sich auch die sogenannten „männlichen Qualitäten“ aneignen sollten: Kreativität, Konfliktfähigkeit, In-die-Welt-Gehen. Nicht in der Verweigerung verharren. Zur Macht greifen, um die Welt zu verändern! Seid anspruchsvoller mit euch selbst! Frausein genügt nicht. Das waren in den siebziger Jahren noch schier unüberbrückbare Kontroversen auch innerhalb der Bewegung.
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„Die wahre Großzügigkeit der Zukunft gegenüber besteht darin, in der Gegenwart alles zu geben“ Albert Camus, „Der Mensch in der Revolte“, S. 327
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Sarah Bakewell:
„Niemand
Foto: CHEN WEI, The stars in the night sky is innumerable, 2010, Copyright the artist, Courtesy of LEO XU PROJECTS, Shanghai
kann ein perfekter Existenzialist sein“ Dass der Existenzialismus nicht nur junge Menschen nach wie vor begeistern kann, davon ist die Autorin des Bestsellers „Das Café der Existenzialisten“ überzeugt. Ein Gespräch über die Möglichkeit, „existenzialistisch“ zu leben – und über die politische Aktualität des existenzialistischen Freiheitsgedankens
GESPRÄCH MIT SARAH BAKEWELL
von Catherine Newmark
Mit 16 Jahren lasen Sie Sartre und traten in eine „existenzialistische Phase“ ein … Was hat Sie damals so gepackt am Existenzialismus? SARAH BAKEWELL / Für junge Menschen ist der Existenzialismus grundsätzlich attraktiv, weil er so viele ihrer Fragen adressiert: die Angst und Beklemmung der Pubertät, dieser Unwille, die Welt, so wie sie ist, zu akzeptieren. Das Verlangen nach Freiheit auch! Für mich persönlich war allerdings schon früh und lange Zeit noch aufregender als dieses Pathos der Freiheit und der Selbstbefreiung tatsächlich die phänomenologische Methode, die ich beim Lesen von Sartres „Der Ekel“ vorfand, also dieser Versuch, den Alltag möglichst genau in jedem Detail zu beschreiben. Und damit den Alltag auch aufzuwerten.
Warum war Ihnen gerade das wichtig? / Weil damit die Möglichkeit eröffnet wird, aus der je
eigenen, ganz persönlichen Erfahrung heraus zu philosophieren. Das ist ja durchaus auch eine antiautoritäre Geste,
Die Existenzialisten
im dem Sinne, dass man sich von den überkommenen Autoritäten, den klassischen philosophischen Systemen löst und die Philosophie quasi wieder auf null stellt. Schriftsteller und Dichter haben ja schon immer über gelebte Erfahrung geschrieben. Aber für Philosophen war und bleibt das eine aufregende neue Erfahrung. Dass also, um das für Sartre und Beauvoir augenöffnende Beispiel aufzugreifen, der Aprikosencocktail vor mir genauso Gegenstand der philosophischen Reflexion sein kann wie die transzendentalen Bedingungen der Erkenntnis.
Ihr Buch über den Existenzialismus haben Sie nicht als junge Philosophin, sondern erst viel später, jenseits der 50, geschrieben … Was hat sich in der Zwischenzeit an Ihrem Interesse für den Existenzialismus geändert? / Ich beobachte an mir, dass sich das, was mich an der Freiheit interessiert, verändert, je älter ich werde. Jungen Leuten geht es bei der Freiheit vor allem um die Befreiung: Wie kann ich mich aus den Zwängen und Erwartungen der
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