Philosophie Magazin 2

Page 1

Feb./märz Nr. 02 / 2012

Neu

Macht Arbeit glücklich?

Interview

Slavoj Žižek

„Ich hasse 1968“

Weniger Euro, mehr Skepsis! Ein Plädoyer

Wie wichtig sind Vorbilder?

Annette Schavan im Gespräch mit Hans Joas

16-seitiges Booklet Sammelbeilage von

Nr. 02

Kant

Was können wir wissen? Vorrede zur zweiten Auflage der „Kritik der reinen Vernunft“ von 1787, (Auszug)

kant /

Deutschland 5,90 €

Die Entdeckung der Freiheit

Österreich: 6 €; Schweiz: 11,80 SF; Luxemburg: 6,40 €. Italien & Spanien: Auf Nachfrage.


Denker in diesem Heft Seite 44 >

Die gebürtige Schweizerin ist Professorin für Praktische Philosophie an der Humboldt-Universität Berlin und Redaktionsmitglied der Zeitschrift „Polar“. „Kritik von Lebensformen“, so lautet der Titel ihrer Habilitation. Im Dossier erläutert sie Bedeutung und Aktualität des Marx‘schen Entfremdungsbegriffs.

ZweimOnatlich NR. 02 - Feb./ März 2012

Chefredakteur : Dr. Wolfram Eilenberger (V.i.S.d.P.) Stv. Chefredakteurin : Dr. Svenja Flaßpöhler Berater: Alexandre Lacroix Art-Direktion: Ralf Schwanen, Antje Steinke Bildredaktion: Max Miller Verantwortliche Redakteure: Marianna Lieder (Autorendossier), Dr. Jutta Person (Büchersektion) Redaktionsassistent: Dr. Patrick Spät Schlussredaktion: Sabine Röthig, Gudrun Zett Lektorat: Christiane Braun Internet: Cyril Druesne Autoren in diesem Heft: Adrien Barton, Florian Henckel von Donnersmarck, Martin Duru, Ronald Düker, Prof. Dr. Volker Gerhardt, Anja Hirsch, Prof. Dr. Otfried Höffe, Prof. Dr. Rahel Jaeggi, Jul, Frederike Kaltheuner, Prof. Dr. Bernulf Kanitschneider, Prof. Dr. Mark Kingwell, Dirk Knipphals, Prof. Dr. Markus Krajewski, Dr. Alice Lagaay, Tobias Lehmkuhl, Gert Scobel, Nicolas Tenaillon, Katharina Teutsch, Prof. Dr. Wilhelm Vossenkuhl, Jürgen Wiebicke, Prof. Dr. Marcus Willaschek, Prof. Dr. Franz Wuketits, Jakob Zanker Titel : Der Taschenfabrikant, 2003 / Erwin Wurm / © VG Bild-Kunst, Bonn, Copyright & Cortesy Shotview Photographers, www.shotview.com und Galerie Ropac, http://www.ropac.net Verlag: Philomagazin Verlag GmbH Rodenbergstraße 29 10439 Berlin, Deutschland Tel: +49 (0)30 60 98 58 219 E-Mail: info@philomag.de Geschäftsführer und Herausgeber: Fabrice Gerschel Stv. Herausgeberin: Anne-Sophie Moreau

Seite 54 >

Der slowenische Psychoanalytiker und Philosoph ist einer der bekanntesten Intellektuellen der Welt. In seinem Buch „Die bösen Geister des himmlischen Bereichs“ übt er harsche Kritik an der Linken. Im großen Interview erklärt der notorische Provokateur seine politische Position – und sich selbst.

Seite 46 >

Seite 10 >

Seite 84 >

Seite 52 >

Abo-Service: Philosophie Magazin Leserservice PressUp GmbH Postfach 70 13 11, 22041 Hamburg Tel: 040 / 41 448 463 Fax: 040 / 41 448 499 E-Mail: philomag@pressup.de

Mark Kingwell In seinem Beitrag „Die Arbeitslüge“ erklärt der berühmte Philosoph aus Kanada, warum unser Glaube an die Arbeit zu den größten Irrtümern der Gegenwart zählt. Mark Kingwell ist Professor an der Universität Toronto, als Autor schreibt er für das „Harper‘s Magazine“.

Seite 62 >

Patrick Spät Warum Mallorca die Insel der Erleuchtung ist, erläutert unser Redaktionsassistent in seinem Beitrag über den Theologen Ramon Llull. Patrick Spät ist promovierter Philosoph. Im Februar 2012 erscheint sein Buch „Der Mensch lebt nicht vom Hirn allein“ (Parodos-Verlag).

Alice Lagaay Ihre Forschungsschwerpunkte sind die Philosophie der Stimme, des Schweigens und des Seinlassens. Für das Philosophie Magazin hat sie sich den idealen Arbeitsort erträumt. Die promovierte Philosophin ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Philosophie der Universität Bremen.

Seite 73 >

Presse- und Öffentlichkeitsarbeit: Sabine Schaub Tel: +49 (0)30 31 99 83 40 E-Mail: s.schaub@schwindkommunikation.de

Ronald Düker Der Kulturwissenschaftler ist Redakteur der Zeitschrift „Literaturen“. Er schreibt unter anderem für „Die Zeit“ und „Mare“. Für das Philosophie Magazin ist er nach Kairo gereist und hat das Armenviertel Al Qarafa besucht, zu Deutsch: „der Friedhof“ – einen auf Gräbern erbauten Slum.

Anzeigenservice: Jörn Schmieding-Dieck – MedienQuartier Hamburg Tel: +49 (0)40 85 41 09 13 E-Mail: schmieding-dieck@mqhh.de

Anzeigen Buchverlage: Thomas Laschinski – PremiumContentMedia Tel: +49 (0)30 60 98 59 30 E-Mail: advertisebooks@laschinski.com

Annette Schavan Die Bundesministerin für Bildung und Forschung ist promovierte Philosophin. Das Thema ihrer Doktorarbeit: Gewissenbildung. Als Honorarprofessorin lehrt sie an der Freien Universität Berlin. Im Heft diskutiert die CDU-Politikerin mit dem Sozialphilosophen Hans Joas über Werte und Vorbilder.

Seite 37 >

Nielsen IV: Markus Piendl – MAV GmbH Tel: +49 (0)89 745083-13 E-Mail: piendl@mav-muenchen.com

Tilman Rammstedt Für seinen Bestseller-Roman „Der Kaiser von China“ erhielt der Berliner Schriftsteller den Ingeborg-Bachmann-Preis. In der Berliner Literaturband „Fön“ spielt er Trompete und singt. Im Gespräch mit dem Philosophen Christoph Menke hinterfragt er das Glücksversprechen kreativer Arbeit.

Vertrieb: Axel Springer Vertriebsservice GmbH Süderstraße 77, 20097 Hamburg, Deutschland www.as-vertriebsservice.de Litho: tiff.any GmbH Herstellung: Annick Torres (Rivages) Druck: Maury Imprimeur, Z.I. 45300 Manchecourt, Frankreich

Slavoj Žižek

Otfried Höffe Der emeritierte Professor für Philosophie lehrte zuletzt an der Universität Tübingen. Sein Buch „Immanuel Kant“ ist ein Klassiker. Im Heft erörtert der Philosoph, ob der Pflichtethiker Kant die Occupy-Wall-Street-Bewegung gutheißen würde.

Die nächste Ausgabe erscheint am 8. März 2012 Philosophie Magazin Abo-Service: Tel: 040 / 41 448 463 / www.philomag.de/abo

4

— Philosophie Magazin

© Jürgen Bauer, Alexandra Kinga Fekete, Trevor Good, Stephan Maria Rother, privat(5)

Redaktion : Rodenbergstraße 29, 10439 Berlin, Deutschland Tel: +49 (0)30 60 98 58 215 E-Mail: redaktion@philomag.de

>

Rahel Jaeggi


inhalt

Zeitgeist

06 > Unsere Frage: Was zählt für Sie im Leben? 08 > Sinnbild 10 > Dialog: Die Bundesbildungsministerin Annette Schavan und

der Sozialphilosoph Hans Joas diskutieren über Werte und Vorbilder.

16 18 20 22

> > > >

Radar Presseschau Pro & Contra: Drogen legalisieren?

Grenzgang: Dem Tod entgegen. Porträt des sterbenden Schriftstellers Wolfgang Herrndorf

24 > Plädoyer: Weniger Euro, mehr Skepsis! Europas Fundament ist der Zweifel 30 > Brauchen wir Uhrenbeweger? Markus Krajewski testet ein

neues Produkt.

Dossier

32 >

Macht Arbeit glücklich? Der Kern der Identität ist der Beruf. So lautet das Credo der Moderne. Die Arbeit ist Lebenszentrum und Daseinsgrund, Beweis des Selbstwerts und wichtigste Genussquelle. Ein Versprechen zwischen Erfüllung und Versklavung. Mit Beiträgen von Svenja Flaßpöhler,

Rahel Jaeggi, Christoph Menke und Mark Kingwell

die philosophen 54 > Das Gespräch: Slavoj Žižek: „Ich existiere nicht.“ Der berühmte

slowenische Philosoph über Stalin, die Psychoanalyse und den Versuch, ohne Erinnerung zu leben

62 > Denkort: Erleuchtung auf Mallorca 63 > Was soll das? Sartre: „Die Hölle, das sind die anderen“

Die Kunst, immer recht zu behalten

© Penny Bradfield, dpa, Gallerystock, Trevor Good, Olivier Marboeuf, Quickhoney

64 > Immanuel Kant: Die Freiheit denken. Kants Glaube an die Vernunft

prägte die neuzeitliche Philosophie. Ein Dossier über das Denken des Genies aus Königsberg. Mit Beiträgen von Volker Gerhardt, Marcus Willaschek,

Bücher

Dieses Heft wird mit einer 16-seitigen Sammelbeilage verteilt: „Was können wir wissen?“ aus der „Kritik der reinen Vernunft“ von Immanuel Kant

74 76 78 82

Franz Wuketits und Otfried Höffe

> > > >

Der Krieg in mir. Byung-Chul Han analysiert das erschöpfte Selbst Der Soziologe des Alltags. Bücher von Jean-Claude Kaufmann Hörbuch / Gert Scobels Kolumne / Favoriten des Buchhandels Das erste Mal. Mit Christoph Türcke im Automatencasino

Ereignis 84 > Der Friedhof der Revolution. Ronald Düker hat Kairos

90 92 94 98 Nr. 02 — Feb./märz 2012

„Stadt der Toten“ besucht, ein Slum, in dem die Armen in den Mausoleen der Reichen wohnen. Bericht aus einer anderen Welt

> > > >

Projektionen: Die Filmkolumne von Florian Henckel von Donnersmarck Agenda: Philosophische Termine Comic + Spiele Sokrates fragt: Gudrun Landgrebe antwortet

5


Zeitgeist Dialog

Jede Gesellschaft braucht Leitwerte. Doch wie werden sie erfolgreich vermittelt und anerzogen? Bundesbildungsministerin Annette Schavan und der Sozialphilosoph Hans Joas über religiöse Erfahrung, antike Ideale und Kopftücher in der Schule. Das Gespräch moderierte Wolfram Eilenberger

>

10

— Philosophie Magazin

© Trevor Good

Wie wichtig sind Vorbilder?


Philosophie Magazin: Frau Dr. Schavan, Sie stehen dem Bundesministerium für Bildung vor. Welche Werte stehen hinter dem Begriff der „Bildung“ für Sie? Annette Schavan: In der langen Tradition des Bildungsbegriffs war es im 14. Jahrhundert Meister Eckhart, der Bildung als „die Wege des Menschen hin auf das Bild, das Gott von ihm hat“ definiert hat. Das ist eine Ursprungsgeschichte und eine kostbare Tradition, weil Bildung eben nicht festgemacht werden kann an diesem oder jenem Kanon von Werten, sondern daran, dass der Mensch nicht hinter seinen Möglichkeiten bleibt. Hans Joas: Der erste Wert, der mit dem Begriff Bildung verknüpft ist, ist die Selbstverwirklichung. Bildung Nr. 02 — Feb./März 2012

soll jemanden nicht auf ein von anderen gestecktes Ziel hin entwickeln, sondern auf eines, das dieser Mensch in sich selbst entdecken muss. Aristotelisch gesprochen, ist das sein „telos“. Die Entdeckung des individuellen „telos“ und die Annäherung daran funktionieren nur durch Eigentätigkeit. Das ist das Pathos, das vom 18. Jahrhundert an mit dem Begriff Bildung verknüpft worden ist, und das die Bildungseinrichtungen des 19. Jahrhunderts so stark bestimmt hat: ein bestimmter Abstand zum Zweckhaften. Philosophie Magazin: Es scheint eine Grundkritik an Bildungsreformen im universitären und anderen Bereichen zu sein, dass die Idee der Bildung geopfert wird zugunsten einer rein zweckhaften Ausbildung.

11

>


>

24

— Philosophie Magazin


Zeitgeist Plädoyer

Weniger Euro, mehr Skepsis! Die Kunst des Zweifelns ist tief verwurzelt in der europäischen Identität. Gerade in der größten Krise gilt es, dieses einzigartige Kapital zu nutzen. Plädoyer für einen neuen Euroskeptizismus. Von Wolfram Eilenberger / Illustrationen von Quickhoney

Z © Foto: Giacomo Benecchi

u Beginn des Jahres 2012 ist der Fortbestand der Europäischen Union und ihrer Währung konkret gefährdet. Dies hat nicht nur mit der zweifelhaften Wirksamkeit von Rettungsschirmen, Finanzhebeln oder Eurobonds zu tun. Im zweiten Schuldenwinter ist die Vertrauenskrise von den Märkten auf die Bevölkerung übergegangen. Das duldsame Desinteresse, das eine Mehrheit der Bürger dem Jahrtausendprojekt entgegenzubringen pflegte, schlug in stille Verzweiflung um. Manche wagen gar den Schritt zum Widerstand. Man nennt diese Menschen gemeinhin „Euroskeptiker“. In der aktuellen

Nr. 02 — feb./märz 2012

Diskussion wird der Begriff vor allem zur Charakterisierung von Personen genutzt, die ihre Abneigung gegen die EU und den Euro mit nationalen oder gar nationalistischen Argumenten begründen. Extreme Charaktere zumeist, in ihrem jeweiligen Feld schon länger als Abweichler oder Querulanten bekannt und entsprechend beleumundet. Vor diesem Hintergrund haben die kontinentalen Handlungseliten leichtes Spiel, die Haltung des Euroskeptizismus als eigentliche und größte politische Gefahr für Europa zu präsentieren. Womöglich ein fataler Fehler. Schließlich hat, wie ein Blick

25

>


Dossier mAcht Arbeit glücklich?

Entfremdung, Selbstverwirklichung, Ausbeutung. Hilft Marx, die grundlegenden Probleme der heutigen Arbeitswelt zu verstehen? Sechs Fragen an die Philosophin und Marx-Expertin Rahel Jaeggi. Das Gespräch führte Svenja Flaßpöhler

Rahel Jaeggi Die Professorin für Praktische Philosophie lehrt an der HumboldtUniversität Berlin. Publikation zum Thema: „Entfremdung – Zur Aktualität eines sozialphilosophischen Problems“ (Campus 2005).

>

Philosophie Magazin: Steht Marx’ Wertschätzung der Arbeit mit ihrer gegenwärtigen Überschätzung in einem Zusammenhang? Rahel Jaeggi: Die Wertschätzung der Arbeit ist nicht unbedingt ein Spezifikum von Marx. Er folgt damit nur der neuzeitlichen Gegentendenz zur antiken Abwertung der Arbeit oder deren Verbindung mit Mühsal und Leid. Und: Was wäre denn die Alternative zur Wertschätzung der Arbeit? Vielleicht wird ja nicht die Arbeit überschätzt, sondern wir haben einen zu begrenzten Arbeitsbegriff, der sich zu sehr auf einen schmalen Kreis von Tätigkeiten und das klassische Verhältnis der Lohnarbeit beschränkt. Was versteht Marx unter Arbeit? Arbeit ist der bewusste und planmäßige Eingriff des Menschen in seine Umwelt, die Transformation dieser zum Zwecke der individuellen wie gesellschaftlichen Reproduktion. Die Menschen gestalten arbeitend die

44

Welt, indem sie die äußeren und materiellen Bedingungen herstellen, unter denen sie leben. Auch der Arbeiter selbst verändert sich durch die Auseinandersetzung mit der gegenständlichen Welt. Indem wir uns arbeitend auf sie beziehen, verwirklichen wir uns in unseren Fähigkeiten und damit in unserem konkret gewordenen Bezug auf die Welt. Zudem stellt die gesellschaftliche Arbeitsteilung das Gemeinwesen als Gemeinwesen erst her. Die Art und Weise, wie Arbeit in Gesellschaften organisiert ist, ermöglicht und prägt unsere soziale Existenz, unser Zusammenleben. Was meint Marx, wenn er von entfremdeter Arbeit spricht? Entfremdung meint für Marx: Entfremdung von der eigenen Tätigkeit, dem Gegenstand, den anderen Menschen und dem „Gattungswesen“. Der eigenen Tätigkeit entfremdet bin ich, weil diese Tätigkeit unter den Bedingungen industrieller Arbeitsteilung mechanisch geworden ist, qualitativ verarmt statt reichhaltig oder anspruchsvoll. Entfremdet bin ich aber vor allem auch, weil ich über die Art und Weise, in der ich arbeite, nicht verfüge. Meine Tätigkeit ist also gleichzeitig subjektiv sinnentleert oder verarmt und fremdbestimmt, weil jemand anderes – egal wie anonym man sich diese Instanz zu denken hat – über die Art und Weise meines Arbeitens entscheidet. Ähnliches gilt für das Verhältnis zum Produkt meiner Tätigkeit. Auch diesem gegenüber bin ich aus Marx’scher Sicht entfremdet, weil ich es unter arbeitsteiligen Bedingungen nicht mehr als Ganzes vor mir habe. Darüber hinaus gehört mir das Produkt nicht, und ich kann nicht darüber verfügen. Auch die Entfremdung von den anderen Menschen, unter

— Philosophie Magazin

© dpa, Jürgen Bauer

Wie entfremdet sind wir?


den Bedingungen entfremdeter Arbeit, liegt gerade darin, dass weder Resultat noch Bedingungen der Kooperation von den Mitwirkenden kontrolliert werden. Wann wäre Arbeit nicht entfremdet? Eine bestimmte Art von Entfremdungskritik neigt dazu, die angebliche Fülle, die Konkretheit oder „Ganzheit“, den Reichtum vorindustrieller Arbeitsverhältnisse, das Handwerker- oder Künstlerideal nichtentfremdeter Arbeit oder des agrarisch-gemeinschaftlichen Zusammenarbeitens zu romantisieren. Doch der Maßstab für „nichtentfremdete Arbeit“ ist nicht alleine ihr Potenzial für Selbstverwirklichung und auch nicht nur eine „Ganzheit“, wie sie sich auch in zeitgenössischen Formen entgrenzter Arbeit durchaus auffinden ließe. Zum Ideal einer Arbeit, mit der man „sich identifizieren“ kann, kommt mindestens die Frage dazu, wer über die Arbeit verfügt, in welche Herrschaftsverhältnisse sie eingelassen ist und wie die sozialen Verhältnisse beschaffen sind. Warum kippt die Ausbeutung im heutigen Kapitalismus verstärkt um in die Selbstausbeutung? Der Begriff der Selbstausbeutung kann hier leicht irreführend wirken. Ist das wirklich Selbstausbeutung? Oder ist es nur die Internalisierung von Zwängen, die Verschiebung der Verantwortlichkeit hin zu den Subjekten und nach innen? Gemeint ist ja, dass sich immer mehr Menschen heute in prekären Arbeitsverhältnissen befinden, die sie dazu veranlassen, den Disziplinierungs- und Optimierungsdruck, der in klassischen Arbeitsverhältnissen von einer äußeren Instanz ausgeht, auf sich selbst auszuüben. Sie verausgaben sich dabei zum Teil sowohl in quantitati-

ver wie auch in qualitativer Hinsicht mehr, als durch ihren Verdienst abgegolten wird oder werden kann. Gearbeitet wird, wo man von Selbstausbeutung spricht, nicht nur viel, sondern auch umfassend, auch unter Einsatz der persönlichsten Ressourcen. Die, die ihre Arbeit mit Lust und Engagement machen, sind also nicht so frei, wie sie zu sein glauben? Gerade Menschen, die in „kreativen Berufen“ beziehungsweise Berufen mit entsprechenden Anforderungen an die „ganze Persönlichkeit“ arbeiten, neigen dazu, diese „neuen“ Arbeitsformen überzubetonen und die Weiterexistenz „klassischer Ausbeutungsverhältnisse“ zu vernachlässigen. Es scheint mir gefährlich, solche Verhältnisse

„Gearbeitet wird, wo man von Selbstausbeutung spricht, unter Einsatz der persönlichsten Ressourcen.“ unumwunden als Freiheitsgewinn zu feiern. Selbst wenn es Freiheitspotenziale geben sollte: Die Feier der Prekarität und die Verachtung der Nine-to-five-Jobs klingen heute schon etwas schal und nehmen auch rapide ab, sobald man damit nicht mehr hauptsächlich schicke junge Menschen, die mit Laptop im WLAN-Café sitzen, assoziiert. Eigentlich handelt es sich ja doch in einiger Hinsicht um einen Rückfall zu den Verhältnissen des Tagelöhnertums. Arbeiten im Sozialismus. Max Lingners Wandbild „Aufbau der Republik“ von 1953

Nr. 02 — Feb./März 2012

45


Die meisten Menschen glauben, zu arbeiten sei notwendig und sinnstiftend. In Wahrheit könnte kein Gedanke abwegiger sein. Zum Abschluss: Eine Kampfansage an die mächtigste Ideologie unserer Zeit. Von Mark Kingwell

Die Arbeitslüge >

52

— Philosophie Magazin

© Fotos: Rick Giles/Gallerystock

D

as größte Werk der Arbeit besteht darin, ihr eigenes Wesen zu vertuschen. Um sich als etwas Unvermeidliches und, wo immer möglich, Angenehmes zu präsentieren, verwendet sie ein ganzes Netz von Methoden und Finten. Der wichtigste Effekt zielt auf die Verbreitung der Gewissheit ab, dass Arbeit grundsätzlich notwendig sei: Jeder akzeptiert, dass jeder einen Job haben muss, weil jeder weiß, dass er einen Job haben muss. Die Chefs sind ebenso wie die Untergebenen Sklaven dieses Mechanismus, dessen Wirken ­­­geisterhaft und unverortbar bleibt. Tatsächlich ist Arbeit das größte selbstregulierende System, das das Universum bisher hervorgebracht hat. Es wirkt wie eine Überwachungskamera, die es uns nicht wagen lässt, etwas anderes zu tun als zu arbeiten. In Wahrheit ist die Lage noch schlimmer: Wie die Häftlinge in einer perfektionierten Version von Benthams überutilitaristischem Gefängnis brauchen die Arbeitenden gar keinen Aufseher, denn sie bewachen sich selbst. Um Erfolg zu haben, muss jede Ideologie den Menschen Gründe zum Handeln geben. Genauer gesagt muss sie denen, die unter ihrem Einfluss stehen, eine identitätsstiftende Erzählung bieten. Im Fall der Arbeit


Dossier Macht Arbeit glücklich? liegt der Geniestreich darin, zu verfestigen, was eigentlich flüssig ist, nämlich soziale Stellung und der „Elite“-Status innerhalb von Hierarchien. Die elementaren materiellen ­Bedingungen von Arbeit – etwa Größe und Lage eines Büroraums, Qualität der Aussicht, Attrak­tivität der Assistentin, Schnitt des Anzugs – sind gleichzeitig die Belohnungen und die ständigen Indikatoren für Status innerhalb des Wettbewerbs. Absolut entscheidend ist, dass ein Status verdient und nicht bloß ­verliehen erscheint, denn eine Stellung ohne begleitende Verdiensterzählung würde das ideologische Bedürfnis nach Bedeutsamkeit unseres Handelns nicht ausreichend ­befriedigen. Man bedenke: Es ist eine Grundregel der Statusangst, dass der Wettstreit um Positionen kein Ende hat – außer vorübergehend, wenn sich ein Sündenbock findet. Der Sündenbock bestätigt jeden in seinem Status, denn er steht unter allen anderen. Deshalb sind viele Arbeitserzählungen Miniaturformen der Suche nach dem Schuldigen. Wir kommen als Firma zusammen, um einem aus unserer Mitte die Schuld zu geben, der dann öffentlich bloßgestellt und ausgestoßen wird. Hans-Peter hat einen Bericht voller Fehler abgeliefert! Schmidt hat eine absurd große Bestellung aufgegeben und die Firma muss es ausbaden! Sofort geht es uns allen gleich besser und wir sind bestärkt in unserem Gefühl, eine Mission zu haben. Im größeren Maßstab wird die erzählerische Aufgabe allerdings schwieriger. Vor allem, wenn es um die Frage geht, wozu die Firma eigentlich da ist. Was tut sie? Hier tau-

verwendet das System Arbeit einen erheblichen Teil seiner Energie darauf, Wege zu finden, um die Langeweile zu kaschieren und somit die Produktivität zu steigern: eine Art Kreditausfall-Swap für die Seele. Workaholismus ist die Suchtvariante davon. Der Workaholic kolonisiert seine Verzweiflung angesichts der Leere des unproduktiven Lebens, indem er es mit Arbeit anfüllt. Es kann nicht überraschen, dass der tiefgreifendste Kritiker der Arbeit, Karl Marx, diesen hegelianischen Abgrund im Kern jeglicher bezahlter Tätigkeit sah. Doch Marx Theorie der Entfremdung, laut derer unsere Arbeitskraft und mit der Zeit auch unser Selbst zur

Wozu ist die Firma eigentlich da? Hier taumeln wir am Rand des Abgrunds. käuflichen und verkäuflichen Ware verkommen, ist nur eine Stimme im anhaltenden Chor des Widerspruchs und Widerstands gegen die Arbeit. „Ne travaillez jamais“, „Arbeitet nie“, gebot der französische Situationist Guy Debord und zog damit die Grundlinie der Opposition. Wir mögen uns fragen, warum solcher Widerstand immer wieder notwendig ist, in einem zweiten Schritt aber auch, warum er stets zu scheitern scheint. Die Antwort liegt im evolutionären Phänomen des language upgrade. Wie alle Ideologien begreift das Konzept Arbeit, dass der schnellste Sieg der beste ist, idealerweise noch ehe die Prozesse des

Hätten wir einen perfekten Markt, so wäre Müßiggang die Regel meln wir am Rand des Abgrunds. Ehrlich gesagt tut die Firma nicht besonders viel. Sie ist für nichts Wichtiges da. Der rastlose Vorwärtsdrang der Unternehmen – „Hier bei CompuGlobalHyperMegaNet Germany bewegen wir uns immer vorwärts!“ – ist Hegels „schlechte Unendlichkeit“ in der Arbeitsversion: das sinnlose Nichts des leeren Alles. Was getan wird, hat keine Bedeutung, aber es muss unbedingt getan werden. Die Langeweile des durchschnittlichen Arbeitenden, vor allem in einem Großkonzern, ist das lebendige Bild dieser Sinnlosigkeit. Doch Langeweile kann die Produktivität senken, darum Nr. 02 — Feb./März 2012

Skatepunk, weil du 70 Stunden pro Woche Videospiele in der Betaversion testest.“ Das, sprechen wir es offen aus, ist Metabullshit. Letztlich stehen wir wieder vor der schlechten Unendlichkeit im Kern der Arbeit. Wozu ist sie da? Um erwünschte Güter und Dienstleistungen zu produzieren. Doch zunehmend werden diese Güter und Dienstleistungen nur noch für den Selbsterhalt des Systems gebraucht. Das Produkt des Systems Arbeit ist Arbeit. Jede Marktwirtschaft ist ein gescheiterter Versuch, Güter und Dienstleistungen genau dann und dort anzubieten, wenn und wo sie gebraucht werden oder erwünscht sind. Nur das, und nichts weiter, sind die Märkte, allen

bewussten Denkens in Gang kommen können. Folgerichtig wird hier die Sprache zum Schlachtfeld. Die Sprache der Arbeit ist voll von Schwachsinn. Hier ist besondere Wachsamkeit gefordert, denn der Sieg zweiter Ordnung des Arbeitsbullshits besteht darin, dass er sich nicht bloß keinen Deut um die Wahrheit schert, sondern sich obendrein als ­völlig harmlos oder gar nutzbringend in Szene setzt. Besonders von geschickten Händen werden die Herrschaftsmechanismen der Arbeit zu befreienden, gegenkulturellen, subversiven Kräften umgedeutet: „Du bist ein rebellischer

pathologischen Auswüchsen zum Trotz, die ihnen heutzutage anhaften. Hätten wir einen perfekten Markt, so wäre Müßiggang die Regel, nicht die Ausnahme, denn der Vertrieb liefe völlig reibungslos. Wie Herbert Marcuse schon vor Jahrzehnten erkannte, ist Arbeit zumeist die Folge von Ineffizienz, nicht von echtem Bedarf. Erst recht gilt dies für ein Wirtschaftssystem im Alarmzustand. Paradoxerweise fügt sich der Müßiggang vollkommen in die innere Logik des Kapitalismus ein, da diese ein Ende des Kapitalismus zumindest vorsieht, wenn auch niemals verwirklicht. Solche Einsicht kann die schlechte Unendlichkeit der Arbeit in eine gute Unendlichkeit verwandeln, in der wir die Dinge nicht als Ressourcen, uns selbst nicht als Konsumenten und die Welt nicht als einen Ort der Arbeit, sondern des Spiels sehen. Die großen marxistischen und situationistischen Kritiker der Arbeit hofften, dass kritische Theorie – also die präzise Analyse der Pathologien des Systems – das System verändern würde. Die jüngste Krise des Kapitalismus hat gezeigt, dass dies nicht der Fall ist. Und doch gibt es einen Ausweg: Ein System besteht aus Individuen, so wie ein Markt sich aus individuellen Entscheidungen und Transaktionen zusammensetzt. Verändere nicht das System, ändere dein Leben. Guy Debords „Arbeitet nie“ ging nicht weit genug: Wenn du das Wesen der Arbeit und ihrer Sprache wirklich verstehst, wirst du an Arbeit nicht einmal mehr denken müssen!

53


Die Philosophen

Žižek Er ist einer der umstrittensten Philosophen der Welt. Vermeintliche Gewissheiten in ihr Gegenteil zu verkehren, ist der Kern seiner Methode, Verstörung sein Prinzip. Slavoj Žižek , Denker der Überschreitung, über Selbsterkenntnis und Gewalt, Depression und Apokalypse. Das Gespräch führten Svenja Flaßpöhler und Wolfram Eilenberger. Fotos von Alexandra Kinga Fekete

E

>

in Hotelzimmer in Berlin. Es klopft an der Tür, ein bärtiger Mann tritt ein. Tiefe Augenringe. Der Aufdruck auf seinem T-Shirt: „You ask the questions“. Bereitwillig nimmt der 62-jährige Slowene auf dem Sofa Platz. Still sitzen bleibt er nicht. Während er spricht, und er spricht viel, arbeitet sein ganzer Körper. Der Philosoph schimpft, scherzt, flucht. Immer wieder fasst er sich an die Nase, gestikuliert, zeigt mit hackendem Zeigefinger auf seine Gesprächspartner. Jede Frage ein Kampf. Jedes Lachen eine Versöhnung.

Anhaltspunkte geben. Sie sind beide tot, aber ich besuche nie, wirklich niemals ihr Grab. Ich erinnere mich noch, wie sie starben. Sie starben, mit ein paar Jahren Abstand, beide in der Nacht. Am Morgen rief mich jemand vom Krankenhaus an und sagte: „Ihr Vater/Ihre Mutter ist tot.“ Ich fragte nur: „Ist alles unter Kontrolle? Sie kümmern sich doch um die Bestattung, bla, bla, bla, ist das alles geregelt?“ Dann fing ich an zu arbeiten, weil es zehn Uhr war. Ich ließ den Gedanken einfach nicht zu, dass so ein Ereignis meine Arbeit auch nur für ein paar Minuten unterbrechen sollte.

Die Psychoanalyse, die für Ihr Denken sehr wichtig ist, arbeitet stark mit Erinnerungen. Was ist Ihre erste Erinnerung an die Philosophie? Ich war elf oder zwölf Jahre alt und las in einer dicken philosophischen Enzyklopädie, einem Universallexikon. Ich weiß nicht, wie ich dazu kam, jedenfalls las ich über Kant, „Die Kritik der reinen Vernunft“, und das faszinierte mich.

Und dann haben Ihre Eltern keine Rolle mehr in Ihrem Leben gespielt? Es gab da noch diese eine Sache mit meiner Mutter. Ich habe bis heute eine heftige Abneigung gegen Fotos. Und ich wusste, dass meine Mutter eine Schachtel mit Hunderten von Fotos von mir hatte. Das war das Einzige, was ich machte: Am Nachmittag nach ihrem Tod fuhr ich in ihre Wohnung und nahm die Schachtel und warf sie weg.

Die Psychoanalyse betont außerdem die Bedeutung der Kindheit, von Mutter und Vater. Wie haben Ihre Eltern Ihr Leben beeinflusst? Wenn ich Ihnen das jetzt erzähle, werden Sie mich für ein Scheusal halten. Ich hatte eine sehr schlechte Beziehung zu meinen Eltern, und wenn ich schlechte Beziehung sage, dann meine ich damit … na ja, ich kann Ihnen ein paar

Aber ist es überhaupt möglich, die Eltern aus dem eigenen Leben zu verbannen? Als ich in Analyse war, wurde ich das von meinen Analytikern natürlich immer wieder gefragt, und ich gab ihnen eine klare Antwort: Es ist mir ganz egal, ob es möglich ist oder nicht – ich tue es einfach. Wir können jetzt natürlich diese ganzen freudianischen Spielchen spielen und sagen,

54

— Philosophie Magazin


„Ich existiere nicht.“ Nr. 02 — Feb./März 2012

55

>


Die Philosophen Immanuel kant

•>

64

— Philosophie Magazin


Der klassiker

Kant

Die Freiheit Denken

© Illustration: Olivier Marbœuf

Heine klagte, dass es so schwierig sei, Kants Lebensgeschichte wiederzugeben, denn er habe weder ein Leben noch eine Geschichte gehabt. Zweifelsohne ist Kants Biografie arm an äußeren Ereignissen – an Frauen lag ihm fast ebenso wenig wie am Reisen. In kurioser Gleichförmigkeit verliefen seine Tage und Jahre in der preußischen Provinzhauptstadt Königsberg. Seine Philosophie hingegen erschütterte das Universum des Geistes. Kant prägte das Denken der Neuzeit wie kaum ein Zweiter. In seiner Erkenntnistheorie vermaß er das Feld des gültigen Wissens neu, die Lehre vom richtigen Handeln stellte er auf ein neues Fundament. Überlieferte Dogmen und Autoritätsansprüche machte er zunichte. Unerschütterlich waren einzig sein Vertrauen in die Vernunft und sein Glaube an die Freiheit des Menschen.

Nr. 02 — Feb./März 2012

65

>


Ereignis

Östlich des modernen Kairo liegt die „Stadt der Toten“. Zwischen den Gräbern türmt sich der Müll: Hier leben die Armen in den Mausoleen der Reichen.

>

84

— Philosophie Magazin


Der Friedhof der Revolution In Kairos „Stadt der Toten“ leben 500 000 Menschen zwischen den Gräbern ihrer Vorfahren. Der riesige Slum steht wie kein zweiter Ort für die wahren Probleme Ägyptens. Reportage aus einer Welt voll neuer Hoffnung – und uralter Verzweiflung. Von Ronald Düker / Fotos: Penny Bradfield

V

or der Landung kreist die Maschine noch über der nächtlichen Stadt. Schier endlos liegt sie da als ein unordentlich geknüpftes Netz aus Lichtern. Vergeblich der Versuch, sich aus der Luft zu orientieren. Es ist nicht auszumachen, wo sich die Vororte dieser größten arabischen Stadt in der Wüste verlieren. Auch das Zentrum ist nicht zu erkennen. Nicht der TahrirPlatz, auf dem erst vor wenigen Tagen wieder 23 Demonstranten massakriert worden sind. Und nicht die Corniche el Nil, wo protzige Luxushotels und die ausgebrannte Parteizentrale des gestürzten Regimes das Flussufer säumen. Eine schwach schimmernde Fläche in Form eines Trapezes könnte die Nil-Insel Zamalek sein, auf der in Kolonialgebäuden die ausländischen Botschaften

Nr. 02 — Feb./März 2012

residieren und amerikanische Studenten in modernen Coffeeshops unter sich bleiben. Unübersehbar ist bei dieser nächtlichen Stadtführung aus der Luft aber ein riesiges Loch inmitten des Lichterteppichs. Eingerahmt vom Scheinwerferfunkeln ameisengroßer Autos, die sich wie an der Schnur gezogen von da nach dort bewegen, liegt diese Fläche in völliger Dunkelheit. Nichts deutet auf Leben hin. Dies muss die Stadt der Toten sein, das eigentliche Ziel meiner Reise. Ich weiß schon jetzt, dass der erste Eindruck täuscht: In der Stadt der Toten, dem zentralen Friedhof, leben nicht weniger als 500 000 Menschen. Tod und Leben überlagern sich in Kairo in einer räumlich und historisch einzigartigen Weise. Es scheint, als trüge die 1400 Jahre alte Stadt ihr Schicksal schon

im Namen: Al Qahira, „die Starke“, hat seit jeher den widrigsten Umständen getrotzt. Die Römer, die Türken, Napoleon, die Briten und schreckliche Wüstenstürme sind über die Stadt gezogen – und sie hat sie alle überlebt; nun droht die Konterrevolution des Militärs den Aufbruch in eine freiere Zukunft zu zerstören. Und trotzdem trifft man hier die denkbar heitersten Menschen. Das nackte Leben „Sehr bezeichnend“, bemerkte Elias Canetti über die Genugtuung am Überleben, „sind die immer wiederkehrenden Geschichten von Menschen, die unter den Toten, mitten in ihrem Haufen, zum Leben zurückkommen: Sie wachen unter Toten auf. Solche Leute neigen dazu, sich für unverletzlich zu

85

>


Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.