Nr. 4 / 2020

Page 8

Arena / Perspektive Zivilisationskritik

Altruismus

„Es liegt im Interesse der Herrschenden, die menschliche Natur für schlecht zu halten“ Die Annahme, dass der Mensch grundsätzlich egoistisch sei, ist tief im westlichen Denken verwurzelt. Im Interview erläutert der Historiker Rutger Bregman, warum es sich hierbei um einen gefährlichen Irrglauben handelt Das Gespräch führte Dominik Erhard / Aus dem Englischen von Michael Ebmeyer / Illustrationen von Fanny Michaëlis

ist Historiker und einer der bekanntesten jungen Denker Europas. Der Niederländer wurde bereits zweimal für den renommierten European Press Prize nominiert, schreibt u.a. für die Washington Post. Nach

24

seinem Buch „Utopien für Realisten“ (2017), das internationale Aufmerksamkeit erfuhr, erschien im März „Im Grunde gut. Eine neue Geschichte der Menschheit“ (2020, beide bei Rowohlt)

Philosophie Magazin Nr. 04 / 2020

Philosophie Magazin: Herr Bregman, in Ihrem neuen Buch behaupten Sie, wir hätten ein grundlegend falsches Bild der menschlichen Natur. An­ders als wir uns gemeinhin einreden, seien wir nicht selbstsüchtig und gemein, sondern „im Grunde gut“. Was meinen Sie damit? Rutger Bregman: Ein treffendes Synonym für „im Grunde gut“ wäre „grundsätzlich wohlwollend“. Natürlich sage ich nicht, dass wir Menschen Engel seien. Wir sind zu grauenhaften Taten fähig, für die es im Tierreich nichts Vergleichbares gibt. Zum Beispiel habe ich nie ­davon gehört, dass ein Pinguin eine andere Gruppe von Pinguinen einsperrt und vernichtet. Solche Verhaltensweisen sind ausschließlich menschlich. Was ich zu sagen versuche, ist: Das, was Sie über andere Menschen vermuten, werden Sie auch von ihnen bekommen. Unsere Sicht auf die menschliche Natur gleicht oft e­ iner selbsterfüllenden Prophezeiung. Wenn wir also unsere Institutionen danach ausrichten, dass die meisten Menschen egoistisch seien, sollten wir uns

nicht wundern, wenn sie sich dementsprechend verhalten. Auf der anderen Seite fand ich eine Menge Belege dafür, dass Menschen in Extremsituationen ­dazu neigen, das zu tun, was als gut gilt. Haben Sie dafür ein Beispiel? Nach der Schlacht von Gettysburg im Amerikanischen Bürgerkrieg etwa waren 90 Prozent der Schusswaffen kaum benutzt und noch geladen, was darauf hindeutet, dass viele Soldaten sich außerstande fanden, auf andere Menschen zu schießen. Und auch wenn Soldaten heute „viel effektiver“ zum Töten ausgebildet sind und eine größere Distanz zwischen sich und ihren Opfern aufbauen können, tragen immer noch sehr viele von ihnen posttraumatische Belastungsstörungen von ihren Kriegseinsätzen davon. Das legt ebenfalls nahe, dass wir keine natürliche Neigung haben, Böses zu tun. Sie schreiben, es habe keine Kriege gegeben, ehe wir als Spezies sesshaft wurden, da Jäger und Sammler im Streitfall einfach in verschiedene

Autorenfoto: Marlena Waldthausen

Rutger Bregman


Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.