Philosophie Magazin Nr. 4

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mai/juni Nr. 04 / 2012

Neu

Denken Deutsche anders? Mut zum Genuss!

Robert Pfaller fordert das gute Leben

Paradoxe Piraten

Die Wiedergeburt des Anarchismus

Diagnose Downsyndrom

Ist eine Abtreibung legitim? 16-seitiges Booklet Sammelbeilage von

Nr. 04

SOKRATES

Keine Angst vor dem Tod Platon: „Apologie des Sokrates" (Auszug)

Lesepro b Entdeck e e n Sie das Philosop hie Mag azin !

Sokrates Im Dialog mit den Göttern


In unseren ersten Ausgaben: Dr. Wolfram Eilenberger Chefredakteur

Ökonomische Krisen, schwelende Kriege, permanenter Informationsüberfluss: Es ist heute schwieriger denn je, den Sinn für das Wesentliche zu bewahren. Deshalb bietet das Philosophie Magazin ein völlig neuartiges journalistisches Konzept: Wir betrachten die wichtigen Fragen des Lebens und der Gesellschaft aus philosophischer Perspektive. Weltweit führende Denker äußern sich zu den drängenden Problemen unserer Zeit. Sie analysieren, klären, mahnen und inspirieren. Außerdem stellen wir in jedem Heft die Kerngedanken eines klassischen Philosophen vor. Das Philosophie Magazin bietet damit eine einzigartige Mischung aus Aktualität, Orientierung und Bildung. Wir liefern keine vorgefertigten Lehren oder Meinungen, sondern vermitteln Denkanstöße und neue Perspektiven. Verständlich, überraschend, relevant. Genau so, wie gute Philosophie schon immer war.

Slavoj Žižek Der slowenische Psychoanalytiker und Philosoph ist einer der bekanntesten linken Denker. In seinem Buch „Die bösen Geister des himmlischen Bereichs“ (S. Fischer, 2011) fordert er den radikalen Systemwechsel. Im großen Interview der Nr. 02 erklärt der notorische Provokateur seine politische Position und sich selbst

Annette Schavan Die Bundesministerin für Bildung und Forschung ist promovierte Philosophin. Das Thema ihrer Doktorarbeit: Gewissensbildung. Als Honorarprofessorin lehrt sie an der Freien Universität Berlin. Im zweiten Heft diskutiert die CDU-Politikerin mit dem Sozialphilosophen Hans Joas über Werte und Vorbilder

Julian Assange Der Wikileaks-Gründer ist einer der umstrittensten politischen Aktivisten des 21. Jahrhunderts. Wegen der Veröffentlichung von US-Diplomatendepeschen geriet er 2010 erstmals ins Kreuzfeuer der Kritik. In der Nr. 01 streitet er mit dem Moralphilosophen Peter Singer über den Wert der Transparenz

Margarete Mitscherlich Gemeinsam mit ihrem Mann schrieb sie „Die Unfähigkeit zu trauern“. Das Buch, eine Psychoanalyse der deutschen Nachkriegsverdrängung, machte die Mitscherlichs weltberühmt. In der aktuellen Ausgabe zum Thema „Denken Deutsche anders?“ legt die 94-Jährige Germania noch einmal auf die Couch

Otfried Höffe

Redaktion & Verlag: Philomagazin Verlag GmbH, Brunnenstraße 143, D-10115 Berlin Tel: +49 (0)30 / 60 98 58 219 E-Mail: info@philomag.de Geschäftsführer & Herausgeber: Fabrice Gerschel Stv. Herausgeberin: Anne-Sophie Moreau Abo-Service: Philosophie Magazin Leserservice PressUp GmbH Postfach 70 13 11, D-22013 Hamburg Tel: +49 (0)40 / 41 448 463 Fax: +49 (0)40 / 41 448 499 E-Mail: philomag@pressup.de

Der emeritierte Professor für Philosophie lehrte zuletzt an der Universität Tübingen. Sein Buch „Immanuel Kant“ (C. H. Beck, 2007) ist ein Klassiker. Im Heft Nr. 02 erörtert der Philosoph, ob der Pflicht­ ethiker Kant die Occupy-Wall-Street-Bewegung gutheißen würde

Ariadne von Schirach Die Journalistin und Kritikerin arbeitet für das Deutschlandradio. In ihrem Beitrag „Frauenfantasien“ in Heft Nr. 03 beleuchtet die Philosophin die dunkle Seite des weiblichen Begehrens. Ihr Buch „Tanz um die Lust“ (Goldmann, 2007), das die Widersprüche der pornografisierten Gesellschaft untersucht, war ein Bestseller

Florian Henckel von Donnersmarck In der Kolumne „Projektionen“ denkt der Regisseur und studierte Philosoph über die Wechselwirkungen von Film und Gesellschaft nach. Für seinen Debütfilm „Das Leben der Anderen“ erhielt er 2007 einen Oscar. Er lebt in Los Angeles und schreibt derzeit an einem neuen Drehbuch


Ihre neue Zeitschrift für die großen und kleinen Fragen des Lebens „Die Welt aus philosophischer Perspektive betrachtet“ ZEITGEIST PERSPEKTIVE

Zeitgeist

Wie gefährdet ist die Demokratie? Regimes unter Viktor Ágnes Heller bekam die Macht des neuen ungarischen Sommer wurde sie Opfer Orbán am eigenen Leibe zu spüren. Im vergangenen Verleumdungungskampagne. einer von regierungsnahen Kreisen gesteuerten über die Hartnäckigkeit des Im Interview spricht die große ungarische Denkerin Ungarns drohenden Weg in den Kapitalismus, die Illusion eines freien Marktes und

ZEITGEIST XXX XXX

Was wollen die Piraten wirklich? Wie vernünftig sind Staatsschulden? Sollten Drogen legalisiert werden? Reportagen, Essays & Interviews bieten auf 20 Seiten philosophische Denkanstöße zu den wichtigsten und aktuellsten Fragen unserer Zeit

Entschiedene Gegenreaktion: Studenten demonstrieren in Budapest gegen das neue Universitätsgesetz des Orbán-Regimes

Faschismus Das Gespräch führte Michael Hesse

Das Erbe des Ödipus

Peking / China / 03.04.2012

Ich werd’s euch zeigen! Seitdem der chinesische Künstler Ai Weiwei aus dem Gefängnis entlassen wurde, wird er strengstens observiert: 15 Überwachungskameras sind auf sein Haus gerichtet, Tag und Nacht stehen Wächter vor seiner Tür, das Telefon wird abgehört. Pünktlich zum Jahrestag seiner Verhaftung hat Ai Weiwei nun vier Webcams in seiner Wohnung installiert, um auf den Überwachungsterror aufmerksam zu machen und ihm gleichzeitig den Boden zu entziehen: „Ich habe keine Ge-

Echos der Gegenwart

heimnisse“, so der Künstler. Die Aktion ist jedoch weit mehr als nur eine persönliche Machtprobe. „Heute vollzieht sich die Überwachung nicht, wie man gewöhnlich annimmt, als Angriff auf die Freiheit. Man liefert sich vielmehr freiwillig dem panoptischen Blick aus“, schreibt der Philosoph Byung-Chul Han. Wenn Ai Weiwei sich beim Arbeiten und Schlafen filmt, führt er die Pathologie unserer „Transparenzgesellschaft“ in Echtzeit vor: Die Stasi des Medienzeitalters sind wir selbst.

Breivik’scher Imperativ

„Und sie hielten es für ein Zeichen seines nahenden Todes, dass er sich so leicht von einem verrückten zu einem gescheiten Menschen umgewandelt habe“ Miguel de Cervantes / Don Quijote 10

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Tel Aviv / Israel / 22.03.2012

Frieden als Passion Luhmann ist Liebe ein „symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium“, das den Austausch zwischen Individuen ermöglicht. Sie sorgt insbesondere dafür, so Luhmann, „dass die Kommunikation gewagt werden kann und nicht von vornherein als hoffnungslos unterlassen wird“. Ein Segen, dass im Zeitalter des Internets eine einzige Liebeserklärung Millionen Menschen gleichzeitig erreicht. Make love, not war.

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Platz der Mutter verschoben oder mehrfach besetzt ist?“ Patrick S. wurde von Pflegeeltern adoptiert und ist in einer anderen Familie aufgewachsen als seine Schwester. Auch Scheidungskinder haben mehrere Eltern − von Samenspendeund Leihmutterschaftskindern ganz zu schweigen. Die Welt ist leider komplizierter, als man in Straßburg denkt.

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aussieht, wie man sich Gott gemeinhin vorstellt, aber ihm doch in einem entscheidenden Punkt ähnelt. Der Olavius algarvensis, ein kleiner Meereswurm, verfügt über keinerlei Verdauungsapparat; allein von giftigen Gasen lebend, muss er weder Nahrung zu sich nehmen noch ausscheiden. „Oh Mensch! der du es wagst, dich als Ebenbild Gottes zu bezeichnen, sag mir, ob Gott isst,

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sein − und dein körperliches und seelisches Wohlbefinden hängen von deiner Verdauung ab! Du willst ein Ebenbild 12 > Gottes sein − du, auf deinem Nachtstuhl!“ Der jämmerliche Mensch liefert sich selbst täglich den Beweis seiner Sterblichkeit. Das darmlose Würmchen hingegen erspart sich die größtmögliche aller Peinlichkeiten und darf sich, obschon winzig klein, göttlich wähnen.

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wird wieder eingeführt. Die Regierung hat nur mithilfe eines schlechten Wahlgesetzes gewonnen, zwei Drittel der Stimmen. Legal, doch nicht legitim verändert sie die ganze Struktur der ungarischen Gesellschaft. Es gibt das Orbán-Regime auf der einen Seite, auf der anderen steht die Bevölkerung, die ihn gewählt hat und scheinbar die Veränderung mittragen will. Es waren gerade einmal 30 Prozent der Bevölkerung, die ihn gewählt haben. Seine Partei ist aber die stärkste in Ungarn. Es ist faschistisch-fundamentalistisch, was sie tun. Wenn man den Ungarn immer wieder eintrichtert: wir waren immer die Größten, wir waren immer die Besten, wir wurden immer missverstanden, verändern sich die Menschen hin zum Nationalismus. Die Ungarn sagen sich: Und jetzt missverstehen uns auch noch Europa und die EU, die nicht verstehen will, dass wir anders als andere Völker in Europa sind, sie sollten vielmehr von uns lernen, aber sie kritisieren uns. Man wähnt sich in einem Freiheitskampf gegen die EU und den Westen. Wird die finanzielle Unterstützung der EU nicht wahrgenommen?

Das ist ein Gegensatz, den die Bevölkerung nicht fühlt. Sie fühlt nur, dass wir die Größten und gleichzeitig immer unterdrückt sind. Diese Bevölkerung hat vergessen, vielleicht auch nie erinnert, dass wir die letzten Verbündeten von Adolf Hitler gewesen sind. Es ist interessant, was wir vergessen und an was wir uns erinnern. Wir erinnern uns an ein Trauma. Wenn ein Trauma revitalisiert wird, reagiert man irrational. 30 Prozent der Bevölkerung sind sogar damit zufrieden, dass ihr Lebensniveau immer weiter sinkt, dass man in den Universitäten eine Reform eingeführt hat, durch welche die Kinder der reichen Leute umsonst studieren können, während die Kinder der armen Menschen bezahlen müssen. Sie nehmen alles an, vielleicht ist die Ideologie wichtiger als etwas, das pragmatisch ist. Wie ist es denn mit der Ausprägung der Demokratie bei den Ungarn? Sie ist sehr schwach. Wir hatten doch nie Praxis. Es gab bislang keine Demokratie. Jetzt im 21. Jahrhundert haben wir demokratische Institutionen, aber der Geist der Demokratie füllt sie nicht. Die Menschen nutzen die demokratischen Institutionen, aber schenken ihnen kein Vertrauen. Sie haben

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Unser politischer Diskurs ist auf die Opferrolle fixiert. Individuen und Gruppen rangeln um Anerkennung nicht für das, was sie getan, sondern für das, was sie erlitten haben. Plädoyer für eine neue Heldenkultur, die zeigt, was Menschen möglich ist

Darmlos glücklich

© dpa(2), getty (2), PR

Während die isrealische und iranische Regierung sich gegenseitig mit Krieg drohen, hegen die Israelis und Iraner selbst ganz andere Gefühle. „We will never bomb your country! We love you!“, schrieb der Israeli Ronny Endry auf seiner Facebookseite. Binnen kürzester Zeit folgten Tausende Menschen beider Staaten begeistert seinem Beispiel. Sinnloses Gefühlsgedusel? Keineswegs. Für den Soziologen Niklas

Wie verändern sich Gesellschaften in solchen Krisen? Wir sehen es ja auch besonders an der Entwicklung in Ihrem Heimatland Ungarn, ein Land, das auch in einer ökonomischen Krise steckt und sich stark verändert hat. Die politischen Krisen Ungarns hängen nicht so sehr mit ökonomischen Krisen zusammen. Während der Wirtschaftskrise war noch eine sozialistische Regierung im Amt. Der damalige Ministerpräsident hat diese Herausforderungen recht gut gemeistert. Es war dennoch eine schwache Regierung, nichts hat sich in den acht Jahren ihrer Herrschaft in Ungarn verändert. Was heute passiert, ist eine politische Gegenrevolution. Es gibt eine Einschränkung der Freiheitsrechte, Beschränkung der Presse- und der Persönlichkeitsfreiheit. Der preußische Untertanengeist in den Mittelschulen und Universitäten

Helden Welche Rolle spielt die ökonomische Krise seit 2008 für allgemein gesellschaftliche Krisen? Es gab eine ökonomische Krise in den USA und Europa. Sie wurde von den Staaten behandelt. Es kam zu einer größeren Arbeits-

n gebildeten Kreisen ist das Wort „Held“ in der Regel tabu. „Kannst du nicht ‚Vorbild‘ sagen?“, so eine der Standardreaktionen. Nein, kann ich nicht, denn das Wort „Vorbild“ (role model) ist ein Teil des Problems: ein Oslo / Norwegen / 10.04.2012 keimfreier Begriff, der einfach nicht so funktioniert wie „Held“ – also zu nichts anspornt oder herausfordert, kein Feuer entfacht für die Menschen, egal welchen Alters, Anders Breivik, der im Juli vergange- Wenn jeder so handeln würde wie er, die eine Erinnerung daran vertragen können, dass ihr nen Jahres 77 Menschen auf der norwe- wäre Breiviks Mission erfüllt. Allerdings gischen Insel Utøya ermordete, wurde gibt es noch eine andere Version des Leben mehr bedeutet als das, womit Susan von einem zweiten Gutachter für zu- kategorischen Imperativs: „Handle so, Neiman sie sich abzufinden gelehrt werden. rechnungsfähig erklärt. Zurechnungs- dass du die Menschheit sowohl inwurde dei- in Atlanta, Georgia geboren. Die Oft bekomme ich, auf Englisch wie studierte in Harvard fähig besagt: psychisch gesund, zu rati- ner Person als in der Person eines Moralphilosophin jeden Havanna, Kuba, 28. März 2012: Papst Benedikt auf Deutsch, denselben Vorwurf zu onalem Denken fähig. In der Tat befolgt anderen jederzeit zugleich als Zweck, und an der FU Berlin, Professuren führXVI trifftKants den Revolutionsführer und ehemaligen hören: Meine Anregung, das blasse Breivik Immanuel kategorischen niemals bloß als Mittel brauchst.“ten Dass sie nach Yale und Tel Aviv. Seit 2000 StaatschefHanFidel Castro und hilflose Wort „Vorbild“ durch das Imperativ,kubanischen die Formel vernünftigen auch Araber und Marxisten Menschen leitet sie das Einstein-Forum in Potsdelns, regelrecht aufs Wort: „Handle so, sind, streitet der Massenmörder nicht altmodische „Held“ zu ersetzen, sei dam. dass die Maxime deines 11 Willens jeder- ab. Klugerweise, muss An-Ihre neueste Publikation trägt den • man sagen. unbrauchbar, denn „Hitler und Stazeit zugleich als Prinzips einer allge- sonsten hätte der Gutachter ihn Titel: näm- „Moralische Klarheit. Leitfaden lin waren Helden“. für erwachsene Idealisten“ (Hamburger meinen Gesetzgebung gelten könne.“ lich für vollkommen verrückt gehalten. Tatsächlich. Verlag, 2010) Es ist lustig, wie jeder, der dieses Argument vorbringt, zu glauben scheint, er sei als Erster darauf gekommen. Und ja: Sobald man anfängt, über Helden nachzudenken, muss man auch über falsche Helden, Pseudohelden, irregeleitete Helden und noch eine Menge anderes nachdenken. Aber ebenso wie der Satz „Des einen Terrorist ist des anderen Freiheitskämpfer“ ist auch die Bremen / Deutschland / 17.04.2012 Überlegung, dass Hitler und Stalin für viele Leute Helden waren, ein Ausgangspunkt, um sich Gedanken über Helden zu machen, und nicht das Ende dieser Gedanken. Forscher des Bremer Max-Planck-Ins- und ob er einen Enddarm hat“, schrieb Es ist kein Zufall, dass das englische „role model“ im Jahr tituts für Marine Mikrobiologie haben der Aufklärer Voltaire im 18. Jahrhun1957 als Ersatzwort erfunden wurde, denn die erste Hälfte ein Wesen entdeckt, das zwar nicht so dert. „Du willst ein Ebenbild Gottes des 20. Jahrhunderts war ja eine einzige gewaltige Attacke

SINNBILD

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Patrick S. aus Leipzig, der zusammen mit seiner Schwester vier Kinder gezeugt hat; 20Familienglück der Justiz wirft er vor, sein zerstört zu haben. Tatsächlich ist fraglich, ob die Richter, indem sie auf ein biologisches Verständnis von Verwandtschaft zurückgreifen, den postmodernen Familienstrukturen des 21. Jahrhunderts Rechnung tragen. „Wie wird das Erbe des Ödi-

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RADAR

Der Neoliberalismus beruft sich auf eine unsichtbare Hand, die alles zum Guten wende; das sagt zumindest der Urahn der Theorie, Adam Smith. So etwas existiert ebenfalls nicht – zumindest nicht in der Ersten Welt. Man kann nur näherungsweise sagen, dass man neoliberal sei: Man kann dann weniger Steuern zahlen, weniger Wohlfahrtsstaat haben. Einen absoluten Neoliberalismus gibt es nicht, genauso wenig wie einen sich selbst regulierenden Markt.

Her mit den

Frau Heller, man glaubt sich am Ende einer Zeitepoche, die Krise des Kapitalis- Gibt es denn einen dritten Weg zwischen mus deutet darauf hin. Kapitalismus und Sozialismus? Die Krisen gehören naturgemäß zum Kapi- Es gab nie einen und wird auch nie einen talismus dazu. Aber keine Krise führt zu sei- geben. In der heutigen modernen Welt kann Straßburg / Frankreich / 12.04.2012 nem Zusammenbruch, das hat auch schon die Verteilung der Güter nur über den Markt Marx gesagt. Es gibt sie nun einmal, diese geregelt werden. Keine andere AlternaKrisen, besonders im Finanzkapitalismus. tive ist realistisch denkbar. Es gibt ja schon Das deutsche Inzestverbot ist mit dem pus für jene aussehen, die ihre Prägung ErUmständen beginnt beim Staat, der Grundrecht auf Schutz des Familienlebens Sozialismus. unter solchen erfahren“, so für Die jungen Menschen deshalb auf eine Arbeitslosen vereinbar, entschiedgehen der MenschenrechtsfragtUmverteilung die Philosophinsorgt. Judith Die Butler, „in dedie Straße … unterstützen, istVaters Sozialismus. Kostenlogerichtshof in Straßburg. Geklagt hatte zu nen der Platz des gestreut, der

ZEITGEIST

losigkeit, nicht im selben Maße in allen Ländern, am größten war sie wohl in Spanien. Ich bin mir nicht sicher, wie es sich weiterentwickeln wird. In diesem Moment glaubt man, dass die Krise ihr Ende erreicht hat. Allerdings dauern die wirklichen kapitalistischen Krisen viel länger − zehn, zwölf Jahre lang.

gegen das Konzept des Heldischen. Die Tapferkeit, einst Sinnbild des Militärdienstes, wurde durch den Wesenswandel der Kriegsführung ausgehöhlt. Das Herumkauern in eisigen, stinkenden Schützengräben ließ sich schwerlich mit derselben Leidenschaft verklären wie der Schwertkampf Mann gegen Mann. Und ein paar Jahrzehnte später stand restlos jede militärische Großtat infrage angesichts der Gräuel, verübt von Soldaten, die im Dienst verabscheuungswürdiger Ziele massenhaft Zivilisten ermordeten. All dies und dazu der Verdacht, Helden seien irgendwie undemokratisch, hatte zur Folge, dass das Wort „Held“ im Deutschen nahezu unaussprechlich geworden ist. Zwar zeigen sich andere Sprachen sonst weniger empfindlich gegen Wörter, die Blut-und-Boden-Assoziationen wecken können, doch spätestens seit dem Vietnamkrieg der USA herrscht zunehmend ein internationaler Konsens darüber, dass Helden der Vergangenheit angehören – und dass das auch gut so ist.

Die besten Helden haben Makel Zweifellos passt das Streben, ein Held zu werden, und zwar ein größerer als der Nachbar, nicht mehr in unsere Zeit. Früher standen Kinder und Nationen im Wettstreit darum, wessen Abenteuer, Mut oder Kühnheit am meisten Ehre und Aufmerksamkeit einheimste – obwohl jeder Romancier wusste, dass die besten Helden die mit Makeln sind. Was hat die Helden überflüssig gemacht? Es ist nicht allein die Demaskierung: Durch die richtige Linse betrachtet, kann jeder Held lächerlich wirken, und das Sprichwort „Für einen Kammerdiener gibt es keinen Helden“ war schon im 17. Jahrhundert verbreitet. Wer

© Laif, privat

wurde 1929 in Budapest geboren und promovierte bei Georg Lukács. Als Folge des Prager Frühlings von 1968 wandte sie sich vom Marxismus ab und wanderte nach Australien aus. 1986 wurde sie auf die HannahArendt-Professur der New School in New York berufen, wo sie bis heute lehrt

ser Unterricht ist Sozialismus. Gesundheitssicherung ist Sozialismus. Es gibt sehr viele sozialistische Institutionen innerhalb der heutigen Welt. Es ist das, was man einen Wohlfahrtsstaat nennt. Wo der Staat den Kapitalismus begrenzt, beginnt der Sozialismus. Es gibt keine rein kapitalistische Gesellschaft, gab sie nicht einmal im 19. Jahrhundert.

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Ágnes Heller

Die jungen Leute kämpfen nicht gegen den Kapitalismus. Sie protestieren gegen die Zügellosigkeit der Erweiterung der Einkommen, dass einige viel, viel mehr verdienen als andere. Vor 20, 30 Jahren gab es auch den Kapitalismus, und ebenso gab es ihn vor 40 oder 50 Jahren, und die Unterschiede waren nicht so groß. Heute verdienen die Professoren in New York ungefähr 120 000 Dollar, aber an der Wall Street verdient man ZEITGEIST 100 Millionen. Das ist fast tausendmal so viel.PLÄDOYER Das ist eine Anomalie, die nicht notwendig zum Kapitalismus gehört. Die jungen Menschen wehren sich gegen diese Anomalie und attackieren sie. Ich glaube, dass man sie mit Erfolg attackieren wird. Man wird ein Maximum des Profits bestimmen müssen, anders ist es nicht zu machen.

Kleiner Mann ganz groß? Wer Held sein will, muss selber fliegen

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„In jedem Heft ein großes Thema“ DOSSIER DENKEN DEUTSCHE ANDERS?

Dossier

Deutsche gelten als überängstlich und extrem gewissenhaft, im Alltag genauso wie in der Politik. Seid nicht so furchtsam, forderte selbst Bundespräsident Joachim Gauck in seiner Antrittsrede. Ist Angst tatsächlich ein besonders deutsches Gefühl?

DOSSIER

Denken Deutsche anders?

Warum haben wir Kinder? Macht Arbeit glücklich? Denken Deutsche anders? Im Titeldossier wird ein grundlegendes, gesellschatliches Thema tiefgreifend und vielstimmig dargestellt

Von Svenja Flaßpöhler Illustration von Philip Burke

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Ein Eid für Ingenieure Der Bamberger Philosoph Ralf Liedtke setzt sich dafür ein, dass deutsche Ingenieure einen Berufseid ablegen, ähnlich dem hippokratischen Eid für Ärzte. Ingenieure und Ingenieurinnen sollen sich dazu verpflichten, „als vernunftbegabter Teil der Natur dem Erhalt der gesamten Schöpfung zu dienen“. Ein realistisches Unterfangen?

Ralf Liedtke

ist Professor am Institut für Klassische Philologie und Philosophie der Universität Bamberg mit Schwerpunkt Ingenieurethik und Natur­ philosophie

Herr Liedtke, warum sollen ausgerechnet Ingenieure vereidigt werden? Worin besteht deren besondere moralische Verantwortung? Ingenieure sind heute die Träger technologischer Verantwortung par excellence. Ihr konkretes Handeln entscheidet über das Wohl und Wehe unseres Lebens in einer technologischen Welt. Ganz gleich, ob wir bloß über eine schöne neue Brücke gehen oder ob wir uns technischen Errungenschaften größeren Maßstabs überlassen, immer sind es Ingenieure, denen wir letztlich unser Leben anvertrauen. Selbstverständlich ist die Verantwortung auch von globaler Natur, jüngstes Beispiel Fukushima. Hier wurden bekanntlich Rohrleitungen verlegt, die nicht einmal nachwachsendem Gras standhalten konnten.

zumindest angedacht. Deutschland würde es gut zu Gesicht stehen, sich diesen hohen Grad an Verantwortlichkeit zuzumuten.

Steht die Idee des Ingenieureides in einer deutschen Tradition? Deutsche Denker spielen eine große Rolle, beispielsweise Agrippa von Nettesheim, Paracelsus oder Jacob Böhme, dann in der Romantik Friedrich Wilhelm Schelling, Friedrich von Hardenberg, Franz Xaver von Baader oder Carl Gustav Carus. Eine weit bekanntere Referenzgestalt ist der von mir sehr verehrte Hans Jonas mit seiner Verantwortungsethik.

Am Anfang stand eine Vision: ein Dorf der Philosophen, in dem der Traum von einer harmonischen Gemeinschaft mit der Natur endlich Wirklichkeit werden sollte. Ökologisch, ganzheitlich, gut. Fünfzehn Jahre nach seiner Gründung ist das ökosoziale Gemeinschaftsprojekt Pommritz eine der letzten Bastionen der deutschen Ökosophie. Ein Ortsbesuch Von Andreas Weber Fotos von Mirjam Wählen

German Angst

Ingenieure sind in besonderem Maße in der Rüstungsindustrie aktiv. Zielt der Eid auch auf diese Berufsfelder ab? Die Ingenieurskunst hat zwei Pole: Baukunst und Kriegskunst, Konstruktion und Destruktion. Bis ins 18. Jahrhundert hinein galt als „ingénieur“ allein der Zeugmeister, also der Kriegsbaumeister. Insofern zielt der Eid tatsächlich nicht allein auf Bauingenieure, vielmehr auch auf die Konstrukteure moderner Waffensysteme. Aber gerade in diesem Fall ist auch evident, wie wünschenswert eine größere Transparenz aus Sicht der Ethik wäre. Als Kind der Anti-Atomkraft- und PazifismusBewegung der siebziger Jahre ist es für mich erschreckend zu sehen, mit welcher Selbstverständlichkeit heute Kriege geführt werden – die man dann nicht einmal als Bundespräsident so nennen darf, ohne sein Amt zu verlieren.

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Spielt Deutschland aus ingenieurethischer Sicht eine Vorreiterrolle? Was Technikethik angeht, hat Deutschland sicherlich noch immer eine führende Position. Der deutsche Ethikrat ist gut positioniert und mit zahlreichen hervorragenden Wissenschaftlern besetzt. Und hinsichtlich des hohen Grades rechtlicher Verbindlichkeit war die deutsche Vorreiterrolle mit dem Ingenieureid

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Könnten Sie Bauvorhaben in Deutschland nennen, deren Realisierung einen klaren Bruch des Eides bedeutet? Ganz konkret: Wie steht es mit den Atommüllendlagern? In Deutschland haben wir höchste technologische Sicherheitsstandards, insbesondere bei Atomanlagen. Aber: Ein zeitliches Ende des strahlenden Mülls wird es nicht geben. Nehmen wir als konkretes Beispiel Asse in Niedersachsen. 10 000 Tonnen radioaktiven Materials müssen jetzt aus dem ehemaligen Prototyp eines „Endlagers“, das zum „Zwischenlager“ degradiert wurde, in ein anderes „Endlager“

Unser eindimensionales Fortschrittsdenken und das allgegenwärtige Diktat der Ökonomie zwingen uns geradezu, das technisch Vergangene als historisch Überwundenes zu betrachBauen ten. Nicht als etwas „Gewesenes“, wieFürchten es MarSchützenEs hängt sehr viel tin Heidegger formulierte. ab von der Gestaltung des Ingenieurstudiums: Technikethik muss zusammen mit Technikgeschichte fester Bestandteil der Ausbildung sein, damit sich ein ethisches 33 Bewusstsein für das Gewesene entwickelt. Ich nenne das Technosophie. Insofern kann ich als Philosoph und Theoretiker Ihre Frage nach der besonderen Verantwortung deutscher Ingenieure sofort bejahen angesichts der Gräuel unserer spezifischen Geschichte. Publikation zum Thema: „Der Ingenieur ∙ Eid“ (Scientia Nova, 2000)

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Dr. Freud und Mr. Heidegger

Ein Volk von Hysterikern? Freuds Darstellung neurotischer „Erwartungsangst“ beschreibt exakt jenen oft behaupteten Wesenszug der Deutschen, der im angelsächsischen Sprachraum seit den achtziger Jahren – den Jahren des Waldsterbens und der bundesweiten Demonstrationen gegen die Nachrüstung von Pershing-II-Raketen – mit dem Begriff german Angst bezeichnet wird. Deutsche, so die Wahrneh-

− die beiden Gesichter der deutschen Angst

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bschalten. Sofort! Nach der Katastrophe in Fukushima packt die Deutschen, als einzige Nation weltweit, die Angst. Hunderttausende gingen auf die Straße, die Wende in der deutschen Atompolitik war besiegelt. Deutsche Kernkraftgegner selbst begreifen ihre Reaktion naturgemäß als rational: Atomanlagen gefährden ganze Völker, das Leben auf diesem Planeten schlechthin. Doch es gibt auch eine andere mögliche Deutung der deutschen Atomangst. Die Katastrophe im 9000 Kilometer entfernten Fukushima wurde schließlich durch ein Naturereignis ausgelöst, das im mitteleuropäischen Raum gerade nicht erwartbar ist. So gesehen wäre die Angst vor der Kernschmelze eher ein Ausdruck allgemeiner Ängstlichkeit, einer, wie Sigmund Freud sagt, „frei flottierenden Angst“: „Personen, die von dieser Art Angst geplagt werden, sehen von allen Möglichkeiten immer die schrecklichste voraus, deuten jeden Zufall als Anzeige eines Unheils, nützen jede Unsicherheit im schlimmen Sinne aus.“

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© privat

© Christian Grund (13 Photo)

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stand gehandelt? Solange einem angestellten Ingenieur die Entlassung droht, wenn er Missstände öffentlich macht, wird es auch weiterhin technisches Handeln wider besseres Wissen geben.

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Fürchten

Schützen

gebracht werden. Wenn ich recht informiert bin, soll das Ganze mehr als zwei Milliarden Euro kosten und wahrscheinlich Jahrzehnte dauern. Hier sehen Sie auch die ganze Problematik: Deutsche Ingenieure bauen die sichersten Kernkraftwerke der Welt. Und dennoch wäre es ein ethischer Verstoß, dies auch weiterhin zu tun.

Eine unheimliche Frage. Im Jahr 2012 ist der politische Einfluss der Bundesrepublik so groß wie nie zuvor in Welche Sanktionen schweben Ihnen vor, der Nachkriegszeit. Die neue Führungsrolle weckt Ängste. sollte der Eid gebrochen werden? Der Frage nach den Sanktionen eine Andererseits blicken mehr undmuss mehr Nationen neugierig andere vorangehen: Welche Belohnung dürfen diejenigen erwarten, die Was sich an den ins Zentrum des Kontinents: macht Deutschland Eid halten? Wer die formulierten ethischen Grundsätze befolgt,Industrie erfährt Schutz des Gewisrichtig? Handwerk und florieren. Im politischen und gesellschaftliche Anerkennung. Die Diskurs haben sens Umweltschutz unddavorÖkologie einen hohen Ingenieure und Ingenieurinnen werden geschützt, von den eigentlichen VerantworStellenwert. Dennoch bestimmen Furcht und Zukunftsangst tungsträgern gezwungen zu werden, gegen ihren Sachverstand, gegen ihr moralisches die Haltung zuGewissen wirtschaftlichen und technologischen und gegen die Grundsätze des IngeIst es schwierig, Ingenieure für ethische nieureides zu verstoßen. Sie haben die moraEntwicklungen.lische Wie erklärt sich dieser deutsche Dreiklang Fragestellungen zu interessieren? Pflicht, derartige Verstöße öffentlich Die Frage nachaus dem individuellen Interesse zu machen. WerFürchten? hat die genannten Rohre in Haben deutsche Ingenieure, aus geschichtBauen, Schützen, Hat er am Ende gar ist weniger maßgeblich. Es geht mehr um das Fukushima konstruiert? Wer hat auf wessen lichen Gründen, eine besondere ethische philosophische Wurzeln? politisch und wirtschaftlich Gewollte, inso- Geheiß gegen jeden technischen Sachver- Verantwortung? fern um das institutionalisierte Interesse in Gestalt von Interessenverbänden wie etwa dem Verein Deutscher Ingenieure. Solange das wirtschaftliche Kalkül dominiert und solange der Blick für das historische Ganze fehlt, kann es keine ganzheitliche Technikausbildung geben und eben auch kein ethisch bewusstes Handeln unter dem Primat globaler und historischer Verantwortung.

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DOSSIER DENKEN DEUTSCHE ANDERS?

Das Prinzip Pommritz

Das Gespräch führte Wolfram Eilenberger

mung im Ausland, sind überängstlich, pessimistisch, zaudernd und stehen damit nicht nur dem Weltfrieden, sondern auch sich selbst im Wege. Die Zurückhaltung in der Außenpolitik, namentlich bei Kriegseinsätzen, ist mit dem Terminus german Angst genauso gemeint wie die tiefe Skepsis gegenüber bioethischen Vorstößen (z. B. in Debatten um Sterbehilfe, Präimplantationsdiagnostik etc.) oder die Ablehnung technischer Innovationen: Die 2010 geführte Diskussion über Google Street View etwa – Deutschland ist das einzige Land, in dem die Erweiterung dieses Dienstes eingestellt wurde – mutete auch manch deutschem Beobachter als hysterisch an. In der Regel werden Ängste wie diese mit Blick auf die deutsche Geschichte erklärt. Dass Deutschland keine Soldaten ins Ausland schicken, keine Euthanasie und keine Überwachung befürworten will, scheint sich mit Blick auf die nationalsozialistischen Verbrechen von selbst zu verstehen. Doch steht diese Interpretation der Annahme einer deutschen Ängstlichkeit, die immer gleich das Schlimmste befürchtet, keineswegs entgegen. Dräut tatsächlich automatisch eine Wiederholung der Geschichte, sobald Deutschland sich verhält wie andere Länder auch? Das hierzulande so beliebte Dammbruchargument etwa, dem zufolge eine gesetzlich legitimierte Suizidassistenz sogleich das nationalsozialistische Paradigma unwerten Lebens reaktiviere, wird von vielen Bioethikern als irrational zurückgewiesen: Das Argument beruhe lediglich auf einer Befürchtung, keineswegs aber auf begründbarer Kausalität. Neigen die Deutschen also tatsächlich zu übertriebener Erwartungsangst – gar Hysterie? Psychoanalytisch gesehen tritt hysterische Angst als Resultat nicht verarbeiteter, verdrängter seelischer Vorgänge auf: Enorme Schuld- und Schamgefühle haben einen normalen psychischen Ablauf verhindert, sodass an deren Stelle die hysterische Angstreaktion tritt. Angewandt auf die hysterischen Ängste des Nachkriegsdeutschlands bedeutete dies: Gefürchtet wird in Wahrheit weder ein Reaktorunglück noch der Börsencrash; vielmehr ist die allgemeine Ängstlichkeit der Deutschen die Spätfolge des sechsmillionenfachen Mordes, der, als Verdrängtes, das Unbewusste einer ganzen Nation prägt. Dass die german Angst einen neurotischen Zug an sich hat, legen auch andere, weit hinter den Zweiten Weltkrieg zurückreichende Hinweise nahe. Wer wollte bestreiten, dass die Deutschen nicht nur (umwelt-)politisch, sondern auch im Alltag eine ungewöhnliche Gewissenhaftigkeit an den Tag legen. Sauberkeit, Pünktlichkeit, Ordnung sind typisch deutsche Tugenden, die mitunter regelrecht zwanghaft anmuten. So stehen Deutsche in dem durchaus berechtigten Ruf, auffällig nervös zu werden, sobald die kleinste Verzögerung eintritt, Dinge nicht

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„Philosophische Gedanken verstehen“ Die Philosophen / Der Klassiker

Von Slavoj Žižek bis Robert Pfaller: die heutigen Denker im Gespräch Im Autorendossier: ein klassischer Philosoph zum Kennenlernen — Kant, Nietzsche, Sokrates ...

DIE PHILOSOPHEN

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Wo bitte bleibt das gute Leben

Biografie

Robert Pfaller 2000: erste Veröffentlichungen zur „Interpassivität“, mit denen Pfaller internationale Beachtung findet 2002–2009: Professor für Philosophie und Kulturwissenschaft an der Universität für künstlerische und industrielle Gestaltung Linz 2007: Auszeichnung für „Die Illusionen der anderen“ mit dem Preis „The Missing Link“ durch das Psychoanalytische Seminar Zürich

Zu genießen ist für Robert Pfaller nicht nur sinnstiftend, sondern auch politisch. „Wofür es sich zu leben lohnt“ heißt das jüngste Werk des österreichischen Philosophen, mit dem er mitten ins Herz der heutigen Verzichtkultur zielt. Ein Gespräch über Rauchverbot, Silikonbrüste, Opernbälle und die falsche Hoffnung auf das Jenseits Das Gespräch führten Svenja Flaßpöhler und Wolfram Eilenberger Fotos von David Payr

Herr Pfaller, unsere Zeit ist, behaupten Sie, von starker Genussfeindlichkeit geprägt. Wo liegt das Problem? Das Phänomen, das mir in der Gegenwart am meisten auffällt, ist die Klage über den anderen. Die einen stört, dass die anderen im Park grillen; andere verbieten wieder anderen das Trinken; die Dritten klagen, dass die anderen Witze machen über ihre Götter und Propheten. Man hat ein Universum von Beschwerden vor sich. Und mir fällt auf, dass das eigentlich immer Situationen sind, die mit dem Glück und dem Genuss des anderen verbunden sind. Worauf führen Sie die Missbilligung zurück? Man nimmt den Genuss des anderen nicht mehr als seinen eigenen Vorteil wahr. Man kann nicht mehr sagen: Das ist

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DER KLASSIKER

seit 2009: Ordinarius für Philosophie an der Universität für angewandte Kunst in Wien

SOKRATES

aber schön, dass der andere genießt, denn auch ich habe etwas davon, wenn er zufrieden und vielleicht entspannter ist. Nur die älteren Leute erinnern sich noch an Gespräche aus den neunziger Jahren, wo gefragt wurde: „Stört es Sie, wenn ich rauche?“ Und man hat erwidert: „Nein! Ich rauche selbst zwar nicht, aber bitte, tun Sie es nur, denn es sieht so hübsch aus, und es ist so elegant, und ich rieche es gern.“ Solche Sätze sind versunkenes Kulturgut.

AUF DER SUCHE NACH WEISHEIT

Wie konnte es so weit kommen? Spielen gesellschaftliche Strukturen eine Rolle? Unter neoliberalen Bedingungen hat eine starke Erosion des öffentlichen Raumes stattgefunden. Viele Dinge, die vor 50 Jahren noch selbstverständlich waren – dass man seinen Lebensunterhalt bestreiten kann, die Altersvorsorge gesichert ist –, sind keineswegs mehr sicher. Individuen werden geschult, nicht mehr den Anspruch zu erheben, von der Öffentlichkeit etwas zu bekommen. Stattdessen werden sie ermutigt, sich über alles zu beklagen, was sie nicht aus ihrem Privatraum her kennen.

Von Cicero stammt der Ausspruch, Sokrates habe die Philosophie vom Himmel auf die Erde geholt. Der Sohn einer Hebamme, von dem keine eigene Zeile überliefert ist, gilt als Gründerfigur des abendländischen Denkens. Philosophie fasst er als „Suche nach Weisheit“ und revolutioniert damit alles, was man zuvor darunter verstand. Er stellt die Tugend auf das Fundament der Vernunft und behauptet von sich selbst: „Ich weiß, dass ich nichts weiß.“ Nichtsdestotrotz zeigt er sich jedem seiner Gesprächspartner haushoch überlegen. Platon hat in seinen Schriften der Person und dem Denken seines Lehrers ein unvergleichliches Denkmal gesetzt

Kann man so sagen: Im Neoliberalismus haben wir kein „Recht auf“, sondern nur noch eine „Freiheit von“? Richtig. Der Einzelne kann gegenüber der Öffentlichkeit geltend machen, dass ihn irgendetwas in der Öffentlichkeit stört. Dieses Recht ist ein typisch neoliberales Recht. Aber die Kehrseite dieses Beschwerderechts ist, dass man nichts fordern darf. Sie dürfen nicht fordern, dass Sie im — PHILOSOPHIE MAGAZIN

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Neuerscheinungen, Spiele, Reportagen aus aller Welt: Das Philosophie Magazin informiert, unterhält und bietet neue Sichtweisen auf die Welt

Macht, war das nicht dieser schleimige, schwarze Krake, mit dem man sich nur die Finger schmutzig machen konnte? Drei Bücher ergeben noch keinen Trend, und doch deuten einige Zeichen darauf hin, dass die Macht aus der Schmuddelecke geholt wird, in der die Fürsten der Finsternis (Carl Schmitt, Darth Vader) sie geknebelt hielten. Vielleicht haben die anderen – die Nicht-Nihilisten, Nicht-Utilitaristen und Philanthropen – auch verstanden, dass Interessen an sich nichts Böses sind. Da kommt Volker Reinhardts Biografie des Machtkünstlers Machiavelli (C. H. Beck, 400 S., 24,95 €) gerade recht. Machiavelli provozierte mit seinem „Der Zweck heiligt die Mittel“Zynismus – und wollte nur das Vernünftige: eine Republik, in der sich niemand mehr mit vermeintlich edlen Motiven durchschwindeln sollte. Also besser erst gar nicht an wahre Werte glauben, damit niemand sie kapern kann? Wer die fantastische HBO-Serie „The Sopranos“ kennt, weiß, was Höllenfürsten wünschen – und kann sich in den philosophischen Denkschleifen eines Mafia-Bosses aus New Jersey spiegeln. Diedrich Diederichsen begutachtet die Serie in einem erhellenden Essay: „Bei den Sopranos gibt es keine Position moralischer Überlegenheit innerhalb des Dramas. Selbst die Schlimmsten haben nette Momente, selbst die Vorzeigbarsten, scheinbar Vernünftigsten sind eigentlich komplett widerlich.“ (Diaphanes, 112 S., 10 €). Dass „viel offenes und freundliches Miteinanderreden“ nicht vor Machtanwendung schützt, darauf weist Niklas Luhmann in seiner frühen Schrift „Macht im System“ hin (Suhrkamp, 156 S., 24,95 €). Macht lasse Systeme entscheidungsfähig bleiben, heißt es dort stocknüchtern. Vielleicht nicht das schlechteste Mittel: die klassischen Machttheorien vom abgrundtief bösen Menschen einfach mal systemtheoretisch austrocknen lassen.

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Fiktion und Philosophie von Wolfram Eilenberger

l Hoch motiviert

Morbus Schmidt

Der helle Horror

Supermächte

Ereignis / Bücher / und mehr

l Für Neugierige l Mit Vorwissen

Buch des Monats

von Jutta Person

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In seinem „Panoptikum“ erfindet Jeremy Bentham das ideale Gefängnis des 18. Jahrhunderts – und nimmt die totale Überwachung unserer Transparenzgesellschaft vorweg

l Jeremy Bentham Das Panoptikum Übersetzt von Andreas L. Hofbauer Matthes & Seitz / 288 S. / 26,90 €

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ichel Foucaults Buch „Überwachen und Strafen“ machte das Panoptikum zum Klassiker der Überwachungstheorien: Ein Panoptikum ist ein als Ring angeordnetes Gebäude, in dem sich Räume befinden, die zur Innen- und Außenseite mit Fenstern ausgestattet sind, sodass das Licht hindurchscheint. Im Zentrum der Architektur befindet sich ein freistehender Wachturm. Auch dieser hat Fenster, die so angeordnet sind, dass ein einziger Wächter im Turm jeden Raum vollständig einsehen kann, dabei selbst aber unsichtbar bleibt. Die Insassen des Panoptikums sehen niemanden. Durch seitliche Trennwände sind sie von ihren Nachbarn abgeschirmt, das Zentrum der Macht bleibt eine Chimäre: Jeder muss davon ausgehen, dass das kontrollierende Auge der Macht gerade jetzt auf ihn gerichtet ist; nur wissen kann er es nicht, denn er hat keine Gelegenheit, sich vom Gegenteil zu überzeugen. Der utilitaristische Sozialreformer Jeremy Bentham hat die eigentliche Gründungsakte dieser Konstruktion im Jahr 1787 verfasst: Sein Text „Panoptikum oder Das Kontrollhaus“ ist aber von seiner Rezeptionsgeschichte gefressen worden. Bentham verschwand hinter seinen Interpreten, zu denen seit Foucault auch Zygmunt Bauman, Jean Baudrillard oder jüngst der Philosoph Byung-Chul Han mit seinem Buch „Transparenzgesellschaft“ (Matthes & Seitz, 2012) gehö-

Özil müsste schießen …

Undercover

l Für alle

ren. Erst jetzt wurde der Quellentext ins Deutsche übersetzt. Er ist von der Rigorosität faschistisch imprägnierter Science-Fiction. Bentham konnte aber von den Totalitarismen des 20. Jahrhunderts noch nichts wissen, nicht einmal von der Französischen Revolution. Seine Abhandlung folgt keiner wissenschaftlichen Form, sondern besteht aus einer Reihe von Briefen, die er aus dem weißrussischen Ort Kritschew an einen Freund in England verschickte. Dass Weißrussland heute der letzte totalitäre Staat Europas ist, ist eine weitere historische Pointe, von welcher der Autor nichts ahnen konnte. Seine Apparatur stand ganz im Dienst der Verbesserung künftiger Gesellschaften: „Mag es darum gehen“, erklärt Bentham, „die Unverbesserlichen zu bestrafen, die Verrückten zu beaufsichtigen, die Gemeingefährlichen zu bessern, die Verdächtigen unter Aufsicht zu stellen, die Müßigen zu beschäftigen, die Hilflosen zu betreuen, die Kranken zu behandeln, die Bereitwilligen anzuleiten zu jeder beliebigen Arbeit oder die zukünftige Generation auf den Pfad der Bildung zu führen.“ Die humanistische Grundlegung des Entwurfs verschwand hinter dem Horror umfassender Überwachung: Benthams Panoptikum sollte in Form des „Teleschirms“ wiederkehren, den George Orwell in seinem Roman „1984“ ersonnen hat: Dieses niemals abschaltbare Gerät diente dem Poli— PHILOSOPHIE MAGAZIN

Panoptische Bauweise: die Justizvollzugsanstalt Berlin-Moabit zeistaat zur Infiltration und Kontrolle aller Bürger. In seiner Konzentration auf die optischen Aspekte der Architektur verschwieg Foucault, dass auch in Benthams Panoptikum ein Rückkanal vorgesehen war. Durch schmale „Zinnblechröhrchen“, die vom Turm des Aufsehers in die Zellen führten, sollten undisziplinierte Insassen des Gebäudes durch akustisch übermittelte Befehle zur Ordnung gerufen werden. Die Aufseher sollten indessen nicht nur Macht, sondern auch Unterhaltung genießen. Wie dem heutigen Fernsehzuschauer böte sich ihnen die Möglichkeit, von Zelle zu Zelle wie zwischen Programmen zu zappen. „Der Ausblick“, verspricht Bentham, „wäre zwar beschränkt, nichtsdestoweniger ziemlich abwechslungsreich, und daher vielleicht sogar amüsant.“ Erst das Internet aber sollte den Traum einer absoluten Transparenz einlösen, der sich heute die meisten ganz freiwillig unterwerfen, weshalb der in Karlsruhe lehrende Philosoph Byung-Chul Han heute von einer WeiNR. 04 — MAI/JUNI 2012

terentwicklung des Panoptikums in Form des „aperspektivischen Panoptikums“ spricht, in dem jeder von jedem ausgeleuchtet wird. Bentham hätte dagegen gewiss nichts einzuwenden gehabt, und wie anders als eine Werbung für Facebook soll man solche Zeilen lesen: Das Panoptikum ist „weit offen der Gesamtheit der Schaulustigen, diesem großen offenen Gremium des Gerichtshofes der Welt. Und wer würde gegen eine derart hergestellte Öffentlichkeit Einwände vorbringen, außer denjenigen, die triftige Gründe dafür hätten?“ Bentham flutete die Kerker der Repression mit Licht und hoffte, dadurch „die Seelen in einem Umfang zu formen, wie es bislang ohne Beispiel ist“ – im Sinne einer vollkommen entfesselten Unterwerfung unter das absolute Gesetz des Vorgegebenen. Eine Anleitung zum Bürgerkrieg ist das nicht. Es ist das Manual unserer Lebens-, Arbeits- und Kommunikationsbedingungen. Das derzeit aktuellste Buch stammt aus dem Ronald Düker Jahr 1787.

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Fußballmannschaften sollen eine ganze Nation repräsentieren. Deutschland hat in dieser Hinsicht viel von seinen Rivalen gelernt. Rein philosophisch gesehen

Schwer zu sagen, weshalb diese Krankheit ist es für die nahende EM deshalb klarer Titelfavorit bislang keinen Namen hat. Ob es nur daran Von Gunter Gebauer liegt, dass Ärzte sie nicht heilen können? Oder daran, dass wir mehr oder weniger alle an ihr leiden? Verstehen lässt sie sich jedenfalls am leichtesten mithilfe einer Romantrilogie. st es ein Zufall, dass sich in unserer „Gesell- Gemeinschaft, der die Nationalmannschaft Geschrieben hat sie der Amerikanerschaft Louis der Individuen“ (Norbert Elias) ein bildet, doch auch all jene, die sich mit ihm in Begley, ihr Held trägt den Namen Albert Spiel höchster Zustimmung erfreut, in dem Übereinstimmung fühlen, wollen Teil dieser Schmidt. Im dritten Buch – „Schmidts esEinviel mehr auf das Kollektiv ankommt als Gemeinschaft sein. Die deutsche Fußballnatisicht“ – lernen wir ihn als lebenslustigen Pen-Einzelnen? Im Fußball liebt man her- onalmannschaft bringt ein kollektives Gefühl auf den sionär kennen. Finanziell bestens abgesichert, ausragende Akteure, aber entscheidend ist nationaler Stärke hervor. Von dieser Überzeubesitzt er ein Apartment in New Yorkdie undMannschaft. ein Selbst ein genialer Spieler gung ist man so sehr beseelt, dass sie schon Landhaus in Connecticut, jettet für eine wiewohlLionel Messi entfaltet sich nur in den kol- gar nicht mehr als das wahrgenommen wird, tätige Stiftung um die Welt und genießt als Wirbeln des FC Barcelona. Wider- was sie ist: eine Ideologie der Zusammengelektiven rüstiger Witwer diverse erotische Abenteuer. spricht die Aufmerksamkeit, die sich im hörigkeit. Dennoch gibt es da ein spezielles UnvermöFußball auf das Kollektiv richtet, dem IndiIn benachbarten europäischen Ländern gen, das Schmidt seit jeher plagt und quält: Es vidualismus moderner Gesellschaften? Oder sieht man die Nationalelf und ihren Bezug gelingt ihm einfach nicht, mit den Menschen, geht es im Fußball vielmehr um ein Schau- zur eigenen Bevölkerung in anderem Licht. die er am meisten liebt, über das zu sprespiel der Gesellschaft selbst? In Frankreich beispielsweise öffnet das Wort chen, was ihn am tiefsten bewegt. Schmiddie, Allein schon das deutsche Wort Mann- Équipe, mit dem die Fußballauswahl bezeichwie ihn seine sogenannten Freunde nennen, schaft scheint entschieden für die zweite net wird, ganz andere Bedeutungskontexte besitzt keine Stimme, mit der er sich anAnnahme andere zu sprechen: „Mann“ ist eine allge- als der Begriff Mannschaft. Der Littré – das wenden könnte. Wann immer er es versucht – meine Bezeichnung für Mensch und „-schaft“ Wörterbuch der französischen Akademie für besonders eindrücklich in den Telefonaten eine sprachliche Form, die ein Kollektiv- Sprache – verzeichnet unter Équipe: einen mit seiner Tochter –, scheitert er erbärmlich. subjekt ausdrückt – ähnlich wie im Begriff Verbund mehrerer Arbeiter, die sich zusam„Wozu lebt dieser Mensch?“, fragt er sich eines Gemeinschaft. Die Mannschaft ist also eine menschließen, um eine Last zu tragen; sie Morgens beim Blick in den Spiegel und bleibt Organisation, die einen kleinen Teil ist eine Organisationsform zur Bewältigung spezielle auch mit dieser Frage allein. Wie gesagt, ein der Gemeinschaft umfasst. Wer zur Mann- einer schweren Arbeit. allzu gängiges Schicksal. Was Mister Schmidt schaft gehört und diese Zugehörigkeit ausIn der französischen Sichtweise sind besondere philosophidrücken will, spricht wie deutsche Fußball- die Auswahlspieler damit andere, die eine lfans im Plural: „Wir haben gewonnen.“ Von Schwerarbeit für die Nation verrichten, sche Relevanz verleiht, ist dessen bleibende Hoff- Louis Begley einer Mannschaft wird nicht ein Einzelwille sozusagen ein spezialisierter Arbeitertrupp. Schmidts Einsicht nung, sein Leiden könne verwirklicht, sondern ein Bündel von Absich- Damit wird keineswegs ausgesagt, dass man Übersetzt von selbst in hohem Alter Christa Krüger ten, die einen kollektiven Willen ausdrücken. diese Arbeit nicht schätzt – im Gegenteil, man noch geheilt werden: von Suhrkamp /Zwar 415 S.ist / es nur ein erwählter kleiner Teil der erkennt sie schon deswegen an, weil man sie der richtigen Person, im 22,90 € richtigen Moment, mit 86 > dem einen, alles befreienden Wort. Und tatsächlich, mit den drei letzten Worten des Romans geschieht das Wunder. Schmidt spricht sich aus. Wenn alles gut geht, werden wir nie wieder von ihm lesen. Was für ein Jammer. © Oliver Hurst-Pool/Bongarts/Getty Images

rühling in Wien. Die Türen zu den Kaffeehäusern stehen weit offen, drinnen wie draußen wird geraucht und getrunken. Das Institut für Philosophie der Universität für angewandte Kunst ist in einem Altbau untergebracht, feierlich hoch die Räume, das Parkett knarzt. Robert Pfaller begrüßt seine Gäste strahlend. Kaffee und Gebäck stehen auf dem Tisch, der warme Wind, der durch die Balkontür weht, umschmeichelt eine Corbusier-Liege. Der Philosoph legt sich erst einmal hin, posiert für den Fotografen. Keine Spur von falscher Scham. Der Kernsatz von Pfallers neuem Wiener Materialismus lautet: Genieße das Leben, hier und jetzt. Eine Philosophie, zu schön um wahr zu sein?

© dpa, Trevor Good

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DIE PHILOSOPHEN SOKRATES

1962: geboren in Wien

© Illustrationen: Emmanuel Polanco für PM. Foto: Josse/Leemage

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Der Pulsschlag einer neuen Generation: Fotoshooting des DFB

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Paradoxe Piraten?

Die Piraten sind die Partei der Stunde. Sie gelten als Vorreiter eines neuen Demokratie­verständnisses. Eine genauere politische Standortbestimmung fällt Sympathisanten wie Skeptikern hingegen schwer. Woran liegt das? Versuch einer Annäherung in vier Widersprüchen

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— Philosophie Magazin


Zeitgeist Piraten: Widerspruch

1) Meins versus deins

3) Repräsentation versus Präsenz 4) Fest versus flexibel

Ihr Gestus ist radikal staatsskeptisch, sie geloben aktiven Widerstand gegen Überwachungsmaßnahmen und Eingriffe in die Privatsphäre, setzen individuell auf das Ideal der freien Persönlichkeit und kollektiv auf kreative Selbst­organisation. So beschrieben, stünden die Piraten in der Nähe von libertären Vordenkern wie dem österreichischen Ökonomen Friedrich ­August von Hayek oder dem amerikanischen Philosophen Robert Nozick. In deren Theorien bildet ein starkes und unbedingt zu verteidigendes Eigentums- und Urheberrecht die eigentliche Basis einer freien Gesellschaft. Gerade dieses Grundrecht wird von den Piraten aber mit aller Macht bestritten und ausgehöhlt. So ergibt sich das Bild einer Bewegung, die durch das Netz erworbene Nutzungs- und Konsumgewohnheiten schützen will, ohne anzugeben, auf welcher ökonomischen Basis die zur Nutzung gewünschten Inhalte dauerhaft produziert werden könnten.

Die dezentrale, partizipative Struktur des Internets soll nach Willen der Piraten unsere demokratische Praxis grundlegend reformieren. Die auf der Idee der Repräsentation beruhende parlamentarische Demokratie, in der Entscheidungen an gewählte Mandatsträger delegiert werden, wäre durch einen Prozess ersetzbar, in der jeder Bürger möglichst direkt in jede Entscheidung eingreifen kann. In den Worten des Philosophen Byung-Chul Han würde „Repräsentation durch Präsenz“ abgelöst. Positiv verstanden betont dies Teilhabe und Mitbestimmung, in einer negativen Deutung hingegen zeigt sich ein radikaler Skeptizismus, der aus der Angst, anderen die eigene Stimme zu geben, lieber alles bei sich behalten will. Droht der Wunsch nach Selbstpräsenz, anstatt dem Ideal einer dynamischen Gemeinschaft zu folgen, nicht in eine atomistische Vereinzelung zu führen, in der jeder nur noch für sich spricht?

© Getty Images (3), dpa

2) Transparenz versus Vertrauen Entscheidende Sympathiepunkte gewinnt die Partei derzeit aus ihrem unbedingten Bekenntnis zu Transparenz. Ein Begriff, der für mehr Offenheit und Informationszugang steht und letztlich vertrauensbildend wirken soll. Stillschweigend angenommen wird dabei, ein Mehr an zugänglicher Information werde automatisch zu einem Mehr an wechselseitigem Vertrauen führen. Doch wie plausibel ist diese Annahme? Lässt sich beispielsweise das Misstrauen eines eifersüchtigen Partners wirklich dadurch befrieden, ihn oder sie ständig über den eigenen Aufenthaltsort zu informieren? Sind die Forderungen nach totaler Transparenz nicht von ­einer Logik des Verdachts geleitet, die hinter jedem gelüfteten Schleier ein neues Geheimnis vermuten kann − womit sie letztlich unersättlich blieben? Und steht der Leitwert der Transparenz nicht in einem offenbaren Widerspruch zu der erhobenen Forderung nach unbedingter Wahrung der privaten Datenhoheit und Anonymität im Netz? Nr. 04 — mai/juni 2012

Das Streben nach maximaler Unmittelbarkeit und Selbstidentität geht einher mit einer auffälligen Standpunktscheu. Wunschgemäß sollen Entscheidungsprozesse durch permanente Rückmeldungsschleifen vorbehaltlich bleiben (liquid democracy). Die piratische Feier des Flexiblen – das eigene Fähnchen, das ständig im Winde zittert – lässt sich plausibel mit den Analysen des amerikanischen Soziologen Richard Sennett verbinden, der unter dem Begriff des „flexiblen Menschen“ vor einer drohenden Schwundstufe persönlicher Entwicklung warnte: die neuen Produktionslogiken des digitalen Kapitalismus schaffen demnach Menschen, die nicht wissen, wofür sie stehen, weil sie durch die permanenten Flexibilitätszumutungen des Marktes nicht dazu kamen zu wissen, wer sie sind. Ist es ein soziologischer Zufall, dass die Kernklientel der Piraten aus großstädtischen, männlichen Singles in sogenannt prekären Beschäftigungsverhältnissen bestand und besteht? Wird hier systemisch erlernte Bindungsunfähigkeit gar zur alles heilenden Tugend verkehrt?

Entwicklung aus Widersprüchen?

„Unser Ziel ist, uns selbst überflüssig zu machen“ Marina Weisband, Geschäftsführerin der Piratenpartei, im Januar 2012

Die Piraten geben offen zu, auf die genannten Fragen keine abschließenden Antworten zu besitzen. Sie betonen stattdessen den nach wie vor offenen Projektcharakter ihrer zur Partei gewordenen Bewegung. Der Versuch, den genannten Widersprüchen zu folgen und die bestehenden Zweifel an der Parteifähigkeit der Piraten ernst zu nehmen, führt auf eines der zentralen Gründungsdokumente der Bewegung. Es handelt sich um einen 1991 von Hakim Bey geschriebenen Essay, der das revolutionäre Potenzial der Piratenmetapher für eine Politik in Zeiten des Internets eindrucksvoll erkundet. Siehe nächste Seite.

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— Philosophie Magazin

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Dossier

© Frank Rösner und Robert Eysoldt / www.farbwerte.com, abgebildet: Roland Meyer de Voltaire

Denken Deutsche anders? Eine unheimliche Frage. Im Jahr 2012 ist der politische Einfluss der Bundesrepublik so groß wie nie zuvor in der Nachkriegszeit. Die neue Führungsrolle weckt Ängste. Andererseits blicken mehr und mehr Nationen neugierig ins Zentrum des Kontinents: Was macht Deutschland richtig? Handwerk und Industrie florieren. Im politischen Diskurs haben Umweltschutz und Ökologie einen hohen Stellenwert. Dennoch bestimmen Furcht und Zukunftsangst die Haltung zu wirtschaftlichen und technologischen Entwicklungen. Wie erklärt sich dieser deutsche Dreiklang aus Bauen, Schützen, Fürchten? Hat er am Ende gar philosophische Wurzeln?

1 Nr. 04 — mai/juni 2012

Bauen

3

2 Schützen

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Fürchten

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Dossier Denken Deutsche anders?

G

VonWolfram Eilenberger

anz Europa ist in der Krise. Deutschland nicht. Woran liegt das? Eine ganz einfache Beobachtung, eine scheinbar simple Frage. Gestellt wird sie derzeit weltweit. Und allein dieser Tatsache haftet – von außen wie innen – etwas Furchteinflößendes, ja nachgerade Unheimliches an. Deutschland, fasste kürzlich ein Analyst der New York Times die globale Erwartungslage zusammen, sei so groß und mächtig geworden, dass es sich entscheiden müsse: entweder weiterhin „seine Nachbarn zu drangsalieren und einzuschüchtern“ oder aber „Europa selbstbewusst anzuführen“. To become the continent’s leader, keine so leichte Sache. Schließlich ist nicht einmal klar, wie sich diese amerikanischste aller Wendungen angstfrei in zeitgenössisches Deutsch übertragen ließe. Gelobt wird die ausgeglichene Qualität des deutschen Sozialstaats, was linken Theoretikern wie Richard Sennett ebenso als modellhaft erscheint wie neokonservativen Vorden-

Deutschland war sich nie eine Selbstverständlichkeit kern vom Schlage eines Francis Fukuyama. Gleiches gilt für die ökonomische Stabilität und Innovationskraft des Exportweltmeisters: „Sämtliche meiner Anstrengungen“, ließ der wahlkämpfende Präsident Nicolas Sarkozy unlängst verlauten, „zielen darauf ab, das französische System dem Deutschlands anzugleichen.“ Wie jeder ökonomische Erfolg nährt auch dieser die Vermutung, dass hinter ihm tiefere kulturelle Muster und Traditionen stehen. Mentalität ist ein unscharfes Wort dafür. Irgendwie meinte man ja immer zu wissen (und wollte es als Deutscher im Ausland zuletzt bestreiten), dass Deutsche grundsätzlich „anders ticken“. Wäre es tatsächlich so, was könnte die Welt heute von ihnen lernen? Stellte das, was die wohlwollende Außenperspektive mit dem Deutschland des Jahres 2012 verbindet, gar ein kulturell-gesellschaftliches Modell in Aussicht, das der gesamten industrialisierten Welt einen Weg aus der Krise wiese? >

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Wir sind Sprache Man wäre kein Deutscher, würde man diese Fragen nicht zum Anlass einer abermaligen, tiefen Selbstprüfung nehmen. Tatsächlich lässt sich das Bedenken, wer man eigentlich sei und was man der Welt zu geben habe, als bleibende Gründungsfrage der Nation benennen. Deutschland war sich nie eine Selbstverständlichkeit. Während andere europäischen Großmächte bereits im 16. und 17. Jahrhundert ihre nationalstaatliche Basis gefunden hatten, erfuhr sich Deutschland als „verspätete Nation“ (Helmuth Plessner), der die Formung eines Nationalstaates lange versagt blieb. Bis ins 19. Jahrhundert hinein bestand die Herausforderung, ein Volk ohne Reich, ein Nationalbewusstsein ohne entsprechende Nation zu imaginieren. Vonseiten der Philosophie setzte man bald auf die deutsche Sprache als eigentlich nationales Fundament. Stramm voran auf diesem Weg schritt Johann Gottlieb Fichte in seinen „Reden an die deutsche Nation“ von 1807: „Was dieselbe Sprache redet“, ließ der Idealist seine Studenten wissen, „das ist schon vor aller menschlichen Kunst vorher durch die bloße Natur … ein unzertrennliches Ganzes. Ein solches Volk kann kein Volk anderer Abkunft und Sprache in sich aufnehmen und mit sich vermischen wollen, ohne wenigstens fürs Erste sich zu verwirren, und den gleichmäßigen Fortgang seiner Bildung zu gefährden.“ Die Einheit des Vaterlands wurde also über die Einheit Muttersprache definiert, und man müsste schon sehr schwerhörig sein, nicht zu vernehmen, wie stark diese frühe Selbstbestimmung bis in gegenwärtige deutsche Diskurse um Integration und Einwanderung hinein nachhallt. Zumindest aus konservativer Sicht geht es bei dieser Frage um wesentlich mehr als die geminderten Aufstiegschancen ohnehin Deklassierter, nämlich um das deutsche Sprachwesen. Das Humboldt-Projekt Die bis heute gern im Munde geführte Rede von den Deutschen als Kultur- beziehungsweise Bildungsnation steht klar in der Spur der Fichte’schen Sprachschöpfung. Nicht nur, — Philosophie Magazin


dass Sprachen die Kraft zur Prägung und Stiftung von Nationen besaßen, recht verstanden stehe jede Sprache auch für eine besondere Weise des Denkens und In-der-Welt-Seins. Seine systematisch feinste Ausarbeitung fand dieser Ansatz im Werk des preußischen Edelmanns und Linguisten Wilhelm von Humboldt, der festhält, dass „die verschiedenen Sprachen die Organe der eigenthümlichen Denkund Empfindungsarten der Nationen ausmachen“. Die Sprache ist das Tor zur Welt, und jede Sprache gewährt einen anderen Zugang. Wer diesem Gedanken folgt, für den zeigt sich die Eigenheit eines Volkes am deutlichsten in Begriffen, die als einzig und damit unübersetzbar gelten. Das Deutsche sandte gleich eine ganze Reihe von ihnen durch die Welt der Ideen, darunter so grundlegende Worte wie Geist, Kultur oder Bildung, Gemütlichkeit und Heimat. Nicht zu vergessen den scheinbar basalen Gefühlszustand der Angst. Keinesfalls entgehen sollte hier die philosophische Pointe des Humboldt’schen Ansatzes. Denn auf die Frage, ob Deutsche anders denken, kann es gemäß dieser Linie nur eine einzige Antwort geben: Selbstverständlich tun sie dies. So wie die Finnen, Kurden, Yoruba und Japaner … auch.

Der Albtraum der Reinheit Humboldts Spur beeinflusste selbst noch die Wahrnehmung der beiden Weltkriege. In besagter Geistes­tradition stehend, handelte es sich nicht nur um territoriale Auseinandersetzungen, nein, was auf dem Spiel stand, war aus philosophischer Sicht nicht weniger als die Idee der Kultur selbst. Die Weltkriege waren

Jede Sprache steht für eine besondere Weise des Denkens und In-der-Welt-Seins als Kriege der Welten deutbar und mobilisierten innerkulturell Entwicklungen, in denen sich sprachliche Wesensdiskurse unheilvoll mit biologistischen Annahmen verbanden. Ein ganzes volksbildendes Vokabular wurde gekidnappt beziehungsweise zu letzter Konsequenz geführt. Jedenfalls passt es auf perDie verse Weise zur Idee von v o l l s t ä der privilegierten Sprachndigen nation Deutschland, dass S Artikel les en ie in de ausgerechnet diejenigen r aktue llen Ausgab zum Opfer

Daten, die zu denken geben

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Zusammengestellt von Jana Glaese

Inflationsrate Deutschlands: 2,3% (2011), Exporte im Wert von 1 060,1 Milliarden Euro (2011), 11,4% mehr als im Vorjahr. Außenhandelsbilanz: Überschuss von 158,1 Milliarden Euro (2011), höchste Innovationsfreudigkeit in Europa (80% der Unternehmen als innovativ eingestuft), höchste Anzahl an Patentanträgen beim europäischen Patentamt gestellt, Gemeinden recyclen fast die Hälfte ihres Mülls (Europarekord). 16 375 rechtsradikal motivierte Straftaten im Jahr 2010, darunter 11 384 Propagandadelikte wie das Zeigen von Hakenkreuzen. Deutschland hat über

6000 Museen (Europarekord), mit Abstand die höchste Anzahl an Schriftstellern und Kulturschaffenden in Europa (über 300 000), 84 Opernhäuser (1/7 der weltweiten Gesamtzahl), es existieren 1500 verschiedene Wurstsorten (Weltrekord), über 8481 Naturschutzgebiete, Anteile der erneuerbaren Energien am gesamten Energieverbrauch: rund 10%

Quellen: Eurostat, Deutsches Musikinformationszentrum, Verfassungsschutzbericht, European Group on Museum Statistics, Deutscher Fleischer-Verband, Bundesamt für Naturschutz, Statistisches Bundesamt

Nr. 04 — mai/juni 2012

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Die Philosophen

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Robert Pfaller

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Wo bitte bleibt das gute Leben

Zu genießen ist für Robert Pfaller nicht nur sinnstiftend, sondern auch politisch. „Wofür es sich zu leben lohnt“ heißt das jüngste Werk des österreichischen Philosophen, mit dem er mitten ins Herz der heutigen Verzichtkultur zielt. Ein Gespräch über Rauchverbot, Silikonbrüste, Opernbälle und die falsche Hoffnung auf das Jenseits Das Gespräch führten Svenja Flaßpöhler und Wolfram Eilenberger Fotos von David Payr

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rühling in Wien. Die Türen zu den Kaffeehäusern stehen weit offen, drinnen wie draußen wird geraucht und getrunken. Das Institut für Philosophie der Universität für angewandte Kunst ist in einem Altbau untergebracht, feierlich hoch die Räume, das Parkett knarzt. Robert Pfaller begrüßt seine Gäste strahlend. Kaffee und Gebäck stehen auf dem Tisch, der warme Wind, der durch die Balkontür weht, umschmeichelt eine Corbusier-Liege. Der Philosoph legt sich erst einmal hin, posiert für den Fotografen. Keine Spur von falscher Scham. Der Kernsatz von Pfallers neuem Wiener Materialismus lautet: Genieße das Leben, hier und jetzt. Eine Philosophie, zu schön um wahr zu sein? Herr Pfaller, unsere Zeit ist, behaupten Sie, von starker Genussfeindlichkeit geprägt. Wo liegt das Problem? Das Phänomen, das mir in der Gegenwart am meisten auffällt, ist die Klage über den anderen. Die einen stört, dass die anderen im Park grillen; andere verbieten wieder anderen das Trinken; die Dritten klagen, dass die anderen Witze machen über ihre Götter und Propheten. Man hat ein Universum von Beschwerden vor sich. Und mir fällt auf, dass das eigentlich immer Situationen sind,

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die mit dem Glück und dem Genuss des anderen verbunden sind. Worauf führen Sie die Missbilligung zurück? Man nimmt den Genuss des anderen nicht mehr als seinen eigenen Vorteil wahr. Man kann nicht mehr sagen: Das ist aber schön, dass der andere genießt, denn auch ich habe etwas davon, wenn er zufrieden und vielleicht entspannter ist. Nur die älteren Leute erinnern sich noch an Gespräche aus den neunziger Jahren, wo gefragt wurde: „Stört es Sie, wenn ich rauche?“ Und man hat erwidert: „Nein! Ich rauche selbst zwar nicht, aber bitte, tun Sie es nur, denn es sieht so hübsch aus, und es ist so elegant, und ich rieche es gern.“ Solche Sätze sind versunkenes Kulturgut. Wie konnte es so weit kommen? Spielen gesellschaftliche Strukturen eine Rolle? Unter neoliberalen Bedingungen hat eine starke Erosion des öffentlichen Raumes stattgefunden. Viele Dinge, die vor 50 Jahren noch selbstverständlich waren – dass man seinen Lebensunterhalt bestreiten kann, die Altersvorsorge gesichert ist –, sind keineswegs mehr sicher. Individuen werden geschult, nicht mehr den Anspruch zu erheben, von der Öffentlichkeit etwas zu bekommen. — Philosophie Magazin


Stattdessen werden sie ermutigt, sich über alles zu beklagen, was sie nicht aus ihrem Privatraum her kennen. Kann man so sagen: Im Neoliberalismus haben wir kein „Recht auf“, sondern nur noch eine „Freiheit von“? Richtig. Der Einzelne kann gegenüber der Öffentlichkeit geltend machen, dass ihn irgendetwas in der Öffentlichkeit stört. Dieses Recht ist ein typisch neoliberales Recht. Aber die Kehrseite dieses Beschwerderechts ist, dass man nichts fordern darf. Sie dürfen nicht fordern, dass Sie im öffentlichen Raum Zugang zu Bildung, Kultur, Infrastruktur und so weiter vorfinden. Sie dürfen immer nur fordern, dass etwas wegkommt. Durch den Wegfall des öffentlichen Raumes wird der Einzelne in den Privatraum zurückgedrängt. Mit welchen psychischen Folgen? Das Entscheidende ist, dass es hier um Bereiche geht, die die Individuen niemals von sich aus aufbringen können. Man kann niemandem sagen: „Universitäten gibt es jetzt nicht mehr für alle, die sind jetzt halt teuer und nur noch für wenige erschwinglich. Lesen Sie eben die Bücher zu Hause.“ Dasselbe gilt auch für die Genusspraktiken. Warum kann ich nicht zu Hause genießen? Gerade in Bezug auf den Genuss sind Menschen gesellschaftliche Wesen. Das hängt damit zusammen, dass der Genuss immer etwas Zwiespältiges an sich hat und dass wir nur in Gesellschaft in der Lage sind, dieses Zwiespältige zu akzeptieren oder sogar als großartig zu erfahren. Alleine erschrecken wir gegenüber dem Zwiespältigen eher. Sie sprechen in Ihren Büchern von einer Entsubstanzialisierung des Genusses: Erlaubt ist uns nur noch das Reine, Vernünftige; alkoholfreies Bier und virtueller Sex zum Beispiel. Die Fähigkeit, auch mit dem Zwiespältigen umzugehen, wird gesellschaftlich unterbunden oder nicht mehr gefordert. Das Die ist eine Form der Infantilisierung, die vollständ igen man auch in anderen kulturellen BereiArtikel les chen beobachten kann. Zum Beispiel in e n Sie in der Bezug auf die kosmetische Chirurgie. aktuelle

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Können Sie das erklären? Schönheit war vor 20 Jahren etwas Theatralisches. Die Leute haben versucht, Schönheit zu spielen, an bestimmte Ikonen zu erinnern mit Perücken, Schminke, Kostümen. Durch den Verlust dieser theatralischen Dimension

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erte k i s s la ie Geschichben und K r e D e Reise in hdie - über Lekers n Ein hilosop en De ß P o r r g e d eines Werk

Lexikon Die Kernbegriffe seines Denkens, lebendig und verständlich erklärt

Biografie

DIE PHILOSOPHEN SOKRATES: BIOGRAFIE

Das Leben des Philosophen als Einführung in seine Werke

w

GESCHICHTLICHER w KONTEXT

V

– 470/69 – 462/61 Entmachtung des Areopags. Einführung der Demokratie in Athen

Er nimmt an der Belagerung der Stadt Potidaia teil

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Bei der Uraufführung der Komödie „Die Wolken“ von Aristophanes wird Sokrates zur Zielscheibe des Spotts. In dem Stück wird ihm u. a. Gottlosigkeit vorgeworfen

Sokrates erscheint als Ehrengast beim legendären Gastmahl des Tragödiendichters Agathon. Platon hat dieses Ereignis später in seinem Dialog „Symposion“ aufgegriffen

– 423

AB – 443

– 431

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Perikles wird zum einflussreichsten Politiker der attischen Demokratie. Athen erlebt eine kulturelle und machtpolitische Blütezeit

Beginn des Peloponnesischen Krieges. Der attische Seebund kämpft unter Führung Athens mit Unterbrechungen fast 17 Jahre gegen Sparta

Die Pest wütet für einige Monate in Athen

on dem historischen Sokrates wissen wir nur wenig, die Zweifel beginnen schon bei seinem Geburtsdatum. Vermutlich wurde er 470 v. Chr. geboren, vielleicht aber auch im Jahr darauf. Der Geburtsort war jedenfalls Athen, sein Vater ziemlich sicher Steinmetz, seine Mutter Hebamme. Über sein Todesjahr ist man sich einig: 399 v. Chr. wurde Sokrates hingerichtet. Er trank, umgeben von seinen Schülern, den tödlichen Schierlingsbecher. Ausgerechnet sein Meisterschüler Platon, der die letzten Stunden des Sokrates im Dialog „Phaidon“ beschreibt, befand sich nicht unter den Getreuen in der Todeszelle. Sokrates war ein Zeitgenosse des Perikles, jenes griechischen Staatsmanns, der Athen zum politischen und kulturellen Zentrum Griechenlands machte. In der damals demokratisch regierten Polis herrschten die besten Entfaltungschancen für neue geistige Strömungen. Der junge Sokrates greift zunächst begierig die Naturphilosophie des Anaxagoras, der seit 460 in Athen lebt, auf, später widmet er sich ganz dem Studium des Menschen. Mit Beginn des Peloponnesischen Krieges im Jahre 431 zieht er mehrfach gegen die Spartaner ins Feld. In Platons „Gastmahl“ hält Alkibiades eine schwärmerische Lobrede auf seinen Kampfgenossen Sokrates, der Kälte und Hunger trotzte, ohne Schlaf auskam und den Feinden in der Schlacht von Delion so stolz und trotzig entgegenmarschierte, dass diese gar nicht erst wagten, ihn anzugreifen. Sokrates ist eine ungewöhnlich eindrucksvolle Erscheinung und das, obwohl er als ausgesprochen hässlich gilt: eine viel zu kurze, viel zu fleischige Nase, Glubschaugen, wulstige Lippen, auch sein gedrungener Körperbau ent-

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Sokrates nimmt am Feldzug gegen die Stadt Delion teil, zwei Jahre später kämpft er in der Schlacht bei Amphipolis

– 416

– 407

– 429 Tod des Perikles. Er wurde zum Opfer der Seuche

spricht keinesfalls griechischen Idealmaßen. In gewisser Weise verkörpert Sokrates die Opposition von Schein und Sein, jenen Gegensatz, den sich die Metaphysik in späteren Jahrhunderten zu einem ihrer Hauptprobleme machen sollte. Der unansehnliche Meisterdenker schart lauter schöne, junge Männer um sich, allen voran den offenkundig in ihn verliebten Alkibiades. Nietzsche, der sich in unstillbarer Hassliebe an Sokrates abarbeitete, sah in ihm den „großen Erotiker“ der Geistesgeschichte. Und abgesehen von seiner kratzbürstigen Frau Xanthippe, die unter lautem Gezeter bisweilen einen Nachttopf über dem Denkerhaupt ihres Gatten leerte, schlug Sokrates fast jeden in seinen Bann. Als subtiler Verführer umwarb er seine Beute beharrlich, er mimte so lange den sehnsuchtsvoll Verliebten, bis die Zielperson entflammt war. Dann allerdings zog sich Sokrates schlagartig zurück, eindeutige Avancen wehrte er ab. Vor allem aber war Sokrates für seine Fragetechnik berüchtigt. Auf den Straßen und Plätzen der Stadt praktizierte und lehrte er seine Philosophie in Form eines Frage-Antwort-Spieles. Er wendet sich an Politiker, Priester, Heerführer, Handwerker. Worin besteht eure Aufgabe, was ist der Sinn eurer Tätigkeit?, fragt er. Der eine beruft sich auf die Gerechtigkeit, der andere auf die Beförderung der Frömmigkeit. Doch keiner vermag ihm diese Begriffe klar zu umreißen. Sokrates deckt schonungslos die Selbstwidersprüchlichkeit ihrer Meinungen auf. Auf den ersten Blick benimmt er sich wie einer der damals einflussreichen Sophisten, die ihrem Gegenüber jedes Wort im Munde herumdrehen, alles anzweifeln und sich dafür auch noch bezahlen lassen. Doch während diese nach Reichtum und

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Der 20-jährige Platon schließt sich Sokrates als Schüler an

Die PhilosoPhen Friedrich Nietzsche

— PHILOSOPHIE MAGAZIN

– 427 Geburt Platons

Sokrates nimmt als Vorsitzender des Volksrats am Prozess gegen die Feldherrn der Arginusenschlacht teil

Sokrates wird wegen Während der „HerrGottlosigkeit zum schaft der Dreißig“ Tod durch den leistet Sokrates Widerstand gegen die Schierlingsbecher mordlüsternen Anord- verurteilt. Folgt man nungen der Tyrannen Platons Schilderung im „Phaidon“, starb er umgeben von seinen Getreuen

– 406

– 403 – 404/03

„Herrschaft der Dreißig“. Nach einer Revolte gegen die Oligarchen kommen die Demokraten wieder an die Macht

Der Prozess findet vor einem Tribunal von 501 Geschworenen statt. Den drei Anklägern wird als Erstes das Wort erteilt. Zum Wohle der Polis, so die Forderung, müsse Sokrates mit dem Tod bestraft werden. Daraufhin beginnt der Angeklagte seine Sache selbst zu verfechten. In der „Apologie des Sokrates“, einem der Haupttexte der Philosophie, hat Platon die Verteidigungsrede seines Lehrers literarisiert. Mit Empörung, Spott und überlegener Gedankenund Redekunst weist Sokrates die Vorwürfe zurück. Doch diejenigen, die sich von seinem Plädoyer überzeugen las-

„Es ist unmöglich, dass wir richtig urteilen, wenn wir glauben, das Sterben sei ein Übel“ sen, werden von jenen, die sich taub stellen, überstimmt. So plädieren in einem ersten Entscheidungsgang 280 Stimmen auf „schuldig“, 221 halten Sokrates für „nicht schuldig“. Doch noch ist nicht alles verloren. Sokrates erhält die Gelegenheit, ein anderes Strafmaß als den von Mele-

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tos und Co. geforderten Tod vorzuschlagen. Anstatt zerknirscht um Gnade zu flehen, macht er sich jedoch einen provokanten Spaß daraus. Sokrates bittet das Gericht, ihn ob seiner Verdienste mit einem opulenten Mahl im Rathaus von Athen zu ehren. Erwartungsgemäß wird ihm dies übel genommen. Bei der endgültigen Abstimmung schließen sich nun deutlich mehr Geschworene der Forderung des Meletos an. Der Philosoph wird zum Tod durch den Schierlingsbecher verurteilt. Als der Getreue Kriton ihm die Flucht vorschlägt, lehnt Sokrates ab. Er, der beschuldigt wird, die gesellschaftliche Ordnung zu zersetzen, die Götter und die Gesetze der Polis zu missachten, geht also aus Treue zum Gesetz in den Tod. Wollte Sokrates womöglich sterben? Für Nietzsche lag dies auf der Hand. Sokrates lieferte jedoch auch selbst eine Erklärung für sein Verhalten. So sagt er mit Blick auf seine unausweichliche Hinrichtung: „Offenbar ist das, was mir zugestoßen ist, etwas Gutes, und es ist unmöglich, dass wir richtig urteilen, wenn wir glauben, das Sterben sei ein Übel.“ Wie kein anderer vor oder nach ihm demonstrierte er den Satz: Philosophieren bedeutet sterben zu lernen.

Die Griechen vor Sokrates verstanden unter einem Philosophen nicht zuletzt einen Weisen, also jemanden, der im Besitz der Weisheit ist. Sokrates hingegen unterscheidet zwischen dem Weisen im herkömmlichen Sinne und dem Philosophen. Demnach ist Letzterer keineswegs im Besitz der Weisheit, sondern befindet sich unermüdlich auf der Suche nach ihr. In der Bedeutung von „Suche nach Weisheit“ taucht das Wort Philosophie erstmals in der „Apologie“ auf. Sokrates beruft sich auf den Gott Apollon, der ihm „befohlen hat, dass ich philosophierend leben soll, indem ich mich selbst und die anderen prüfe“. Die Suche nach Weisheit vollzieht sich also durch methodische Prüfung im Gespräch. Elenchos, vom griechischen elenchô für „ich beschäme“, nennt man heute dieses philosophisch-dialogische Test- und Prüf-

Von Cécilia Bognon-Küss; übersetzt von Marianna Lieder — PHILOSOPHIE MAGAZIN

DIE PHILOSOPHEN SOKRATES

mancher in dem gerechtigkeitsliebenden Wahrheitssucher Sokrates einen Förderer der Demokratie zu sehen. In jedem Fall war er kein Sympathisant der Tyrannis. Doch die von Demagogen infiltrierte, krisengeschüttelte attische Demokratie fühlte sich durch den unbequemen Fragensteller bedroht. An Sokrates wurde ein Exempel zur Abschreckung aller Regime- und Machtkritiker statuiert.

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Der KlAssiKer DER KLASSIKER

DERDes SUCHE NACH WEISHEIT DieAUF Feier Denkens selten hat jemand einen so hohen Preis für sein Genie bezahlt wie nietzsche. ein leben zwischen schaffensrausch und Von Cicero stammt der Ausspruch, Sokrates habe die Daseinskrise: Bereits im Alter von 45 Jahren kam es zum endgültigen Philosophie vomein Himmel auf die Erde geholt.inDer Sohn einer Zusammenbruch, dem sich letztes lebensjahrzehnt geistiger Hebamme, von dem eigene Zeile überliefert ist, gilt Umnachtung anschloss. Werk undkeine Person sind bei nietzsche untrennbar alsverflochten. Gründerfigur des abendländischen Denkens. Philosophie miteinander fasst er als „Suche nach Weisheit“ und revolutioniert damit alles, was man zuvor darunter verstand. Er stellt die Tugend Dennoch ist nietzsches Philosophie mehr als ein brillanter Kommentar auf das Fundament der Philosophie, Vernunft und vondiesich zu seiner tragischen existenz – eine der behauptet letztlich auch selbst: „Ich weiß, dass ich nichtsnichts weiß.“ an Nichtsdestotrotz zeigt fatalen Ausdeutungen im 20. Jahrhundert Faszinationskraft er sich Mit jedem seiner Gesprächspartner haushoch überlegen. nehmen konnten. stilistischer Brillanz und untrüglichem Platon instinkt hat in seinen Schriften der Person und dem psychologischem richtete er neue Werte und ideale auf. Denken seines illustrationen: Martin HaakeLehrers ein unvergleichliches Denkmal gesetzt

Nr. 04

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— PHILOSOPHIE PhilosoPhie MAGAZIN Magazin —

nr. NR. 03 04 — — März/aPril MAI/JUNI 20122012

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In jedem Heft: ein 16-seitiges Booklet mit Originaltext

verfahren. Und beschämt wird der Überprüfte dadurch, dass ihm öffentlich ein Selbstwiderspruch nachgewiesen wird. Exemplarisch kommt der Elenchos bei Meletos, dem Hauptankläger des Sokrates zur Anwendung. So verstrickt sich Meletos ganz offenkundig in Widersinn, wenn er Sokrates des Atheismus’ bezichtigt, ihm jedoch im selben Atemzug vorwirft, „neue göttliche Wesen“ eingeführt zu haben. Allerdings werden mit der Elenchos unsere Meinungen nicht nur auf innere Stimmigkeit und Widerspruchsfreiheit hin überprüft. Sokrates liegt daran, jene „wahren Meinungen“ hervorzuholen, die ein jeder in sich trägt und die deshalb wahr genannt werden, weil sie mit der Wirklichkeit außer uns übereinstimmen. Denn, wie es im Dialog „Menon“ heißt, „die Wahrheit der Dinge“ ist „immer in unserer Seele“.

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„Gottlosigkeit“ und „Verführung der Jugend“ lauten die Vergehen, derer er sich schuldig gemacht haben soll

nietzsche SOKRATES

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Von Rafael Ferber

Beschämung (Elenchos)

Kurz bevor Sokrates vor Gericht zitiert wurde, war die attische Demokratie zutiefst erschüttert worden. Nach der desaströsen Niederlage gegen Sparta im Jahr 404 v. Chr. kam es zu einem Sturz der demokratischen Regierung. Acht Monate lang tyrannisierten dreißig Oligarchen das antike Athen. Als die Demokraten nach einer Revolte wieder an die Macht kamen, scheuten sie nicht vor politischen Säuberungsaktionen zurück. Absurderweise galt Sokrates schon länger als heimlicher Wortführer der Aristokraten. Verdächtig machte er sich bereits durch einige seiner Gefolgsleute, Adlige wie Xenophon oder der antidemokratische Charmides oder gar Kritias, der als einer der 30 aristokratischen Tyrannen gewütet hatte. Von Letzterem hatte sich Sokrates allerdings schon früh distanziert, und obgleich er sich nicht zugunsten eines bestimm-• ten Verfassungstyps ausgesprochen hat, meint heute so

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Sammelb

Sokrates gab dem Begriff Philosophie eine neue Bedeutung: Suche nach Weisheit. In unermüdlichen Dialogen mit seinen Mitbürgern, die er auf den Straßen und Plätzen seiner Heimatstadt Athen ansprach, strebte er nach wahrer Erkenntnis. Als Großmeister der Ironie beschämte er jene, die sich im Besitz der Weisheit wähnten

– 399

– 404 Ende des Peloponnesischen Krieges. Athen kapituliert gegen Sparta

Erfolg streben, geht es Sokrates einzig um Erkenntnis. Die Tugend will er auf das Fundament des Wissens stellen. Deswegen demaskiert er vermeintliche Gewissheiten seiner Gesprächspartner, um neuen, gesicherten Einsichten ans Tageslicht zu verhelfen. Mäeutik, Hebammenkunst, heißt dieses Verfahren – das Talent dafür hatte Sokrates von seiner Mutter. Von sich selbst sagte er: „Ich weiß, dass ich nichts weiß.“ Das war seine Ironie, sein philosophisches Heilmittel für all jene, die sich der Illusion hingeben, im Besitz der Wahrheit zu sein. Diese Ironie regte an, doch sie regte auch auf. Im Jahr 399 muss sich der 70-jährige Sokrates zum ersten Mal vor Gericht verantworten. „Gottlosigkeit“ und „Verführung der Jugend“ lauten die Vergehen, derer er sich schuldig gemacht haben soll. Der antike Historiker Diogenes Laertios überlieferte den Wortlaut der Anklageschrift: „Sokrates tut unrecht, weil er nicht an die Götter glaubt, denen die Stadt ihren Kult erweist, vielmehr andere neue göttliche Wesen einführt. Ferner tut er unrecht, weil er die Jugend verdirbt. Antrag: Todesstrafe.“ Bei den Klägern handelt es sich um den einflussreichen ehemaligen Militärbeamten Antyos, den jungen, mäßig erfolgreichen Poeten Meletos und einen weiteren jungen Mann namens Lykon. Die Anklagen wegen Gottlosigkeit (Asebie) ist keine Neuheit im Athen des ausgehenden fünften Jahrhunderts. Bereits vor Beginn des Peloponnesischen Krieges war dies eine beliebte Methode, um sich unbequemer Intellektueller zu entledigen. In den Jahren zuvor hatte man die Asebie-Klage unter anderem gegen den Naturphilosophen Anaxagoras und den Sophisten Protagoras erhoben.

Die Erfindung der Philosophie

© Illustrationen: Emmanuel Polanco für PM. Foto: Josse/Leemage

SEIN LEBEN

Sokrates wird als Sohn eines Steinmetzes und einer Hebamme in Athen geboren

© dpa (6), Getty Images (3), Leo von Klenze /Neue Pinakothek (Gallery), Munich

DIE PHILOSOPHEN SOKRATES: BIOGRAFIE

DIE PHILOSOPHEN SOKRATES: GRUNDBEGRIFFE

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Die Philosophen Sokrates: Biografie

V

on dem historischen Sokrates wissen wir nur wenig, die Zweifel beginnen schon bei seinem Geburtsdatum. Vermutlich wurde er 470 v. Chr. geboren, vielleicht aber auch im Jahr darauf. Der Geburtsort war jedenfalls Athen, sein Vater ziemlich sicher Steinmetz, seine Mutter Hebamme. Über sein Todesjahr ist man sich einig: 399 v. Chr. wurde Sokrates hingerichtet. Er trank, umgeben von seinen Schülern, den tödlichen Schierlingsbecher. Ausgerechnet sein Meisterschüler Platon, der die letzten Stunden des Sokrates im Dialog „Phaidon“ beschreibt, befand sich nicht unter den Getreuen in der Todeszelle. Sokrates war ein Zeitgenosse des Perikles, jenes griechischen Staatsmanns, der Athen zum politischen und kulturellen Zentrum Griechenlands machte. In der damals demokratisch regierten Polis herrschten die besten Entfaltungschancen für neue geistige Strömungen. Der junge Sokrates greift zunächst begierig die Naturphilosophie des Anaxagoras, der seit 460 in Athen lebt, auf, später widmet er sich ganz dem Studium des Menschen. Mit Beginn des Peloponnesischen Krieges im Jahre 431 zieht er mehrfach gegen die Spartaner ins Feld. In Platons „Gastmahl“ hält Alkibiades eine schwärmerische Lobrede auf seinen Kampfgenossen Sokrates, der Kälte und Hunger trotzte, ohne Schlaf auskam und den Feinden in der Schlacht von Delion so stolz und trotzig entgegenmarschierte, dass diese gar nicht erst wagten, ihn anzugreifen. Sokrates ist eine ungewöhnlich eindrucksvolle Erscheinung und das, obwohl er als ausgesprochen hässlich gilt: eine viel zu kurze, viel zu fleischige Nase, Glubschaugen, wulstige Lippen, auch sein gedrungener Körperbau entspricht keinesfalls griechischen Idealmaßen. In gewisser Weise verkörpert Sokrates die Opposition von Schein und Sein, jenen Gegensatz, den sich die Metaphysik in späteren Jahrhunderten zu einem ihrer Hauptprobleme machen sollte. Der unansehnliche Meisterdenker schart lauter schöne, junge Männer um sich, allen voran den offenkundig in ihn verliebten Alkibiades. Nietzsche, der sich in unstillbarer Hassliebe an Sokrates abarbeitete, sah in ihm den „großen Erotiker“ der Geistesgeschichte. Und abgesehen von seiner kratzbürstigen Frau Xanthippe, die unter lautem Gezeter bisweilen einen Nachttopf über dem Denkerhaupt ihres Gatten leerte, schlug Sokrates fast jeden in seinen Bann. Als subtiler Verführer umwarb er seine Beute beharrlich, er mimte so lange den sehnsuchtsvoll Verliebten, bis die Zielperson entflammt war. Dann allerdings zog sich Sokrates schlagartig zurück, eindeutige Avancen wehrte er ab.

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Vor allem aber war Sokrates für seine Fragetechnik berüchtigt. Auf den Straßen und Plätzen der Stadt praktizierte und lehrte er seine Philosophie in Form eines Frage-Antwort-Spieles. Er wendet sich an Politiker, Priester, Heerführer, Handwerker. Worin besteht eure Aufgabe, was ist der Sinn eurer Tätigkeit?, fragt er. Der eine beruft sich auf die Gerechtigkeit, der andere auf die Beförderung der Frömmigkeit. Doch keiner vermag ihm diese Begriffe klar zu umreißen. Sokrates deckt schonungslos die Selbstwidersprüchlichkeit ihrer Meinungen auf. Auf den ersten Blick benimmt er sich wie einer der damals einflussreichen Sophisten, die ihrem Gegenüber jedes Wort im Munde herumdrehen, alles anzweifeln und sich dafür auch noch bezahlen lassen. Doch während diese nach Reichtum und Erfolg streben, geht es Sokrates einzig um Erkenntnis. Die Tugend will er auf das Fundament des Wissens stellen. Deswegen demaskiert er vermeintliche Gewissheiten seiner Gesprächspartner, um neuen, gesicherten Einsichten ans Tageslicht zu verhelfen. Mäeutik, Hebammenkunst, heißt dieses Verfahren – das Talent dafür hatte Sokrates von seiner Mutter. Von sich selbst sagte er: „Ich weiß, dass ich nichts weiß.“ Das war seine Ironie, sein philosophisches Heilmittel für all jene, die sich der Illusion hingeben, im Besitz der Wahrheit zu sein. Diese Ironie regte an, doch sie regte auch auf. Im Jahr 399 muss sich der 70-jährige Sokrates zum ersten Mal vor Gericht verantworten. „Gottlosigkeit“ und „Verführung der Jugend“ lauten die Vergehen, derer er sich schuldig gemacht haben soll. Der antike Historiker Diogenes Laertios über-

„Gottlosigkeit“ und „Verführung der Jugend“ lauten die Vergehen, derer er sich schuldig gemacht haben soll lieferte den Wortlaut der Anklageschrift: „Sokrates tut unrecht, weil er nicht an die Götter glaubt, denen die Stadt ihren Kult erweist, vielmehr andere neue göttliche Wesen einführt. Ferner tut er unrecht, weil er die Jugend verdirbt. Antrag: Todesstrafe.“ Bei den Klägern handelt es sich um den einflussreichen ehemaligen Militärbeamten Antyos, den jungen, mäßig erfolgreichen Poeten Meletos und einen weiteren jungen Mann namens Lykon. Die Anklagen wegen Gottlosigkeit (Asebie) ist keine Neuheit im Athen des ausgehenden fünften Jahrhunderts. Bereits vor Beginn des Peloponnesischen Krieges war dies eine beliebte

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Comic

Der süße Tod Haha! Guter Witz!

Ja?

Hier hast du ein paar Süßigkeiten!

Bleib, wo du bist!

Und grüßen Sie Ihren Chef!

Ich bin der To d und komme, dich zu ho len.

Herr Seneca ...

Kein Problem.

Aber geben Sie mir erst meine Bonbons zurück!

© Illustration: Jull

Oh, verstehe.

... ich bin wirklich der Tod.

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— Philosophie Magazin


Was soll das? Philosophen formulieren oft provokant und scheinbar unverständlich. Gerade diese rätselhaften Sätze sind der Schlüssel zum Gesamtwerk Ludwig Wittgenstein:

Die Kunst, immer Recht zu behalten Kniff Nr. 4

„Die meisten Sätze und Fragen, welche über philosophische Dinge geschrieben wurden, sind nicht falsch, sondern unsinnig“ Stellen Sie sich vor: Sie liegen auf einem Operationstisch, kurz vor einer lebensentscheidenden Operation, und der Arzt erwähnt beiläufig, dass das meiste, was über Medizin geschrieben wurde, unsinnig sei. Was würden Sie tun? Sicherlich die Beine in die Hand nehmen. Für einen Philosophen kommt Wittgensteins Aussage also scheinbar einem intellektuellen Selbstmord gleich. Das Zitat stammt aus dem „Tractatus Logico-Philosophicus“ von 1918, der die Sprachphilosophie tief beeinflusste und in dem es um nichts weniger als um die endgültige Beseitigung aller philosophischen Probleme geht. Deren Wurzel sieht Wittgenstein in unserer Sprache. In der Umgangssprache, in der Wissenschaft, in Gebrauchsanweisungen – immer benutzen wir Worte, die Symbole für Dinge, Tätigkeiten oder Eigenschaften sind, und setzen sie zueinander in Beziehung, um damit Tatsachen auszudrücken. Dass wir durch Sprache Tatsachen ausdrücken können, ist eine erstaunliche menschliche Besonderheit. So schreibt Wittgenstein: „Die Umgangssprache ist ein Teil des menschlichen Organismus und nicht weniger kompliziert als dieser.“ Daher ist sie ebenso anfällig für Fehler und Störungen. Schließlich können wir auch Sätze bilden, die nur scheinbar einen Sinn ergeben. Der Satz „Dieser Satz ist falsch“ zum Beispiel ist ein Paradox – denn wenn er stimmt, dann ist er falsch, und wenn er falsch ist, dann stimmt er wieder. Hier ist zwar ein grammatikalisch korrekter Satz geformt, aber weil er sich selbst widerlegt, drückt er keine Tatsache aus. Er ist also nicht falsch, sondern sinnlos, da er nichts beschreibt, was wahr oder falsch sein könnte. In verzwickteren Fällen, so behauptet Wittgenstein, ist der Unsinn der Sprache nur schwer zu sehen – es entstehen philosophische Probleme, die das Denken befallen wie Krankheiten. Die Aufgabe der Philosophie besteht dann darin, zu therapieren. Und zwar nicht, indem sie nur die Symptome, die philosophischen Fragen und Probleme, behandelt, sondern vielmehr den Grund, die Widersprüche der Sprache selbst.

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Nr. 04 — mai/juni 2012

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Nehmen Sie sich ein Beispiel an den Reichen Das Verfahren Sie möchten Ihren Gesprächspartner davon überzeugen, dass es sich bei einem großen Literaten stets um einen Schriftsteller handelt, der mehrere Bücher pro Jahr schreibt, mithin um jemanden, dessen ungewöhnliches Genie zu einem niemals versiegenden Wort- und Geldfluss führt. Der Beweis: James Patterson, reichster Autor der Welt, veröffentlicht jedes Jahr acht oder neun Krimis! Oder untermauern Sie Ihre These mit der Autorität ihrer Eltern, die stets mildes Missfallen an Ihren mangelhaften Ambitionen ausdrücken: „Nimm dir ein Beispiel an deinem Bruder. Er hat die richtigen Entscheidungen getroffen. Deswegen verdient er auch fünf Mal so viel wie du.“ Damit werden Sie sehr gut durchkommen, denn in unserer nutzen­orientierten Gesellschaft hat der Erfolg immer recht, vor allem der finanzielle. „Argumentum ad crumenam“ nennt sich diese kostbare verbale Strategie. Das Geheimnis des damit ganz sicher erzielten rhetorischen Erfolgs: Derjenige, der bestreitet, dass der Reiche im Recht ist, stellt sich selbst als verbitterten Neidhammel bloß. Die Abwehr Schwierig – aber möglich. So können Sie Herman Melville als Gegenbeispiel anführen. Er war zwar produktiv, blieb jedoch arm. Wegen seines Romans „Moby Dick“ wurde er erst posthum gefeiert. Anderen genügte zu Lebzeiten ein einziges Buch, um reich und berühmt zu werden – die Schriftstellerin Harper Lee etwa, die 1961 für „Wer die Nachtigall stört“ den Pulitzer-Preis erhielt. Außerdem sollten Sie aussprechen, was viele nicht ahnen: Hinter jedem Bestseller steht immer auch ein

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