Nr. 06 / 2014
Oktober /November
MAGAZIN
Denken lernen Wie es geht, was es heißt – und warum es Maschinen noch immer so schwerfällt
WAS REIZT UNS AM EXZESS? Mirjam Schaub streitet mit Sven Regener
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Adorno und das falsche Leben
D: 6,90 €; Ö: 7,- €; CH: 12,50 SF; Benelux: 7,40 €
ZWEIFEL AM GOTTESSTAAT? Eine Reise zu Irans Ajatollahs
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de
Denker in diesem Heft
S. 76
S. 36
S. 88
Martin Seel
Mirjam Schaub
Georg Klein
Martin Seel ist Professor für Philosophie an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Soeben ist sein Buch „Aktive Passivität. Über den Spielraum des Denkens, Handelns und anderer Künste“ bei S. Fischer erschienen. Für das Klassikerdossier „Adorno und das falsche Leben“ hat Martin Seel die Einleitung geschrieben. Sein Buch zum Thema: „Adornos Philosophie der Kontemplation“ (Suhrkamp, 2004).
Über die Frage „Was reizt uns am Exzess?“ diskutierte sie mit Sven Regener in dem Berliner Club „Wilde Renate“. Mirjam Schaub ist Professorin für Ästhetik und Kulturphilosophie an der HAW Hamburg. Ihre These: Jeder Exzess hat etwas Metaphysisches. Jüngste Veröffentlichung: „Das Singuläre und das Exemplarische. Zu Logik und Praxis der Beispiele in Philosophie und Ästhetik“ (Diaphanes, 2010).
Für sein Werk ist der Schriftsteller mehrfach ausgezeichnet worden, unter anderem mit dem Preis der Leipziger Buchmesse. 2013 erschien sein jüngster Roman „Die Zukunft des Mars“ (Rowohlt). Für das Philosophie Magazin hat Georg Klein das grandiose SinnVerwirrspiel im Werk des amerikanischen Altmeisters Thomas Pynchon ergründet, dessen Roman „Bleeding Edge“ gerade auf Deutsch erschienen ist.
S. 36
S. 52
S. 1–100
Sven Regener
Yves Bossart
Lea Wintterlin
Sein Romandebüt „Herr Lehmann“ (Eichborn, 2001) erzählt die Geschichte eines trinkfreudigen Berliner Barkeepers kurz vor dem Mauerfall. Auch Sven Regeners jüngstes Werk „Magical Mystery“ (Galiani, 2013) umkreist das Themenfeld Drogen. Im Heft ergründet der Schriftsteller mit der Philosophin Mirjam Schaub den Reiz des Exzesses. Die neue CD seiner Band „Element of Crime“ erscheint am 26.09.2014.
Promoviert hat er über das Thema „Ästhetik nach Wittgenstein“. Im Dossier geht er der Bedeutung der Urteilskraft für unser Denken nach. Yves Bossart arbeitet als Redakteur der Sendung „Sternstunde Philosophie“ beim Schweizer Fernsehen. Soeben ist sein Buch „Ohne Heute gäbe es morgen kein Gestern“ bei Blessing erschienen, eine Einführung in das Denken durch philosophische Gedankenspiele.
Unsere Praktikantin hat für die Leser des Philosophie Magazins ein philosophisches Kreuzworträtsel entworfen. Auch die „Lösungswege“ zur Frage „Was heißt es, tot zu sein?“ stammen von ihr – und vieles mehr. Lea Wintterlin wurde 1988 in Berlin geboren, ihre Bachelor-Arbeit schrieb sie über das Thema „Tod und Zeichen. Zeichentheorie mit Derrida“. 2012 hat sie einen Masterstudiengang in Philosophie begonnen.
Die nächste Ausgabe erscheint am 13. November 2014
© Susanne Schleyer; Carolin Saage (2); privat (3)
Hey Papa, wir kaufen Bio-Gemüse und regionale Produkte. Nur warum wohnen wir noch immer so ungesund?
Inhalt
Intro
Horizonte
Dossier
Ideen
S. 3 Editorial S. 6 Ihre Frage S. 7 Kinder fragen Tomi Ungerer S. 8 Leserbriefe
S. 26 Reportage Der Untergang des Reichs von Ghom. Eine Reise zu Irans Ajatollahs Von Michel Eltchaninoff S. 36 Dialog Was reizt uns am Exzess? Mit Mirjam Schaub und Sven Regener
Denken lernen
S. 66 Das Gespräch Mit Charles Taylor S. 72 Werkzeugkasten Lösungswege / Amok / Die Kunst, recht zu haben S. 74 Der Klassiker Adorno und das falsche Leben Von Martin Seel + Sammelbeilage: Auszüge aus Adornos „Minima Moralia“ / Mit einem Vorwort von Josef Früchtl
Zeitgeist
© „Mimicry #01“, 2003 © GiesenLeenders; Farhad Babaei/laif; Malte Jäger; Chen Wei, courtesy of Leo Xu Projects
S. 10 Sinnbild S. 12 Denkanstöße S. 14 Resonanzen Referendum: Schottlands Wahl zwischen Affekt und Vernunft / Ebola: Anthropologie der Ansteckung / … S. 18 Weltbeziehungen Die verdrängte Lust am Bösen Kolumne von Hartmut Rosa S. 22 Kaufrausch Brauchen wir selbst gewebte Gummiarmbänder? Kolumne von Markus Krajewski
S. 26
S. 44 Das Denken im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit Von Wolfram Eilenberger S. 48 Gedanken machen. Ein Überblick der wichtigsten Methoden S. 50 Heißt Denken Rechnen? Ein Gespräch mit dem KI-Kritiker Hubert Dreyfus S. 52 Heißt Denken Urteilen? Warum wir ohne Urteilskraft verloren wären Von Yves Bossart S. 58 Heißt Denken Begehren? Der Eros in Zeiten von Google Von Svenja Flaßpöhler S. 60 Test: Und wie raucht dein Kopf? Von Alexandre Lacroix
Bücher S. 80 Buch des Monats „Politische Emotionen“ Von Martha Nussbaum S. 82 Thema Jenseits des Gehirns: Kritik der Neurowissenschaft S. 84 Empfehlungen Scobel.Mag / Die PhilosophieMagazin-Bestenliste S. 88 Dichter und Wahrheit Georg Klein entschlüsselt Thomas Pynchons neues Werk
Finale
S. 66
S. 44
S. 90 Agenda S. 93 Comic S. 94 Lebenszeichen Von Tieren lernen: Der Hund / Das Gare ist das Wahre S. 97 Spiele S. 98 Sokrates fragt Friedrich Liechtenstein
S. 25
Philosophie Magazin Nr. 06 / 2014 / 5
Horizonte
Der Untergang des Reichs von Ghom
Foto: Farhad Babaei/laif
Reportage
26 / Philosophie Magazin Oktober/ November 2014
DER UNTERGANG DES REICHS VON
GHOM 35 Jahre nach der Revolution wachsen im Iran die Zweifel: Wie eng sollten Religion und Politik aneinander gebunden sein? Recherche in Ghom, dem schiitischen „Vatikan“. Der Ort, an dem die islamische Republik geboren wurde – und wo sie schon bald ihr Ende finden könnte Von Michel Eltchaninoff / Fotos von Farhad Babaei
E
s ist eine Millionenstadt ohne besonderen Charme mitten in einer Steinwüste, 120 Kilometer von Teheran entfernt. In Ghom ist selbst der Fluss ausgetrocknet, der die Stadt durchzieht. Der Staub von den zahlreichen Baustellen für Moscheen legt sich drückend auf die Lunge. Überall Turbane und schwarze Tschadors statt der nachlässig über die Haare geworfenen bunten Tücher, wie man sie in der Hauptstadt sieht. Es ist unmöglich, ein Café zu finden, um ein Fußballspiel anzuschauen, obwohl Fußball eine nationale Leidenschaft ist. So etwas macht man nicht, jedenfalls nicht in der Öffentlichkeit. Für den Besucher beschränkt sich Ghom auf ein riesiges Mausoleum, das Grab von Fatima, der Schwester des achten schiitischen Imams, die im Jahr 816 starb. Doch Ghom ist auch die heimliche Hauptstadt des heutigen Iran. Diese Pilgerstätte ist das theologische Zentrum der
schiitischen Welt. Zehntausende Studenten aus allen Städten des Iran, aus dem Irak, dem Libanon und von anderswo strömen hierher. Sogar einen Amerikaner habe ich getroffen. Die Philosophie genießt hier ein höheres Ansehen als in Nadschaf, dem konkurrierenden Ort im Irak. Hier lebte, studierte und lehrte Ruhollah Chomeini. Hier führte er 1963 die Proteste gegen den Schah an, bevor er ins Exil geschickt wurde, und hier begannen später jene Demonstrationen, die das proamerikanische Schah-Regime stürzen sollten. Hier trat Chomeini Anfang 1979 als Erlöser wieder auf. Ghom war also jahrzehntelang ein Gegenstaat, der Staat des Klerus in Opposition zur weltlichen Monarchie, bevor daraus der Staat der siegreichen Ajatollahs hervorging. Doch heute, nach 35 Jahren islamischer Republik, rumort es in der Stadt. An diesem Ort leben die GroßPhilosophie Magazin Nr. 06 / 2014 / 27
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Horizonte
Dialog
Was reizt am uns
Exzess ?
Wer sich ihm hingibt, überschreitet letzte Grenzen, begibt sich in eine andere Welt, knockt sich aus. Und doch hat der Exzess in unserer Leistungsgesellschaft Hochkonjunktur. Bestes Beispiel: Das in diesen Tagen beginnende Oktoberfest. Der Schriftsteller und Musiker Sven Regener und die Philosophin Mirjam Schaub über das Tier in uns allen Das Gespräch führte Svenja Flaßpöhler / Fotos von Carolin Saage
S
chummerlicht bereits am Nachmittag: Diverse Theken, Tanzstangen und ein großes schwarzes Stahlbett mit Lackbezug. Die „Wilde Renate“ ist ein Ort des Exzesses jeglicher Art – tief im Osten Berlins. Mirjam Schaub ist mit dem Auto gekommen, Sven Regener mit einem DB-Fahrrad. Die Philosophin beschäftigt sich in ihrer Forschung intensiv mit dem Phänomen der Überschreitung, dem Horror des Gewöhnlichen sowie grenzverletzender Radikalität. Der Schriftsteller und Sänger der Band „Element of Crime“ verarbeitet das Themen-
Mirjam Schaub
Sven Regener
Mirjam Schaub ist ausgebildete Journalistin, habilitierte Philosophin und seit 2012 Professorin für Ästhetik und Kulturphilosophie an der Hochschule für angewandte Wissenschaften in Hamburg. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen die Logik der Überschreitung, Grausamkeit und Metaphysik sowie der Horror des Alltäglichen. Aktuell interessiert sie sich für Radikalität als Verletzung der Ordnung. Ihr jüngstes Buch: „Das Singuläre und das Exemplarische. Zu Logik und Praxis der Beispiele in Philosophie und Ästhetik“ (Diaphanes, 2010)
Mit seinem Romandebüt „Herr Lehmann“ gelang Sven Regener 2001 ein grandioser Erfolg. Geschildert werden die Jahre vor dem Mauerfall aus der Perspektive des ambitionslosen Barkeepers Frank Lehmann, dessen Geschichte die Folgeromane „Neue Vahr Süd“ und „Der kleine Bruder“ vervollständigen (alle Eichborn). 2013 erschien sein jüngster Roman „Magical Mystery oder: die Rückkehr des Karl Schmidt“ (Galiani). Regener ist zudem Sänger und Texter der Band „Element of Crime“, deren neues Album „Lieblingsfarben und Tiere“ am 26.09.2014 erscheint
feld Drogen literarisch, zuerst in seinem grandiosen Erfolgsroman „Herr Lehmann“, zuletzt in „Magical Mystery oder: Die Rückkehr des Karl Schmidt“; dass in beide Bücher auch eigene Erfahrungen Eingang gefunden haben, liegt nahe. Für das Foto drücken wir beiden eine Flasche Bier in die Hand. Die Philosophin, die kürzlich ihr drittes Kind zur Welt gebracht hat, lehnt dankend ab. Als das Gespräch schon eine Weile läuft, fragt Sven Regener, die leere Flasche schwenkend: „Gehe ich eigentlich recht in der Annahme, dass da auf dem Tresen noch das Bier von Frau Schaub steht?“ Prost!
Philosophie Magazin: Menschen überschreiten Grenzen, sind exzessiv und wissen dabei sehr genau, dass sie sich dadurch schaden. Woher rührt diese Lust an der Überschreitung, an der Selbstzerstörung? Sven Regener: Es ist eigentlich banal: Sich zu besaufen, Drogen zu nehmen, kann unheimlich viel Spaß machen, zumindest für einen Abend. Abgerechnet wird später, das ist eben so. Außerdem sind für jeden die Grenzen woanders, insofern kann man wie beim Limbotanzen die Latte höher oder tiefer legen. Für manche ist es schon ein Exzess, wenn sie mittags ein Bier trin-
ken. Für mich zum Beispiel, weil ich dann für den Arbeitsprozess verloren bin. Mirjam Schaub: Aber das ist noch kein Exzess! Das klingt so, als käme man zum Exzess wie die Jungfrau zum Kinde. Es geht darum, das Maßlose zu wollen, mit der Übertreibung und dem Überschuss, auch dem Lächerlichen und Erbärmlichen darin einverstanden zu sein. Für mich hat Exzess mit dem Furor der Wiederholung zu tun. Vielleicht ist er eine Art Vereinigungsfuror: Man versucht, sich mit etwas zu verbinden, das größer ist als man selbst. Ich kann mir daher übrigens nicht vorstellen, dass jemand alleine exzessiv Spaß hat. Solch >>> Philosophie Magazin Nr. 06 / 2014 / 37
Denken lernen
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enken zu können, das unterscheidet den Menschen mutmaßlich von allen anderen Wesen. Doch worauf beruht dieses Vermögen? Heißt Denken Rechnen? Besteht sein Wesen in der Fähigkeit, eigene Urteile zu fällen? Oder läge an seinem Grund gar das erotische Begehren nach Weisheit? Vor allem aber: Wie können wir uns in der Kunst des Denkens schulen? Im Zeitalter immer leistungsstärkerer Denkmaschinen könnte sich an diesen Fragen nicht weniger als die Zukunft unserer Art entscheiden. Höchste Zeit also, gemeinsam darüber nachzudenken
Š Erik Dreyer/getty images
DOSSIER
Philosophie Magazin Nr. 06 / 2014 / 43
DOSSIER
Denken lernen
II
Heißt Denken
Urteilen? Für Kant lag die Urteilskraft am Grunde des menschlichen Denkvermögens. Wie recht er damit gehabt haben könnte, zeigen die heutigen Problemzonen der KI-Forschung. Auf der Suche nach einer rätselhaften Fähigkeit Von Yves Bossart
52 / Philosophie Magazin Oktober/ November 2014
entierung in komplexen Umwelten. Geben diese Problemzonen möglicherweise besonders klaren Aufschluss darüber, was das menschliche Denken im Kern ausmacht? Liegt diesen scheinbar ganz unterschiedlichen Leistungen gar ein einziges Vermögen zugrunde?
Ein besonderes Vermögen Wer dieser Ahnung folgt, stößt schnell auf eine Fähigkeit, die bereits Immanuel Kant als Grundlage der wesentlichen geistigen Leistungen des Menschen betrachtete. Die Rede ist von der sogenannten Urteilskraft, deren genauerer Untersuchung Kant die dritte seiner Kritiken, eben die „Kritik der Urteilskraft“ widmete (1790). In der Einleitung zu diesem Werk steht: „Urteilskraft überhaupt ist das Vermögen, das Beson-
Yves Bossart Yves Bossart hat über das Thema „Ästhetik nach Wittgenstein“ promoviert und arbeitet als Redakteur der Sendung „Sternstunde Philosophie“ beim Schweizer Fernsehen. Soeben ist sein Buch „Ohne Heute gäbe es morgen kein Gestern“ bei Blessing erschienen
© Rodney Smith; privat
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enken zu lernen, scheint längst keine rein menschliche Anforderung mehr. Sie betrifft auch Maschinen und Computer. Längst geht es nicht mehr um reine Rechenleistungen. Maschinen korrigieren bereits heute unsere Texte, empfehlen uns Filme und verkuppeln uns. Bald fahren sie unsere Autos, stellen medizinische Diagnosen und reden mit uns über Gefühle. Und in nicht allzu ferner Zeit, entsteht der Eindruck, werden sie mit uns wie echte Menschen kommunizieren können. Sieht man ein wenig genauer hin, zeigen sich allerdings mindestens drei Bereiche, in denen „denkende Maschinen“ nach wie vor besonders große Probleme haben, nämlich: alltagssprachliches Verstehen, Erkennen von Ähnlichkeiten sowie eigenständige Ori-
dere als enthalten unter dem Allgemeinen zu denken.“ Das klingt zunächst etwas abstrakt, aber die Botschaft ist klar. Selbst für ein Urteil wie „Vor mir steht ein Baum“ brauchen wir Urteilskraft, denn wir müssen beurteilen, ob das konkrete Objekt, das wir vor uns sehen, unter den allgemeinen Begriff „Baum“ fällt oder nicht. Kant unterscheidet in der Folge seiner Untersuchung die „bestimmende“ Urteilskraft, die für solche Klassifikationen erforderlich ist, von der „reflektierenden“ Urteilskraft, deren Leistung darin besteht, zu einer Reihe von Einzelfällen eine passende allgemeine Regel zu finden. Die reflektierende Urteilskraft sucht also das Allgemeine zum Besonderen. Wir brauchen sie immer dann, wenn wir die Phänomene der Welt in ihrer Vielfalt verstehen und allgemeine Gesetzmäßigkeiten finden wollen. Nach Kant setzen
wir dabei stets voraus, dass die Wirklichkeit unserem Denken prinzipiell zugänglich ist. Wir erwarten, dass die wahrgenommene Vielfalt auf wenige einfache Prinzipien zurückgeführt werden kann. Wenn eine Theorie zu viele Annahmen macht, zu kompliziert oder schlicht zu hässlich ist, neigen wir deshalb dazu, sie abzulehnen – auch wenn sie die Phänomene beschreiben kann. Denn die Natur, so lautet die stillschweigende Voraussetzung, passt zu unserem Denken – ihre Gesetze haben für uns etwas potenziell Verständliches, Nachvollziehbares, Klares.
Das Rätsel der Abduktion Kants Gedankengänge wurden 150 Jahre später von dem amerikanischen Philosophen und Logiker Charles Sanders Peirce fruchtbar aufgegriffen. Auch Peirce
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Philosophie Magazin Nr. 06 / 2014 / 53
DOSSIER
Denken lernen
Test
Und wie raucht dein Kopf?
Sage mir, wie du denkst, und ich sage dir, wer du bist: rationaler Theologe, leidenschaftlicher Tiefschürfer, pragmatischer Gelehrter – oder doch eher feinsinniger Phänomenologe? Finden Sie’s heraus! Von Alexandre Lacroix
60 / Philosophie Magazin Oktober/ November 2014
PHASE 1
Machen Sie sich locker und beantworten Sie die folgenden 18 Fragen
Keine Angst! Dies ist kein Intelligenztest, sondern ein Spiel mit der alten philosophischen Aufforderung: „Erkenne dich selbst“. Ermittelt werden soll Ihre philosophische Denkart, kurz: PDA. Auf die folgenden Fragen gibt es keine richtigen oder falschen Antworten. Also, nicht lange nachdenken, einfach loslegen! 1 Dass der Wein rot ist, bedeutet für Sie : ◆ Die Farbe des Blutes und der Leidenschaft. Eine nicht wesentliche Eigenschaft dieser Flüssigkeit, die auch weiß oder rosé sein kann. ● Das Resultat der Mazeration von Weinbeerenschalen, die beim Fermentieren der Maische als Farbstoff wirken. ✖ Ein Produkt der menschlichen Wahrnehmung, denn für den Hund ist der Wein grau.
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Auf die Frage, ob Sie an Gott glauben, antworten Sie: Am Ursprung der Welt muss ein erstes Prinzip wirken, und man kann es auch Gott nennen. ◆ Es ist höchste Zeit, mit diesem Ammenmärchen aufzuhören. ● Wer behauptet, dass es Gott gebe, soll stichfeste Argumente dafür vorlegen. ✖ Das Wort „Gott“ verweist auf eine Idee des Unendlichen oder des Absoluten, von der sich der Mensch schwerlich verabschieden kann. 2
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Warum ist es so angenehm, den Körper eines geliebten Menschen zu streicheln? ● Weil sich die Haut so schön weich anfühlt. ✖ Weil es der Moment größtmöglicher Nähe zu einem anderen Menschen ist. ◆ Weil in dieser Geste eine rührende Schönheit liegt. Übertreiben sollte man es nicht, denn Sinnlichkeit schwächt den Geist. 3
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Beim Arzt müssen Sie sich, obwohl Sie einen Termin haben, eine Stunde im Wartezimmer gedulden: Umso besser, es gibt mir Gelegenheit, innezuhalten und mit ein wenig Abstand über die Dinge nachzudenken, die mich in den letzten Tagen beschäftigt haben. ● Mit meinem Tablet bin ich sofort online, ich schreibe einige E-Mails und gewinne dadurch später am Tag Zeit. ✖ Schon immer war das Warten für mich ein Genuss: als Zustand ohne Beschäftigung, in dem man sich ganz und gar dem Nichts hingeben kann. 4
Illustrationen : Wlliam L.
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◆ Eine Zumutung! Zum Glück liegen auf dem Tischchen ein paar Zeitschriften bereit. 5 Wieder einmal lauter Schreckensmeldungen in den Morgennachrichten. Warum ist der Mensch so versessen darauf, Krieg zu führen? ● Weil Homo sapiens eine Spezies mit Raubtierinstinkten ist, die sich seit der Jungsteinzeit kaum weiterentwickelt hat. ◆ Weil die Menschheitsgeschichte eine Tragödie ist, die sich unablässig wiederholt. ✖ Weil jeder glaubt, er sei zum Herrscher über die Welt bestimmt, und deshalb Menschen und Nationen im ewigen Kampf gegeneinander stehen. Seien wir nicht naiv: Kriege sind oft gerechtfertigt, und es gehört Mut dazu, sie zu führen.
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6 Ihre Vorstellung vom Glück? ◆ Ich strebe nicht nach Glück, sondern nach einem möglichst intensiven Leben. Zum Glück gehört vor allem Ruhe, und die findet man in der heutigen Welt viel zu selten. ✖ Es geht darum, ein Gleichgewicht zwischen Ich und Welt zu erreichen, zwischen innen und außen. ● Das Glück erwächst aus der Befriedigung von Bedürfnissen und Wünschen.
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unwillkürlich: Sein Pullover, seine Brille und sein ernstes Gesicht sind notwendige Voraussetzungen fürs Lesen. 9 Zu Besuch bei Freunden springt Ihnen eine Katze auf den Schoß: ● Ich nutze die Gelegenheit, um ihr faszinierendes Verhalten eingehender zu beobachten. Ich setze sie behutsam wieder auf den Boden, vielleicht hat sie Flöhe. ✖ Ich beginne sie zu kraulen und frage mich dabei, ob ihr Schnurren eine Sprache ist oder bloß eine Art Reflex. ◆ Ich schüttele sie diskret wieder ab.
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10 Das Wesentliche bei der Kindererziehung ist : Ein gutes Vorbild zu sein, denn die Kinder eifern uns nach. ◆ Ihnen geistige Freiheit und Selbstvertrauen beizubringen. Wenn man das beides hat, kommt man überall zurecht. ● Ihnen die Grundregeln und -kenntnisse des gesellschaftlichen Lebens zu vermitteln. ✖ Der Austausch: Denn ebenso erziehen die Kinder ihre Eltern wie umgekehrt.
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Warum arbeiten wir eigentlich? Arbeit ist für uns die wichtigste Art, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. ● Um Geld zu verdienen. ◆ Die Arbeit ist es, die unser Ich entscheidend prägt und bestimmt. ✖ Arbeit hat etwas Sadomasochistisches: Sie verschafft Befriedigung durch Ermüdung und Zwang.
11 Bundestagswahlen stehen bevor: ◆ Diesmal wähle ich nicht. Die Kandidaten taugen alle nichts. ● Ich studiere alle Parteiprogramme, um dann für ein Projekt zu stimmen, nicht für eine Person. ✖ Ich treffe meine Wahl auf Grundlage der Programme, aber auch der Persönlichkeit der Kandidaten; denn man kann die Ideen nicht trennen von dem Menschen, der sie vertritt. Ich betrachte die Wahl als Bürgerpflicht, auch wenn sie mich wenig begeistert.
Sie betreten eine Buchhandlung: Wie gerne hätte ich das schon alles gelesen! ● Ich frage den Buchhändler, ob meine Bestellung eingetroffen ist. ◆ Ich bin hin und her gerissen zwischen den Sachbüchern und den Romanen. ✖ Ich sehe den Buchhändler und denke
12 Wie verhalten Sie sich gegenüber bettelnden Obdachlosen : Ab und zu gebe ich ihnen eine Münze, aber eigentlich finde ich, die Sozialeinrichtungen sind für sie zuständig. ◆ Ich gebe ihnen fast nie etwas. Ein, zwei Euro >>> helfen ihnen auch nicht aus dem Elend.
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FévrierPhilosophie 2014 Philosophie Magazin magazine Nr. 06 / n° 2014 76 / 61
Ideen
Charles Taylor
Das Gespräch
Er ist der große Vordenker des Multikulturalismus. Aber auch in Fragen religiöser Toleranz oder kapitalistischer Entfremdung zielt Charles Taylors Denken ins Zentrum heutiger Debatten. Ein Gespräch über das Ich als Ware und kanadische Ureinwohner mitten in Berlin Das Gespräch führte Wolfram Eilenberger / Fotos von Malte Jäger
Bernard
Charles
Taylor
»Authentisch sein heißt, sein Potenzial verwirklichen!
C
harles Taylor entschuldigt sich erst einmal. Er müsse etwas zeitiger los, eine Terminkollision. Seine Stippvisite in Deutschland sieht ein mehrstündiges Graduiertenkolleg in Erfurt vor, am Nachmittag dann eine Reise nach Jena, um die Doktorprüfung eines chilenischen Studenten durchzuführen. Taylor ist ein globaler Denker, thematisch wie dem Einfluss nach. In seinen von Hegel wie Wittgenstein inspirierten Werken verbindet sich Ideengeschichte mit aktueller Gesellschaftsanalyse, Metaphysik mit konkreten Gesetzesvorlagen. Taylors Philosophie kreist dabei um die Frage, was ein modernes Ich im Innersten zusammenhält. Mit 82 Jahren hat der Kanadier noch immer die Physis eines Leistungssportlers, vor allem aber zeigt sich sein Geist von ansteckender Wachheit. Gespräch mit einem Selbst, das sich gefunden hat.
Herr Taylor, Sie sind einer der bedeutendsten Philosophen unserer Zeit und gleichzeitig praktizierender Katholik. Verspüren Sie eine Spannung zwischen Ihrem Glauben und Ihrem Philosophieren? Charles Taylor: Nein, auch wenn es schwer zu erklären scheint. Im Grunde gibt es zwei Weisen, sich zu einer Religion zu bekennen. Die erste besteht darin, gewisse Lehrsätze für wahr zu halten und sich nach ihnen zu richten. Die andere, sie ist im Christentum besonders traditionsreich, beschreibt das religiöse Leben als einen Weg oder eine Reise – und den Gläubigen als einen Suchenden. Augustinus etwa beschreibt seinen Glauben so. Das war auch von Anfang an mein Verständnis. Es ist geprägt von dem Respekt für Menschen, die verstehen wollen, was sie im Innern antreibt und Philosophie Magazin Nr. 06 / 2014 / 67
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74 / Philosophie Magazin Oktober / November 2014
Illustration : Elo誰se Oddos, Foto : picture alliance/akg
Ideen
Der Klassiker
ADORNO und das
FALSCHE LEBEN Kennen Sie das? Dieses Gefühl,
ein falsches Leben zu führen? Die Endlosschleife aus sinnloser Arbeit und sinnlosem Konsum? Dieses Kosten-Nutzen-Denken, von dem selbst Ihre Freundschaften nicht ganz frei sind? Den betäubenden Genuss von Blockbustern und Burgern? Wie kein zweiter Philosoph hat Theodor W. Adorno (1903– 1969) die Falschheit einer solchen Existenz auf den Begriff gebracht. Eine Definition des guten, richtigen, gelungenen Lebens vermied der jüdischstämmige Denker dabei ganz bewusst. Jedes postulierte Prinzip, so Adorno, muss die Einzigartigkeit und Widersprüchlichkeit einer jeweiligen Existenz verfehlen.
Aufgabe der Philosophie ist es deshalb nicht, Menschen zu sagen, wie sie leben sollen, sondern bestehende gesellschaftliche Verhältnisse zu kritisieren, in denen das Richtige allenfalls als ein Lichtblick aufscheint. Diese konstruktive Kraft in Adornos negativem Denken entfaltet Martin Seel in seinem Essay. In der beigefügten Sammelbeilage erläutert Josef Früchtl, warum der Aphorismus die ideale Form für Adornos Art des Philosophierens darstellt. Ihren stilistischen Höhepunkt findet diese Form in den „Minima Moralia“ (1951), Adornos wohl schönstem Werk. Es liegt diesem Heft in Auszügen bei.
Philosophie Magazin Nr. 06 / 2014 / 75
Das Philosophie Magazin
Ausgabe verpasst? Sammlung vervollständigen! Bestellen Sie Ihre fehlenden Exemplare.
im ABO Sichern Sie sich Ihre Vorteile! Mehr Infos auf S. 20
# 01 / 2012 Dossier: Warum haben wir Kinder? Klassiker: Aristoteles
# 03 / 2012 Dossier: Sind Frauen moralischer als Männer? Klassiker: Nietzsche
# 05 / 2012 Dossier: Kann ich mein Leben ändern? Klassiker: Marx
# 01 / 2013 Dossier: Gott – eine gute Idee? Klassiker: Rousseau
# 04 / 2013 Dossier: Liegt das gute Leben auf dem Land? Klassiker: Schopenhauer
# 05 / 2013 Dossier: Entscheidet der Zufall mein Leben? Klassiker: Camus
# 01 / 2014 Dossier: Woher kommt das Böse? Klassiker: Descartes
# 02 / 2014 Dossier: Das zerstreute Ich Klassiker: Epikur
# 03 / 2014 Dossier: Was macht uns schön? Klassiker: Heidegger
# 04 / 2014 Dossier: Das Ich-Syndrom Klassiker: Spinoza
# 05 / 2014 Dossier: Woher weiß ich, was ich will? Klassiker: Pascal
Die Ausgaben 02 / 2012, 04 / 2012, 02 / 2013 und 03 / 2013 sind leider schon vergriffen.
Bestellen Sie das Philosophie Magazin >>> online auf www.philomag.de/heftbestellungen>>> telefonisch unter +49 (0)40 / 41 448 463>>> per E-Mail philomag@pressup.de-