april/mai Nr. 03 / 2013
Sind wir dafür geschaffen, in
Paaren zu leben? Das simulierte Gehirn Lässt sich Bewusstsein künstlich herstellen?
Jenseits der Leitkultur
Vier Visionen für die plurale Gesellschaft
„Intuitionen führen uns in die Irre!“
Daniel Kahneman über Denkfehler im Kapitalismus
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Denker in diesem Heft Seite 44 >
Redaktion : Brunnenstraße 143, 10115 Berlin, Deutschland Tel.: +49 (0)30 / 60 98 58 215 E-Mail: redaktion@philomag.de Chefredakteur : Dr. Wolfram Eilenberger (V.i.S.d.P.) Stv. Chefredakteurin : Dr. Svenja Flaßpöhler Berater: Alexandre Lacroix Art-Direktion: Ralf Schwanen Layout: Nicole Skala Bildredaktion: Michael Biedowicz Verantwortliche Redakteure: Dr. Jutta Person (Büchersektion), Marianna Lieder Schlussredaktion: Sandra Schnädelbach Lektorat: Christiane Braun Übersetzerin (Französisch): Alexandra Beilharz Internet: Cyril Druesne Praktikantin: Juliane Reichert Autoren in diesem Heft: Dr. Barbara Bleisch, Eléonore Clovis, Prof. Dr. Antoine Compagnon, Florian Henckel von Donnersmarck, Dr. Ronald Düker, Martin Duru, Michel Eltchaninoff, Prof. Dr. Ferdinand Fellmann, Prof. Dr. Julia Fischer, Prof. Dr. Volker Gerhardt, Eva Marlene Hausteiner, Jun.-Prof. Dr. Philipp Hübl, Prof. Dr. Eva Illouz, Jul, Prof. Dr. Markus Krajewski, Alexis Levis, Nicolas Mahler, Prof. Dr. Paul Mathias, Prof. Dr. Frank Ulrich Montgomery, Prof. Dr. Robert Pfaller, AnneVanessa Prévost, Juliane Reichert, Henning Ritter, Ulrich Rüdenauer, Daniel Schreiber, Dr. Wolfgang Schmidbauer, Gert Scobel, Dr. Patrick Spät, Nicolas Tenaillon, Katharina Teutsch, Tomi Ungerer, Jürgen Wiebicke Titelbild : Rodney Smith
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Henning Ritter Kürzlich erschien sein viel beachtetes Werk: „Die Schreie der Verwundeten. Versuch über die Grausamkeit“ (C. H. Beck, 2013). Der mehrfach ausgezeichnete, studierte Philosoph und langjährige Redakteur der FAZ schreibt im Montaigne-Dossier über die Kunstform des Essays
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Barbara Bleisch Die promovierte Philosophin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am EthikZentrum Zürich moderiert die Schweizer Fernsehsendung „Sternstunde Philosophie“. Ab dieser Ausgabe antwortet Barbara Bleisch auf Leserfragen. Wir begrüßen unsere neue Kolumnistin!
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Daniel Kahneman 2002 erhielt der in Stanford lehrende Psychologe den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften. Sein Buch „Schnelles Denken, langsames Denken“ (Siedler, 2012) wurde ein Bestseller. Im Heft spricht der Forscher über falschen Optimismus und den Kampf zweier Systeme in unseren Köpfen
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Brigitte Kronauer In ihren Romanen entwirft sie abgründige Bilder der Zweisamkeit. Mit dem Philosophen Wilhelm Schmid streitet die mehrfach preisgekrönte Schriftstellerin im Heft über die Frage: „Gibt es das Glück als Paar?“ Im Herbst erscheint Brigitte Kronauers neuer Roman „Gewäsch und Gewimmel“ (Klett-Cotta)
Wolfgang Ullrich „Alles nur Konsum: Kritik der warenästhetischen Erziehung“ (Wagenbach) heißt das soeben erschienene Werk des Karlsruher Professors für Kunstwissenschaft und Medientheorie. Bei einem Besuch des berüchtigten Berliner Asiamarktes unterzieht er seine Thesen dem Praxistest
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Vertrieb: AS-Vertriebsservice GmbH Süderstraße 77, 20097 Hamburg, Deutschland www.as-vertriebsservice.de Litho: tiff.any GmbH Druck: NEEF + STUMME premium printing GmbH & Co. KG, Wittingen Anzeigen: Jörn Schmieding-Dieck - MedienQuartier Hamburg Tel.: +49 (0)40 / 85 41 09 13 E-Mail: joern.schmieding-dieck@mqhh.de www.medienquartierhamburg.de Nielsen IV: Markus Piendl – MAV GmbH Tel.: +49 (0)89 / 74 50 83 13 E-Mail: piendl@mav-muenchen.com Anzeigen Buchverlage / Kultur / Seminare: Thomas Laschinski – PremiumContentMedia Tel.: +49 (0)30 / 60 98 59 30 E-Mail: advertisebooks@laschinski.com Presse- und Öffentlichkeitsarbeit: Sabine Schaub Tel.: +49 (0)30 / 31 99 83 40 E-Mail: s.schaub@schwindkommunikation.de www.schwindkommunikation.de Abo-Service: Philosophie Magazin Leserservice PressUp GmbH Postfach 70 13 11, 22041 Hamburg Tel.: +49 (0)40 / 41 44 84 63 Fax: +49 (0)40 / 41 44 84 99 E-Mail: philomag@pressup.de Online-Bestellungen: www.philomag.de/abo
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Die Professorin für Soziologie an der Hebräischen Universität Jerusalem ist eine der einflussreichsten Liebestheoretikerinnen der Gegenwart. Im Dossier erklärt sie, warum das Paar die letzte Utopie unserer Gesellschaft ist. Jüngste Veröffentlichung: „Warum Liebe weh tut“ (Suhrkamp, 2011)
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Verlag: Philomagazin Verlag GmbH Brunnenstraße 143 10115 Berlin, Deutschland Tel.: +49 (0)30 / 60 98 58 219 E-Mail: info@philomag.de Geschäftsführer und Verleger: Fabrice Gerschel Herausgeberin: Anne-Sophie Moreau
Eva Illouz
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Eva Marlene Hausteiner Im Zeitgeist fragt die Politikwissenschaftlerin, was aus dem philosophischen Ideal des Multikulturalismus geworden ist. Eva Hausteiner ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Sonderforschungsbereich „Imperiale Denkmuster“ an der Humboldt-Universität Berlin
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Volker Gerhardt Im Pro & Contra argumentiert der Philosoph für eine Legalisierung der Suizid assistenz. Volker Gerhardt ist Professor für praktische Philosophie an der Humboldt-Universität Berlin. Zuletzt erschien: „Öffentlichkeit. Die politische Form des Bewusstseins“ (C. H. Beck, 2012)
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Julia Fischer Im Titeldossier widerspricht sie dem Philosophen Ferdinand Fellmann, für den der Mensch zum Paarleben geschaffen ist. Julia Fischer ist Professorin für Kognitive Ethologie in Göttingen und Forschungsleiterin am Deutschen Primatenzentrum. Letzte Publikation: „Affengesellschaft“ (Suhrkamp, 2012)
Seite 48 >
Wolfgang Schmidbauer Der Psychoanalytiker und Bestsellerautor hat zahlreiche Bücher zur Paarbeziehung geschrieben, unter anderem „Paartherapie. Konflikte verstehen, Lösungen finden“ (Gütersloher Verlagshaus, 2010). Im Dossier denkt er über fünf verschiedene Weisen zu lieben nach
Die nächste Ausgabe erscheint am 16. Mai 2013 — Philosophie Magazin
Fotos: Maurice Weiss/Ostkreuz; Isolde Ohlbaum/laif; Siggi Bucher/SRF; Jérôme Bonnet; Timmo Schreiber; Holger Talinski; privat; Karlheinz Schindler/dpa; Jens Ressing/dpa; Catharina Hess/dpa
ZweimOnatlich Nr. 03 – April/Mai 2013
inhalt 06 07 08 10 12 14 16
Zeitgeist > > > > > > >
Leser fragen Barbara Bleisch antwortet Tomi Ungerer erklärt Kindern die Welt Leserbriefe Sinnbild Radar Pro & Contra Sollte Suizidassistenz in Deutschland legalisiert werden? Aufklärung Viele Denker führen nach Rom Die philosophischen Strömungen im Vatikan
18 > Forum Jenseits der Leitkultur Hat das Ideal des Multikulturalismus eine
Zukunft? Fünf Denker weisen Wege in die plurale Gesellschaft
24 > Lockerungen Freier denken mit Robert Pfaller. Diesmal: Rettet die Hexen! 28 > Analyse Europa baut das Superhirn Das eine Milliarde Euro teure „Human Brain Project“ will das menschliche Hirn per Computer simulieren. Aber heißt simulieren auch verstehen?
32 > Brauchen wir glückliche Gabeln?
Markus Krajewski testet ein neues Produkt
Dossier 34 >
Sind wir dafür geschaffen, in Paaren zu leben? Die Scheidungsraten sind konstant hoch, die Anzahl von Single-Haushalten steigt ständig. Dennoch scheint das Ideal liebender Zweisamkeit unzerstörbar. Romantische Illusion oder urmenschliches Verlangen? Ein Dossier über den Wunsch, der unser Leben prägt
Fotos: Pierre-Yves Brunaud/picturetank/Agentur Focus; Mark Mayers; Maia Flore/VU/laif; Jérôme Bonnet, Illustration: Séverine Scaglia
Mit Impulsen von Ferdinand Fellmann, Svenja Flaßpöhler, Julia Fischer, Eva Illouz,
Brigitte Kronauer, Wilhelm Schmid, Wolfgang Schmidbauer und anderen
die philosophen
62 > Das Gespräch Daniel Kahneman: „Intuitionen führen uns in die Irre!“ – der israelische Wirtschaftsnobelpreisträger über unbegründeten Optimismus und zwei widerstreitende Systeme in unserem Kopf
68 > Beispielsweise Rembrandt als Kälteschutz: Nelson Goodman erklärt
das Wesen der Kunst
meinte Xunzi. Der konfuzianische Philosoph, ein Vordenker des Neoliberalismus?
69 > Was soll das? „Gleichheit zu fördern, führt zum Niedergang des Landes“, 70 > Montaigne Unabhängig, sinnenfroh, scharfzüngig: Montaigne ließ sich
Dieses Heft enthält eine 16-seitige Sammelbeilage: Montaignes „Über die Wechselhaftigkeit unseres Handelns“ („Essais“, Zweites Buch)
von seinen eigenen Gedanken treiben, immer auf der Suche nach dem Kern der menschlichen Existenz. Ein Dossier über den Schöpfer der „Essais“. Mit einer Einleitung von Henning Ritter
Bücher
80 > Zeig mir dein Gesicht! Hans Belting erkundet das menschliche Antlitz 82 > Ein Mythos im Trenchcoat Was bleibt von Derrida? Drei Bücher auf den
Spuren des französischen Meisterdenkers
85 > Scobel.mag Die Kolumne mit Durchblick 87 > Im Verhör Jürgen Wiebicke lauscht Theorien der Erinnerung 88 > Das erste Mal Auf dem Berliner Asiamarkt erläutert der Philosoph
Wolfgang Ullrich den ästhetischen Wert der Ware und kauft sich eine Uhr
91 92 94 98 Nr. 03 — April/Mai 2013
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Projektionen Die Filmkolumne von Florian Henckel von Donnersmarck Agenda Philosophische Termine Comic + Spiele Sokrates fragt Max Raabe antwortet
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Zeitgeist Analyse
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— Philosophie Magazin
Europa baut das
Superhirn Das menschliche Bewusstsein gilt als größtes Rätsel der Wissenschaft. Mit einem Forschungsetat von über einer Milliarde Euro soll es dem Human Brain Project nun gelingen, die Komplexität unseres Gehirns per Computer zu simulieren. Doch heißt „simulieren“ auch verstehen? Und lässt sich Bewusstsein überhaupt künstlich erzeugen? Eine philosophische Kritik Von Philipp Hübl Illustration von Mark Mayers
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Foto: Thorsten Wulff
Philipp Hübl ist Juniorprofessor für Theoretische Philosophie an der Universität Stuttgart. Seine Forschungsgebiete umfassen die Philosophie des Geistes, Handlungstheorie und Erkenntnistheorie. Er ist Autor des Bestsellers „Folge dem weißen Kaninchen“ (Rowohlt, 2012)
uropa rüstet auf. Nicht militärisch, sondern wissenschaftlich. Ende Januar hat die EU ihre „Flaggschiff-Projekte“ vorgestellt, die Europa als „Supermacht des Wissens“ etablieren sollen. Von 26 Bewerbern haben zwei Projekte gewonnen, die insgesamt eine Milliarde Euro für zehn Jahre erhalten. So viel Geld hat die EU noch nie für Forschung ausgegeben. Eine Hälfte geht an das Graphen-Projekt, das aus Kohlenstoff neuartige Transistoren und hauchdünne Bildschirme bauen will. Die andere Hälfte verwendet das Human Brain Project (HBP), um das menschliche Hirn zu simulieren. Die Wissenschaftler stammen aus über 80 Forschungszentren der EU und der Schweiz. Ihr Hauptziel ist, eine dreidimensionale Landkarte des Hirns am Computer zu erstellen. Schon seit Jahrzehnten versuchen Neurowissenschaftler, unsere geistigen Leistungen den Hirnregionen zuzuordnen: Wo im Kopf entsteht Angst? Welches Areal ist für Farbwahrnehmung zuständig? Die Daten stammen aus unterschiedlichen Quellen: Im Kernspintomografen kann
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man beispielsweise aktive Nervenzellen sichtbar machen. Außerdem lernt man von Hirnschäden: Verletzungen des linken Schläfenlappens zum Beispiel schränken die Sprachfähigkeit ein – ein Indiz, dass diese Region für Sprachverarbeitung verantwortlich ist. Niemand hat jedoch bisher die verstreuten Daten zusammengetragen und in ein Modell integriert. Diese Lücke will das HBP schließen. Die Datenmengen sind allerdings gewaltig: Neue Supercomputer müssen noch eigens dafür entwickelt werden. Neben dem Hauptziel „Simulation“ verfolgen die Forscher zwei praktische Ziele. Sie wollen Hirnkrankheiten wie Alzheimer oder Depressionen auf Zellebene besser verstehen und so in Zukunft schon im Erbgut ausschalten. Und sie wollen die Computertechnik revolutionieren. Die Rechenleistung von Chips hat sich zwar laufend gesteigert, doch die Optimierungsgrenze ist bald erreicht. Die Forscher hoffen, sich von der Biotechnologie des Gehirns etwas abgucken zu können, denn dieses glitschige Geflecht aus Nervenfasern verbraucht im Gegen-
satz zu Großrechnern nur so viel Energie wie eine Glühlampe. Man lässt sich leicht von der Euphorie des Projekts anstecken. Hirnbasierte Leiden wie Kopfschmerzen oder Angststörungen produzieren europaweit jährlich über 800 Milliarden Euro Kosten – mehr als Krebs und Diabetes zusammen. Bei näherer Betrachtung weicht die Euphorie jedoch dem Zweifel: Im Projekt ist zwar vom Gehirn als „komplexer Maschine“ die Rede, aber nicht von Kreativität und Bewusstsein, also jenen ungeheuerlichen Fähigkeiten, die es seinen Besitzern verleiht. Drei Fragen drängen sich auf: Bauen die Forscher ein künstliches Hirn, das irgendwann selbstständig denken kann? Ist unser Hirn überhaupt ein komplexer Computer, der „Informationen berechnet“? Und: Kann man das Hirn verstehen, ohne das Bewusstsein zu untersuchen? Viele Philosophen antworten auf alle drei Fragen mit einem klaren Nein. Im Film „Prometheus“ (2012) steuert der Roboter David ein Raumschiff durchs All. Während sich die Besatzung in einem künstlichen Winter-
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dossier
Sind wir dafür
geschaffen, in
Paaren zu leben?
Es gibt keine Sehnsucht, die tiefer in uns sitzt: Die Liebe des Lebens zu finden, ist auch in modernen Gesellschaften noch das große Ideal. Je mehr Freiheiten wir haben, je flexibler wir werden, desto drängender wird der Wunsch nach Wärme, Geborgenheit, Halt. Gleichzeitig aber steigen die Scheidungsraten, wird das Single-Dasein in Großstädten zur Normalität: Ist der Mensch überhaupt gemacht für das Glück zu zweit? Wie verträgt sich sein Streben nach Autonomie und Lustmaximierung mit Hingabe und Rücksichtnahme? Ist das Paar ein überkommenes Beziehungsmodell – oder die letzte Utopie unserer Zeit?
Foto: Rodney Smith
Mit Impulsen von Ferdinand Fellmann /// Svenja Flaßpöhler /// Julia Fischer /// Eva Illouz /// Brigitte Kronauer /// Wilhelm Schmid /// Wolfgang Schmidbauer und anderen
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dossier in Paaren leben?
W
Von Wolfram Eilenberger
❑ Ja ❑ Nein ❑ Vielleicht Willst du mit mir gehen? – Eine poetischere und zugleich philosophischere Formulierung des Paarwunsches ist schlicht nicht denkbar. Keine Spur von einem konkreten Weshalb oder Wohin wird erwähnt, einfach nur ein Gehen, Du und Ich, gemeinsam, in eine offene Zukunft. Wer die Frage bejaht, bindet sich aus freien Stücken an die Existenz eines anderen. Nur Menschen tun so etwas. Sie neigen sogar in besonders auffälliger Weise dazu – überall auf der Welt, in jedem Zeitalter. Fortdauernde Faszination Der berechtigte Hinweis, das scheinbar universale Ideal liebender Zweisamkeit beruhe auf spezifischen kulturellen wie gesellschaftlichen Voraussetzungen, macht das Phänomen in Wahrheit nur noch rätselhaf-
Der Wille zur Zweisamkeit wird heutzutage als Widerstand gegen den neoliberalen Konsumzwang gepriesen ter. Schließlich hat das Paarmodell – man sehe sich nur einmal im eigenen Bekanntenkreis um – sämtlichen gesellschaftlichen Anfechtungen erfolgreich widerstanden: der Säkularisierung ebenso wie der Industrialisierung, sexueller Revolution wie Emanzipation, sogar dem Sprung in die digitalen Freundeswelten der sogenannten „Fuck-Buddys“. Sex vor der Ehe ist kein Problem – ja nicht einmal mehr ein Thema. Die rechtlichen und existenziellen Hürden
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einer Scheidung werden immer geringer. Auch der Wille zum Nachwuchs ist längst nicht mehr an stabile Partner anderen Geschlechts gebunden. Die Rahmenbedingungen haben sich also vollkommen gewandelt. Allein das Bild in unseren Köpfen ist identisch geblieben: zwei einander zugeneigte Menschen, vereint in wechselseitig bejahter Exklusivität. Nirgendwo zeigt sich die derzeitige Regentschaft der Paarideologie deutlicher als in den sich monatlich überbietenden Meldungen über die Zunahme von Single-Haushalten: 30 Prozent sollen es in Berlin sein, der offiziellen Single-Hauptstadt Europas! Der Trend wird als überraschend und besorgniserregend dargestellt, mental aber sofort in den Gedanken übersetzt: Aha, 30 Prozent der Berliner sind also auf der Suche, vielleicht ist ja der Richtige dabei … Am ehesten wäre er oder sie wohl auf Dating-Sites per Internet zu finden, wo „niveauvolle Singles“ einander mit immer spezifischeren Profileinstellungen auskundschaften wie Waren, die man nur einmal im Leben erwerben will: Auch dort soll es nämlich gemäß eigener Anpreisung am liebsten „für immer“ sein. Und als sei es ihr erklärtes Ziel, die Paarideologie bis in alle Ewigkeit zu zementieren, kämpfen Homosexuelle in der gesamten westlichen Welt derzeit erfolgreich darum, ebenfalls unter die rechtliche Haube der Ehe schlüpfen zu dürfen und also in ihrem Grundrecht auf lebenslange Zweisamkeit voll anerkannt zu werden. Eine Entwicklung, die aus Gerechtigkeitserwägungen unbedingt zu begrüßen ist, aber durchaus auch kritisch gedeutet werden kann. Schließlich wird der staatliche Anspruch, das Paar als privilegierte Lebensform auszuzeichnen und zu fördern, damit von Gruppen bejaht und bestätigt, die in ihrem politischen Beginn noch aus guten Gründen gegen die repressive Pärchendoktrin rebelliert hatten. Die Konjunktur der Zweisamkeit Vor allem in der zeitgenössischen Philosophie ist ein affirmativer Umschwung zugunsten des Paarmodells festzustellen. Anstatt wie noch vor zehn Jahren den Willen zur festen Partnerschaft im Sinne einer „neuen Bürgerlichkeit“ anzuprangern (waren es nicht gerade die Neokonservativen, die das Familie werdende Paar — Philosophie Magazin
Foto: Arnaud Lajeunie
er erinnert sich nicht an seinen ersten Zettel, heimlich durchgereicht unter der Schulbank, darauf eine einzige, wie im Rausch gekritzelte Frage: „Willst du mit mir gehen?“ – sowie natürlich die drei alles entscheidenden Kästchen zum Ankreuzen:
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dossier In paaren leben?
Glanz und Elend des Paarlebens Notwendiges Übel oder höchstes Glück, gottgewolltes Sakrament oder widernatürlicher Zwang – kaum ein Thema spaltet die Philosophenschaft so tief wie das Leben zu zweit. Ein historischer Überblick der wichtigsten Positionen Von Martin Duru Diogenes (412-324 v. Chr.)
Die Stoiker (333 v. Chr.-180 n. Chr.)
Freie Liebe
Pflicht zur Treue
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agsüber verspottete er seine Mitbürger, urinierte und masturbierte in aller Öffentlichkeit, ohne das geringste Anzeichen von Scham. Nachts schlief er auf dem Marktplatz in einem riesigen Tonkrug – allein. Diogenes, der Narrenphilosoph und bekannteste Vertreter der kynischen Schule, ist legendär für seine derbe Kritik an den Werten und Konventionen der Gesellschaft. Unter Verweis auf die unverstellte Aufrichtigkeit der Tiere plädiert er für eine philosophische Anerkennung unserer animalischen Natur. So überrascht es nicht, dass er jeglicher familiärer Bindung entsagt und insbesondere die Ehe – in der Antike bedeutete dies insbesondere eine vertragliche Bindung zwischen zwei Familien – kritisiert, da sie für ihn den Inbegriff menschlicher und kultureller Niederträchtigkeit bedeutet. „Auf die Frage, wann man heiraten müsse, gab er folgende Antwort: ‚Die Jünglinge noch nicht, die Alten nicht mehr‘.“ Von seinem verloren gegangenen Hauptwerk, der „Republik“, sind leider nur einzelne Sentenzen erhalten. Diogenes soll darin so weit gegangen sein, absolute sexuelle Freiheit zu fordern, Frauen und Kinder geschlechtlich auf eine Ebene zu stellen, gar den Inzest anzupreisen. All das natürlich im Namen unserer Natur, der nach Diogenes nichts ferner liegt als ein Leben in Paaren.
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m Gegensatz zu Diogenes ist die Ehe für die Stoiker eine sowohl natürliche als auch vernunftbasierte Einrichtung. Nach Musonius Rufus (1. Jh. n. Chr.) erlaubt die Ehe beiden Beteiligten, ihre Verbundenheit auf gegenseitiger Fürsorge zu gründen – er sieht die Ehe als eine harmonische Einheit zweier gleichberechtigter Wesen und damit als wohltätige Einrichtung der Polis an. Sein Schüler Epiktet (50125/130 n. Chr.) pflichtet Rufus darin bei, dass die Ehe die der menschlichen Natur „angemessene“ Lebensform sei. „Der Mensch ist zur Treue geboren“, so Epiktet, der auch eine scharfe Kritik am Ehebruch entwickelte: nämlich die, dass der Ehebruch genau das zerstöre, was die Grundsäulen einer Gemeinschaft sind: Vertrauen und Freundschaft. Und Epiktet selbst? Nun, er blieb zeitlebens Junggeselle.
Der Heilige Augustinus (354-430)
Der heilige Bund der Ehe
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er Kirchenvater Augustinus legte den Grundstein für jenen Treueeid, der 1215 offiziell als Sakrament verabschiedet wurde. In „De bono coniugali“ (Über das Wohl der Ehe) erinnert Augustinus daran, dass das Bündnis zwischen Mann und Frau von Gott gewollt sei, gar den natürlichen Rahmen zum Fortbestand des Menschen biete. Nur die Fortpflanzung rechtfertige den Geschlechtsverkehr, verwandle das Böse der Lust in etwas Nützliches. Doch der heilige Bund hat für Augustinus vor allem eine spirituelle Bedeutung: als Quell der Liebe und Güte. Das Bündnis ist so unantastbar, dass auch Unfruchtbarkeit kein Grund für seine Aufhebung sein kann. Daraus entwickelt Augustinus seine moralischen Richtlinien: Die Enthaltsamkeit ist der Ehe immer vorzuziehen. Er verweist auf den ersten Korintherbrief des Apostels Paulus: „Wer ledig ist, der sorgt sich um die Sache des Herrn, wie er dem Herrn gefalle; wer aber verheiratet ist, der sorgt sich um die Dinge der Welt, wie er der Frau gefalle, und so ist er geteilten Herzens.“ Und da man nur schwer mit dem „Herrn“ zusammenleben kann, ist das asketische Leben für Augustinus das Maß aller Dinge.
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Charles Fourier (1772-1837)
Let’s swing
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ch stelle fest, dass ein Leben in Ehe, die Basis unseres Sozialsystems, der am wenigsten praktikable Modus unseres Zusammenlebens ist“, so Fourier in seiner Schrift „Die neue Welt der Industrie und Vergesellschaftung“. Fourier verpflichtet sich der Theorie des Frühsozialismus, prangert die bourgeoise und kapitalistische Gesellschaft an, welche er von einer neuen Welt, die er „Harmonie“ nennt, ersetzt sehen will – weltweit. Was nun Liebesbeziehungen betrifft, so besteht der Schlüssel zur Umsetzung dieser Harmonie in der Abschaffung jedweden ausschließlichen Besitzanspruchs. Die Gemeinschaft der Harmonie kann durch Paar-, Dreieroder auch Mehrfachbeziehungen konstituiert sein. Polygamie, Polyandrie und selbst „Omnigamie“, also das zügellos orgiastische Miteinander, gingen auf ein ursprüngliches Bedürfnis des Menschen zurück, meint Fourier. Sein Liebesideal gipfelt darin, die „Harmonie“ zu einer Stätte unaufhörlicher und bahnbrechender Gelage werden zu lassen, zum Refugium einer polyamorösen Gemeinschaft, die sich von allen Komplexen befreit hat.
Die Gnade der Polygamie
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ür Schopenhauer ist die Liebe eine unserer Spezies eigene Täuschung. Die unbezwingliche Anziehung „wurzelt allein im Geschlechtstriebe“ und dahinter steht nichts als der Wille zur Reproduktion. Was die Ehe betrifft, so handelt es sich nach Schopenhauer insbesondere für den Mann um eine artfremde Einrichtung. Zum einen strebe ein Mann seinem Naturell gemäß nach mehreren Geschlechtspartnern; zum anderen überträgt er mit der Ehe „unnatürliche Rechte“ auf das – in seinen Augen – minderbemittelte Weib. (Man beachte den legendären und pathologischen Frauenhass Schopenhauers!) So verwundert es kaum, dass er für ein polygames Zusammenleben plädiert, das ihm als eine Wohltat und „von keiner Unehre begleitete Einrichtung“ erscheint, nicht zuletzt für die „Weiber“. In einem polygamen System „findet jedes Weib Versorgung“, und bei den Männern bestehe keine Not mehr, Prostituierte aufzusuchen. „Denn bei der widernatürlich vortheilhaften Stellung, welche die monogamische Einrichtung und die ihr beigegebenen Ehegesetze dem Weibe ertheilen, tragen kluge und vorsichtige Männer sehr oft Bedenken, ein so großes Opfer zu bringen und auf ein so ungleiches Paktum einzugehn.“ Polygamie als Hilfsmaßnahme für die sich in Not befindende weibliche Spezies? Schopenhauers Vorschlag lässt aufhorchen.
Simone de Beauvoir (1908-1986)
Stanley Cavell (*1927)
Offene Beziehungen
Zweite Chancen
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Fotos: akg (4); Ullstein Bilderdienst (1)
Arthur Schopenhauer (1788-1860)
it Jean-Paul Sartre hat sie die Liebe neu definiert: Mit ihm ist Simone de Beauvoir auf Basis einer „notwendigen Liebe“ verbunden, nichtsdestotrotz ist sie offen für „zufällige Beziehungen“. Es geht ihr darum, sich fest an einen anderen zu binden, ohne dabei Abstriche in der eigenen Freiheit machen zu müssen. Wesentlich dafür ist Transparenz: „Weder würden wir einander belügen noch etwas voreinander verbergen“, schreibt Beauvoir. Auf die Gefahr hin, an den beiläufigen Liebesverhältnissen zu leiden, ist das Ziel, sich vom überkommenen Ehemodell zu lösen. Beauvoir beschreibt die bedrückenden Lebenssituationen der Desperate Housewives ihrer Zeit und analysiert die Ehe als ein Unterdrückungsinstrument, ein Gefühlskorsett, ja als eine ontologische Verstümmelung: „Die (verheiratete) Frau findet, solange man dieses Lehnsverhältnis toleriert, nicht zu ihrer Würde.“ Hieraus entwickelt Beauvoir das Ideal des „ebenbürtigen Paares“ als einer „immer auf Grundlage der gegenseitigen Anerkennung zweier freien Personen stattfindenden Bindung“.
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elbst im Kino fetzen und versöhnen sich die Paare am laufenden Band. In seinem Buch „Pursuits of Happiness“ analysiert der US-amerikanische Philosoph Stanley Cavell sieben Hollywood-Filme aus den dreißiger Jahren auf ihren Symbolgehalt im Blick auf ein ganz besonderes Film-Genre: „Komödien der Wiederverheiratung“ (comedies of remarriage). Das Genre zeichnet sich durch folgende Beziehungsdynamik aus: Zwei kinderlose, miteinander streitende und letztlich geschiedene Eheleute finden über mannigfache Verwicklungen wieder zueinander. Damit dieses Wunder der Wiedervereinigung vollbracht werden kann, müssen die Liebenden, jeder für sich, einen spirituellen Weg beschreiten, auf dem sie lernen, Veränderungen in Kauf zu nehmen, eigene Erwartungen zu korrigieren, Nachsicht zu zeigen und schließlich den einstigen Partner als Quelle einer möglichen Selbstvervollkommnung zu erkennen. Die Bedeutung des Zusammenseins muss also von neuem bejaht und in ihren Bedingungen erneuert werden: „Es handelt sich nicht darum, nochmals gänzlich bei null anzufangen; wohl aber, von einem neuen Standpunkt aus.“ Das Leben zu zweit zeigt sich nach Cavell stets offen für eine neu aufblühende Verzauberung, ermöglicht durch den spielerischen Umgang mit jenen kleinen Unterschieden, die unserem Alltag in Wahrheit Sinn verleihen.
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Das überforderte Paar
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dossier in Paaren leben?
Guter Sex, Erlebnisreichtum, emotionale Intimität: Die moderne Beziehung ist überfrachtet mit Erwartungen, die kaum zu erfüllen sind. Gleichzeitig bildet das Paar, das auf Kontinuität angelegt ist, einen Gegenentwurf zum kapitalistischen Imperativ der Flexibilität. Ist es gerade deshalb wegweisend? Von Eva Illouz
Eva Illouz ist Professorin für Soziologie und Anthropologie an der Hebräischen Universität Jerusalem. Sie beschäftigt sich mit der Frage, wie unsere Emotionen durch den Kapitalis mus geprägt und erzeugt werden. Publikationen zum Thema: „Der Konsum der Romantik“ (Campus, 2003), „Warum Liebe weh tut. Eine soziologische Erklärung“ (Suhrkamp, 2011)
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Fotos: Maia Flore/VU/laif; Maurice Weiss/Ostkreuz
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ie Griechen hatten viele Mythen, die ihnen halfen, über das Wesen und die Paradoxien des Begehrens nachzudenken. Zwei davon sind besonders bemerkenswert. Zum einen die Sage von König Midas. Midas wünscht sich, dass alles, was er anfasst, zu Gold werde. Dionysos erfüllt ihm den Wunsch, und Midas, so erzählt es Ovid in den „Metamorphosen“, ist überglücklich zu sehen, wie er durch eine leichte Berührung einen Baum in Gold verwandeln kann. Voller Freude über diesen Schlüssel zu endlosem Reichtum lädt der König zu einem prachtvollen Bankett. Die köstlichen Speisen werden auf der großen Tafel angerichtet, doch als er das Essen zum Mund führen will, verwandelt es sich in Gold und wird ungenießbar. Als seine Tochter eintrifft, nimmt Midas sie in den Arm, und sie erstarrt zu leblosem Gold. Ausgehungert und gebrochen fleht er Dionysos an, ihn von der ersehnten Gabe wieder zu befreien. Midas’ Leben wird unerträglich, weil der eine Wunsch es in all seinen Sphären besetzt und unterwirft. Und noch eine weitere wichtige Einsicht hält die Sage bereit: Nach einem erfüllten Wunsch bleiben wir hungrig. Man kann in einem Goldpalast leben, doch dann erweisen sich ganz gewöhnliche Gesten wie das Essen oder eine Umarmung als das Einzige, worauf es ankommt. Der zweite Mythos ist der von Tantalos und erscheint als perfekter Kontrapunkt zu Midas. Tantalos wurde nicht für eine gute Tat belohnt, sondern für ein furchtbares Verbrechen bestraft –
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er zerstückelte und kochte seinen eigenen Sohn und servierte ihn bei einem Festessen. In der Hierarchie der Abscheulichkeiten steht er damit wohl ganz oben. Wie aber sah seine Strafe aus? Er wurde in einen Garten versetzt, unter einen Baum, nach dessen Früchten er sich unablässig streckte, die er aber nie zu fassen bekam. Auch versuchte er seinen Durst mit dem Wasser eines nahen Sees zu stillen, doch das Wasser wich vor ihm zurück. Unstillbares Begehren Die Qual des Tantalos ist das genaue Gegenteil von der des Midas. Das, was er begehrt, entzieht sich ihm, sobald er es in greifbarer Nähe wähnt. Bei aller Verschiedenheit haben Midas und Tantalos jedoch eines gemeinsam: Die Nahrung, nach der sie sich sehnen, können sie nicht kosten. Beide Sagen verweisen auf das Unmögliche am Begehren. Ob es befriedigt oder enttäuscht wird – das Begehren ist stets zum Scheitern verurteilt. Sein Wesen besteht in dem Versuch, etwas zu erlangen, das in unserer Reichweite liegt, sich aber entzieht. Es spielt keine Rolle, ob der Wunsch erfüllt wird oder nicht, das Ziel wird in jedem Fall verfehlt. Das Begehren ist ein Quell unaufhörlichen Leides, nicht weil sein Gegenstand fern ist, sondern eben weil er zum Greifen nah scheint und doch unerreichbar bleibt. In gewissem Sinn ist das Begehren also reine Aporie: Bleibt es ohne Erfüllung, macht es uns unglücklich, und wird es erfüllt, so versperrt es uns den Zugang zu dem, was in unserem Leben wesentlich ist.
Diese Sagen sind uralt, doch sie eignen sich gut, um ein ganz modernes Problem von Paarbeziehungen zu beschreiben. Das Paar, diese scheinbar einfache Einheit, aus freier Wahl und beiderseitigen Gefühlen geschmiedet, ist heute enorm schwierig herzustellen. Es ist zu einer der verwirrendsten Erscheinungen des sozialen Raumes geworden und hat wohl mehr Romane, Lyrik, philosophische Abhandlungen, Ratgeber und psychologische Theorien, Techniken und Therapien hervorgerufen als jedes andere soziologische Phänomen. Keine gesellschaftliche Organisationsform wird so intensiv erforscht wie das Paar; unzählige Institutionen sind damit beschäftigt, es zu verstehen und Leitlinien zu seiner Verbesserung zu entwickeln. Was aber macht das Paar zu einem derart schwer zu verwirklichenden Projekt? Die Antwort liegt in einem kulturellen Paradoxon: Der gleiche Prozess, der aus dem Paar ein Problem machte, verwandelte es auch in eine Utopie – eine Gefühlsutopie, genauer gesagt. Die Gefühlsutopie der Paarbeziehung Gefühlsutopien sind moderne Kulturphänomene. Befördert wurden sie durch die wirkmächtigen Diskurse und Praktiken der Psychologie mit ihrer Vielfalt an Konzepten vom Menschen. Die Gefühlsutopie hat zwei Aspekte: Sie verspricht ein Glück, das mittels der richtigen emotional-mentalen Voreinstellung zu erreichen sei; und sie wendet emotionale Techniken der Selbstverwandlung an, um diesen
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dossier in Paaren leben?
Glück als Paar?
Gibt es das
Die Romantik hielt die Liebe hoch, die Postmoderne das individuelle Glück. Ist das Paar ein Konzept, das sich überlebt hat? Passen Männer und Frauen überhaupt zusammen? Die Schriftstellerin Brigitte Kronauer und der Philosoph Wilhelm Schmid über die Frage, was das Paar im Innersten zusammenhält – und unwiederbringlich trennt Das Gespräch führte Svenja Flaßpöhler Fotos von Timmo Schreiber Hamburg im Regen, die Villen von Blankenese, getaucht in Grau. Inmitten der Tristesse ein rotes Backsteinhaus. Grazil, mit einem Lächeln in den Augenwinkeln öffnet Brigitte Kronauer die Tür und warnt sogleich vor der Katze, die dem Besuch vertrauensvoll ums Bein schleicht. Wilhelm Schmid lässt nicht lang auf sich warten. Eine höfliche, anerkennende Begrüßung im Flur, dann nimmt der Philosoph mit abwartendem Blick am gedeckten Kaffeetisch Platz. Zwei Menschen, zwei Wahrheiten: Die Schriftstellerin glaubt an das Glück der Liebe, wenn auch an abgründiges. Schmid hingegen zeichnet in seinen Büchern ein nüchternes Bild: Liebe gelingt nur, wenn man gerade kein Glück erwartet. Finden die beiden trotzdem zusammen?
herrschte noch für Frauen die Vorschrift: Ihr müsst Kinder kriegen. Ich wollte das nicht, ich wollte Schriftstellerin werden, und ein Kind hätte mich einfach zu sehr absorbiert, das weiß ich. Es ist ein großer Vorzug der Gegenwart, dass sie alle möglichen Formen der Paarbeziehung zulässt. Schmid: Wir können uns heute den Luxus leisten, von der körperlichen Zeugung abzusehen und darüber nachzudenken: Was gibt es denn sonst noch für Zeugungen? Geistige Zeugung, künstlerische Zeugung, das Erzeugen eines gemeinsamen Lebenssinns. Trotzdem dürfen wir uns nicht darüber hinwegtäuschen, dass die längste Zeit der Menschheitsgeschichte die biologische Fortpflanzung die wichtigste Zeugung des Paares war.
Fangen wir einfach an: Was ist eigentlich ein Paar? Kronauer: Zwei Individuen, im Idealfall zwei ausgeprägte, die eine Form des Zusammenlebens finden, in der sie ihre besonderen Eigenschaften nicht verraten, aber doch über ein gewisses Nachgeben zu Harmonie kommen. Allerdings nicht ohne produktive Widersetzlichkeit. Schmid: Ich habe eine etwas andere Auffassung: Ein Paar sind zwei Menschen, die in irgendeiner Weise etwas miteinander zu tun haben. In welcher Weise, das bestimmen die beiden. Das kann rein körperlich sein, das kann rein geistig sein, das kann geschäftlich sein – auch in der Liebe. Das heißt, eine Paarbeziehung muss nicht unbedingt geschlechtlicher Art sein? Kronauer: Auf keinen Fall. Es gibt so viele Formen, die das Bett umspielen, die etwas mit kultureller Ausdifferenzierung zu tun haben! Man sollte nicht immer in diese Zwangsgebote fallen. Als ich zwischen 20 und 35 war, da
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Welche Folgen hat es, dass Kinder heute nicht mehr unbedingt zu einer Paarbeziehung dazugehören? Schmid: Seitdem es nicht mehr darum geht, Nachwuchs zu produzieren und die Familie am Leben zu erhalten, steht die Frage im Raum: Wozu überhaupt zusammen sein? Und die Antwort, die die Menschen geben – die Romantiker haben es ja vorgeschlagen –, lautet: Wir wollen miteinander glücklich sein. Dazu lässt sich nur sagen: Das ist eine wahnsinnige Idee. Liebe und Glück passen nicht zusammen. Kronauer: Einspruch! Es kommt darauf an, wie man Liebe definiert. Wenn man sagt, Liebe sei leidenschaftliche Aufwallung, dann gehen Liebe und Glück nicht zusammen. Aber ich glaube, dass es eine Form der Liebe gibt, die sich über eine lange Paarbeziehung hinaus sogar verstärkt. Schmid: Was sagt Rita Palka dazu (Figur aus Kronauers „Zwei Schwarze Jäger“; Anm. d. Red.)? Ihre Romanfiguren wissen sehr viel vom Unglück der Liebe. — Philosophie Magazin
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Die Philosophen Daniel Kahneman
„Intuitionen führen uns in die Irre!“ Im Jahr 2002 erhielt er den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften, ohne jemals eine Vorlesung in diesem Fach besucht zu haben. Daniel Kahneman, der Begründer der Verhaltensökonomik, über falschen Optimismus, absurde Wirtschaftsmodelle und den Kampf zweier Systeme in uns allen Das Gespräch führte Philippe Nassif Fotos von Jérôme Bonnet
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n diesem Nachmittag hat Daniel Kahneman vor allem eines: Hunger. Ein langer Vortrag, den er am Morgen gehalten hat, ließ ihm keine Zeit zum Frühstücken. Er schlägt mir daher vor, sein Hotel zu verlassen, um uns auf die Suche nach einem Ort zu machen, wo wir einen kleinen Imbiss einnehmen können. Mit 79 Jahren ist der emeritierte Wissenschaftler noch immer elegant und lebendig: energisches Äußeres, durchdringender Blick, ein dezent joviales Lächeln, das ab und zu ironisch wird. Mit langen Schritten durcheilen wir die Straßen von Paris, der Stadt, in der Kahneman bis zum Alter von acht Jahren lebte: bis die deutsche Besatzung die Familie 1942 zwingt, die Stadt zu verlassen, um sich im Süden Frankreichs zu verstecken – sein Vater stirbt sechs Wochen vor der Befreiung an Diabetes mangels Medikamenten. Der Rest der Familie verlässt das Land 1946, um nach Palästina überzusiedeln – Kahneman wird bis zum Ende der siebziger Jahre in Israel leben. „Hier machen sie einen sehr guten Tatar“, sagt er und betritt ein nettes Restaurant im Pariser Stadtviertel Odéon. Stimmt es, dass eine Ihrer frühesten Erinnerungen in den Straßen von Paris zur Zeit der Besatzung spielt? Zweifellos ist es eine meiner lebendigsten Kindheitserinnerungen. Es war gegen Ende 1941 oder Anfang 1942,
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und ich war sieben Jahre alt und als Jude gezwungen, mich an die Ausgangssperre zu halten, die ab sechs Uhr abends galt. Doch an jenem Tag hatte ich mit einem Freund gespielt und war spät dran. Ich kehrte also eiligen Schrittes heim und hatte zuvor meinen Pullover verkehrt herum angezogen, um den gelben Stern zu verstecken, der daraufgenäht war. Da laufe ich einem SS-Soldaten über den Weg, der mich mit festem Blick anschaut und sich mir nähert. Während ich bei dem Gedanken erzittere, er könne meinen gelben Stern entdecken, nimmt er mich in den Arm, ist sehr bewegt und beginnt, mit mir auf Deutsch zu reden. Dann holt er aus seinem Portemonnaie das Foto seines Sohnes, der etwa so alt war wie ich, und gibt mir ein wenig Geld. Als ich zu Hause ankam, war ich mehr denn je von dem überzeugt, was meine Mutter sagte – ich hörte ihr sehr gern zu, wenn sie den neuesten Klatsch mit ihren Freundinnen austauschte –, sie hatte recht: Menschen sind unendlich kompliziert und interessant! Sie haben bis zum Kriegsende versteckt gelebt. Kann man sagen, dass die Notwendigkeit, die Absichten der Leute um Sie herum zu entschlüsseln, den Grundstein für Ihre Berufung als Psychologe legte? Ich glaube nicht. Ich fand sehr früh Gefallen an Philosophie, aber ich habe gemerkt, dass das, was mich interes-
Biografie
Daniel Kahneman
1934 Geburt in Tel Aviv, seine Kindheit verbringt er in Paris 1946 Auswanderung nach Palästina 1961 Beginn der Lehrtätigkeit an der psychologischen Fakultät der Hebräischen Universität Jerusalem 1977 Er siedelt in die USA über und lehrt in Stanford 2002 Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften
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— Philosophie Magazin
Die Philosophen
Der Klassiker
Montaigne Das Genie der Selbsterkenntnis Die Lust, sich von den eigenen Gedanken treiben zu lassen, erhob Michel de Montaigne (1533-1592) zur Lebensform. Mit seinen „Essais“ schuf er das erste moderne Zeugnis eines wahrhaft freien Menschen, dem kein Thema zu gering ist, den eigenen Verstand an ihm zu schärfen. An der Schwelle von der Renaissance zur Moderne wird der adlige Lebemann aus Südfrankreich zum bis heute prägenden Vorbild des europäischen Intellektuellen. Vielreisend, unabhängig, sinnenfroh, scharfzüngig – und in seinem Erkenntnisdrang niemand anderem verpflichtet als der eigenen Urteilskraft. In der Abgeschiedenheit seines Landguts schuf Montaigne, im Dialog mit den Büchern seiner legendären Bibliothek, eigenhändig eine literarische Gattung, die bis heute als edelste Form philosophischen Nachdenkens gilt: den Essay Illustrationen von Séverine Scaglia
Nr. 03 — April/Mai 2013
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Comic
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— Philosophie Magazin
Das Philosophie Magazin
XXX Ausgabe XXX
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MONATLICH NR. 01 / 2012
NEU Interview: JULIAN ASSANGE im Dialog mit dem Philosophen Peter Singer
PRO UND CONTRA Hat die Natur immer recht?
Nr. 01
Sammelbeilage von
Sammelbeilage von
ARISTOTELES
AXEL HONNETH „Das Finanzkapital entmachten“
Warum haben ben wir Auf der Suche Kinder? Grründen nach guten Gründen 16-SEITIGES BOOKLET
ARISTOTELES Das erste Universalgenie
ÜBER DIE FREUNDSCHAFT Deutschland 5,90 €
Österreich: 6 €; Schweiz: 11,80 SF; Luxemburg: 6,40 €. Italien & Spanien: Auf Nachfrage.
Nr. 02
KANT
Was können wir wissen? Vorrede zur zweiten Auflage der „Kritik der reinen Vernunft“ von 1787, (Auszug)
„Nikomachische Ethik”, IX. Buch, 9. bis 12. Kapitel
# 1 / 2012 Dossier: Warum haben wir Kinder ? Klassiker: Aristoteles
Sammelbeilage von
Nr. 05
Sammelbeilage von
Die Mythen des Marktes „Der Fetischcharakter der Ware und sein Geheimnis“ Aus: „Das Kapital: Kritik der politischen Ökonomie“, Erster Band, Kapitel I, 4
# 5 / 2012 Dossier: Kann ich mein Leben ändern ? Klassiker: Marx
Nr. 03
Sammelbeilage von
NIETZSCHE
Nr. 04
SOKRATES
Die Kultur der Schuld
Keine Angst vor dem Tod
„Zur Genealogie der Moral. Eine Streitschrift“ von 1887 (Auszug)
# 2 / 2012 Dossier: Macht Arbeit glücklich ? Klassiker: Kant
MARX
Sammelbeilage von
Platon: „Apologie des Sokrates" (Auszug)
# 3 / 2012 Dossier: Sind Frauen moralischer als Männer ? Klassiker: Nietzsche
# 4 / 2012 Dossier: Denken Deutsche anders ? Klassiker: Sokrates
# 1 / 2013 Dossier: Gott – eine gute Idee ? Klassiker: Rousseau
# 2 / 2013 Dossier: Leben wir zu schnell ? Klassiker: Arendt
Nr. 06
Buddha
Die Lehrrede zur Achtsamkeit
Das Satipatthaˉna-Sutta (Paˉli-Kanon, M I. 55-63)
# 6 / 2012 Dossier: Wie viel Tier steckt in mir ? Klassiker: Buddha
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