Philosophie Magazin Nr. 06 / 2013

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oktober/november Nr. 06 / 2013

Wie werde ich (ein bisschen)

freier ? Wir haben so viele Möglichkeiten wie noch nie, trotzdem fühlen wir uns ständig eingeengt. Welche Wege führen in ein selbstbestimmteres Leben?

Die Grünen und Heidegger

Eine wegweisende Wahlverwandtschaft

„Es gibt keine wahre Religion“

Gespräch mit dem Ägyptologen Jan Assmann

Was macht Fußball schön ?

Volker Finke im Dialog mit Gunter Gebauer iges 16-seit t l Book e Nr. 12

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Goethe Gestalte dein Werden!

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Denker in diesem Heft Seite 58>

Thea Dorn

Seite 14 >

Gunter Gebauer

Redaktion: Brunnenstraße 143, 10115 Berlin, Deutschland Tel.: +49 (0)30 / 60 98 58 215 E-Mail: redaktion@philomag.de Chefredakteur: Dr. Wolfram Eilenberger (V.i.S.d.P.) Stv. Chefredakteurin: Dr. Svenja Flaßpöhler Berater: Alexandre Lacroix Art-Direktion: Ralf Schwanen Layout: Christina Taphorn Bildredaktion: Michael Biedowicz Verantwortliche Redakteure: Dr. Jutta Person (Büchersektion), Marianna Lieder Schlussredaktion: Sandra Schnädelbach Lektorat: Christiane Braun Internet: Cyril Druesne Redaktionsassistenz: Katharina Schenk Praktikantin: Christina Feist Autoren in diesem Heft: Adrien Barton, Dr. Pierfrancesco Basile, Dr. Barbara Bleisch, Patrice Bollon, Prof. Dr. Fritz Breithaupt, François Salmeron, Prof. Dr. Hans Ulrich Gumbrecht, Jul, Prof. Dr. Markus Krajewski, Alexandre Lacroix, Dr. Alice Lagaay, Prof. Dr. Robert Pfaller, Bernd Piringer, Prof. Dr. Juliane Rebentisch, Prof. Dr. Gerhard Roth, Ariadne von Schirach, Dr. Nele Schneidereit, Daniel Schreiber, Gert Scobel, Prof. Dr. Michel Serres, Dr. Patrick Spät, Nicolas Tenaillon, Tomi Ungerer, Jürgen Wiebicke, Johannes Winter

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Im Zeitgeist diskutiert der Sportphilosoph mit der Freiburger Trainerlegende Volker Finke über die Frage: „Was macht Fußball schön?“ Gunter Gebauer ist emeritierter Professor für Philosophie an der Freien Universität Berlin. Sein Buch „Poetik des Fußballs“ erschien 2006 bei Campus

Rüdiger Safranski Der vielfach ausgezeichnete Philosoph und Schriftsteller wurde bekannt durch seine Biografien, unter anderem über Schopenhauer, Heidegger und Schiller. Sein Buch „Goethe – Kunstwerk des Lebens“ erschien soeben bei Hanser. Im Autorendossier spricht er über Goethe als Philosoph

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Juliane Rebentisch

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Hans Ulrich Gumbrecht

Übersetzer: Alexandra Beilharz, Till Bardoux Titelbild: Alain Ramette © Philippe Ramette – ADAGP, Courtesy Galerie Xippas Verlag: Philomagazin Verlag GmbH Brunnenstraße 143 10115 Berlin, Deutschland Tel.: +49 (0)30 / 60 98 58 219 E-Mail: info@philomag.de

Die Schriftstellerin wählte ihren Künstlernamen in Anlehnung an Theodor W. Adorno. Im Dossier streitet sie mit dem Philosophen Byung-Chul Han über das Verhältnis von Freiheit und Zwang in der heutigen Gesellschaft. Buch zum Thema (mit Richard Wagner): „Die deutsche Seele “ (Knaus, 2011)

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Geschäftsführer und Verleger: Fabrice Gerschel

Die Professorin für Philosophie an der Hochschule für Gestaltung in Offenbach kommentiert im Dossier Möglichkeiten des Freiseins, die vom Rückzug ins Private bis hin zum politischen Protest reichen. Buch zum Thema: „Die Kunst der Freiheit. Zur Dialektik demokratischer Existenz“ (Suhrkamp, 2012)

Der Literaturwissenschaftler lehrt Komparatistik an der Standford University. Im Zeitgeist deckt er politische Berührungspunkte zwischen der Philosophie Martin Heideggers und den Grünen auf. Sein jüngstes Werk: „Nach 1945. Latenz als Ursprung der Gegenwart“ (Suhrkamp, 2012)

Ariadne von Schirach In ihrem Bestseller „Tanz um die Lust“ (Goldmann, 2007) untersucht sie die Liebe im pornografisierten Zeitalter. Die Philosophin, Journalistin und Kritikerin hat für das Philosophie Magazin einen Liebesbrief geschrieben, in dem sie auf die Frage antwortet: „Wie frei willst Du mich haben?“

Herausgeberin: Anne-Sophie Moreau Vertrieb: AS-Vertriebsservice GmbH Süderstraße 77, 20097 Hamburg, Deutschland www.as-vertriebsservice.de Litho: tiff.any GmbH Druck: NEEF + STUMME premium printing GmbH & Co. KG, Wittingen Anzeigen: Jörn Schmieding-Dieck – MedienQuartier Hamburg Tel.: +49 (0)40 / 32 50 745 E-Mail: joern.schmieding-dieck@mqhh.de www.medienquartierhamburg.de Nielsen IV: Markus Piendl – MAV GmbH Tel.: +49 (0)89 / 74 50 83 13 E-Mail: piendl@mav-muenchen.com Anzeigen Buchverlage/Kultur/Seminare: Thomas Laschinski – PremiumContentMedia Tel.: +49 (0)30 / 60 98 59 30 E-Mail: advertisebooks@laschinski.com Presse- und Öffentlichkeitsarbeit: Sabine Schaub Tel.: +49 (0)30 / 31 99 83 40 E-Mail: s.schaub@schwindkommunikation.de www.schwindkommunikation.de Abo-Service: Philosophie Magazin Leserservice PressUp GmbH Postfach 70 13 11 22013 Hamburg Tel.: +49 (0)40 / 41 44 84 63 Fax: +49 (0)40 / 41 44 84 99 E-Mail: philomag@pressup.de Online-Bestellungen: www.philomag.de/abo

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Beiheft >

Eckart Förster Der Professor für Philosophie an der Johns Hopkins Universität in Baltimore hat dem dieser Ausgabe beigelegten Originaltext Goethes „Der Versuch als Vermittler von Objekt und Subjekt“ ein erläuterndes Vorwort vorangestellt. Zuletzt erschien: „Die 25 Jahre der Philosophie“ (Klostermann, 2011)

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Nele Schneidereit

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Christina Feist

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Impfverweigerer handeln unmoralisch: So argumentiert die promovierte Philosophin und wissenschaftliche Mitarbeiterin an der TU Dresden im „Pro und Contra“. Nele Schneidereits Buch „Die Dialektik von Gemeinschaft und Gesellschaft“ erschien 2010 im Akademie Verlag

Die Praktikantin des Philosophie Magazins studiert Philosophie in Ant­ werpen und Wien. Im Radar schreibt sie über die kulturellen Probleme in ­Sachen Endlagersuche: Wie lassen sich Warnschilder gestalten, die noch in 24 000 Jahren verstanden werden?

Michel Serres Der französische Philosoph lehrt an der Sorbonne und an der Stanford University. Im Heft analysiert er, wie die digitale Generation unser Bildungssystem grundlegend herausfordert. Sein Buch „Erfindet euch neu! Eine Liebeserklärung an die vernetzte Generation“ erscheint im September bei Suhrkamp

Die nächste Ausgabe erscheint am 14. November 2013 — Philosophie Magazin

Fotos: Sebastian Hänel; Ralf Jürgens; Patrick Seeger/dpa; Hedrich Mattescheck; Norbert Newald/dpa; Özgür Albayrak; Hannah Assouline/Opale, privat

Zweimonatlich Nr. 06 – Oktober/November 2013


inhalt

Zeitgeist 06 07 08 10 12 14

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Leser fragen Barbara Bleisch antwortet Tomi Ungerer erklärt Kindern die Welt Leserbriefe Sinnbild Radar Dialog Was macht Fußball schön? Sportphilosoph Gunter Gebauer spricht mit Trainerlegende Volker Finke über die Ästhetik des Kurzpasses, androgyne Helden und die falsche Dogmatik des Jogi Löw

20 > Pro & Contra Gibt es eine moralische Pflicht, sein Kind impfen zu lassen? 22 > Wie viel Heidegger steckt in den Grünen? Eine Spurensuche

von Hans Ulrich Gumbrecht

28 > Lockerungen Freier denken mit Robert Pfaller. Diesmal: Was will das dritte Geschlecht?

30 > Plädoyer Erfindet euch neu! Der Philosoph Michel Serres preist

die digitale Generation und fordert ein neues Bildungssystem

34 > Brauchen wir ergonomische Spaten?

Markus Krajewski testet ein neues Produkt

Dossier 36 >

Wie werde ich (ein bisschen) freier? Wir sind so frei wie noch nie, fühlen uns aber ständig eingeengt. Sind es gerade die unüberschaubaren Möglichkeiten, die uns hemmen? Oder fehlt uns einfach der Mut, sie beim Schopfe zu packen? Mit Beiträgen von Thea Dorn, Svenja Flaßpöhler, Byung-Chul Han, Alexandre Lacroix, Juliane Rebentisch, Gerhard Roth und Ariadne von Schirach

die philosophen

64 > Das Gespräch Jan Assmann: „Es gibt keine wahre Religion“ Der Kulturtheoretiker über die Gefahren des Monotheismus, die Macht der Erinnerung und Ägypten als Wiege Europas

70 > Beispielsweise Birnen stehlen: Augustinus erklärt, wie das Böse

in die Welt kommt

71 > Was soll das? „Die Wissenschaft denkt nicht“, behauptet Martin Heidegger – Fotos: Stephan Zirwes; Leo Caillard; Elene Usdin/distinctimage; Gene Glover, Julia Pfaller

eine Anmaßung?

72 > Goethe Poet, Sinnenmensch, Naturphilosoph: Goethes Leben und Werke

Dieses Heft enthält eine 16-seitige Sammelbeilage: „Der Versuch als Vermittler von Objekt und Subjekt“ (1792/93) von Johann Wolfgang von Goethe

sind Zeugnisse höchster Leidenschaft. Bis heute weist uns sein wacher Geist den Weg in ein freieres Werden Mit Beiträgen von Fritz Breithaupt, Eckart Förster, Marianna Lieder, Gerhard Roth und Rüdiger Safranski

Bücher

84 > Der Gott der großen Worte Kurt Flasch bekennt sich als Nichtchrist 86 > In der Bilderhöhle Philosophen entdecken im Kino ein modernes

Heilsversprechen

89 > Scobel.mag Die Kolumne mit Durchblick 91 > Im Verhör Jürgen Wiebicke lauscht John Gaskins philosophischem Hörführer 93 > Agenda Philosophische Termine 94 > Comic + Spiele 97 > Das Gare ist das Wahre Philosophisch kochen mit Bernd Piringer. Dieses Mal: Gemista Platonika

98 > Sokrates fragt Corinna Harfouch antwortet Nr. 06 — oktober/november 2013

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zeitgeist dialog

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an mag es kaum noch glauben. Aber es gab auch eine Welt ohne Fußball. In weniger als 150 Jahren eroberte ein Freizeitvergnügen für englische Internatsschüler den gesamten Erdball. Heute wirkt es als globales Medium der Völkerverständigung, ist Zentrum nationaler Selbstverständnisse, bildet den Lebensinhalt ganzer Familien. Auf der phil.cologne 2013 drangen Volker Finke und Gunter Gebauer gemeinsam in die Tiefen des Spiels vor und legten für uns die verborgenen Schönheiten des „simple game“ frei. Herr Gebauer, Milliarden Menschen auf der Erde begeistern sich für Fußball, wobei für alle, die dieses Spiel betreiben oder ihm aufmerksam folgen, eine Beobachtung unabweisbar scheint: Das allermeiste im Fußball gelingt nicht, sondern es scheitert und verfehlt sein Ziel. Was ist eigentlich so faszinierend daran, jungen Menschen beim Scheitern zuzusehen? Gebauer: Wir berühren hier gleich eine Wurzel des Fußballs, man könnte sogar sagen, seine ganz eigene Existenzphilosophie. Scheitern ist in unserem Leben der Normalfall. Wir scheitern sogar alle definitiv, weil wir irgendwann einmal sterben. Das Scheitern ist für den Fußball als Mannschaftssport konstitutiv, ganz anders als im Handball oder Basketball, wo ein gelungener Spielzug eigentlich immer oder zumindest sehr häufig zum Erfolgserlebnis führt. Im Fußball dagegen sind in der gesamten Partie nur ein, zwei, maximal drei Spielzüge wirklich von Erfolg gekrönt. Das liegt an der Differenz von Hand und Fuß. Die Kontrolle eines Balles ist mit der Hand ungleich höher. Im Fußball nun muss man das Tor mit dem Fuß oder Kopf erzielen, darf es aber mit der Hand verhindern. Eine geniale Asymmetrie, die das Spiel unglaublich spannend hält.

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Was macht Fußball schön? Fußball ist der populärste Mannschaftssport unserer Zeit. Doch worin liegt die besondere Attraktivität des Spieles? Trainerlegende Volker Finke und der Sportphilosoph Gunter Gebauer im Dialog über die Ästhetik des Kurzpasses, androgyne Helden und die falsche Dogmatik des Jogi Löw Das Gespräch führte Wolfram Eilenberger

— Philosophie Magazin


Foto: Stephan Zirwes

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zeitgeist dialog

Volker Finke begann seine Trainerkarriere beim TSV Stelingen. Von 1991 bis 2006 trainierte der studierte Mathematiker sehr erfolgreich und stilprägend den SC Freiburg. Nach Stationen in Japan und als Sportdirektor beim 1. FC Köln ist Finke seit Mai 2013 Trainer der Nationalmannschaft Kameruns

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Gibt es denn eine philosophische Ästhetik, die sich zur Beschreibung der Schönheiten des Fußballs besonders eignete? Gebauer: Ich glaube ja, und das ist die kantische Ästhetik, denn Kant betont darin vor allem das freie Spiel der Einbildungskräfte. Dies spielt beim Fußball eine große Rolle. Gerade wenn Abläufe eingebildet, im Sport würde man sagen, antizipiert werden, um dann doch ganz anders einzutreten. Außerdem betont Kants Ästhetik das spielerische Moment einer Zweckmäßigkeit ohne Zweck. Das ist für Mannschaftssportarten besonders wichtig. Aber der Zweck ist doch ganz klar: Der Ball muss rein, das Spiel gewonnen werden. Gebauer: Klar, ein Spiel besteht ja auch wesentlich aus lauter extrem zweckmäßigen Handlungen: Pässen, Grätschen, Sprints … Nur: Das alles hat gar keinen Zweck, jedenfalls keinen, der außerhalb des Spieles selbst läge! Das Tor bedeutet nur, dass es 1:0 steht. Das führt dann auch auf den kantischen Begriff des interesselosen Wohlgefallens in der ästhetischen Erfahrung. Natürlich heften sich an den Fußball heute jede Menge Interessen, vor allem wirtschaftlicher Art. Aber der Grund­impuls ist ja nicht „Du kriegst eine Million Euro, wenn wir gewinnen“, sondern es funktioniert zunächst einmal als Spiel. Die zweckmäßigen Fußballhandlungen erzeugen im Betrachter wie im Athleten – im freien Spiel der Einbildungskräfte – ein Wohlgefallen, und damit auch gewaltige Emotionen: So ließe sich das mit Kant reformulieren.

Herr Finke, und wenn Sie bei der Kabinenansprache nächstes Mal sagen: Jungs, denkt an das freie Spiel der Einbildungskräfte, worum es eigentlich geht, ist das interesselose Wohlgefallen, der Rest findet sich dann von selbst … Finke: (lacht) Die würden sich wahrscheinlich fragen, was man dem Trainer heute in den Tee getan hat. Aber im Ernst, ich trainiere ja derzeit die Nationalmannschaft von Kamerun, und da gibt es bereits in der konkreten Spieleransprache und Motivation Elemente, die nicht das Spiel selbst betreffen. In Kamerun wird es so aufgefasst, dass die Nationalspieler einen Ehrenvertrag mit dem Land haben. Es geht dann darum, diesen Vertrag mit der Heimat auf dem Platz zu erfüllen, gegenüber der Bevölkerung, ihren Familien. Da ist man zunächst sehr weit weg von Kant. Wobei es schon so ist, da würde ich Herrn Gebauer zustimmen, ihren „Vertrag“ können die Spieler natürlich nur dann wirklich erfüllen, wenn sie auf dem Platz ihre ganze Spielfreude zeigen, alle ihre Talente in das Spiel einbringen. Gebauer: Genau, diese Freude, die spontan aufspringt, das meine ich mit interesselosem Wohlgefallen, und es entsteht aus der koordinierten Interaktion von zehn Feldspielern. Das ist unglaublich attraktiv. Die Ästhetik des Fußballs hat sich in den letzten Jahrzehnten grundlegend verändert. Und ein taktischer Pionier dieser Veränderung waren Sie, Herr Finke, denn Sie haben bereits vor 20 Jahren in Freiburg mit großem Erfolg ein Spielideal verfolgt, das dem heute taktisch dominierenden Kurzpassstil des FC Barcelona und der spanischen Nationalmannschaft – dem sogenannten Tiki-Taka – sehr ähnlich war. Finke: Also, da halte ich mich gerne zurück. Aber wahr ist, konsequentes Kurzpassspiel, dieses heute gerühmte Spiel in der Nähe des Balles – immer ein Mann mehr in der Ball­ eroberung und auch bei Ballbesitz –, das ist etwas, was ich in Deutschland sehr früh entwickelt habe, angeregt durch den Mittelmeerfußball, der damals schon ballorientiert und nicht, wie in Deutschland, mannorientiert spielte. Gebauer: Eine wesentliche Veränderung betrifft die Passlänge, von deren Schön— Philosophie Magazin

Fotos: Ralf Jürgens (2); Werck/dpa

Gunter Gebauer ist emeritierter Professor für Philosophie an der Freien Universität Berlin. Sportphilosophie ist neben Ästhetik und Sozialphilosophie einer seiner Forschungsschwerpunkte. Publikation zum Thema: „Poetik des Fußballs“ (Campus, 2006)

Finke: Das ist auch aus meiner Sicht als Trainer das wichtigste Einverständnis, das es mit den eigenen Spielern zu erzielen gilt: Niederlage und Scheitern sind ein wesentlicher Teil des Fußballs. Wichtig ist, dies zu einer mentalen Stärke werden zu lassen, in dem Sinne, dass man zum Beispiel bei einem Rückstand keinesfalls beginnt auszusteigen. Das sind die Schlüsselmomente. Da geht es um den Esprit, den Mannschaftsgeist, zu sagen: Wir können verlieren, aber wir versuchen alle unsere Stärken aufzubringen. Die Unverfügbarkeit, die sich aus dem Spiel mit dem Fuß ergibt, ist schon etwas, was den Fußball abhebt. Sein Drehbuch wird ganz im Moment geschrieben, es gibt nichts, was vorher drinsteht, eine grundsätzlich offene Situation also.


In Interviews verbittet sich Jogi Löw jegliche Alternative zu dieser Fußballauffassung. Eine beharrende Taktik ist allerdings durchschaubar und setzt sich Gefahren aus, Dortmunds lange Pässe sind ein gutes Beispiel.

Günter Netzer, DFB-Pokalfinale 1973

Finke: Ich glaube auch, dass wir demnächst, insbesondere bei hoch stehenden Abwehrreihen, wieder vermehrt den langen Pass als taktisches Mittel sehen werden. Welches sind die wesentlichen Innovationen, die in Zukunft Einfluss auf die Schönheit des Spieles haben werden?

Gunter Gebauer

„Kants freies Spiel der Einbildungskräfte besitzt eine große Bedeutung für den Fußball“ „Die kreative Lösung unter enormem zeitlichen wie räumlichen Druck – das ist die Schönheit im neuen System“

Gebauer: Der Stadionbau ist ganz wichtig. Die neuen engeren Arenen mit steilen, wand­ artigen Tribünen emotionalisieren das Spiel ungeheuer, das Dortmunder Westfalenstadion ist das beste Beispiel. Das Zweite betrifft die elektronischen Übertragungsmedien. Da war der Wandel in den vergangenen 40 Jahren überwältigend und hat unsere Wahrnehmung des Spieles grundlegend verändert. Damals hatte man drei Kameras – zentral, rechts, links – heute sind es gut und gerne 32, an Kränen, aus Zeppelinen, das ergibt fast eine Bergfilmanmutung. Dann natürlich Superzeitlupen, so werden medial ganz eigene Narrationen geschaffen und damit ein Ablauf, der im Wahrnehmenden eine enorme innere Spannung erzeugt und die tatsächliche Dramatik auf dem Spielfeld oft stark überlagert.

Volker Finke

heit man ja gerade zu den großen Zeiten des deutschen Fußballs – Netzer, Beckenbauer, Overath – immer schwärmte. In diesen langen Pässen lag sozusagen eine kontemplative Schönheit. Man hatte viel Zeit, dem Flug des Balles zu folgen. Der Ball war so etwas wie eine Luftpost, eine geheime Botschaft an den anderen, vielleicht ein Liebesbrief. Das war zwar schön, ist aber heute einfach nicht mehr erfolgreich. Der Erfolg bleibt im Fußball ein wesentlicher ästhetischer Aspekt. Das heutige Kurzpassspiel, vor allem der Spanier, erfährt seine Schönheit aus der unglaublichen Beherrschung des Balles, die er zur Schau stellt, aber auch der räumlichen Beherrschung des Gegners. Obwohl dieses Kontrollideal vielleicht seine ästhetische Grenze erreicht hat und im Exzess durchaus Langeweile erzeugt, sodass man Ausrufen möchte: „Mein Gott, könnt ihr nicht mal ein bisschen mehr Ereignisse schaffen!“ Nr. 06 — oktober/november 2013

Finke: Kurzpass ist kein Selbstzweck, es ist deswegen gut und erfolgreich, weil man an jeder Stelle des Platzes versucht, sich freizuspielen für die eigentlich beschleunigende Situation. Darin liegt für mich die Schönheit dieses Systems – die kreative Lösung unter enormem zeitlichen wie räumlichen Druck. Die 40-Meter-Pässe eines Netzer waren damals möglich, weil er Zeit hatte, sich den Ball zurechtzulegen, weit auszuholen, diese Zeit oder besser diesen Raum hat man heute im Mittelfeld nicht mehr. Der Ball darf bei der Annahme keine zehn Zentimeter weit weg springen, sonst ist er weg. Gebauer: Das Kurzpassspiel scheint gegenwärtig zu einem Dogma zu verkommen – gerade in Deutschland, wo man sich diese Spielweise von der spanischen Nationalmannschaft und Barcelona abgeguckt und die Tendenz hat, eigene Stärken gering zu schätzen.

Sie meinen, wir sehen am Fernseher ein Spiel, das so gar nicht stattfindet? Gebauer: So kulturkritisch würde ich da nicht rangehen. Das ist nichts rein Virtuelles. Ohne dazugehörige Realität funktioniert das nicht. Finke: Aus Trainersicht gibt es die Innovation der Tracking-Systeme, die jeden gelaufenen Meter jedes Spielers dokumentieren. Da geht es nicht um banale Geschichten wie „Der und der hat 13 Mal aufs Tor geschossen“, sondern ganz detailliert um jedes Bewegungsprofil, mit dem jeweiligen Lauftempo … Richtig ausgewertet sind das ganz wichtige Informationen für die Trainingsarbeit, aber es kann auch zu einer gefährlichen Verschiebung der Bewertungskriterien auf das rein Quantitative führen, nach dem Motto: Der Spieler ist nur neun Kilometer gelaufen, war also „faul“. Die Medien haben diese Daten ja auch und nutzen sie dann für solche Zwecke. Diese Innova-

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ie Sozialdemokraten und die Grünen präsentieren sich in diesen Wochen – mehr als während vorausgehender Wahlkämpfe – wieder einmal so, als gelte noch unangefochten die ehrwürdige Polarität des politischen Felds zwischen „Links“ und „Rechts“. Wählerenergien gegen „Reiche“ und „Privilegierte“ werden unter der stillschweigenden Voraussetzung aktiviert, dass Reichtum und Privilegien an sich unmoralische und mithin sozial nicht tragbare Phänomene seien. Auf der anderen Seite des Wahlkampfs sperren sich aber vor allem die Christdemokraten der damit über sie implizit dekretierten Verortung: Sie wollen sich nicht als Partei der Privilegierten abstempeln lassen und wissen — Philosophie Magazin

Foto: Come with Me 7, 2011/Ellie Davies, UK, www.elliedavies.co.uk

Ökologische Sorge, erdnahe Nachhaltigkeit, fundamentale Technikkritik – zentrale Motive des Freiburger Meisterdenkers Martin Heidegger prägen auch das Selbstverständnis der Grünen. Was hat es mit dieser Wahlverwandtschaft auf sich? Und weist sie gar den Weg in ein schwarzgrünes Europa? Eine Spurensuche von Hans Ulrich Gumbrecht


zeitgeist spurensuche

Wie viel Heidegger steckt in den Grünen?

insgeheim, dass eine Regierungskoalition zwischen ihnen und den Grünen keineswegs ausgeschlossen ist. Nicht nur in Deutschland, sondern im politischen Spektrum der meisten westlichen Nationen existiert eine solche Konvergenz, die innerhalb der klassischen Politikszene den paradoxalen Status hat, zugleich konservativ und progressiv zu sein. „Progressiv“ im Sinn des Anspruchs, eine mit neuen Werten auf die Zukunft ausgerichtete Politik zu betreiben; „konservativ“ als ein primärer Gestus von Bewahrung, der sich vor allem, aber nicht ausschließlich auf die Natur bezieht. Zu dieser Konfiguration gehört eine Affinität zwischen den Grünen und dem Werk von Martin Heidegger, die sich Nr. 06 — oktober/november 2013

unabhängig von einzelnen Lektüren oder Einflüssen belegen lässt und in der die erwähnte Ambiguität der Grünen auf der politischen Bühne einen ins Extrem verzeichnenden Spiegel findet. Denn dass Heideggers Werk einzelne Prota­gonisten der Grünen und die Grünen als Bewegung inspiriert haben kann, ist erstaunlicherweise ebenso plausibel wie die Tatsache, dass Heidegger im Mai 1933 Mitglied der NSDAP wurde und der Partei bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs treu blieb, für sein näheres Umfeld unwahrscheinlich erschien. Heideggers Sympathien gehörten wohl vor allem dem von der SA verkörperten Faschismus im italienisch-bayerischen Stil, was erklärt, warum nach der Entmachtung der SA im Juli 1934 der historische Moment schwand, in dem Heidegger an die Möglichkeit glaubte, politischen Einfluss zu erlangen. Ach, Abendland Die konservative Komponente und die Affinität seines Werkes zu den Grünen gehen zurück auf einen antimodernistischen Affekt, über den sich Heideggers Identität als Denker ausbildete. Wenn die abendländische Philosophie der frühen Neuzeit unter dem Begriff des „Subjekts“ eine wachsende Autonomie der Menschen registriert hatte, die auf Vernunft als Matrix aller geistigen Leistungen beruhte, so gerät die Fähigkeit des Subjekts, die Welt angemessen zu erfassen, seit der Aufklärung ins Visier einer wachsenden

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zeitgeist plädoyer

Erfindet euch neu! Eine neue Generation bevölkert die Klassenzimmer und Vorlesungssäle. Ihre Smartphones immer zur Hand, kommunizieren die „kleinen Däumlinge“ mit ihren Fingerkuppen und teilen permanent vernetzt ihr Wissen. Weiter so, meint der französische Philosoph Michel Serres

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n seiner „Légende dorée“ erzählt Jacques de Voragine, wie im Jahrhundert der von Domitian angeordneten Verfolgungen in Lutetia ein Wunder geschah. Dionysius, von den ersten Pariser Christen zu ihrem Bischof gewählt, war von der römischen Armee verhaftet worden. Auf der Île de la Cité eingekerkert und gefoltert, wird er schließlich verurteilt, auf der Kuppe eines Hügels, der einmal Montmartre heißen sollte, enthauptet zu werden. Die Soldaten aber weigern sich aus Bequemlichkeit, den beschwerlichen Aufstieg auf sich zu nehmen, und richten das Opfer schon auf halbem Wege hin. Der Kopf des Bischofs fällt zu Boden. Aber welches Grauen erwartet sie! Enthauptet, erhebt sich

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Dionysius, packt seinen Kopf und setzt mit ihm in seinen Händen den Aufstieg fort. Ein Wunder! Von Entsetzen gepackt, ergreift die Legion die Flucht. Der Autor fügt hinzu, dass Dionysius haltmachte, um in einer Quelle sein Haupt zu waschen, und weiterging bis zur Kathedrale von Saint-Denis, die noch heute seinen Namen trägt. So wurde ihm schließlich ein Denkmal gesetzt. Der Kopf auf dem Schoß Däumelinchen klappt ihr Notebook auf. Mag sie sich jener Legende auch nicht entsinnen – was sie da vor Augen hat, ist nichts anderes als ihr Kopf. Wohlgefüllt kraft seiner unerschöpflichen Informationsbestände, aber auch wohlbeschaffen, weil sich durch Suchmaschinen in ihm Texte und Bilder nach Lust und Laune aufrufen lassen und, besser noch, die unterschiedlichsten Programme in der Lage sind, schneller als sie selbst es je vermöchte, zahllose Daten zu verarbeiten. Wie der heilige Dionysius seinen halslosen Kopf, so hält sie ihre vormals internen, nun externalisierten kognitiven Fähigkeiten in Händen. Muss man sich Däumelinchen enthauptet vorstellen? Ein Wunder? Mittlerweile ist jeder von uns, wie sie, ein heiliger Dionysius geworden. Unser intelligenter Kopf ist aus unserem knochen-

bewehrten neuronalen Kopf herausgetreten. Die Kognitionsbüchse in unseren Händen enthält, und hält in der Tat am Laufen, was wir einst unsere „Vermögen“ nannten. Ein Gedächtnis, tausendmal leistungsfähiger als das unsere, eine von Millionen und Abermillionen Ikonen bevölkerte Einbildungskraft, ja einen Verstand – dienen doch zahllose — Philosophie Magazin

Fotos: Léo Caillard; Hannah Assouline Opale

Michel Serres, geboren 1930, lehrt Philosophie an der Pariser Sorbonne und an der Stanford University. 1990 wurde er in die Académie française aufgenommen. Er setzt sich für das Zwiegespräch zwischen Geistes- und Naturwissenschaftlern ein und rückt in seiner Kommunikationstheorie den Boten in den Mittelpunkt. 2012 wurde ihm von der Universität Köln der Meister Eckhart Preis verliehen, 2013 wurde ihm der Dan David Prize zuerkannt. Sein neuestes Buch „Erfindet euch neu! Eine Liebeserklärung an die vernetzte Generation“ erscheint September 2013 bei Suhrkamp


Programme der Lösung ebenso vieler Probleme, die zu lösen wir von uns aus außerstande wären. Unser Kopf liegt vor uns, da, in der objektivierten Kognitionsbüchse. Was aber tragen wir nach der Enthauptung noch auf unseren Schultern? Die erneuernde und lebendige Intuition. In die Büchse ausgelagert, entlässt uns die Bildung an die helle Nr. 06 — oktober/november 2013

Erfindungsfreude. Großartig: Sind wir dazu verdammt, intelligent zu werden? Als der Buchdruck aufkam, zog Montaigne (…) einen wohlbeschaffenen Kopf der Akkumulation des Wissens vor – war doch der Wissensvorrat, schon objektiviert, in den Büchern, auf den Regalen seiner Bibliothek verwahrt. Vor Gutenberg musste seinen

Thukydides und Tacitus auswendig kennen, wer Geschichte treiben wollte, Aristoteles und die griechischen Mechanisten, wer sich für Physik interessierte, Demosthenes und Quintilian, wer in der Redekunst glänzen wollte. Er musste, anders gesagt, von alledem den Kopf voll haben. Ökonomie: Sich den Platz des Buchs auf dem Regalbrett zu

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dossier

Wie werde ich (ein bisschen)

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Foto: Alain Ramette © Philippe Ramette - ADAGP, Courtesy Galerie Xippas

Demokratie, Wohlstand, Toleranz: Wir leben in einer Gesellschaft, die freier kaum sein könnte. Dennoch fühlen wir uns ständig eingeengt, fremdbestimmt, unter Zwang. Wie ist dieser Widerspruch zu erklären? Sind es gerade die unüberschaubaren Möglichkeiten, die uns hemmen? Oder fehlt uns einfach der Mut, sie beim Schopfe zu packen? Totale Freiheit mag eine Illusion sein. Aber wie sähe ein wahrhaft selbstbestimmtes Leben heute aus? Und welchen Beitrag kann die Philosophie leisten, wenn es darum geht, den Weg in eine freiere Existenz zu finden?

— Philosophie Magazin


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dossier Wie werde ich (ein bisschen) freier?

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Von Wolfram Eilenberger

ie wollen ein Bordell, ein Magazin, eine Moschee oder ein Genlabor eröffnen? Den lieben Gott per Megafon auf dem Marktplatz verfluchen – oder auch nur die amtierende Kanzlerin? In Lappland eine neue Existenz beginnen? Ihre Geschlechtsteile im Internet kostenpflichtig zur Schau stellen? Worauf warten Sie? Kein Mensch, kein Staat wird Sie daran hindern! Nicht in unseren Breiten. Ein wenig umfassender ausgedrückt, stellt das heutige Kerneuropa einen Freiheitsraum dar, der in der Geschichte der Menschheit absolut einzigartig ist. Niemals zuvor lebte eine so große Anzahl von Menschen in einem politisch geeinten System, das seinen Bürgern eine auch nur annähernd vergleichbare Selbstverwirklichungsfülle geboten hätte. Ein geschärftes Bewusstsein für die atemberaubende Unwahrscheinlichkeit dieser kulturellen Leistung besteht indes nicht. Vielmehr herrscht gerade in Freiheitsfragen die real existierende Gleichgültigkeit. Das vollendete Desinteresse der deutschen Bevölkerung an ihrer Bundestagswahl ist dafür deutlichstes Zeichen. Dabei ist es schlicht nicht wahr, dass Freiheit immer die Freiheit des anderen ist. Zunächst und vor allem ist sie die eigene. Um Wirksamkeit zu entwickeln, muss sie vom Einzelnen wahrgenommen

In Freiheitsfragen herrscht in unserer Gesellschaft die real existierende Gleichgültigkeit und vor allem bewusst empfunden werden. Dieses Bewusstsein fehlt. Es ist wie betäubt. Woran mag das liegen? Wo wären die Gründe für diese tiefe Verleugnung unserer eigentlichen Daseinsquellen zu suchen? Ohne Fundament Wer sich diese Frage aus philosophischer Sicht stellt, dem öffnet sich bald ein Abgrund. Denn er müsste anerkennen, dass der Siegeszug der Freiheit, der basierend auf Grundannahmen der Aufklärung ab dem 18. Jahrhundert die westliche Welt erfasste, auf spezifischen metaphysischen, politischen, ökonomischen

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wie medialen Voraussetzungen beruhte, von denen heute keine einzige mehr plausibel zu machen ist. Diese Diagnose betrifft bereits das Problem der Willensfreiheit. In der Tradition der Transzendentalphilosophie wurde es mit einer konsequenten Zwei-WeltenLehre gelöst. Bei René Descartes galt noch ein strenger Dualismus von Geist und Körper, mit der Zirbeldrüse als mutmaßlichem Vermittlungsorgan. Der Geist konnte so „frei“ auf den Körper wirken. Auch Immanuel Kant erklärte jeden Menschen zum Bürger zweier Welten: einer fremdbestimmten Welt der Sinne und Begierden und einer Normenwelt des kategorischen Imperativ, zu der jedes Ich, ganz unabhängig von seiner leiblichen, historischen oder kulturellen Prägung, befreiend Zugang haben soll. Um Kants Konstrukt eines transzendentalen Ich steht es heute allerdings kaum besser als um Descartes’ Zirbeldrüse. Kein relevanter Bewusstseinsphilosoph vertritt noch einen strengen Dualismus von Geist und Körper. Kaum einer bringt es über sich, die Grundidee eines kantischen Freiheits-Ich argumentativ zu verteidigen. Nicht besser steht es um die zweite Säule der aufklärerischen Freiheitsrhetorik: das mit sogenannt „natürlichen Freiheitsrechten“ ausgestattete Individuum beziehungsweise Subjekt. Wer wollte heute noch argumentieren, dieses Subjekt sei aufgrund seiner „Gottgleichheit“ von eben diesem Gott mit unverlierbaren, wesensgemäßen Rechten ausgestattet worden? Seit Darwin geht uns das Wort „natürlich“ deutlich anders über die Lippen. Ein ewiges Wesen des Menschen gibt es aus evolutionärer Sicht schließlich genauso wenig wie ein ewiges Wesen der Giraffe (und damit auch nichts, was ewig aus diesem „Wesen“ folgen könnte.) Die heiligen „self-evident truths“ der amerikanischen Verfassung, als grundlegendes Freiheitsdokument der westlichen Welt, mag man bis heute als unbedingt zustimmungsfähige Setzung empfinden und verteidigen. Universal begründen lassen sie sich schwerlich. Zudem bleibt ihre mutmaßliche „Selbstevidenz“ von dem Verdacht belastet, bei dem angedachten Individuum sei es damals nicht etwa um den Menschen an sich, sondern um den Idealtypus eines weißen, selbstständigen Familienvaters und potenziellen Großkapitalisten gegangen. Wenn der französische Philosoph Michel Foucault, der wie kein anderer zur Dekonstruktion der Rede vom „auto— Philosophie Magazin


Foto: „Brigut apex”, 2007,Li Wei

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dossier Wie werde ich (ein bisschen) freier?

e f e i r b s e b e i L Wie frei willst Du

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mich haben?

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— Philosophie Magazin


� Die Freiheit des Einzelnen ist in der Liebe kaum zu wahren. Oder doch? Wie viel Freiraum können wir dem anderen zugestehen, ohne ihn zu verlieren? Alexandre Lacroix und Ariadne von Schirach erklären die Liebe – in Briefen, wie es sich für Romantiker gehört

Fotos: Boris Schmalenberger; Özgür Albayrak; Arnaud Février

Ariadne von Schirach ist Philosophin und arbeitet als freie Journalistin, Kritikerin und Autorin. Ihr Buch „Der Tanz um die Lust“ (Goldmann, 2007) war ein Bestseller. Im Frühjahr 2014 erscheint ihr neues Werk „Du sollst nicht funktionieren. Für eine neue Lebenskunst“ bei Klett-Cotta

Alexandre Lacroix ist Wirtschaftswissenschaftler und Philosoph. Der Chefredakteur des französischen Philosophie Magazine lebt in Paris und ist Autor zahlreicher Sachbücher und Romane. Zuletzt erschien: „Kleiner Versuch über das Küssen“ (Matthes & Seitz, 2013)

Geliebter,

ich will nicht frei sein von Dir. Ich bin es nicht. Du hast mich verändert. Ich habe mir Dein halbes Lächeln angewöhnt, ich habe mich an Deiner Sprache angesteckt, ich habe Dich beim Blicken beobachtet. Nie wieder werde ich dahinter zurückfallen können. Ich kann nicht mehr so tun, als hätte es Dich nie gegeben. Ich nehme in Kauf, dass es wehtut, wenn die Liebe geht. Ich habe Angst davor, weil es keinen Besseren geben kann als Dich. Meine Liebe hat keine Zahl. Es macht mich nicht freier, mir vorzustellen, es würde immer ein noch PassendeNr. 06 — Oktober/november 2013

Liebste,

über Deinen Vorschlag, ein wenig die Spielregeln zwischen uns zu ändern, uns für mehr Launen, für mehr Abwechslung zu öffnen und miteinander einen „Untreuepakt“ einzugehen, habe ich gründlich nachgedacht. Ich gebe zu, dass mich Dein Ansinnen zunächst einmal überrascht hat; es erschien mir kühn und pikant. Es warf Licht auf eine unerwartete Seite Deiner Persönlichkeit, eine übrigens recht verführerische. Wer lebt schon gern mit einem Engel zusammen? Und doch: Nein, ich glaube nicht, dass dieser Pakt eine gute Idee wäre. Was mir an Deinem Vorschlag einer „wilden Ehe“ missfällt, ist nicht ihre Amoralität, sondern dass sie, weit davon entfernt, uns freier zu machen, in meinen Augen eine Strategie darstellt, um die Zukunft zu kontrollieren. Als solche ist sie der authentischen Befreiung diametral entgegengesetzt. Ich würde sogar sagen, dass die Triebkraft, die insgeheim hinter solchen rationalistischen Übereinkünften steht, keineswegs Libertinage ist, sondern ein Puritanismus. Unterschwellig haftet ihnen ein Geruch von Protestantismus an. Doch ich fürchte, um Dir meine Sichtweise zu erklären, muss ich hier einen Umweg machen.

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rer auf mich warten, wenn ich selbst mich nur immer noch genauer kennenlernen und zugleich immer unerbittlicher verbessern würde. Das ist nicht Freiheit. Das ist Verblendung. Denn nicht in der Illusion der Möglichkeiten liegt die Freiheit, sondern im Recht zu wählen. Dabei geht es nicht nur um die Liebe. Es geht um das Leben. Ohne die Fähigkeit, eine gültige Wahl zu treffen, gibt es keine Richtung. Es ist nicht klar, wohin und zu wem man gehört. Man hat keine Heimat. Auch Du bist meine Heimat, Geliebter, wie kann ich frei von Dir sein wollen? Wie kann ich meine Ziele verfolgen, ohne an uns zu denken? Dieses neue Wesen, das Platz und Rücksicht und Bekenntnis braucht: das Wir. Die „Bühne der zwei“ hat der französische Philosoph Alain Badiou diesen gemeinsamen Raum genannt, und so richtig dieses Sprechen von einer Bühne auch ist, ist dieses Wir zugleich auch ein Drittes. Wir beide haben jetzt etwas, das wir bei unserem Weg vom Leben zum Tode berücksichtigen: uns. Denn was ist Liebe ohne Ewigkeit? Ich bin die Deine für immer – solange dieses Immer währt. Warum sollte ich frei sein wollen von Dir? Denn ich will mit Dir

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die wir meinen

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dossier Wie werde ich (ein bisschen) freier?

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— Philosophie Magazin


W ir h ab re en s ag ier o vie De en w le W rK a i ult r mi hlm tA ö u st ng glich rei rphil s k o te n ü sop t, De eite n h s be r d Byu orien wie n ie wa ng-C tieru ie z uv n hre hu Da l H g un or. D sG n Gr es pr ün an u d Bu och äc hf rno ans de nd üh rte tat u ut d ns ie W . olf ts S e ra ch rer ie l m Ei us Fre rifts len tvo be i t he rg elle ll z er i tsk Fo rin un tos r Th utz ise vo nS ea en eb ast , Do ian rn Hä n el

Nr. 06 — oktober/november 2013

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Die Philosophen

Jan Assmann

„Es gibt keine wahre Religion“ Ägypten ist die eigentliche Wiege der europäischen Kultur, monotheistische Religionen neigen zur Gewalt, der Holocaust wird die Religion der Zukunft. Der Ägyptologe Jan Assmann gehört zu den führenden und thesenstärksten Kulturtheoretikern unserer Zeit. Gespräch mit einem Mann, dessen Gedächtnis mehr als 6000 Jahre in die Vergangenheit reicht Das Gespräch führten Wolfram Eilenberger und Svenja Flaßpöhler Fotos von Gene Glover Ein Sommertag in Berlin. Jan Assmann, eigentlich in Konstanz ansässig, ist in diesen Tagen zu Besuch bei seinem Sohn in Kreuzberg. Der Anlass: Assmanns 75. Geburtstag. Geboren im Jahr 1938, erlebte der Ägyptologe den Zweiten Weltkrieg als Kind. Das Schweigen angesichts der Schoah prägte ihn als Jugendlichen tief, seine Theorie des Gedächtnisses findet hier ihre frühesten Wurzeln. Und doch hat Assmann sich im Laufe seines akademischen Lebens immer stärker einem ganz anderen Thema zugewandt: Ägypten – ein Land, das aktuell kurz vor einem Bürgerkrieg steht und auf eine jahrtausendealte Geschichte zurückblickt, die uns Europäer mehr geprägt hat, als wir denken. Assmann erscheint im Türrahmen, weiße Haare, Fliege, strahlend blaue Augen – eine Klarheit des Blicks, die den Willen zur Thesenschärfe, gar politischen Provokation verrät. Herr Assmann, Sie haben als Ägyptologe eine der einflussreichsten Kulturtheorien unserer Zeit entwickelt, die Theorie des „kulturellen Gedächtnisses“. Können Sie sich noch erinnern, worin für Sie anfangs die spezifische Faszination lag? Die Theorie des kulturellen Gedächtnisses habe ich zusammen mit meiner Frau, Aleida Assmann, entwickelt. Aber was die Ägyptologie betrifft, bin ich da eher hineingestolpert. Ich belegte an der Uni einen Kurs über Hieroglyphen und dann, nun, dann hat es mich einfach nicht

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mehr losgelassen. Das Feld war noch weitgehend unerschlossen, ganz im Gegensatz zu Latein und Griechisch, wo jeder Text und jeder Stein schon 100-mal umgedreht worden waren. In der Ägyptologie gab es noch vieles ganz neu zu entdecken, sie war wie geschaffen für den stürmischen Hochmut eines 18-Jährigen. Außerdem war die Auseinandersetzung mit den Hieroglyphen nicht zu trennen von der Grab- und Tempelkultur, der Wirtschaftsgeschichte, religiösen und auch rechtlichen Aspekten. Der Stoff war also von Anfang an spürbar auf die Gesamtheit einer Kultur angelegt. So etwas wie ausgearbeitete Kulturtheorien, ganz zu schweigen von dem die Geisteswissenschaften heute dominierenden Begriff der Kulturwissenschaft, gab es damals aber noch nicht. Große Kulturtheorien – beispielsweise Oswald Spengler – waren zwar damals in Mode, aber Kulturwissenschaft, also die Verbindung mit konkreten Sprachen und Kulturen, gab es nicht. Entscheidend war für mich gewiss das Jahr 1960/1961, als ich in Paris studierte. Dort bin ich zu einem in der Wolle gefärbten Strukturalisten geworden. Roman Jakobson, Claude Lévi-Strauss, das waren unsere Hausgötter. Wie lautet die Grundfrage, auf die Ihre Theorie des kulturellen Gedächtnisses eine Antwort geben will?


Biografie

Jan Assmann

1938: Geburt in Langelsheim 1965: Promotion in Ägyptologie, Gräzistik und klassischer Archäologie 1976-2003: Lehrstuhl für Ägyptologie an der Universität Heidelberg, seit 1978 Leiter eines Forschungsprojekts in Luxor 1998: Deutscher Historikerpreis seit 2005: Honorarprofessur für allgemeine Kulturwissenschaft und Religionstheorie an der Universität Konstanz

Nr. 06 — oktober/november 2013

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— Philosophie Magazin


Die Philosophen

D e r

K l a s s i k e r

Goethe Gestalte dein Werden!

Eine ganze Epoche wurde nach ihm benannt. Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832) dominierte das Geistesleben einer Zeit, die auch für die deutsche Philosophie von entscheidender Bedeutung war. Ob Herder oder Schopenhauer, Schiller oder Fichte, mit allen diesen Denkern stand der Weimarer Geheimrat und Dichterfürst in engem kreativen Austausch. In seinen lebenslangen naturphilosophischen Studien suchte Goethe einen Mittelweg zwischen Naturalismus und Idealismus, der auch für heutige Problemstellungen wichtige Impulse enthält. Nicht zuletzt verkörperte der Autor des „Werther“ und des „Faust“ bereits für seine Zeitgenossen eine Lebensklugheit und geistige Wachheit, die gerade in Zeiten der totalen Zerstreuung und Zermürbung den Weg in ein freieres Werden weisen können Illustrationen von Julia Pfaller

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Die Philosophen Goethe: Was bleibt

Interview mit Rüdiger Safranski

„Goethe war ein genialer Ignorant“ Poet, Politiker, Naturphilosoph und Sinnenmensch. Trotz vielfältigster Interessen bewahrte sich Goethe stets den Sinn für das Ganze seiner Existenz – und zeigt uns bis heute, wie man das eigene Leben zum Kunstwerk gestalten kann Das Gespräch führte Wolfram Eilenberger

Herr Safranski, worin bestand Ihre Motivation, jetzt noch einmal eine mehr als 600-seitige Biografie über Goethe zu ­schreiben? Ein Buch kann nur aus der Leidenschaft für den behandelten Autor entstehen, nur dann kann es gelingen und auch ansteckend wir-

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ken. Die Erfahrung habe ich immer wieder gemacht – und ich habe nun ja schon einige Biografien geschrieben. Für mich selbst bedeutete das Projekt eine Art Abschluss. Für einen Biografen ist Goethe schon so etwas wie der Mount Everest. Neben allem, was mir Goethe geistig bedeutet, hatte das für mich deshalb auch ein sportives Moment. Ihr Zugang ist ein besonderer. Sie verzichten in der Darstellung ganz auf Sekundärliteratur oder andere Biografien, sondern nähern sich Goethe allein auf Basis seiner eigenen Werke, Tagebücher, Gespräche und vor allem Briefe. Sekundärliteratur habe ich sehr wohl zur Kenntnis genommen und mich auch davon anregen lassen, und doch war es entscheidend, die eigene Bühne aufzuschlagen. Ich wollte mich frei machen von all dem – das soll jetzt nicht abfällig klingen – Gemurmel

über Goethe und mir die Bühne frei räumen für eine ganz frische Begegnung. Hier bin ich und da ist Goethe. Kann man diesem Mann überhaupt auf Augenhöhe begegnen, sich mit ihm in ein wirklich dialogisches Verhältnis setzen? Doch, ja. Man muss nur aufpassen, dass Augenhöhe nicht einfach „kumpelhaft“ bedeutet, was ja ein bisschen die Krux unserer Tage ist, so ein falsch verstandener Demokratismus … Nein, es muss klar sein, was Rang ist. Da muss schon der Teppich ausgerollt werden. Aber es soll natürlich auch keine Hagiografie werden, keine Heiligengeschichte, dann wird es etwas Starres. Ideal ist eine souveräne Augenhöhe, eine besondere Aufmerksamkeit für die Vieldeutigkeit einer Gestalt, dazu gehört auch Behutsamkeit – Aufmerksamkeit ist für Goethe ja ein Schlüsselbegriff seines Denkens. — Philosophie Magazin

Illustrationen: Julia Pfaller; Foto: Patrick Seeger/dpa

Rüdiger Safranksi ist Philosoph und Schriftsteller, vor allem bekannt durch Biografien über E. T. A. Hoffmann, Schopenhauer, Schiller, Nietzsche und Heidegger. Ebenfalls veröffentlichte er Bücher über menschliche Grundfragen, wie unter anderem über das Böse und die Wahrheit. Im August 2013 erschien sein Buch „Goethe – Kunstwerk des Lebens“ (Hanser Verlag)


Goethe hat seinem eigenen Werden extrem viel Aufmerksamkeit geschenkt, bis zur Beanspruchung einer Art Deutungshoheit über sein eigenes Leben. Ja, das ist eine große Verlockung und natürlich etwas, das für Goethe ein Ziel war: das ganze Leben, gar über den eigenen Tod hinaus, reflektierend einzuholen, durch „wiederholte Spiegelungen“, wie er dieses Verfahren nannte. Aber natürlich war er realistisch genug zu wissen, dass sich das nicht einhalten ließe. Bei Goethe spielt aber auch eine zweite Sache hinein, nämlich seine Überzeugung, dass man sein eigenes Leben unter eine Art Privatmythos stellen muss, um ihm überhaupt eine Steigerung und eigene Gestalt geben zu können, selbst wenn es sich dabei letztlich um eine Selbsttäuschung handeln sollte. Bei jeder Selbsttäuschung hätte er gesagt: „Warum weckt ihr mich aus diesem Traum, wenn er mich steigert?“ Das ist dieser raffinierte Zug an Goethe, den Nietzsche so bewundert hat. Nietzsche fragt ja „Wahrheit … was ist Wahrheit? Wahrheit ist, was mich fördert.“ Der Ausdruck „was mich fördert“ war die Achse von Goethes Existenz. Er hat schlichtweg – und da waren seine Instinkte wunderbar intakt – nicht akzeptiert, dass er sich freiwillig mit etwas konfrontieren soll, was ihn nicht fördert. Man kann diese Form von Pragmatismus ja auch narzisstisch nennen. Jedenfalls liegt diese Haltung auf den ersten Blick denkbar weit vom philosophischen Imperativ des „Erkenne dich selbst!“ entfernt. Goethe sagt selbst ausdrücklich, „Ich konnte mit diesem Satz ‚Erkenne dich selbst‘ nie etwas anfangen!“ „Unsinn“, sagt er, „man kann sich nicht selbst erkennen. Ich habe mich immer nur über die Welt erkannt, immer nur über das, was ich selbst getan habe.“ Er meint hier nicht nur ein konkretes weltliches Eingreifen, sondern auch geistiges Handeln, wie etwa zu schreiben und zu dichten. Eben etwas ins Werk zu setzen. Grüblerisch in sich selbst etwas entdecken, davon hielt er gar nichts. Das führt zurück auf die Frage, was einem „förderlich“ ist. Für Goethe bedeutete es ganz konkret, Umstände zu schaffen und aufzusuchen, in denen er handeln konnte. Erst mal Handbremse lösen, losfahren und dann schauen, wer man ist. So läuft das Selbsterkenntnisprogramm bei ihm. Ein Selbstverständnis, das ganz auf die Zu­­kunft gerichtet ist, Entwurfscharakter hat. Nr. 06 — Oktober/November 2013

Ihn interessierte am Vergangenen immer nur, was ihm eine Anschubfinanzierung für die Gegenwart gewährte. In die Vergangenheit greifen, um daraus für die Zukunft etwas zu machen, das war seine Strategie. Klassisch in seiner Autobiografie „Dichtung und Wahrheit“. Man hat viel zu wenig genau über diesen Titel nachgedacht. Es heißt ja nicht nur, dass er einiges darin erdichtet hat, sondern es ging ihm darum, unter Verwendung seiner gelebten Vergangenheit einen neuen Goethe zu schaffen, eine Figur, die ganz aus Literatur gemacht ist. Das ist dann ein Werk. Ihr Goethe-Buch, es trägt nicht zufällig den Untertitel „Kunstwerk des Lebens“, betont gerade das Beispielhafte an Goethes schöpferischem Entfaltungsprozess. Im Hintergrund stand gewiss auch die Frage, was es heißen kann, ein Individuum, ein unverwechselbares Individuum zu werden. Das klingt zunächst fast banal, aber tatsächlich wird dies heute immer schwieriger, weil wir alle in Situationen leben, die uns das Vernetzte als Ideal des Lebens zumuten – der soziale Durchlauferhitzer. Mit Goethe geht es aber nicht darum, was im Ganzen enthalten ist, sondern erst einmal darum, selbst ein Ganzes zu werden. Das erfordert eine lebenskluge Technik des Sich-Öffnens und -Verschließens, auch des Ignorierens. Goethe war ein genialer Ignorant. Das Leben ist zu kurz, um sich alles

für seine Seelengeschichten, eine Frau für das Bett, eine andere für die höheren Ambitionen, also die Frau von Stein, sie alle dirigierte er mit seinem Charisma und seiner Berühmtheit sehr geschickt für sein eigenes Werden. Das klingt kalt, fast instrumentell, jedenfalls nicht nach wahrer Freundschaft. Die Beziehung zu Schiller ist ein ganz gutes Modell. Da sieht man, wie ein instrumentelles Verhältnis, wenn es gut funktioniert, sich erweitert in ein totaleres Verhältnis tiefer Freundschaft. Aber das kann man nicht erzwingen. Das war ja eine andere große Kunst Goethes: abwarten, was erwächst. Diese Haltung setzt ein tiefes Grundvertrauen in die Welt und ihre Prozesse voraus. Ja, diese Grundgelassenheit bei Goethe ist einfach umwerfend, und auch diese fundamentale Selbstbejahung. Er ist ein Paradebeispiel dafür, dass ein Leben gelingen kann, wenn es gewissermaßen von einem Ja fundiert ist. Diese Grundbewertung ist ihm im Elternhaus zuteil geworden, das ist sein existenzieller Sockel. Dieses psychologische Selbst- und Weltvertrauen hat er in seinem Naturbegriff dann auf eine höhere Ebene gehoben. Er sah die Natur nicht als uns feindlich gesinnt an, sondern als etwas Tragendes, als einen Freund. Deswegen interessierte ihn als Widerpart der junge Schopenhauer, der ja

„Erst mal Handbremse lösen, losfahren und dann schauen, wer man ist. So funktioniert Selbsterkenntnis bei Goethe“ anzueignen, man muss auswählen. Das erfordert Kühnheit, Frechheit, manchmal auch den Trotz zu sagen: „Die Zeitung lasse ich jetzt erst mal eine Woche liegen.“ Was heute hieße, seinen Facebook-Account einen Monat nicht anzusehen. Aber eben nicht um sich einzumauern, sondern um sich allein auf das zu konzentrieren, worauf man produktiv antworten kann! Die ganze gesellige Kultur Goethes war von der Fähigkeit geprägt, auch Nein sagen zu können, was man ihm durchaus zum Vorwurf gemacht hat. Wenn zum Beispiel das philosophische Interesse erwachte, dann suchte er mal das Gespräch mit Fichte oder mit dem jungen Schopenhauer, dann hat er den Zelter

nun von einer grundsätzlichen Verfeindung des Menschen mit der Natur ausging. Seine eigene, sozusagen vorphilosophische Intuition fand Goethe dann in Schellings Naturphilosophie ausgesprochen, insbesondere in dessen Satz: „Die Natur schlägt dem Menschen ihre Augen auf und bemerkt, dass sie da ist.“ Wie würden Sie Goethes Naturphilosophie näher charakterisieren? Er war weder Naturalist oder, wie man heute sagen würde, reduktiver Materialist noch war er Idealist. Die einen definieren alles vom Geist her, können aber die Materie nicht denken, kommen also nie richtig zur Natur … die anderen definieren alles von der Natur her und bringen dann den Geist nicht mehr unter,

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„Der Fetischcharakter der Ware und sein Geheimnis“ Aus: „Das Kapital: Kritik der politischen Ökonomie“, Erster Band, Kapitel I, 4

# 03/2012 03 / 2012 Dossier: Sind Frauen moralischer als Männer ? Klassiker: Nietzsche

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Künstliche Befruchtung

„Schreiben ist ein Spiel mit dem Tod“

Eltern werden um jeden Preis?

Von den Amazonen zu den Femen Welche Wahrheit birgt der Busen?

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CAM US

New York des Menschen 1946 in am 28. März Die Krise Rede, gehalten

Originaltext

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Die Macht des Willens illeens Ist das Leben sinnlos? 4 192451 806907

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„Die Welt als Wille und Vorstellung" Buch IV, Paragraf 57

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