WINTERAUSGABE NR. 01 / 2014
Woher kommt das
Böse ? Es erschüttert unsere Welt, ist das radikal Fremde. Doch wenn andere ihm verfallen, kann es dann auch mich erfassen?
Pussy Riot < > Slavoj Žižek
Wie stabil ist das System ? Ein Briefwechsel aus dem Gefängnis
Ein Tag als perfekter Utilitarist
Peter Singer unterzieht seine umstrittene Ethik dem Praxistest
„Selbstverwirklichung ist zur Zumutung geworden“ Gespräch mit Rahel Jaeggi
IGES 16-SEIT T L BOOK E Nr. 13
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Deutschland 6,90 € Österreich: 7 €; Schweiz: 12,50 SF; Benelux: 7,40 €. Italien & Spanien: Auf Nachfrage.
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DENKER IN DIESEM HEFT Seite 16 >
Redaktion: Brunnenstraße 143, 10115 Berlin, Deutschland Tel.: +49 (0)30 / 60 98 58 215 E-Mail: redaktion@philomag.de Chefredakteur: Dr. Wolfram Eilenberger (V.i.S.d.P.) Stv. Chefredakteurin: Dr. Svenja Flaßpöhler Berater: Alexandre Lacroix Art-Direktion: Ralf Schwanen Layout: Christina Taphorn Bildredaktion: Michael Biedowicz Verantwortliche Redakteure: Dr. Jutta Person (Büchersektion), Marianna Lieder Schlussredaktion: Sandra Schnädelbach Lektorat: Christiane Braun Internet: Cyril Druesne Redaktionsassistenz: Katharina Schenk Praktikant: Robert Werner Wollschlaeger Autoren in diesem Heft: Dr. Barbara Bleisch, Prof. Dr. Knut Berner, Cédric Enjalbert, Christina Feist, Dr. Emmanuel Fournier, Prof. Dr. Pierre Guenancia, Dr. Norbert Haas, Dr. Anja Hirsch, Stefan Hochgesand, Dr. Rhéa Jean, Prof. Dr. Markus Krajewski, Dr. Hans-Peter Kunisch, Charles Pépin, Prof. Dr. Robert Pfaller, Bernd Piringer, Prof. Dr. Manfred Schneider, Gert Scobel, Hilal Sezgin, Nicolas Tenaillon, Katharina Teutsch, Nadja Tolokonnikova, Tomi Ungerer, Prof. Dr. Jean-Didier Vincent, Dr. Eva Weber-Guskar, Jürgen Wiebicke, Prof. Dr. Franz M. Wuketits, Prof. Dr. Slavoj Žižek Übersetzer: Till Bardoux Titelbild: Luis Mariano Gonzáles/getty Verlag: Philomagazin Verlag GmbH Brunnenstraße 143, 10115 Berlin, Deutschland Tel.: +49 (0)30 / 60 98 58 219 E-Mail: info@philomag.de Geschäftsführer und Verleger: Fabrice Gerschel Herausgeberin: Anne-Sophie Moreau Vertrieb: AS-Vertriebsservice GmbH Süderstraße 77, 20097 Hamburg, Deutschland www.as-vertriebsservice.de Litho: tiff.any GmbH Druck: NEEF + STUMME premium printing GmbH & Co. KG, Wittingen Anzeigen: Jörn Schmieding-Dieck – MedienQuartier Hamburg Tel.: +49 (0)40 / 32 50 745 E-Mail: joern.schmieding-dieck@mqhh.de www.medienquartierhamburg.de Nielsen IV: Markus Piendl – MAV GmbH Tel.: +49 (0)89 / 74 50 83 13 E-Mail: piendl@mav-muenchen.com Anzeigen Buchverlage/Kultur/Seminare: Thomas Laschinski – PremiumContentMedia Tel.: +49 (0)30 / 60 98 59 30 E-Mail: advertisebooks@laschinski.com
Seite 50 >
Susan Neiman
Die amerikanische Philosophin beleuchtet in ihrem Buch „Das Böse denken: Eine andere Geschichte der Philosophie“ (Suhrkamp, 2004) das Böse als zentrales Thema der Moderne. Im Dossier erläutert sie, warum es notwendig und gleichzeitig gefährlich ist, das Böse verstehen zu wollen
Seite 32 >
Peter Singer
Der australische Philosoph und Professor für Bioethik an der Princeton University ist überzeugter Utilitarist und einer der umstrittensten Moralphilosophen der Gegenwart. Für das Philosophie Magazin hat er sich dem Praxistest unterzogen: Könnte er einen Tag lang nach seinen eigenen Prinzipien leben?
Seite 62 >
Rahel Jaeggi
„Kritik von Lebensformen“ (Suhrkamp), so lautet der Titel ihres im Dezember erscheinenden Werkes. Im großen Gespräch erklärt die Professorin für praktische Philosophie an der Humboldt-Universität Berlin, warum unser heutiges Verständnis von Selbstverwirklichung eine Zumutung ist
Seite 52 >
Tomáš Sedlá ek
Für sein Buch „Die Ökonomie von Gut und Böse“ (Hanser, 2012) erhielt der Ökonom den Deutschen Wirtschaftsbuchpreis. Der Chefvolkswirt der größten tschechischen Bank erklärt im Dossier, warum die Logik des „immer besser“ das Böse des 21. Jahrhunderts ist
Seite 79 >
Hilal Sezgin
Die freie Journalistin arbeitet unter anderem für die ZEIT und die Süddeutsche Zeitung. Ihr neues Buch „Artgerecht ist nur die Freiheit. Eine Ethik für Tiere“ erscheint im Frühjahr 2014 bei C. H. Beck. Descartes‘ Behauptung, Tiere seien Automaten, kommentiert Hilal Sezgin im Autorendossier
Seite 47 >
Franz M. Wuketits
Der österreichische Philosoph und Biologe lehrt an der Universität Wien. Sein jüngstes Werk: „Animal irrationale: Eine kurze (Natur‑)Geschichte der Unvernunft“ (Suhrkamp, 2013). Aus evolutionsbiologischer Perspektive widmet er sich im Dossier der Frage: „Sind wir von Natur aus böse?“
Seite 28 >
Rhéa Jean
Die gebürtige Kanadierin und promovierte Philosophin arbeitet an der Universität Luxembourg. In ihrer Doktorarbeit (2011) hat sie sich mit der eingeschränkten Autonomie von Prostituierten auseinandergesetzt. Im „Pro und Contra“ behauptet sie, Prostitution widerspreche der Menschenwürde
Seite 52 >
Jay M. Bernstein
Presse- und Öffentlichkeitsarbeit: Sabine Schaub Tel.: +49 (0)30 / 31 99 83 40 E-Mail: s.schaub@schwindkommunikation.de www.schwindkommunikation.de
Der Philosoph lehrt an der New School For Social Research in New York und forscht an der American Academy in Berlin über Moral und Folter. Ob und inwiefern Hannah Arendts Konzept des „banalen Bösen“ heute noch aktuell ist, erläutert er im Dossier
Abo-Service: Philosophie Magazin Leserservice PressUp GmbH Postfach 70 13 11 22013 Hamburg Tel.: +49 (0)40 / 41 44 84 63 Fax: +49 (0)40 / 41 44 84 99 E-Mail: philomag@pressup.de
Seite 56 >
Online-Bestellungen: www.philomag.de/abo
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Slavoj Žižek
Der Philosoph und Kapitalismuskritiker ist einer der provozierendsten Denker unserer Zeit. Auf Anregung des Philosophie Magazins ist er mit der inhaftierten Pussy-Riot-Aktivistin Nadja Tolokonnikova in einen Briefwechsel getreten. Ihren Austausch über Revolution und Wahrheit lesen Sie im Zeitgeist
Rüdiger Safranski
Der vielfach ausgezeichnete Autor ist Honorarprofessor für Philosophie an der Freien Universität Berlin. Mit dem „Tatort“-Darsteller und Gefängnisarzt Joe Bausch diskutiert er im Heft über die voyeuristische Lust am Bösen. Buch zum Thema: „Das Böse oder Das Drama der Freiheit“ (Hanser, 1997) Das Philosophie Magazin ist erhältlich im Bahnhofsund Flughafenbuchhandel in Deutschland
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Die nächste Ausgabe erscheint am 16. Januar 2014 — PHILOSOPHIE MAGAZIN
Fotos: Serge Picard/Agence VU, Katja Hoffmann/laif, Richard Perry/Redux/laif, Gene Glover, Markus Kirchgessner/laif, Galuschka/Ullsteinbild, Evelin Frerk, American Academy in Berlin, Ralf Jürgens
Zweimonatlich Nr. 01 – Winterausgabe 2014
INHALT
ZEITGEIST 06 07 08 10 12 16
> > > > > >
Leser fragen Barbara Bleisch antwortet Tomi Ungerer erklärt Kindern die Welt Leserbriefe Sinnbild Radar Dialog Briefe aus dem Gefängnis Exklusiv: Nadja Tolokonnikova, inhaftiertes Mitglied der russischen Künstlergruppe Pussy Riot, und Neomarxist Slavoj Žižek in einem faszinierenden Briefwechsel über den Kampf gegen das System
28 > Pro & Contra Widerspricht Prostitution der Menschenwürde? 30 > Lockerungen Freier denken mit Robert Pfaller.
Diesmal: Nie wieder Nanny State!
32 > Perspektive Ein Tag im Leben des perfekten Utilitaristen Ist es möglich, sich 24 Stunden streng an die eigenen ethischen Prinzipien zu halten? Peter Singer, rigoroser Utilitarist und einer der umstrittensten Moral- philosophen unserer Zeit, hat sich auf das Gedankenexperiment eingelassen
36 > Brauchen wir Baukasten-Handys ?
Markus Krajewski testet ein neues Produkt
DOSSIER 38 >
Woher kommt das Böse ? Es übersteigt unsere Vorstellungskraft und erschüttert unser Vertrauen in die Welt. Aber wo findet es seinen Ursprung? In Gott? Der Natur? Gar im Wesen des Menschen selbst? Dossier über eine unheimliche Macht Mit Beiträgen von Joe Bausch, Knut Berner, Norbert Haas, Susan Neiman, Rupert Neudeck, Rüdiger Safranski, Franz M. Wuketits und anderen
Fotos: Guillaume Herbaut/Institute; Bob London; Bara Prasilova; Karine Daisay; Hector Mediavilla/Picturetank/Agentur Focus
DIE PHILOSOPHEN
62 > Das Gespräch Rahel Jaeggi: „Unser Verständnis von Selbstverwirklichung
ist eine Zumutung.“ Die Berliner Philosophin über Pathologien der Arbeit, scheiternde Selbstentwürfe und entfremdete Mütter
68 > Beispielsweise In Stein gemeißelt: Aristoteles erklärt anhand eines
Marmorblocks die Ursachen des Daseins
69 > Was soll das? „In diesem Hauptteile von Afrika kann eigentlich keine
Geschichte stattfinden“, meint Hegel – pure Arroganz?
70 > René Descartes Er ist der Vater der modernen Philosophie. In seinen
Dieses Heft enthält eine 16-seitige Sammelbeilage: „Meditationen über die Grundlagen der Philosophie“ (1641) von René Descartes
„Meditationen“ erhebt der radikale Skeptiker das Bewusstsein zur einzigen Insel der Gewissheit. Sein Leib-Seele-Dualismus ebnete der heutigen Neurowissenschaft den Weg Mit Beiträgen von Emmanuel Fournier, Pierre Guenancia, Manfred Schneider, Hilal Sezgin, Jean-Didier Vincent
BÜCHER
80 > Sakko sucht Strumpfhose Barbara Vinken über das feminine
Versprechen der Mode
82 > 300 Jahre Diderot Eine Hommage an einen Enzyklopädisten der
ersten Stunde
philosophisches Weihnachten
85 > Scobel.mag Die Kolumne mit Durchblick 88 > Der Tipp zum Typ Acht passgenaue Buchgeschenke für ein 90 > Agenda Philosophische Termine 95 > Spiele Das philosophische Politikquiz 97 > Das Gare ist das Wahre Philosophisch kochen mit Bernd Piringer.
Dieses Mal: Kants Königsberger Betenbartsch
98 > Sokrates fragt Sébastien Tellier antwortet NR. 01 — DEZEMBER/JANUAR 2013/14
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ZEITGEIST DIALOG
Nadja Tolokonnikova
Fotos: Mikhail Voskresensky/Reuters, Serge Picard /Agence Vu
Geboren 1989 und Mutter einer fünfjährigen Tochter, studierte sie Philosophie an der Universität von Moskau und wurde Teil der künstlerischen Avantgardeszene der russischen Hauptstadt. Die Politaktivistin ist Gründungsmitglied der Gruppe Pussy Riot und verbüßt derzeit eine zweijährige Haftstrafe in einem mordwinischen Arbeitslager (Ural). Verurteilt wurde sie für eine Kunstaktion auf dem Altar der Moskauer Christ-Erlöser-Kathedrale im Februar 2012, mit ihrer Entlassung ist im Verlauf des Jahres 2014 zu rechnen
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Slavoj Žižek
Geboren 1949 in Ljubljana, ist er einer der schillerndsten und populärsten Denker unserer Zeit. Žižeks philosophische Schriften und Vorträge, von Marxismus wie Psychoanalyse gleichermaßen geprägt, kreisen um die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit revolutionären Handelns im globalen Spätkapitalismus. Jüngste Publikationen auf Deutsch: „Das Jahr der gefährlichen Träume“ (Fischer, 2013), „Die bösen Geister des himmlischen Bereichs“ (Fischer, 2013) und „Gewalt – Sechs abseitige Reflexionen“ (Laika, 2011)
— PHILOSOPHIE MAGAZIN
Briefe aus dem Gefängnis Wie lässt sich der Kapitalismus besiegen ? Als Nadja Tolokonnikova, inhaftiertes Mitglied der russischen Künstlergruppe Pussy Riot, zu erkennen gab, wie sehr sie den Philosophen Slavoj Žižek bewundert, regten wir einen Briefaustausch zwischen den beiden an. Die junge Aktivistin widerspricht darin den Analysen des neokommunistischen Theoriepapstes energisch und entwirft ein neues Bild vom revolutionären Kampf gegen das System Journalistische Umsetzung: Michel Eltchaninoff Aus dem Russischen von Brian Poole; aus dem Englischen von Michael Ebmeyer
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rst wenige Monate sind vergangen, da Nadja Tolokonnikova das Schweigen über ihre Internierung brach und aus Protest gegen die unwürdigen Bedingungen in ihrem mordwinischen Arbeitslager in den Hungerstreik trat. Ihr Mut und ihre Tapferkeit riefen weltweit Bewunderung hervor. Weit weniger bekannt jedoch ist, wie sehr Tolokonnikovas Kunst- und Politikverständnis von einer intensiven Auseinandersetzung mit den Schriften von Karl Marx, Nikolai Berdjajew und nicht zuletzt von Slavoj Žižek geprägt ist. Mit Unterstützung unserer russischen Kollegen der Zeitschrift New Times gelang es, in Form von Briefen einen Dialog zwischen der russischen Punkikone und dem derzeit einflussreichsten Denker des Neokommunismus zu stiften. Die Briefe (Žižek schrieb auf Englisch) wurden im Zeitraum von Januar bis Juli 2013 geschrieben und mussten den russischen Zensurbehörden vorgelegt werden. Im Jahr 2011 hatte die Band Pussy Riot (dt. Muschi-Krawall) durch provokante Auftritte an
NR. 01 — DEZEMBER/JANUAR 2013/14
öffentlichen Orten wie Metrostationen oder auf dem Roten Platz in Moskau in In- und Ausland großes Aufsehen erregt. Für eine „Punkgebet“ genannte Protestaktion auf dem Altar der Moskauer Christ-Erlöser-Kathedrale im Februar 2012 wurden vier Bandmitglieder verhaftet und im Juni wegen „Rowdytums“ rechtskräftig verurteilt. Zwei Bandmitglieder, unter ihnen Tolokonnikova, befinden sich noch immer in Haft. Was aber den Starphilosophen Žižek betrifft – von dem man nicht ganz sicher sein kann, ob es sich bei seiner Lobpreisung des Maoismus um einen tief ironischen Scherz oder aber heiligen Ernst handelt –, so genießt er, nach allem, was wir wissen, sein Leben in Freiheit. Der vorliegende Austausch – sechs handgeschriebene Briefe – kreist um die Frage: Mit welchen Mitteln lässt sich das kapitalistische System noch wirksam erschüttern? Für Žižek scheinen gerade kreative und unvermutete Störungen das System zu beleben, zu befeuern und damit letztlich zu stützen. Dieser postmodernen Skepsis setzt die inhaftierte Protestkünstlerin eine urmarxistische Einsicht entgegen: Der lustbetonte und extrem flexible Kapitalismus verdankt seine Funktionsfähigkeit einem zu oft übersehenen, starren systemischen Überbau, nämlich der Ausbeutung und Unterdrückung der breiten Masse durch totalitäre Regime wie denen in China … oder Russland. Was als Austausch zwischen Meister und Schülerin beginnt, entwickelt sich zu einem philosophischen Duell auf Augenhöhe. Einigkeit besteht zwischen den beiden allein in der Überzeugung, dass sich die Zukunft des Kapitalismus in den ehemals kommunistischen Ländern des Ostens am deutlichsten offenbart.
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ZEITGEIST DIALOG
10. Juni 2013
Liebe Nadja,
ingangs möchte ich gestehen, dass mich Deine Antwort zutiefst beschämt hat. Du schriebst: „Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen darüber, dass Sie in theoretischen Gedanken schwelgen, während ich ‚reale Entbehrungen‘ zu ertragen habe.“ Dieser schlichte Satz machte mir klar, wie falsch die Schlusswendung in meinem letzten Brief war. Meine Sympathiebekundung für Deine Notlage lief hinaus auf: „Ich habe das Privileg, echte Theorie zu machen und Dich dabei zu belehren, während Du im Wesentlichen dafür gut bist, Deine Elendserfahrung zu schildern …“ Dein letzter Brief zeigt überwältigend, dass Du viel mehr bist als das, nämlich eine ebenbürtige Partnerin im Theoriedialog. Ich möchte Dich also vielmals um Entschuldigung bitten für diesen Beweis, wie tief der männliche Chauvinismus verankert ist, und nun mit unserem Dialog fortfahren und auf unser entscheidendes „Différend“ eingehen. Dein Hauptargument ist, die antihierarchischen Strukturen und Rhizome des Spätkapitalismus seien eine trügerische Hülle, unter der sich eine hierarchisierte materialisierte Produktionsgrundlage verbirgt. Darin bin ich ganz Deiner Meinung – bis zu einem gewissen Punkt. Ich stimme natürlich zu, dass unter der hochgejubelten postmodernen Dynamik des globalen Kapitalismus fest verankerte Strukturen der Herrschaft und Ausbeutung bestehen. Doch sind diese Strukturen wirklich noch die altbekannte statische, zentralisierte und hierarchisierte materielle Produktionsgrundlage? Erlaube mir, hier eine bekannte Passage aus dem „Kommunistischen Manifest“ von Marx und Engels zu zitieren, die heute gültiger denn je ist: „Die Bourgeoisie kann nicht existieren, ohne die Produktionsinstrumente, also die Produktionsverhältnisse, also sämtliche gesellschaftlichen Verhältnisse fortwährend zu revolutionieren. (…) Die fortwährende Umwälzung der Produktion, die ununterbrochene Erschütterung aller gesellschaftlichen Zustände, die ewige Unsicherheit und Bewegung zeichnet die Bourgeoisieepoche vor allen anderen aus (…) Alles Ständische und Stehende verdampft, alles Heilige wird entweiht.“ Diese irrsinnige Dynamik des globalen Kapitalismus macht wirksamen Widerstand gegen ihn so schwer und frustrierend. Der Zorn, der sich heute überall in Europa entlädt, ist, wie Franco Berardi (ital. Marxist und Aktivist, d. Red.) es ausdrückte, „machtlos und inkonsequent, weil Bewusstsein und koordinierte Aktion jenseits der Reichweite unserer Gesellschaften liegen. Sehen wir die europäische Krise an: Nie zuvor sind wir so machtlos gewesen. Nie waren Intellektuelle und Aktivisten so sprachlos, so unfähig, eine mögliche neue Richtung zu weisen.“ Denke an die große Protestwelle, die 2011 über ganz Europa schwappte, von Griechenland und Spanien bis London und Paris. Elend und Unzufriedenheit der Protestierenden wurden in einen kollektiven Akt der Mobilisation umgewandelt – Hundert-
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„Können wir die müden und manipulierten Massen überzeugen, dass wir nicht nur bereit sind, provokative Widerstandsakte auszuführen, sondern auch, die Aussicht auf eine neue Ordnung zu bieten?“ tausende sammelten sich auf öffentlichen Plätzen und verkündeten, dass es ihnen reicht, dass es so nicht weitergehen kann. Doch auch wenn solche Proteste die teilnehmenden Individuen als universelle politische Subjekte konstituieren, verharren sie auf der Ebene einer bloß formalen Universalität. Was sie zur Schau stellen, ist eine rein negative Geste der wütenden Ablehnung, ohne dass sie imstande wären, diese in ein konkretes politisches Programm zu übersetzen. Was ist zu tun in so einer Situation, da Demonstrationen und Proteste und auch demokratische Wahlen nutzlos sind? Mehr und mehr bin ich überzeugt, dass es vor allem auf den Tag danach ankommt: Können wir die müden und manipulierten Massen überzeugen, dass wir nicht nur bereit sind, die bestehende Ordnung zu untergraben, provokative Widerstandsakte auszuführen, sondern auch, die Aussicht auf eine neue Ordnung zu bieten? Ich finde, die Pussy-Riot-Auftritte lassen sich nicht auf subversive Provokationen reduzieren. Hinter ihrer Dynamik steht die innere Stabilität einer festen ethisch-politischen Haltung. Pussy Riot vertritt nicht einfach eine dionysische Destabilisierung der bestehenden statischen Ordnung – in einem tieferen Sinn ist die heutige Gesellschaft in einer irrsinnigen kapitalistischen Dynamik ohne Maß und Gespür gefangen, und Pussy Riot bietet de facto einen stabilen ethisch-politischen Standpunkt an. Allein die Existenz von Pussy Riot sagt Tausenden, dass der opportunistische Zynismus nicht unsere einzige Wahl ist, dass wir nicht völlig haltlos sind, dass es immer noch eine gemeinsame Sache gibt, für die es sich zu kämpfen lohnt. Was ich Dir wünsche, ist also auch viel Glück in unserer gemeinsamen Sache. Unserer gemeinsamen Sache treu zu bleiben, bedeutet gerade heute viel Mut, doch wie sagt das alte Sprichwort: Das Glück ist mit den Tapferen! Dein Slavoj — PHILOSOPHIE MAGAZIN
Straflager IK 14, Mordwinien 13. Juli 2013
Lieber Slavoj,
Foto: Guillaume Herbaut/Institute
ch beginne meinen Brief mit dem Hinweis auf einen Unterschied, der meines Erachtens wichtig ist und somit festgehalten werden sollte, um die Falle einer nicht zutreffenden Verallgemeinerung zu vermeiden. Am Anfang Ihres Briefes haben Sie sich der Äußerung männlichen Chauvinismus’ bezichtigt. Ich neige vielmehr dazu, Ihnen, mir selbst und unserem ganzen Dialog einen noch gerechteren und von daher schwerwiegenderen Vorwurf zu machen: den einer kolonialen Sichtweise. In unserem Gespräch berücksichtigen wir die regionalen Differenzen und die regionalen Besonderheiten der wirtschaftlichen und politischen Mechanismen nicht ausreichend. Und ich schäme mich förmlich dafür, dass hier so manches nicht ausgesprochen, sondern verschwiegen wird. Denn ich bin, von Ihren Ausführungen verleitet, unüberlegt in die absolut klassische Falle einer ausschließenden und diskriminierenden Verallgemeinerung geraten. Wobei es sich letztlich herausstellt (wie es häufig in Fällen einer nicht begründeten Verallgemeinerung geschieht), dass ich auch mich selbst dabei diskriminiere und ausschließe. Die Unterschiede, deren Markierung ich als meine Bürgerpflicht ansehe, betreffen die Differenzen zwischen den Funktionsweisen dessen, was Sie als den „globalen Kapitalismus“ in den Vereinigten Staaten und in Europa bezeichnen, und den Arbeitsmethoden des Kapitalismus in Russland. Es wäre von mir gerade als politische Aktivistin eine intellektuelle Feigheit, diesen Unterschied nicht anzusprechen und nicht zu versuchen, ihn zu problematisieren. Ich weiß, dass auf dem Weg der Gegenüberstellung von Russland und dem sogenannten „Westen“ mehr Fragen als Antworten zu erwarten sind. Vielleicht habe ich deshalb in meinem letzten Brief, den ich hinter der Nähmaschine sitzend in aller Eile schrieb, diesen Unterschied nicht deutlich zur Sprache gebracht (obwohl ich es durchaus wollte). Ich habe ihn nicht eingeführt, weil ich verstand, dass ich die Zeit nicht haben werde, das Thema in gebührender Form durchzudenken, da ich mich ja in einem Arbeitslager befinde, und zwar in einer der
„Unser ganzer Dialog ist geprägt von einer beschämenden kolonialen Sichtweise, die regionale Differenzen ignoriert“ NR. 01 — DEZEMBER/JANUAR 2013/14
bereits erwähnten „freien Wirtschaftszonen“: der Zonen der legalisierten Ausbeutung. Die neuesten politischen Ereignisse – die für die Redefreiheit tödlichen Gesetze zur „Beleidigung religiöser Gefühle“ und zur Ungleichwertigkeit der „traditionellen“ und „nicht traditionellen“ sexuellen Beziehungen – bringen mich in Rage. Sie zwingen einen dazu, von den Besonderheiten der politischen und wirtschaftlichen Praktiken in meinem Land zu sprechen. Ich hoffe, dass der Versuch einer gründlichen Überlegung zur spezifischen Situation in Russland auch für Sie nicht ganz umsonst ist. Vielleicht entdecken Sie hier – in Gedanken
über dieses Land versunken, in dem ich gerade meine Haftzeit im Arbeitslager absitze – etwas, was Ihnen dabei hilft, eine Antwort auf die Frage zu finden, die Sie so sehr interessiert: die Frage nach möglichen Wegen zur Realisierung eines Ansatzes, der die Proteststimmungen mit einer stabilen ethisch-politischen Einstellung vereinigt. Wie könnte meine Lebenserfahrung in Russland für Sie nützlich sein? Nach wie vor bestehe ich darauf, dass selbst die fortschrittlichste kapitalistische Struktur eine Hierarchisierung, eine Normalisierung und Ausschlusskriterien voraussetzt. Sie zitieren Marx: „Die fortwährende Umwälzung der Produktion, die ununterbrochene Erschütterung aller gesellschaftlichen Zustände (…) zeichnet die Bourgeoisieepoche (…) aus.“ Ja, die Veränderung gesellschaftlicher Zustände findet statt. Das schafft jedoch die Ausbeutung nicht ab. Im Wesentlichen verlagert sich die Normalisierung archaischen Typs in die „Dritte Welt“ – also in Rohstoffländer wie mein Land. In den Entwicklungsländern wird der Markt gemäß der Normalisierung dem Monopol unterworfen, und von daher erhält sie in der Regel einen furchterregenden archaischen Charakter. (Ein auffälliges Beispiel
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ZEITGEIST PERSPEKTIVE
Ein Tag im Leben des perfekten
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Peter Singer ist rigoroser Utilitarist und einer der umstrittensten Moralphilosophen unserer Zeit. Kann er sich einen ganzen Tag lang streng an die von ihm selbst verfochtenen ethischen Prinzipien halten? Und wenn ja: mit welchen Folgen? Für das Philosophie Magazin hat er sich einem Praxistest unterzogen Aufgezeichnet von Philippe Nassif Illustrationen von Bob London
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— PHILOSOPHIE MAGAZIN
Foto: Richard Perry/Redux/laiif
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uf einen ersten Blick ist Peter Singer ein Mann der WidersprüWährend Sie gleich nach dem Aufwachen Ihr Smartphone auf Nachrichten prüfen, schwirrt eine Mücke um Sie herum. Muss che. Wie kann ein Mensch Vegetarier sein und sich für Tierrechte einsetzen, während er gleichzeitig geistig schwerstbe- man sie leben lassen? hinderten Menschen ein unverbrüchliches Recht auf Leben abspricht? Ich habe kein Problem mit Mücken. Zum einen bin ich mir nicht Was zunächst unvereinbar erscheint, folgt konsequent aus Singers sicher, ob sie Schmerzen empfinden können, und auch in diesem utilitaristischer Moralkonzeption. Der Utilitarismus (lat. utilitas: Fall reduziert ein schneller Schlag ihr Leiden auf ein Minimum. Nutzen, Vorteil) ist eine Strömung der Moralphilosophie, die durch Zudem hat eine Mücke kein entwickeltes Selbstbewusstsein, es ist Jeremy Bentham und John Stuart Mill im 18. beziehungsweise kein Wesen, das imstande wäre, auf die eine oder andere Weise sei19. Jahrhundert begründet wurde und das größtmögliche Glück der ner Zukunft entgegenzusehen. Wenn sie mich also daran hindert, größtmöglichen Zahl von Betroffenen zum obersten Handlungsziel mich auf meine Lektüre zu konzentrieren, und wenn sie mich zu steerklärt. Alles, was der Maximierung des so verstandenen Gesamt- chen droht, dann … nutzens dient, ist gut – was auch immer hierfür in Kauf genommen 8 Uhr 30. Frühstück, der Familienkühlschrank ist mit Bioprodukwerden muss. Aus utilitaristischer Sicht wäre es demgemäß zu rechtten gefüllt: Schinken, Eier, Tofu. Was wählen Sie? fertigen, ja sogar zwingend erforderlich, einen Menschen zu opfern, wenn auf diese Weise drei andere gerettet werden können. Bewertet Ich bin Veganer, ich esse keine tierischen Produkte. Diese Ernährungsweise beutet ein Minimum an natürlichen Ressourcen aus. wird eine Handlung rein nach ihren Folgen. Peter Singer nun geht in seiner Ethik noch einen Schritt weiter: Schinken kommt also nicht infrage. Neben dem skandalösen LeiMoralisch zu berücksichtigen sind für ihn nicht nur Menschen, son- den, das man jährlich an die 70 Milliarden Tieren zufügt, und sei es dern alle empfindungsfähigen Wesen, mithin auch Tiere. Der Gattung nur im Moment ihrer Tötung, muss man sich dessen bewusst werMensch spricht der Philosoph keine besondere Stellung zu, vielmehr den, dass aufgrund des Methanausstoßes die Tierindustrie noch entscheidet der körperliche wie geistige Zustand eines Lebewesens vor der Automobilindustrie die größte Erzeugerin von Treibhausüber dessen moralischen Status. Eine von Singers umstrittenen The- gasen ist. Sie ist verheerend im Hinblick auf die Ressourcen, angesen lautet entsprechend, das Leben eines mit Selbstbewusstsein aus- fangen beim Getreide- und Wasserverbrauch durch die Tiere. Und gestatteten Affen sei mehr wert als das eines geistig schwerstbehin- sie erfüllt für uns kein lebenswichtiges Bedürfnis. Was mich betrifft, nehme ich ein Müsli zum Frühstück, mit frischen Früchten und Sojaderten Kindes. milch. Das ist leicht zuzubereiten, nahrSingers Utilitarismus ist radikal und Peter Singer haft, und es zieht keinerlei tierisches Leid hochumstritten: Könnte der Philosoph Der australische Philosoph ist Profesnach sich. Allerdings kann es vorkommen, selbst nach seinen Prinzipien leben? Für sor für Bioethik an der Princeton dass ich auf Reisen Eier esse, wenn sie bio das Philosophie Magazin hat er sich auf University und Dozent an der Charles Sturt University in Melbourne. Seine sind. Das ist ein guter Kompromiss, insodas Gedankenexperiment eingelassen: Hauptwerke: „Animal Liberation. fern ein Huhn auf seinem Bauernhof ein Wie durchlebt der Philosoph einen fiktiDie Befreiung der Tiere“ (Rowohlt, 1996) und „Praktische Ethik“ (Reclam, 1994) gutes Leben haben kann, jedoch mit Einven Tag voller moralischer Dilemmata?
schränkungen. Zunächst, weil ein Huhn, sobald es keine Eier mehr legt, getötet wird, es hat also nicht die Möglichkeit, eine erfüllte Existenz bis zu Ende zu führen. Und dann, weil die männlichen Küken sofort getötet werden. 9 Uhr 15. Sie nehmen an einem Treffen mit der Verwaltung Ihres Wohnhauses teil, um über das Energieproblem zu diskutieren: Soll man in Solarkraft investieren, weiter mit Kohle heizen, für Schiefergas optieren oder sich für Elektrizität aus einem Kernkraftwerk entscheiden?
Offensichtlich sind Solar- und Windkraft die besten Energielösungen, insofern sie erneuerbar sind und aus ökologischer Sicht sehr wenige negative Punkte aufweisen. Doch die Annahme, sie könnten mittelfristig all unsere Energiebedürfnisse erfüllen, ist eindeutig unrealistisch. Ich halte Kernkraft weiterhin für zu gefährlich. Das heutzutage so umstrittene Schiefergas ist hingegen trotz einiger lokaler Probleme eine gute Option: Es erzeugt weitaus weniger Treibhausgas als die Kohlekraft. 10 Uhr. Ihr Sohn, Spitzensportler an der Uni, bereitet sich auf einen Wettkampf vor. Sie überraschen ihn beim Dopen – weil alle es tun, sagt er. Verbieten Sie es ihm?
Ja, sobald es gegen das Recht verstößt, da es dann illoyal gegenüber jenen wäre, die nicht dopen. Natürlich ist das Doping in manchen Wettbewerben wie der Tour de France so sehr zur Regel geworden, dass sich das Argument der Illoyalität auflöst. Dieses Argument ist im Übrigen nur bis zu einem gewissen Grad schlüssig: Letztlich ist die Genetik ja nicht loyal, sondern bevorzugt bestimmte Individuen. Sollte man vielleicht, um gegen das Doping vorzugehen, Individuen mit außergewöhnlichen Genen vom Wettbewerb ausschließen? Es bleibt dabei, dass die beste Lösung gegen das Doping zweifelsohne darin bestünde, wenn wir unserer Leidenschaft für die SportgroßNR. 01 — DEZEMBER/JANUAR 2013/14
ereignisse, einem Synonym für übermenschlichen ökonomischen Druck auf die Sportler, etwas Einhalt gebieten würden. 10 Uhr 15. Sie begeben sich zur Arbeit. Nehmen Sie das Auto oder das Fahrrad, mit dem die Anfahrt eine halbe Stunde länger dauern würde?
Sich mit dem Fahrrad fortzubewegen, ist, wann immer das möglich ist (abhängig von Ihrer körperlichen Verfassung, vom Wetter, von den Verkehrsbedingungen), aus ökologischer Perspektive offensichtlich ideal. Und es wäre wirklich dumm, mit seinem Auto eine Stunde gewinnen zu wollen, um dann in einem Fitnessstudio Sport zu machen. In Princeton fahre ich mit dem Rad zur Universität. In Melbourne ist das zu kompliziert, da nehme ich die öffentlichen Verkehrsmittel. Doch Auto fahre ich nicht in der Stadt. 10 Uhr 30. Unterwegs kommen Sie an einem brennenden Haus vorbei. Sie wissen, dass drinnen noch ein sehr schwer behindertes Kind und ein junges Kätzchen gefangen sind, haben aber nur Zeit, eines von beiden zu retten … Für wen entscheiden Sie sich?
Das ist eine sehr schwierige theoretische Frage. Doch vorausgesetzt, dass einerseits das Kind so schwer behindert ist, dass sein Selbstbewusstsein annähernd null ist, und dass andererseits Eltern, die glücklich sind, sich um es zu kümmern, hierbei nicht mit ins Gewicht fallen, bin ich in der Tat der Ansicht, dass es aus einer utilitaristischen Sichtweise logisch sein kann, sich zur Rettung der Katze zu entscheiden, die ein größeres Verlangen nach Zukunft hat. Ich bin Antispeziesist: Ich glaube also nicht, dass wir alles menschliche Leben als geheiligt ansehen müssten. Das ist ein Argument, das selbst in seiner laizistischen Version kein anderes als ein religiöses Fundament hat. Und das seit jeher zu einer Herrschaft des Menschen über das Lebende und zur Misshandlung der Tiere ermächtigt. Im Übrigen denke ich nicht, dass die Heiligkeit des Lebens noch wirklich in den
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Foto: Luis Mariano González/getty
DOSSIER
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— PHILOSOPHIE MAGAZIN
Woher kommt das
Böse ? Es übersteigt unsere Vorstellungskraft, erschüttert unser Weltvertrauen. Umso dringender wollen wir den Ursprung des Bösen verstehen. Lange Zeit hat man dunkle metaphysische Mächte als Erklärung herangezogen. Moderne Philosophen hegen einen anderen Verdacht: Das Böse findet im Menschen selbst seine Wurzel. Es steckt als Möglichkeit in jedem von uns. Was aber treibt unsere Gattung immer wieder zu Hinterlist, Mord und Genozid? Unser evolutionäres Erbe? Oder unsere Willensfreiheit? Und warum birgt das Böse eine ewige Faszination, ja sogar Erotik? Ein Dossier über die dunkelsten Sphären unserer Existenz
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Von Natur aus böse ? Menschen werden in schwachen Momenten zum Tier, haben „Wutausbrüche“, laufen Amok. Lauert unterhalb der dünnen zivilisatorischen Schicht die wahre Natur des Menschen? Ein Theologe, ein Evolutionsbiologe und ein Psychoanalytiker geben Antwort
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46
— PHILOSOPHIE MAGAZIN
DOSSIER WOHER KOMMT DAS BÖSE ?
Evolutionsbiologie
Franz M. Wuketits
„Unsere Verhaltensmechanismen sind seit grauer Vorzeit programmiert“ Franz M. Wuketits Der habilitierte Wissenschaftstheoretiker, Evolutionsbiologe und Philosoph lehrt an der Universität Wien. Zum Thema veröffentlichte er: „Warum uns das Böse fasziniert“ (Hirzel, 1999) und „Die Boten der Nemesis: Katastrophen und die Lust auf Weltuntergänge“ (Gütersloher Verlagshaus, 2012)
Wie alle anderen Organismenarten verfolgt der Mensch seine Überlebensinteressen und steht im Wettbewerb mit seinen Artgenossen. Was zählt, ist die erfolgreiche Fortpflanzung und als Voraussetzung dafür die Sicherung von Ressourcen. Damit sind Konflikte geradezu programmiert. Mord und Totschlag begleiten – als besonders ausdrucksstarke Formen des Bösen – alle Phasen der Menschheitsgeschichte und reichen in prähistorische Zeit zurück. Aber Menschen sind auch zu erstaunlichen kooperativen Leistungen fähig und üben sich in Hilfsbereitschaft. Wettbewerb und Kooperation sind in der Evolution tief verwurzelt und finden sich, wenngleich in unterschiedlicher Ausprägung, bei allen sozial lebenden Tieren. Als wertendes Lebewesen unterscheidet der Mensch zwischen Gut und Böse, zwischen moralischem und unmoralischem Handeln, während die Natur moralisch völlig neutral ist. Tiere kennen die Unterscheidung zwischen Gut und Böse nicht. Selbst wenn sie, was relativ häufig geschieht, Nachkommen ihrer eigenen Art töten (Infantizid oder Kindestötung), kommt Moral/Unmoral noch nicht ins Spiel. Aber Moral/Unmoral fiel nicht vom Himmel. Was wir heute als moralisch/unmoralisch bezeichnen, ist nichts weiter als die „Verlängerung“ von Verhaltensmechanismen, die schon in grauer Vorzeit wirksam waren, als noch niemand über Gut und Böse nachdachte. Hätten unsere Vorfahren nichts anderes im Sinn gehabt, als sich gegenseitig die Köpfe einzuschlagen, dann wäre unsere Gattung früh ausgestorben. Es liegt nahe, dass sie ein Mindestmaß an kooperativem Verhalten praktizierten. Der Schlüsselbegriff hier ist reziproker Altruismus, in alltagssprachlichen Wendungen „Wie du mir, so ich dir“ oder „Eine Hand wäscht die andere“. Pure Selbstlosigkeit kommt in Wirklichkeit kaum vor. Schließlich erwartet der Mensch für seine „guten Taten“ im Allgemeinen auch eine Belohnung. Der Göttinger Anthropologe Christian
Vogel (1933-1994) brachte es auf den Punkt: „Der wahre Egoist kooperiert.“ Weil er weiß, dass er für die Realisierung seiner Ziele der Hilfe anderer bedarf. Aus evolutionstheoretischer Sicht also ist kooperatives, helfendes Verhalten auf den Egoismus zurückzuführen. Der Mensch ist von Natur aus ein soziales Lebewesen, Geselligkeit ist die eigentliche Triebkraft der Moral. Moral wiederum ermöglicht die Stabilität von Gruppen, was den beteiligten Individuen Vorteile bringt. Allerdings lebten unsere prähistorischen Vorfahren über Jahrmillionen, in kleinen Gruppen von vielleicht 20, 30 oder (höchstens) 50 Individuen, Primär- oder Sympathiegruppen, beruhend auf persönlicher Bekanntschaft ihrer Mitglieder. Wir wurden darauf programmiert, in Kleingruppen zu kooperieren und die Mitglieder der eigenen Sippe zu bevorzugen (Nepotismus). Darin liegen auch die Wurzeln des FreundFeind-Denkens und der Diskriminierung anderer (gruppenfremder) Artgenossen, bei gleichzeitiger Überhöhung der eigenen Sozietät. Und darin liegen schließlich die eigentlichen Wurzeln des Bösen. Die unzähligen Stammes- und Bürgerkriege, die unsere gesamte Geschichte begleiten – nicht zu vergessen die beiden Weltkriege –, legen ein erschreckendes Zeugnis davon ab, wie eine „innen“ im Wesentlichen funktionierende Moral nach „außen“ in ihr Gegenteil verkehrt wird. Unsere Moralfähigkeit ist begrenzt, wir dürfen nicht mit einer beliebigen „moralischen Formbarkeit“ des Menschen rechnen. Kein Geringerer als Charles Darwin (1809-1882) hegte aber die Hoffnung, dass der Mensch durch seine Kultur (!) in die Lage kommen werde, seine Sympathien und „sozialen Instinkte“ auf immer mehr seiner Artgenossen auszudehnen. Dies mag innerhalb bestimmter Grenzen gelingen, Voraussetzung dafür wäre aber eine gerechtere Verteilung von Ressourcen.
Fotos: Marc Thirouin, Evelin Frerk
Unsere Moralfähigkeit ist begrenzt, es gibt keine beliebige Formbarkeit des Menschen
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Steckt ein Eichmann in uns allen ? Mit dem Begriff des „banalen Bösen“ charakterisierte Hannah Arendt den „Schreibtischtäter“ Adolf Eichmann. Aber ist das alltägliche, gedankenlos umgesetzte Böse mit dem Ende der NSZeit aus der Welt verschwunden? Ökologische Katastrophen, spekulationsbedingte Hungersnöte, Drohneneinsätze: Was trägt Arendts These zur Erhellung heutiger Übel bei? Von Marianna Lieder
Fotos: ap/akg, ap/picture alliance
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ls Hannah Arendt im Jahr 1961 als Gerichtsreporterin für den New Yorker nach Jerusalem flog, um über den Prozess gegen den einstigen SS-Obersturmbannführer Adolf Eichmann zu berichten, rechnete sie damit, dem Teufel zu begegnen. Doch beim Anblick des Angeklagten, der während der Gerichtsverhandlung in einem Glaskasten zwischen zwei Wächtern saß und sich mit rhetorischen Gemeinplätzen für den Mord an Millionen von Juden zu rechtfertigen versuchte, kam sie zu einem anderen Schluss: Arendt sah in Eichmann weder einen Sadisten noch einen antisemitischen Überzeugungstäter. Das eigentlich Beunruhigende bestand für sie in seiner Normalität, in der gewissenhaften Gewissenlosigkeit, mit der er alles ausgeführt hatte, was man ihm auftrug. Arendt erkannte hier erstmals jenen „neuen Verbrechertypus“, der vor allem aus Gedankenlosigkeit handelte und dennoch in monströsem Ausmaß schuldig wurde. Eichmann galt ihr als extremes Beispiel der „Banalität des Bösen“ – jener Form des Unheils, für die es in der theologischen und philosophischen Tradition noch keinen Begriff gab. Bislang wurden wahlweise metaphysische Mächte oder menschliche Begierden zur Wurzel des Bösen erklärt. Bei Arendt nun ist das Böse ein pures Oberflächenphä-
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Die Moralphilosophin Hannah Arendt entwickelte ihre bedeutendste Theorie im Zuge des Prozesses gegen den ehemaligen SS-Offizier Adolf Eichmann (links: Eichmann vor Gericht in Jerusalem, 1961)
entgegenschlug, ist inzwischen abgeklungen. Das Diktum von der „Banalität des Bösen“ gehört zu ihrem meistzitierten Vermächtnis: ob als Überschrift einer Reportage über die Zwickauer Zelle in der Tageszeitung, in Tierschutzbroschüren oder in den Werken des italienischen Kultprovokateurs Giorgio Agamben, der die Unterschiede zwischen westlicher Demokratie und Diktatur mit sakralem Pathos verwischt. Doch inwiefern taugt die Arendt’sche Formel tatsächlich, um das Übel der Gegenwart zu dechiffrieren? In welchen Zusammenhängen kann ihr Gedanke fruchtbar gemacht werden – und wann stößt er an Grenzen? Fragen, mit denen wir uns an den Menschenrechtsaktivisten Rupert Neudeck, den Philosophen Jay R. Bernstein und den Ökonomen Tomáš Sedlá ek wenden.
nomen und gerade deshalb so zählebig und gefährlich: Das Böse „kann die ganze Welt verwüsten, gerade weil es wie ein Pilz an der Oberfläche weiterwuchert“, schrieb Arendt in einem Brief an Gershom Scholem, der ihr wie zahlreiche andere erbost vorwarf, die NS-Verbrechen zu verharmlosen und die Opfer herabzuwürdigen. Die Welle der Empörung, die Arendt nach Veröffentlichung ihres Eichmann-Berichts
Unter dem Deckmantel der Humanität Rupert Neudeck, Journalist und NGO-Gründer (Cap Anamur, Grünhelme) wurde 1939 in Danzig noch in jene Welt hineingeboren, in der das Böse die einzigartige Schreckensdimension der NS-Verbrechen erreichte. Für den unermüdlichen Weltverbesserer hat Arendt es auf den Punkt gebracht: „In der Moderne sucht uns das Böse nicht mehr
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Was genießen wir am Bösen ? Es fasziniert und verspricht höchste Lust. Doch nur wenige Menschen folgen der Anziehungskraft des Bösen bis zum Ende. Was unterscheidet den Normalbürger von einem Gewaltverbrecher? Joe Bausch, Gefängnisarzt und „Tatort“-Schauspieler, diskutiert mit dem Philosophen und Autor Rüdiger Safranski über Computerspiele, Hirnschäden und die grundmenschliche Freiheit, einfach Nein zu sagen Das Gespräch führte Wolfram Eilenberger im Rahmen der phil.COLOGNE 2013
Herr Bausch, ein Kind, acht oder neun Jahre alt, kommt zu Ihnen und fragt: Onkel Joe, woher kommt eigentlich das Böse? Was antworten Sie? Bausch: Schwierig. Zunächst würde ich betonen, dass es tatsächlich Menschen gibt, vor denen man sich in Acht nehmen muss, böse Menschen, die anderen schaden, Schmerzen zufügen wollen. Woran man sie aber erkennt und wie sie aussehen, das ist dann schon das erste Problem. Soweit ich mich erinnere, hat mir das als Kind keiner erklärt. Aber als damals ein Mann durch unser Dorf lief, holte meine Großmutter mich gleich von der Straße und sagte: „Pass auf, das ist ein böser Mann.“ Ich erinnere noch die Anspannung. Er hatte dunkle Kleidung an, sah fremd aus … das führt vielleicht auf einen ersten, ganz grundsätzlichen Aspekt: Das Fremde wird oft mit dem Bösen gleichgesetzt.
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Welche Möglichkeiten oder gar Methoden haben Philosophen, die metaphysische Frage nach dem Ursprung des Bösen zu beantworten, Herr Safranski? Safranski: Ein metaphysisches Problem war das Böse wirklich einmal, und zwar aus einem ganz einfachen, religiösen Grund. Dass die Welt voller Bosheit ist, scheint ja offensichtlich. Die Frage lautete deshalb: Wie kann ein allmächtiger, gütiger Gott Böses zulassen? Ein erheblicher Teil des Genies früherer Philosophen wurde darauf verwandt, Gott in dieser Frage sozusagen beizuspringen, ihn zu verteidigen – man nennt diese Versuche auch Theodizeen. Schon allein deshalb muss man dem Bösen dankbar sein. Es hat zu unglaublich vielen komplexen Gedanken geführt. Ist ja auch eine große Adresse, die da verteidigt werden muss. Aber das Zentrum der Frage ist doch, meine ich, ein anderes. Über eine angestrebte Verteidigung Gottes näherte man sich nämlich dem Thema der Freiheit … Als Freiheit, Böses zu tun? Safranski: Ja, das war eine Möglichkeit, Gott zu entlasten: den Menschen zu belasten. Tiere können ja, nach normalem Verständnis, nicht böse sein. Nur der Mensch hat die Möglichkeit das, was wir böse nennen, absichtsvoll zu wählen. Das Böse hängt also unmittelbar mit der Frage nach der menschlichen Freiheit zusammen. Das ist ja auch etwas, was Herr Bausch aus seiner Erfahrung mit Gefängnisinsassen kennen dürfte, die Auseinandersetzung mit der Frage, wie es zu dieser oder jener Tat kommen konnte, die Frage: Wie konnte ich nur so etwas tun? — PHILOSOPHIE MAGAZIN
Foto: Daniela Edburg, „Angela and the Chicken“, courtesy Spazio Nuovo, Rome
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inst ging man dafür jeden Sonntagmorgen zur Kirche, heute erlösen wir uns jeden Sonntagabend im Fernsehen vom Bösen. Beim „Tatort“. Joe Bausch ist regelmäßig dabei. In den Folgen des Kölner „Tatorts“ seziert der Schauspieler als Gerichtspathologe die Opfer von Gewaltverbrechen. Im richtigen Leben hingegen untersucht er als Gefängnisarzt der Justizvollzugsanstalt Werl seit über 25 Jahren schwerstkriminelle Täter. Das weckt Neugier, nicht zuletzt die von Rüdiger Safranski. Seit vielen Jahren beschäftigt sich der Philosoph mit der Macht des Bösen, für ihn ist sie untrennbar mit der menschlichen Freiheit verbunden. Das philosophische Duett zwischen Arzt und Philosoph fand im Rahmen der phil.COLOGNE 2013 statt – und führte zu manch überraschender Diagnose.
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Bausch: Also, da muss ich Sie enttäuschen. Zu Beginn war ich auch davon überrascht, aber bei den Straftätern, die ich aus meinem Arbeitsalltag im Gefängnis kenne – also Menschen, die wiederholt schwere Verbrechen begangen haben, sozusagen chronisch kriminell sind –, spielt die Frage „Wie konnte ich das nur tun?“ oder „Warum habe ich das getan?“ nur eine sehr geringe Rolle. Viel eher beginnen sie bereits kurz nach der Verhaftung damit, Entschuldigungen vorzubringen. Entschuldigungen, wie die Gesellschaft sie hören will, weil sie als Entschuldigungen anerkannt sind. Darauf wird viel geistige Energie verwandt. Immer wieder erstaunlich ist dabei für mich, dass meine Patienten ganz exakt und umfänglich über die Zeit vor der Tat berichten können, die Tat selbst aber völlig ausblenden. Da bleibt eine Leerstelle. Über die Zeit nach der Verurteilung geben sie dann wieder ganz detailliert Auskunft, weil sie dann natürlich realisieren, was sie alles verloren haben, an Bewegungsfreiheit, an Bindungen, Familie, da spielt Selbstmitleid ein große Rolle. Spricht man sie aber auf die Tat selbst an, das perfide, genau geplante Gewaltverbrechen, den Bankraub, wird das in ein Netz von Entschuldigungen eingestrickt. Sie suchen eher nach Erklärungen dafür, was ihnen widerfahren ist, nicht dafür, was sie getan haben. Safranski: Das deckt sich mit einem allgemeineren Trend. Wir sind derzeit ja geradezu umzingelt von Sichtweisen, die das Phänomen der Freiheit leugnen oder zur Illusion erklären wollen. Bei einer Untat heißt es dann sehr schnell: „Die Gesellschaft ist schuld“ oder „die Kindheit“, neuerdings können auch „die Neuronen“ schuld sein oder „die Synapsen“. Wir sind zu Meistern geworden, wenn es darum geht, Freiheit und damit auch Verantwortung wegzuerklären. Die von Ihnen genannten Beispiele, Herr Bausch, sind da besonders interessant. Gewiss entwickeln Täter, wenn sie einigermaßen intelligent sind, eine große Virtuosität, wenn es darum geht, die in der Gesellschaft herumschwirrenden Erklärungen auf ihren eigenen Fall anzuwenden. Aber ich denke dann immer: Wer sich erklärend entlastet, beweist darin, dass er mehr ist als seine Erklärungen. Gerade in der instrumentellen Nutzung von Erklärungen, die ihn von seiner Schuld oder Verantwortung freisprechen sollen, beweist ein Mensch seine Freiheit. So neigen wir im Zusammenhang mit dem Bösen also ganz allgemein zu einer partiellen Selbstentmündigung, indem wir unsere Verantwortung für das Geschehene leugnen? Safranski: Ja, diese Tendenz gibt es. Dagegen wäre ganz banal darauf zu bestehen, dass Freiheit – in solchen Zusammenhängen – die Möglichkeit ist, etwas nicht zu tun, etwas zu unterlassen. Natürlich stecken wir voller Triebe und Lüste, auch dunkler Natur, die Frage ist: Haben wir gegenüber bestimmten Antrieben die Möglichkeit oder Kraft zu sagen: Nein, das mache ich nicht!
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Joe Bausch ist Arzt, Drehbuchautor und Schauspieler. Er studierte in Köln, Marburg und Bochum Theaterwissenschaften, Politik, Germanistik, Rechtswissenschaften und Medizin. Seit 1986 ist er Anstaltsarzt in der Justizvollzugsanstalt Werl. Neben seiner Tätigkeit als Arzt ist Joe Bausch einem breiteren Publikum als Gerichtsmediziner des Kölner „Tatorts“ bekannt. In seinem Buch „Knast“, das 2012 im Ullstein Verlag erschienen ist, setzt er sich mit seinen Erfahrungen als Anstaltsarzt auseinander
„ Im ‚Tatort‘ geht es um kaum etwas anderes als um die Faszination am Bösen. Zentral ist die Angstlust"
Bausch: Da spielen natürlich auch die sogenannten Medien mit rein. Für die ist das Böse ja ebenfalls ein Glücksfall, gerade für das Fernsehen. Im „Tatort“ beispielsweise geht es ja um kaum etwas anderes als um die Faszination am Bösen. Es gibt also eine Lust, einen Thrill, eine Angstlust, wie immer man das nennen mag … und dann heißt es immer wieder gerne, nach einem Amoklauf von Schülern oder dergleichen: „Die Medien sind schuld.“ Die gezeigte Gewalt in den Medien oder in Computerspielen oder sogar in der Heavy Metal Music wird als Ursache der Tat präsentiert. Aber es gibt keinen einfachen Wirkungszusammenhang. Obwohl wir wissen, dass es Konstellationen gibt, die verstärkend wirken. Wenn prägende Personen, wie Väter, Gewaltausübung vorleben, dann wirkt das auf die Kinder. Und natürlich kann das, wenn so ein Muster vorliegt, beim Herumballern auf Level 12 in einem Killerspiel auch Lustgefühle erzeugen. Wenn man das immer wieder tut und nichts entgegengesetzt wird, was die Erfahrung abmildert oder relativiert, dann können sich hier schon aggressive, gewalttätige Verhaltensmuster leichter — PHILOSOPHIE MAGAZIN
Fotos: Ralf Jürgens
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ausbilden. Wir reden ja hier nicht von jungen Männern, die dann auch noch im Fußballverein spielen oder im Chor singen würden, sondern die sitzen allein zu Hause, weitgehend isoliert und unbeaufsichtigt …
gegeben, weil der ganze Nationalstolz da gleichsam spielerisch abgeführt worden wäre. In dem Moment, wo du Weltmeister wirst, geht die Bereitschaft, für dein Vaterland zu sterben, gegen null …
Safranski: Also die Darstellung von Gewalt in Medien ist für mich zunächst ein Moment der Entlastung, gewissermaßen eine unriskante Präsenz des Bösen. Man kann sich als Zaungast darauf einlassen, in einem fiktionalen Raum – und damit, ohne sich bedroht fühlen zu müssen. Das berührt überhaupt das Betriebsgeheimnis der Kunst und war ja auch schon in der griechischen Tragödie so: eine Trockenübung für den Ernstfall. Spiele und vor allem der Sport übernehmen in diesem Zusammenhang eine weitere wichtige Kanalisierungsfunktion. Ich denke manchmal wirklich, wenn es zum Zeitpunkt des Ersten Weltkriegs schon Fußball in der heutigen Form und Ausbreitung gegeben hätte, mit Übertragungen weltweit und Weltmeisterschaft und so, dann hätte es den Ersten Weltkrieg gar nicht
Eine gewagte These, aber noch einmal nachgefragt: Hat die Präsenz des Bösen in den Medien überhaupt zugenommen, oder waren die grimmschen Märchen oder Homers Epen, allesamt recht gewalttätig, in der jeweiligen Zeit medial nicht ebenso präsent wie heutige Gewaltfilme oder -spiele?
„Fiktionale Darstellung von Gewalt ist auch ein Moment der Entlastung, eine unriskante Präsenz des Bösen” Rüdiger Safranski ist Philosoph und mehrfach preisgekrönter Autor. Er ist bekannt für seine zahlreichen Monografien, etwa zu E. T. A. Hoffmann, Schopenhauer, Nietzsche, Heidegger und zuletzt „Goethe – Kunstwerk des Lebens“ (Hanser, 2013). Bis 2012 moderierte er gemeinsam mit Peter Sloterdijk die Sendung „Das philosophische Quartett“. Publikation zum Thema: „Das Böse oder Das Drama der Freiheit“ (Hanser, 1997) NR. 01 — DEZEMBER/JANUAR 2013/14
Safranski: Quantitativ hat es schon zugenommen, vor allem ist die Zeitlogik eine ganz andere: Wir sind alle vernetzt, erleben in Echtzeit, was gerade wo passiert. Früher, da findet die Französische Revolution statt, und eine Woche später wird in Deutschland gejubelt. Das Universum der Zeichen ist heute doch ganz anders strukturiert, viel intensiver, viel schneller, aber was das nun für das Böse bedeutet, da bin ich schwankend: Sicher, auch im Umgang mit fiktionalen Universen gibt es Formen der Verwahrlosung und gefährliche Übergänge, Herr Bausch hat es angesprochen. Dennoch gibt es auch Sublimationseffekte und entlastende Ersatzhandlungen … Bausch: Was die Taktung angeht, muss man heute wirklich von einer medialen Indoktrination des Bösen sprechen, wobei man fragen muss: Vermitteln diese Bilder wirklich das Böse? Die Bilder sind ja meist auf Effekt getrimmt, möglichst kräftig und in kurzen Sequenzen, in ständiger Überhöhung präsentiert, Monster, Bestie, Superbestie … Im Zusammenhang mit der mutmaßlichen Entlastungsfunktion wissen wir heute jedenfalls aus Untersuchungen, dass es beispielsweise im Mittelalter sehr viel mehr Morde, Tötungen und Vergewaltigungen gab als heute, damals ungefähr 24 auf 100 000, heute 0,6. Das liegt aber wohl kaum an der besseren Ablenkung als vielmehr an der Effektivität eines strafenden Staates. Das Korsett ist enger geschnallt worden. Aber gefühlt sind die Gewaltverbrechen stark angestiegen, und zwar aberwitzigerweise als Gefühl gerade in den Bereichen der Gesellschaft, wo man am sichersten ist: Da herrscht die größte Angst vor dem Bösen! Dort, wo es jeden Tag passiert, ist sie hingegen am geringsten. Man darf ja im Hinblick auf Gewaltverbrechen nicht vergessen, dass sie in der Regel von jungen Männern aus schwierigen sozialen Schichten verübt werden, und zwar an jungen Männern aus schwierigen sozialen Schichten. Vor allem medial wird daraus dann sehr schnell eine Dynamik von „wir“ im Gegensatz zu den „anderen“, vor denen wir geschützt werden müssen. Safranski: Das funktioniert in der Tat manchmal so, nicht zuletzt in der Zeit des Nationalsozialismus war die Stigmatisierung der Juden als die „Bösen“ oder „Parasiten“ ein Mittel, das Wir-Gefühl des Volkes zu intensivieren – die Auslagerung des Bösen als Sündenbock. Diese Dyna-
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DIE PHILOSOPHEN Rahel Jaeggi
„Unser Verständnis von Selbstverwirklichung ist eine Zumutung“ Pathologien der Arbeit, gescheiterte Selbstentwürfe, entfremdetes Dasein: Rahel Jaeggis Philosophie zielt ins Herz der heutigen Leistungsgesellschaft. Mit ihrem kritischen Interesse an unseren Lebensformen will sie einen gesellschaftlichen Wandel einleiten Das Gespräch führte Svenja Flaßpöhler Fotos von Gene Glover
Geröll, Gerümpel, Gerüste. Im Philosophischen Institut der Humboldt-Universität zu Berlin wird umgebaut. Als der Fotograf vorschlägt, die Bilder inmitten des Schutts zu machen, strahlt Rahel Jaeggi. Als eine von Marx inspirierte Denkerin ist sie offen für Grundsanierungen und Neuanfänge, vor allem, wenn es um aus ihrer Sicht überkommene Theoriegebäude geht: wie etwa den politischen Liberalismus, der Lebensformen zur Privatsache erklärt. Natürlich, sagt Jaeggi, sei der Mensch frei, selbst zu entscheiden, wie er leben will. Auch die Philosophie darf ihm nichts vorschreiben, gar verbieten. Aber sie kann analysieren und, ja, auch kritisieren. Das Gespräch findet in Rahel Jaeggis Büro statt, nur wenige Meter von der Baustelle entfernt. Hin und wieder dringt Lärm in den hellen Raum. Die Denkerin des Umbruchs ist in ihrem Element. Frau Jaeggi, Ihr Vater ist der Künstler Urs Jaeggi, Ihre Mutter die Psychoanalytikerin Eva Jaeggi. Sehen Sie – als Entfremdungs- und Lebensform-Theoretikerin – einen engeren Zusammenhang zwischen Ihrer Herkunft und Ihrem philosophischen Interesse? Einerseits sind Eltern natürlich immer prägend: Man wächst in einem Humus aus ganz bestimmten Gesprächen, Auseinandersetzungen und Büchern auf. Allerdings bin ich mit 14 von zu Hause ausgezogen, habe die Schule abgebrochen und mich in ganz anderen Kreisen bewegt. Und ich merke immer wieder, dass viele der Fragen, die mich philosophisch beschäftigen, aus dieser Zeit rühren, aus den politischen und sozialen Erfahrungen, die ich damals gemacht habe.
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Warum sind Sie so früh weggegangen von zu Hause? Anfang der achtziger Jahre startete hier in Berlin die erste Welle der Hausbesetzerbewegung, an der ich mich beteiligt habe, und das waren natürlich enorm prägende Ereignisse – im Gegensatz zur Schule, die mich aus verschiedenen Gründen überhaupt nicht gefesselt hat. Gebildet habe ich mich dann zunächst eher autodidaktisch. Meine Eltern hatten mir einen unbegrenzten Kredit bei einer befreundeten Buchhändlerin eingeräumt. Das habe ich genutzt. Und obwohl die sozialen Bewegungen der damaligen Zeit nicht gerade theorieorientiert waren, haben sich aus manchen praktischen Aktivitäten doch auch selbst organisierte Lektüregruppen entwickelt. Zum Beispiel haben wir in einer Gruppe, die sich um Gefangene gekümmert hat, Michel Foucaults „Überwachen und Strafen“ gelesen. Später dann auch Adorno und Marx. Nebenher habe ich als Filmvorführerin im Kino gearbeitet und Seminare an der Universität besucht. Mit 23 habe ich dann das Abitur nachgemacht, weil ich unbedingt Philosophie studieren wollte. In Ihrer Doktorarbeit beschäftigen Sie sich mit dem Thema „Entfremdung“. Was ist für Sie so reizvoll an diesem Begriff? Mit dem Begriff lassen sich Erfahrungen analysieren, die weitverbreitet sind, philosophisch aber zu wenig Beachtung finden. Nehmen Sie beispielsweise den freiheitsliebenden Künstler, der mit seiner Kleinfamilie aufs Land zieht und plötzlich das Gefühl hat: Nicht ich lebe mein Leben, sondern das Leben lebt mich. So ein Mensch befindet sich in Strukturen, in denen er gleichzeitig Akteur — PHILOSOPHIE MAGAZIN
Biografie
Rahel Jaeggi 1966: Geburt in Bern 2002: Promotion an der Johann Wolfgang Goethe-Universität mit der Arbeit „Entfremdung – Zur Aktualität eines sozialphilosophischen Problems“ 2009: Habilitation zum Thema „Kritik von Lebensformen“ Seit April 2009: Professorin für Praktische Philosophie an der Humboldt-Universität zu Berlin 2011: Organisation des Kongresses „Re-thinking Marx“ in Berlin
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— PHILOSOPHIE MAGAZIN
DIE PHILOSOPHEN
DER KLASSIK ER
René Descartes Unt e r weg s z u r Wa h rhe it
Gibt es für endliche Wesen wie uns absolute Gewissheiten? Mit den Mitteln der radikalen Skepsis gibt René Descartes (1596-1650) der Philosophie ein neues Fundament und wird zum Vater der neuzeitlichen Philosophie. Sein Diktum des „Ich denke, also bin ich“ macht das menschliche Bewusstsein zum Ausgangspunkt wahrer Welterkenntnis. Das vernünftige, denkende Subjekt wird zum Maßstab allen Wissens. Angeleitet durch klare, den Idealen von Logik und Mathematik verpflichtete Methoden soll es Schritt für Schritt auf dem Pfad des Wissens voranschreiten. Bis heute zeigen sich weite Teile unserer Kultur diesem Erkenntnisideal verpflichtet. Wie auch Descartes’ strenger Dualismus von Leib und Seele in der modernen Psychologie und Neurowissenschaft kräftig nachhallt. Descartes’ Denken markiert den Anfang einer Moderne, deren Ende in Wahrheit noch lange nicht abzusehen ist Illustrationen von Karine Daisay
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HÖHLE, HÖHLE, HÖHLE! Für die Animation und die Bar buchen Sie bitte Epikureer, okay? Die sind die Besten.
ZAH LUN GS FÄHI G KEIT ? Nun – der Boss ist Grieche …
Hallo, Herr Platon?
COMIC
Hallo? Wie sind wir mit weit Vorbereitun den gen?
Haben wir die Discokugeln? Klappt das mit den Schatten an der Wand?
SUPER!
Für die Security brauchen wir einen Stoiker ...
Aber nicht zu gelassen, keinen Diogenes-Schluffi, klar?
… einen von der Sorte, die sich nicht aufregen – Sie verstehen?
Ach ja – vergessen Sie nicht die VIP-Karte für Pythagoras.
Ah!
Es ist der Chef, auf Wiederhören!
ment, Oh, Mo einen be a h h ic f! n Anru zweite
Die ganze Stadt spricht von nichts anderem als der Eröffnung Ihres Clubs.
DIE HÖ H LE DIS KOT H E K
d wir err Es ch, H s n. thi my Plato
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MY TH IS CH !
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SOKRATES FRAGT
Wovor haben Sie Angst?
Ich hasse die Leere. Es muss alles immer ausgefüllt werden. Mit meinem Leben und mit meiner Musik fülle ich jeden Raum. Welcher Denker begleitet Sie?
Salvador Dali hat mir klargemacht: Je mehr man Exzentriker ist, desto mehr ist man Mensch. Die Sophisten, die Sie am meisten nerven?
Die, die ihre Gewissheiten zur Schau stellen. Die ideale Stadt?
Gibt es schon: Mein Landgut Alliance Bleue. Alle, die sich am Aufbau beteiligen, werden dort ihre Wünsche verwirklichen können. Die lächerlichste Sache, die Sie für die Liebe getan haben?
Wegen einer hysterische Krise um vier Uhr morgens telefonieren, sie lebte noch bei ihren Eltern … Das ideale Gastmahl?
In Bida im Benin, wo der Voodoo entstanden ist. Ich habe dort geheiratet und an faszinierenden Ritualen teilgenommen, wo man sich betrinkt und tanzt und mit Geistern kommuniziert, die von den maskierten Dorfbewohnern dargestellt werden. Die Lebensmaxime, die Sie vermitteln wollen?
„Yes! Against the law“ („Ja! Gegen das Gesetz“). Es geht nicht darum, sich aufzulehnen, indem man Nein sagt zu dem, was besteht, sondern indem man Ja zu etwas anderem sagt. Mit welchem Gedanken gehen Sie im Moment schwanger?
Ihr Trick, um die Jugend zu korrumpieren?
Eine Sirene sein! Ich habe die schönste Musik, um junge Menschen für das zu gewinnen, was ich glaube. Ein schöner Tod wäre?
Wenn die Schmerzen und Behinderungen zu groß sind: Eine Injektion harter Drogen (Heroin), dann lässt sich’s weitaus angenehmer sterben.
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Der Gestrandete Langhaarig, bärtig, messianisch: Sébastien Tellier ist nicht von dieser Welt. Der 38-jährige französische Sänger startete 2008 beim Eurovision Song Contest, sein Album „Sexuality“ wurde von Daft-Punk-Mitglied Homem-Christo produziert. Seine Stimme: ein Heilsversprechen. Seine Anzüge: eine Wucht. Im November erscheint Telliers neuestes Werk „Confection“ Aufgezeichnet von Philippe Nassif — PHILOSOPHIE MAGAZIN
Foto: Laurent Bochet
Mit der Idee einer Dynastie: Ich möchte der Vater einer Erblinie werden, inklusive Familienwappen und einem Porträt meiner selbst im Treppenaufgang, um meine Urenkel zu erleuchten.
Unsere erste Sonderausgabe
Ab dem 05. 12. am Kiosk!
1914 – 2014
Das 20. Jahrhundert im Spiegel der Philosophen +++ Eine Auswahl der wichtigsten philosophischen Zeitungsartikel aus den letzten hundert Jahren +++ Georg Simmel über den Ersten Weltkrieg +++ Martin Heidegger über den Nazismus +++ Albert Camus über Hiroshima +++ Hannah Arendt über den Eichmann-Prozess +++ Ayn Rand über die Mondlandung +++ Theodor Adorno über die Studentenrevolte +++ Peter Sloterdijk über Tschernobyl +++ Jacques Derrida über den 11. September +++ Martha Nussbaum über die Obama-Wahl +++ Jürgen Habermas über die Eurokrise +++ Slavoj Zizek über Occupy Wall Street