Philosophie Magazin Nr. 02 / 2014

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februar/märz Nr. 02 / 2014

Das zer -

streute Ich Ständig werden wir abgelenkt, können kaum noch klare Gedanken fassen. Müssen wir uns von Neuem sammeln? Oder hat unser Selbst gar kein Zentrum?

Michael Haneke

„Kunst ist unmöglich geworden“

Die verlorene Vernunft der Inka

Eine Spurensuche in Peru

Überwachen oder vertrauen? Juli Zeh streitet mit Ute Frevert Nr. 14 eilage von

Sammelb

16-seitiges booklet

Ep i k u r ßen ißt ge nie ) L eb e n he “ (Aus zug isun gen

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„We us“ und

Epikur

Der Geschmack des Glücks

Deutschland 6,90 € Österreich: 7 €; Schweiz: 12,50 SF; Benelux: 7,40 €. Italien & Spanien: Auf Nachfrage.


dENkEr iN diEsEM HEFT Seite 64 >

Redaktion: Brunnenstraße 143, 10115 Berlin, deutschland Tel.: +49 (0)30 / 60 98 58 215 E-Mail: redaktion@philomag.de Chefredakteur: dr. Wolfram Eilenberger (V.i.s.d.P.) Stv. Chefredakteurin: dr. svenja Flaßpöhler Berater: alexandre lacroix Art-Direktion: ralf schwanen Layout: Christina Taphorn Bildredaktion: Michael Biedowicz Verantwortliche Redakteure: dr. Jutta Person (Büchersektion), Marianna lieder Schlussredaktion: sandra schnädelbach Lektorat: Christiane Braun Internet: Cyril druesne Redaktionsassistenz: katharina schenk Praktikant: robert Werner Wollschlaeger Autoren in diesem Heft: Prof. dr. Jean-François Balaudé, dr. Barbara Bleisch, Martin duru, sylvain Fesson, Prof. dr. Gunter Gebauer, Prof. dr. dr. reimer Gronemeyer, Prof. dr. robert Harrison, Prof. dr. Philipp Hübl, Prof. dr. Markus krajewski, alexandre lacroix, Martin legros, Tobias lehmkuhl, Prof. dr. Harald lemke, Prof. dr. Petra löffler, Prof. dr. Thomas Metzinger, Prof. dr. robert Pfaller, Bernd Piringer, dr. Cord riechelmann, Marion rousset, Prof. dr. Michail ryklin, ariadne von schirach, Prof. dr. Manfred schneider, luisa schulz, Gert scobel, Nicolas Tenaillon, Tomi Ungerer, Vincent Valentin, dr. Eva Weber-Guskar, Jürgen Wiebicke Übersetzerin: Grit Fröhlich (dossier; Was soll das?) Verlag: Philomagazin Verlag GmbH Brunnenstraße 143, 10115 Berlin, deutschland Tel.: +49 (0)30 / 60 98 58 219 E-Mail: info@philomag.de Geschäftsführer und Verleger: Fabrice Gerschel Herausgeberin: anne-sophie Moreau Vertrieb: as-Vertriebsservice GmbH süderstraße 77, 20097 Hamburg, deutschland www.as-vertriebsservice.de Litho: tiff.any GmbH Druck: NEEF + sTUMME premium printing GmbH & Co. kG, Wittingen Anzeigen: Jörn schmieding-dieck – MedienQuartier Hamburg Tel.: +49 (0)40 / 32 50 745 E-Mail: joern.schmieding-dieck@mqhh.de www.medienquartierhamburg.de Nielsen IV: Markus Piendl – MaV GmbH Tel.: +49 (0)89 / 74 50 83 13 E-Mail: piendl@mav-muenchen.com Anzeigen Buchverlage/Kultur/Seminare: Thomas laschinski – PremiumContentMedia Tel.: +49 (0)30 / 60 98 59 30 E-Mail: advertisebooks@laschinski.com

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alexandre lacroix

der Wirtschaftswissenschaftler und Philosoph ist Chefredakteur des französischen Philosophie Magazine. im Zeitgeist lädt er sie ein zu einer philosophischen reise in die Gedankenwelt der inka. Jüngste Veröffentlichung auf deutsch: „kleiner Versuch über das küssen“ (Matthes & seitz, 2013)

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Michail ryklin

der Professor für Philosophie an der Moskauer akademie der Wissenschaften spricht sich für einen Boykott der olympischen spiele in sotschi aus. sein Buch „Mit dem recht des stärkeren‘“ (suhrkamp) wurde mit dem leipziger Buchpreis für Europäische Verständigung ausgezeichnet

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Juli Zeh

die Juristin und schriftstellerin gehört zu den einflussreichsten stimmen der deutschen Nsa-debatte. im Zeitgeist diskutiert die Thomas-Mann-Preisträgerin mit der Historikerin Ute Frevert über die Bedeutung des Vertrauens in der demokratie. Buch zum Thema: „angriff auf die Freiheit“ (Hanser, 2009)

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Philipp hübl

2012 erschien sein Beststeller „Folge dem weißen kaninchen … in die Welt der Philosophie“ bei rowohlt. der Juniorprofessor für Theoretische Philosophie an der Universität stuttgart hat für das dossier den Essay „Zu viel aufmerksam macht blind!“ verfasst

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robert harrison

der Professor für französische und italienische literatur an der kalifornischen stanford University schreibt im autorendossier über die Bedeutung des Gartens in der Philosophie Epikurs. Publikation zum Thema: „Gärten. Ein Versuch über das Wesen der Menschen“ (Hanser, 2010)

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robert Werner Wollschlaeger

Unser Praktikant studiert Philosophie, soziologie und Psychologie an der Christian-albrechts-Universität kiel. Für das dossier hat er Philosophen der Zerstreuung sowie solche der sammlung auf einer historischen doppelseite einander gegenübergestellt

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Petra löffler

im dossier zeigt sie Wege auf, in Zeiten der Zerstreuung doch noch zu sich zu finden. Petra löffler ist Professorin für Medienphilosophie an der BauhausUniversität Weimar. im Januar erscheint ihr Buch „Verteilte aufmerksamkeit. Eine Mediengeschichte der Zerstreuung“ bei diaphanes

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Thomas Metzinger

Presse- und Öffentlichkeitsarbeit: sabine schaub Tel.: +49 (0)30 / 31 99 83 40 E-Mail: s.schaub@schwindkommunikation.de www.schwindkommunikation.de

im dossier spricht der Professor für Theoretische Philosophie an der Universität Mainz über die Grenzen der aufmerksamkeit. im Januar 2014 erscheint eine stark erweiterte Neuausgabe seines viel beachteten Buches „der EgoTunnel“ bei Piper

Abo-Service: Philosophie Magazin Leserservice PressUp GmbH Postfach 70 13 11 22013 Hamburg Tel.: +49 (0)40 / 41 44 84 63 Fax: +49 (0)40 / 41 44 84 99 E-Mail: philomag@pressup.de

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Online-bestellungen: www.philomag.de/abo

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Michael haneke

der Philosoph unter den Filmregisseuren spricht im großen interview über die Gewalt der Bilder, die Grenzen der sprache und wahre kommunikation. Michael Haneke ist Professor an der Filmakademie Wien. Zuletzt war sein Film „liebe“ in den kinos zu sehen, für den er 2013 den oscar gewann

Gert Scobel

der Moderator der 3-sat-sendung „scobel“ ist seit der ersten ausgabe unser kolumnist. im dossier schreibt er über die Zerstreuung in Zeiten der Cloud, dem ausgelagerten virtuellen Gedächtnis. sein jüngstes Buch: „Warum wir philosophieren müssen – die Erfahrung des denkens“ (s. Fischer, 2012) Das Philosophie Magazin ist erhältlich im bahnhofsund flughafenbuchhandel in Deutschland

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Die nächste Ausgabe erscheint am 13. März 2014 — PhilOSOPhiE MaGaZiN

Fotos: daniel Gebhart de koekkoek; arnaud Février/Flammarion; sophie stieger/13Photo; Gene Glover; Thorsten Wulff; linda a. Cicero/stanford News service; privat; onassis Foundation; Gaby Gerster/laif

Zweimonatlich Nr. 02 – Februar/März 2014


iNHalT ZeItGeISt 06 07 08 10 12 16

> Leser fragen Barbara Bleisch antwortet > tomi Ungerer erklärt kindern die Welt > Leserbriefe > Sinnbild > Radar > Dialog Überwachen oder vertrauen? die schriftstellerin Juli Zeh streitet mit der Historikerin Ute Frevert über Nsa, staatsspionage und freiwillige selbstentblößung

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Pro & Contra sotschi boykottieren?

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Reportage Das Gedankenreich der Inka auf den spuren einer verlorenen Vernunft. Von Alexandre Lacroix Brauchen wir massive Betschemel? Markus Krajewski testet ein neues Produkt

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Lockerungen Freier denken mit Robert Pfaller. diesmal: alles klar, Herr kommissar?

DoSSIeR 38 >

Das zerstreute Ich

in Zeiten von Multitasking und medialer reizüberflutung wissen wir kaum noch, wo uns der kopf steht. sind wir dabei, uns zu verlieren? Gar das denken zu verlernen? oder gehört die Zerstreuung zum Wesen unseres Bewusstseins ? Mit Beiträgen von Philipp Hübl, Petra Löffler, Thomas Metzinger, Gert Scobel und Christoph Türcke

Fotos: Gene Glover; Juan Manuel Castro Pietro/agence VU; Bara Prasilova; Nazario Graziano; getty images

DIe PHILoSoPHeN

Dieses Heft enthält eine 16-seitige Sammelbeilage: „Brief an Menoikeus“ und „Weisungen“ (Auszug) des antiken Philosophen Epikur

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Das Gespräch Michael Haneke: „Man kommt nie in den kopf des anderen“ der österreichische Filmregisseur über die Gewalt der Bilder, die Grenzen der sprache und wahre kommunikation

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Beispielsweise die stachel der anderen. schopenhauer erklärt mit stachelschweinen das Wesen sozialer Bildung

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Was soll das? Philosophie ist wie onanie, meinen karl Marx und Friedrich Engels – vulgär oder wahr?

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epikur der lustfreund und sinnenmensch stellte den leib ins Zentrum seiner Philosophie. Mit seiner lebenszugewandtheit und diesseitigkeit provoziert der antike denker bis heute

BÜCHeR 82 >

Alles ist ästhetisch der französische Philosoph Jacques rancière erklärt, warum politische revolutionen in der kunst beginnen

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Angriff der Geheimniskiller Zwei Bücher auf den spuren des dechiffrierwahns von der antike bis sherlock Holmes

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Scobel.mag die kolumne mit durchblick Im Verhör Jürgen Wiebicke lauscht Byung-Chul Hans „Müdigkeitsgesellschaft“ Appetit aufs Leben der schriftsteller J. M. Coetzee stellt die Frage nach dem Menschen neu. Ein Porträt

92 > Agenda Philosophische Termine 94 > Comic + Spiele Mit großem Zynismus-Test 97 > Das Gare ist das Wahre Philosophisch kochen mit Bernd Piringer. dieses Mal: konfuzius’ Feuertopf

98 > Sokrates fragt Moby antwortet Nr. 02 — fEbruar/MärZ 2014

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Überwachungsskandale haben das Vertrauen der Bürger erschüttert. Doch wie wichtig ist Vertrauen überhaupt in einer Demokratie? Und steigt das Vertrauen in Mitmenschen nicht gerade durch Kontrollen? Die Schriftstellerin Juli Zeh und die Historikerin Ute Frevert im Streitgespräch

zeitgeist DIALOG

Das Gespräch moderierte Svenja Flaßpöhler Fotos von Gene Glover

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ZEiTGEisT dialoG bis heute nach. Aber ich würde gerne noch einen anderen Punkt ansprechen: Was sich in den vergangenen 30 Jahren eklatant verändert hat, ist das Bedürfnis nach Sicherheit. Zeh: Absolut! Frevert: Und warum ist dieses Bedürfnis gestiegen? Man könnte sagen: Wenn es den Leuten gut geht, machen sie sich Sorgen über alles Mögliche. Man kann aber auch sagen: Die Wahrnehmung von Sicherheitsproblemen hat sich verändert. Man fühlt sich stärker durch Kriminalität, durch Terrorismus gefährdet. Der 11. September war da eine einschneidende Erfahrung, ebenso wie die Anschläge von London und Madrid. Die Angst vor Terror wird natürlich durch die Präsenz von Überwachungskameras noch verstärkt: Je mehr Schutz ich habe, desto mehr werde ich daran erinnert, dass meine Sicherheit permanent gefährdet ist, im Alltag vor allem durch kriminelle Übergriffe auf meine Person und mein Eigentum. Diese Kameras hängen ja nicht zufällig in Bahnhöfen und Hauseingängen, sondern weil andere darauf warten, in meine Wohnung einzubrechen oder mich zu überfallen. Deshalb sagen viele Leute jetzt: „Ich habe nichts zu verbergen. Aber andere haben etwas zu verbergen, und ich möchte, dass diese Leute dingfest gemacht werden.“

Fotos: Niall Clutton/picture alliance; Grady Coppell/getty images; Gamma/laif

Zeh: Nein, das ist zu weit interpretiert. Es gibt sehr wenige Leute in Deutschland, die sich tatsächlich für mehr Überwachung aussprechen. Kaum jemand sagt: „Ich fühle mich persönlich so bedroht, da geht es mir besser, wenn ich weiß: Der BND liest alle meine E-Mails und auch die von potenziellen Terroristen.“ Ich würde das heutige Sicherheitsbedürfnis ganz anders beschreiben. Es rührt von einer Verunsicherung her, die aus dem Verlust von Schicksal resultiert. Es gibt keinen Gott mehr, der uns ein schweres Schicksal zugedacht hat, und auch die Freud’sche Interpretation, dass die Schuld immer bei den Eltern liegt, hat sich erübrigt. Das heißt, wenn etwas schiefgeht, sind wir immer selber schuld. Dadurch ist der Druck auf jeden Einzelnen ungeheuer gewachsen – und damit auch der Wunsch, sich selbst zu kontrollieren und zu optimieren. Wir sammeln Informationen über unseren eigenen Körper, in der Hoffnung, auf diese Weise Fehler ausschließen zu können. Wir wollen per Genanalyse wissen, ob wir vielleicht krank werden, denn dann können wir vorsorgen. Wegen dieser Selbstüberwachung ist uns die staatliche Überwachung im Prinzip nicht fremd. Informationssammelei als Versuch der Selbstverortung. Als Waffe gegen die transzendentale Obdachlosigkeit. Frevert: Mir gefällt sehr gut, Frau Zeh, wie Sie verschiedene Bereiche der Kontrolle und Überwachung zusammenbinden. Ich persönlich schätze es allerdings durchaus, dass in Bahnhöfen Kameras installiert sind. Ich fühle mich durch sie beschützt. Aber natürlich sehe ich auch die

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Dialektik der Überwachung: Sie schränkt meine Freiheit ein und rückt mich selber ins Fadenkreuz. Aber vielleicht nehme ich das ja gern in Kauf. Zeh: Das ist ein Irrglaube. Kameras senken nicht die Kriminalität, sondern führen höchstens zu einer Verlagerung. Drogen werden dann eben woanders gedealt. Gewaltverbrecher ziehen sich eine Kapuze über, dann schlagen sie einen zusammen und sind danach weg. So eine Überwachungskamera ist kein Schutz, sondern eher eine psychologische Botschaft. Die Kameras hängen nicht da, weil sie so wirksam Verbrechen verhindern, sondern weil kein Geld mehr da ist für Beamte. Tatsächlicher Schutz vor Verbrechen wäre die Anwesenheit eines echten Menschen, eines Bahnsteigwärters zum Beispiel. Aber heute ist alles wegrationalisiert. Wenn jetzt ein Verbrechen passiert, wird das politisch und medial vom Aufmerksamkeitszirkus hochgekocht, die Politik gerät unter Handlungsdruck, draußen vor der Tür wartet schon die Lobby der Sicherheitstechnologie. Die sagen sofort: Da haben wir was für euch. Kostet euch zwar auch eine Milliarde, aber wenig Personalkosten, und die Leute wissen, dass ihr was tut. Neu im Vergleich zu den achtziger Jahren ist aber sicherlich der Selbstoffenbarungswunsch der jüngeren Generation. Das Phänomen Facebook ist ja ein wesentlicher Teil des Überwachungsproblems: Die Menschen stellen ihre Daten selbst ins Netz und kehren freiwillig intime Angelegenheiten nach außen. ute frevert

„das Bedürfnis nach Privatsphäre, das meiner Generation so wichtig war, existiert nicht mehr“ Zeh: Umso wichtiger ist es, die das tun zu lassen, ohne diese Informationen abzuschöpfen und zu missbrauchen. Jeder Bürger hat das Recht, sich frei zu bewegen; im Rahmen der Gesetze auch im Netz. Sicherheit vor dem Missbrauch dieser Daten muss der Staat garantieren – dafür haben wir ihn. Jetzt auf einmal zu sagen: „Da seid ihr aber selber schuld!“ finde ich ein ganz komisches Argument. Frevert: Ich sehe das genauso. Trotzdem haben wir es mit einer Veränderung menschlichen Verhaltens zu tun, wenn junge Leute heute unentwegt bereit sind, vor einer großen Gruppe von „Freunden“ zu posieren, die man dann sehr schnell auch erweitern kann. Das zeigt doch, dass das Bedürfnis nach Privatsphäre, das meiner Generation noch so wichtig gewesen ist, heute offenbar nicht mehr in gleichem Maße existiert. — PhilOSOPhiE MaGaZiN


Überwachung hat viele Gesichter: die Zentrale des Britischen Geheimdienstes SIS in London (oben), Videoanlagen im öffentlichen Raum (Mitte), Überwachungskameras in einem US-amerikanischen Gefängnis

Zeh: Ein Teil unserer Freiheit ist, darüber entscheiden zu dürfen, wo Privatsphäre anfängt und wo sie aufhört. Und mein Verdacht ist, dass am Ende der Unterschied zu früher gar nicht so groß ist. Wenn man heute abwertend sagt: „Die posten Fotos von einer Party …“ – warum soll das so anders sein, als wenn jemand vor 30 Jahren diese Fotos mit in die Klasse gebracht und herumgezeigt hat? Das ist ja im Grunde genau dasselbe Bedürfnis. Frevert: Aber wenn ich Fotos in einem Klassenraum herumzeige, behalte ich sie in der Hand – und sehe die Reaktion meines Gegenübers. Und wenn ich merke, da reagiert jemand unangemessen oder „peinlich“, kann ich das

„Mit Big data erwarten uns ethische dilemmata, auf die wir überhaupt nicht vorbereitet sind“ Juli zeh

Foto schnell wieder einpacken. Es existiert nicht in tausendfacher Verbreitung. Es gehört mir. Und noch etwas: Wenn man den Begriff des Freundes in einer Weise ausdehnt, dass er sehr weit wegrückt von diesem sehr innigen Freundschaftsbegriff, wie er sich in den vergangenen zwei Jahrhunderten entwickelt hat, dann liegt es auch nah, den damit eng verbundenen Vertrauensbegriff so auszuweiten, dass er letztlich völlig inhaltsleer wird. Das ist genau das, was ich in unserer Gesellschaft beobachte. Allenthalben wird man gefragt, ob man dieser oder jener Institution, dieser oder jener Partei vertraut. Das sind Überforderungen des Vertrauensbegriffs, die auch manipulativ eingesetzt werden, um uns bestimmte Sphären – wie eben die Sphäre der Politik – menschlich nah zu rücken. Frau Frevert, Sie beschäftigen sich als Historikerin mit der Erforschung von Gefühlen. Wann vertrauen wir einem Menschen denn? Frevert: Wir brauchen dafür Marker. Das können sehr oberflächliche, äußerliche Markierungen sein. Ein gepflegtes Äußeres zum Beispiel, gute Manieren. Es kann aber auch eine Erfahrung sein, die Sie mit einer Person teilen. Nicht unbedingt eine lange Erfahrung, sondern eine wichtige und bezeichnende Erfahrung, die die andere Person als vertrauenswürdig ausweist. Ganz ohne vorgängige Erfahrung geht es kaum – wenn wir nicht von „blindem Vertrauen“ sprechen wollen. Zeh: Bei mir persönlich bezeichnet Vertrauen häufig nur ein ganz diffuses Gefühl, mich in der Gegenwart eines anderen Menschen aufgehoben zu fühlen. Und das liegt Nr. 02 — fEbruar/MärZ 2014

sicherlich nicht am gepflegten Anzug. Ich glaube nicht, dass Vertrauen auf fassbare Kriterien zurückführbar ist. Im Vertrauen steckt doch sehr viel, was wir überhaupt gar nicht einschätzen, wissen oder auch erklären können. Frevert: Da sind Sie natürlich hier an der falschen Adresse (lacht). Wenn ich sage: „Ich will die Geschichte der Gefühle erforschen“, dann steckt hinter dem Erforschen ein Wissenwollen. Nicht nur Historiker, auch Neuroökonomen versuchen herauszufinden, was Vertrauen ist und wie es sich einstellt. Wann funktioniert es, wann nicht? Wie belastbar ist es? Wie kann man es durch Hormone oder Placebos beeinflussen? Das Wissen um Gefühle ist eine enorm machtvolle Ressource, im privaten Bereich nicht anders als in der Welt des Konsums und der Politik. Zeh: Wenn man dabei von einem Optimierungsinteresse geleitet ist, würde ich dieses Forschen lieber sein lassen. Es beschädigt den Menschen. In diesem Zusammenhang würde ich gern noch einmal auf den „Willen zum Wissen“ zurückkommen, wie der französische Philosoph Michel Foucault den Erkenntnisdrang der Moderne nennt. Es ist natürlich gut, wenn man viel wissen will. Aber wir müssen uns fragen: Mit welcher Macht ist ein bestimmtes Wissen verknüpft? Wie formt es unsere Vorstellung von gesund und krank? Welche Folgen hat es für unser Handeln? Mittlerweile sind wir sogar so weit, menschliches Verhalten durch immense Datensammlungen – Stichwort Big Data – voraussagen zu können. Aber was machen wir mit der Prognose, dass ein bestimmter Mensch innerhalb der nächsten sechs Monate ein Verbrechen begehen wird? Müssen wir den in Gewahrsam nehmen, um das zu verhindern? Das sind ethische Dilemmata, die auf uns zukommen und auf die wir überhaupt nicht vorbereitet sind. Frevert: Und man darf dabei natürlich nicht vergessen, dass es sich nur um Wahrscheinlichkeiten handelt. Wenn es heißt, dass ein Mensch mit 85-prozentiger Sicherheit straffällig wird, bleiben 15 Prozent Kontingenz übrig. Darüber müssen wir uns klar sein und möglicherweise sagen: Uns ist die Freiheit wichtiger als die Prävention. Der Soziologe Niklas Luhmann hat Vertrauen als ein Mittel definiert, mit der wir die fundamentale Unsicherheit im zwischenmenschlichen Handeln bewältigen. Sie haben vorhin gesagt: „Ich weiß genau, ich halte mich an die Regeln und zerschmettere jetzt keine Lampe.“ Aber Sie könnten es. Im Prinzip. Ihr Handeln bleibt für mich unverfügbar. Zeh: Selbst wenn ich jetzt einfach aufstehen und ein Bonbonpapier zwischen Ihre Bücher stecken würde, wäre das seltsam. Alles – außer hier sitzen und reden – wäre in diesem Moment irritierend. Der Pfad, auf dem wir uns bewegen, ist unglaublich schmal und doch bleiben wir ganz selbstverständlich auf ihm. Das ist für mich Grund genug, auf das grundsätzliche Funktionieren von menschlicher Gemeinschaft zu vertrauen.

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ZEiTGEisT rEPorTaGE

auf 2430 metern Höhe erstreckt sich der machu Picchu, eines der faszinierendsten bauwerke der erde

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Das

Gedankenreich

inka der

auch 500 Jahre nach ihrer auslöschung durch die spanischen konquistadoren ist diese Zivilisation noch faszinierend. Wie sah das denkuniversum dieses Volkes aus, das monumentale städte errichtet hat, aber auch arithmetik- und schriftsysteme? Wandelten die inka gar auf einem dritten, gerade heute wegweisenden Pfad ökologischer Vernunft? Eine philosophische spurensuche in Peru Von Alexandre Lacroix

Foto: Juan Manuel Castro Prieto/Agence VU

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s bringt nicht viel, den Historiker oder den Amateurarchäologen zu spielen – an diesem Morgen ziehe ich es vor, direkt an den Steinen der Inkastadt von Ollantaytambo vorurteilsfrei Eindrücke zu sammeln. Diese alte Kultstätte liegt in Peru, 60 Kilometer von Cusco entfernt (siehe Karte S. 34), auf fast 3000 Metern Höhe, in jenem Tal, in dem der Fluss Urubamba fließt und das man in den Faltblättern der Reisebüros auch das „Heilige Tal der Inkas“ nennt. Ollantaytambo ist in eine Einkerbung des Berges gebaut; die Stadt erhebt sich in majestätischen Terrassen, die von Treppen gesäumt werden; ihre Wälle werden von polygonalen Blöcken

gebildet. Vor allem diese Mauern sind es, die im ersten Moment die Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Manche Blöcke sind gigantisch und wiegen mehrere Tonnen, doch sind sie perfekt aneinandergefügt. In die Zwischenräume passt nicht einmal eine Stecknadel. Es gibt weder Mörtel noch Zement; und sie haben sich nicht verrü ckt, haben der winterlichen Erosion ebenso widerstanden wie den Erdstößen, die die Kordilleren gelegentlich erschüttern. Ich habe nicht die geringste Vorstellung, wie die Inka diese Steine haben bearbeiten können – ihre Fertigstellung ist so akkurat, als wären sie abgeschliffen worden –, und ebenso wenig, wie sie sie bis zu

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ZEiTGEisT rEPorTaGE

Fotos: Hervé Hughes/Hemis.fr; Courtesy of Gary Urton

ligenz dann ernsthaft Früchte trug. Wo aber wäre in diesem fortschrittsgläubigen und abendlandzentrierten Schema, das Hegel so eloquent beschreibt, der Platz Südamerikas? „Ich muss zugeben, dass Hegels Worte für das präkolumbische Amerika recht hart waren. Für ihn gehörten diese Zivilisationen – Maya, Azteken, Inka – nicht zur Universalgeschichte dazu. Denn sein Kriterium, um zu dieser Zutritt zu erlangen, ist der Staat. Es ist offensichtlich, dass Hegel in diesem Punkt keine ausreichend vertiefte Kenntnis der Inka-Zivilisation hatte. Er wusste nicht, dass es hier einen extrem hierarchisierten Staat gab, der den gesamten Andenraum auf Basis von Dezimalaufteilungen verwaltete, Abgaben erhob und Ordnung gewährleistete, aber auch für die Erziehung, die Gesundheitspflege, die Bereitstellung von Lebensmittelvorräten sorgte …“ Müsste man dann nicht das präkolumbische Amerika wieder in die große Geschichte der menschlichen Vernunft integrieren? Könnte man nicht sogar die Behauptung wagen, frage ich mit Enthusiasmus, dass diese Inka, die überhaupt nicht die Ordnungen (Materie und Form, Nützlichkeit und Schönheit, Menschliches und Göttliches) trennten, auf ihre Weise dem „absoluten Wissen“ nahekamen, von dem Hegel am Ende der „Phänomenologie des Geistes“ sprach, jenem geistigen Begreifen der Totalität der Welt, die jenseits aller Antithesen angesiedelt ist? Meine Euphorie lässt Miguel lächeln: „Das glaube ich, ehrlich gesagt, nicht. Es stimmt, dass Hegel nur eine grobe Kenntnis des Andenraums besaß … Doch wenn er ihn besser gekannt hätte, wäre er zu dem Urteil gekommen, dass diese Zivilisationen zu dem gehören würden, was er den Orient nennt. Aus mehreren Gründen. Zum einen, weil die Rationalität der Inka geschlossen ist; mit anderen Worten, diese Zivilisation stand nicht im Dialog mit anderen, während der maritime Austausch im zivilisatorischen Prozess in der Mittelmeerregion und dann in Europa eine vorherrschende Rolle gespielt hat. Alsdann gibt es für Hegel im Orient eine substanzielle Identifikation zwischen Individuum, Natur und Politik. Diese harmonische Kombination ist in den Augen Hegels nicht sehr positiv, denn sie verwehrt die individuelle Freiheit. Die Inka kennen den Staat, aber weder die Freiheit noch den Sinn für Verantwortung, der dem griechischen Bürger auferlegt ist. Und schließlich hatten die Inka gewiss bemer-

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fern vom Platonismus betrachten die inka die Zahlen als personalisierte figuren, die ein leben haben kenswerte Kenntnisse – insbesondere in der Mathematik –, doch handelte es sich trotzdem um ein anderes Grundverständnis von Wissenschaft. In der europäischen Mathematik, in der Algebra, sind die Zahlen abstrakte Idealitäten. Galilei sagte, dass das Buch der Natur in mathematischer Sprache geschrieben sei, was bedeutete, dass man diese abstrakte Sprache beherrschen musste, um die Natur zu entziffern. Bei den Inka hingegen wird Mathematisches als Immanentes begriffen, und erlernt wird es folglich, indem man die Natur beobachtet; es gibt hier keinen Unterschied zwischen Beobachtung der Natur und Konstruktion einer idealen mathematischen Sprache.“ Harmonie statt logischem Spiel Ich nehme die Mahnung ernst, kann aber gerade die letzte Bemerkung nur zur Hälfte akzeptieren. Ich spüre deutlich, dass dort, auf der Ebene der mathematischen Vorstellungen der Inka, der springende Punkt liegt, das eigentliche Rätsel, das zu lösen wäre, um Zugang zu ihrer Weltsicht zu erlangen. Wie kommt es fürs Erste, dass sie wie wir ein Dezimalsystem eingeführt haben? Sollte es vor Christoph Kolumbus zu Kontakten zwischen unseren Kulturen gekommen sein, über Alaska oder Grönland? Ich spreche darüber mit Juan Ossio Acuña, ebenfalls Professor an der PUCP und 2010 bis 2011 Kulturminister von Peru: „Die mittelamerikanischen Indianer zählten auf der Basis der Zahl 20, das Dezimalsystem ist also eine Besonderheit der Inka. Allgemein wird angenommen, dass es im 3. Jahrhundert nach Christus durch die Moche-Kultur in den Andenraum eingeführt wurde, eine Zivilisation, die ungefähr von 300 bis 800 unserer Zeitrechnung bestan-

Das Gebiet von Moray erinnert an ein griechisches Amphitheater, wurde von den Inka aber zu landwirtschaftlichen Zwecken genutzt Abbildung eines Quipus: Die aneinandergeknüpften Schnürchen aus Lamawolle mit zahlreichen verschiedenen Knoten stellen möglicherweise eine Art „Schrift“ der Inka dar

— PhilOSOPhiE MaGaZiN


den hat. Doch Sie müssen verstehen, dass die Zahl Zehn (die den Inka insbesondere dazu diente, die Familienstrukturen und die Abgabenerhebung zu organisieren) nicht die einzige war, die in den Anden und in Amazonien eine Rolle gespielt hat. So war bei den Inka die Fünf sehr wichtig. Fünf wie die Finger der Hand. Und auch die Zwei – Cusco war in zwei Teilen errichtet, eine von den Adligen bewohnte Oberstadt und eine volkstümlichere Unterstadt. Die Drei erhält man als Komplementär der Zwei: Wenn Sie zwei Finger abzählen, bleiben drei. Doch der Zusammenhang zwischen Zwei und Drei ist nicht nur anatomisch. Claude Lévi-Strauss hat in seinen Arbeiten über die Amazonas-Völker, insbesondere über die Bororo, klar gezeigt, dass sie sich bei der Organisation ihres Dorfes auf einen konzentrischen Dualismus berufen: im Zentrum die Hütten der Männer, außen die Hütten der Frauen. Damit es zum Aufeinandertreffen kommen kann, wird im konzentrischen Dualismus jedoch ein dritter Raum unabdingbar: Männer und Frauen müssen sich begegnen, und im Dorf der Bororo spielt der Tanzplatz diese Rolle. Deshalb ist Lévi-Strauss der Ansicht, man müsse den symmetrischen Dualismus – den reinen, manichäischen Gegensatz – unterscheiden vom konzentrischen Dualismus, der der Triade den Weg bereitet. Sie verstehen, warum Zwei und Drei so eng miteinander verknüpft sind. Doch wenn Sie mehr darüber erfahren wollen, gibt es eine Person, die Sie unbedingt sprechen sollten: Gary Urton.“ Ich mache mich kundig: Gary Urton, Professor für präkolumbische Studien in Harvard, ist der Autor eines erstaunlichen Buches: „The Social Life of Numbers: a Quechua Ontology of Numbers and Philosophy of Arithmetic“ (Texas University Press, 1997). Beim Eintauchen in seine Arbeiten mache ich die Entdeckung einer Disziplin, deren Existenz ich nicht einmal geahnt hatte: der Ethnomathematik. Sie besteht darin, nicht nur die mathematischen Systeme zu untersuchen, sondern auch die Bedeutung, die sie in einem gegebenen kulturellen Kontext haben. Nach der begierigen Lektüre seines Werkes gelingt es mir, ihn per Telefon zu erreichen. Gary Urton ist wahrlich ein Muster an amerikanischer Hochschulgelehrtheit: klar, empirisch, zugänglich und mit seinem Forschungsgegenstand von Grund auf vertraut. „Sie müssen sich vergegenwärtigen, dass wir im Abendland einen extrem Nr. 02 — fEbruar/MärZ 2014

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dossiEr

Das zer -

streute Ich

Foto: ann Cutting/getty images

unser alltag wird zunehmend von unterbrechungen und multitasking bestimmt. Im Dauerfeuer der medialen reize fällt es immer schwerer, auch nur einen einzigen klaren Gedanken zu fassen. Die anzahl der aDHSDiagnosen steigt ebenso kontinuierlich an wie jene der burnout-Diagnosen. Sind die fliehkräfte des digitalen Kapitalismus im begriff, neben dem alltag auch unser Innerstes zu zerreißen? Doch was wissen wir eigentlich über die wahre Gestalt des menschlichen bewusstseins? Ist unser Denken womöglich von Natur auf permanente zerstreuung angelegt? Stellt das dezentrierte Ich sogar utopische Perspektiven einer neuen, intensiveren Daseinsform in aussicht?

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dossiEr das ZErsTrEUTE iCH

Von Wolfram Eilenberger

aufmerksamkeit ist zum entscheidenden rohstoff des heutigen kapitalismus geworden Facebook oder YouTube, was anderes verleiht diesen Hunderte Milliarden schweren Neugründungen ihren Wert als unsere Aufmerksamkeit? Kein Wunder also, dass sich um dieses Gut ein Wettbewerb entwickelt hat, dessen ungewöhnliche Härte wir jeden Tag am eigenen Leibe und vor allem Geiste zu spüren bekommen: durch Pop-up-Windows und Push-Nachrichten, Live-Ticker und Google-Alerts … Die digitale Ablenkungsdichte ist mittlerweile so hoch geworden, dass selbst diejenigen unter uns Multitaskern, die sich bisher von jedem ADHS-Verdacht freizuhalten vermoch-

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ten, immer öfter von dem bedrohlichen Lebensgefühl bestimmt werden, keinen klaren Gedanken mehr fassen zu können. Es ist die Struktur des Internets selbst, die einer Logik der Fragmentierung folgt. Wird sie auch zu einer allgemeinen Denkstruktur werden? Projiziert man die jüngsten Entwicklungssprünge nur einige Jahre in die Zukunft, zeichnet sich tatsächlich das Entstehen von kulturellen Existenzen ab, denen die Fähigkeit, sich dauerhaft auf einen Text, eine Mathe-Aufgabe oder auch nur sich selbst zu konzentrieren, verloren gegangen sein könnte. Es wäre ein mögliches Ende der Welt, unserer Welt. Doch wie real ist diese Bedrohung? Und wie wäre ihr am wirksamsten zu begegnen? Von der flexibilität in die zerstreuung Im Jahre 1998 veröffentlichte der britische Soziologe und Philosoph Richard Sennett eine Studie zu den lebensweltlichen Auswirkungen dessen, was er „die Kultur des neuen Kapitalismus“ nannte. Der Titel seines viel beachteten Werkes lautete „Der flexible Mensch“. Sennett zufolge hatte mit dem großen Globalisierungsschub der neunziger Jahre – zusätzlich befeuert durch den Siegeszug der Computer sowie der Erfindung des Internets – in der westlichen Welt eine Revolution des Arbeitslebens stattgefunden, die durch wiederholte Brüche der Berufsbiografien, Dezentralisierung der Produktionsprozesse sowie permanente Kompetenzrevolutionen geprägt war. Zu den Leitgestalten dieser neuen Arbeitswelt stiegen Subjekte auf, „die ohne feste Ordnung auskommen und inmitten des Chaos aufblühen“, Menschen, die „unter der Fragmentierung ihres Lebens nicht etwa leiden, sondern im Gegenteil davon angeregt werden, an vielen Fronten gleichzeitig zu arbeiten“. Angewandt auf die breite Masse der Angestellten hingegen erzeugte das neue Paradigma der Flexibilität, mit seinen ständigen Orts-, Firmen- und Tätigkeitswechseln, ein Lebensgefühl tiefer Desorientierung, innerer Verlorenheit, ja manifestem Selbstverlust. Insbesondere führte nun kein einendes, identitätssicherndes Band mehr von den auf Dauer und Kontinuität angelegten Werten, die im Privaten einen guten Familienvater oder Nachbarn auszeichnen, zu der neuen Form von asozialer — PhilOSOPhiE MaGaZiN

Foto: Geof kern/Gallery stock

ister Zuckerberg, habe ich Ihre volle Aufmerksamkeit?“ „Nein.“ „Glauben Sie, ich verdiene Ihre volle Aufmerksamkeit?“, hakt der befragende Anwalt nach. Schließlich stehen bei dem Gerichtsverfahren mehrere Hundert Millionen Dollar auf dem Spiel. Doch Mark Zuckerberg (gespielt von Jesse Eisenberg) blickt in dieser Schlüsselszene des Films „The Social Network“ nur geistesabwesend aus dem Fenster, malt mit einem Bleistift Doodles auf einen Notizblock und antwortet schließlich: „Sie haben das notwendige Minimum meiner Aufmerksamkeit.“ Der Rest seines Geistes weile im Hauptquartier seiner Firma, wo derzeit Dinge geschähen, die niemand der im Raum Anwesenden – außer ihm selbst natürlich – zu verstehen in der Lage sei. Aufmerksamkeit: volle, aktive, ungeteilte, andauernde Aufmerksamkeit. Kaum jemand wüsste den Wert dieser Ressource besser einzuschätzen als der Gründer von Facebook. Tatsächlich ist sie im 21. Jahrhundert zum entscheidenden Rohstoff des heutigen Kapitalismus geworden. Ob Google oder Twitter,


Foto: xx

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„konzentrierte Zerstreuung hat etwas Gewalttätiges“ adHs, Burnout, Computersucht: ist der Mensch für die neuen Medien schlicht nicht gemacht? Ein Gespräch mit dem Philosophen Christoph Türcke über die zerstörerische kraft permanenter kicks und den Wert der Wiederholung Das Gespräch führte Svenja Flaßpöhler

Inwiefern? Die Unterbrechungslogik ist ja längst nicht mehr nur auf den Film und die Freizeit beschränkt. Sie dominiert die gesamte Arbeitswelt. Immer mehr Arbeitsprozesse laufen über Bildschirme. Der „Ruck“ des Schnittes verbindet sich mit dem Arbeitsauftrag. Dadurch bekommt er enormen Nachdruck. Zahllose kleine Rucks üben ein Dauertrommelfeuer auf das menschliche Sensorium aus – mit den entsprechenden zerstreuenden Folgen. Was genau ist denn so zermürbend an dieser Form der Zerstreuung? Zerstreuung kann ja auch sehr entspannend sein.

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Oh ja. Die Gedanken frei schweifen lassen, sich treiben lassen … wunderbar. Fatal jedoch ist die „konzentrierte Zerstreuung“, die permanente, systematische. Die hat etwas Gewalttätiges an sich. Nehmen Sie ein Callcenter. Alle 30 Sekunden ein anderer Anruf. Die Beschäftigten müssen sich ständig neu einstellen und gleichzeitig hochkonzentriert sein: ein Aufmerksamkeitsregime, das zerrüttend wirkt. Man ist bei Dienstschluss wie gerädert. Problematisch ist also gerade das Zusammenspiel von Aufmerksamkeit und Zerstreuung? Ja. Denken Sie hier auch an die Nutzung des Computers: Das ruckartige Inanspruchnehmen steigert die Aufmerksamkeit zunächst, aber der Dauerbeschuss mit Rucks führt zum geraden Gegenteil: zum Aufmerksamkeitsdefizit. Das ADHS-Phänomen ist nur die extremste Form davon. Die massiven Konzentrationsschwierigkeiten, an denen Kinder heute laborieren, lassen sich durch kindlichen Bewegungsdrang, Trotzphase oder schwierige soziale Herkunft längst nicht mehr zureichend erklären. In Ihrem Buch bringen Sie ADHS mit fehlenden Wiederholungsstrukturen in Verbindung. Warum ist Wiederholung so wichtig für die Entwicklung? Wenn Kinder etwas fasziniert, verlangen sie, dass es wiederholt wird. Sie wollen die Geschichte „noch einmal“ hören, den Witz „noch einmal“ machen, „noch einmal“ Verstecken spielen. Sie brauchen das, um Erregung abzu— PhilOSOPhiE MaGaZiN

Fotos: Manfred klimek; Erwin Wurm c/o shotview syndication, „Performative sculpture", 2011, Courtesy: Jakob Gasteiger/roland reiter, Wien, Foto: Elfie semotan & Erwin Wurm

christoph Türcke ist Philosoph und Professor an der Hochschule für Gestaltung und Buchkunst in Leipzig. Die Wahrnehmungsweise in der Moderne ist einer seiner Forschungsschwerpunkte. Publikationen zum Thema: „Erregte Gesellschaft. Philosophie der Sensation“ ( C. H. Beck, 2002) und „Hyperaktiv! Kritik der Aufmerksamkeitsdefizitkultur“ (C. H. Beck, 2012)

Herr Türcke, in Ihrem jüngsten Buch „Hyperaktiv!“ beschäftigen Sie sich mit der heutigen, wie Sie es nennen, „Aufmerksamkeitsdefizitkultur“. Wie ist dieses Defizit begründet? Entscheidend dafür ist die Unterbrechungslogik der neuen Medien, die ihren ersten Ausdruck im Bildschnitt des Films gefunden hat: Der Schnitt verunmöglicht dem Betrachter, bei einer Szene, bei einer Einstellung zu bleiben. Natürlich, die Erfindung des Schnitts war ungeheuer belebend: Plötzlich war es möglich, Wirklichkeitsdimensionen ganz neu und auf höchst inspirierende Weise zusammenzuschließen! Das Problem ist, dass diese Errungenschaft heute den Charakter einer allgemeinen Wahrnehmungsform bekommen hat.


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„Zu viel aufmerksamkeit macht blind!“

Philipp Hübl ist Juniorprofessor für Theoretische Philosophie an der Universität Stuttgart. Sein philosophisches Sachbuch „Folge dem weißen Kaninchen“ (Rowohlt, 2012) wurde zum Bestseller

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ls Vorbereitung auf diesen Artikel wollte ich mir den Vortrag eines Psychologen auf YouTube ansehen: Schon bei der Eingabe zieht mich der Werbeclip einer Spielkonsole in ihren Bann. Ein kurzer Klick und ich sehe Römer marschieren. Dabei fällt mir der Film „Gladiator“ ein, und ich frage mich, wie die Figur des Hauptdarstellers Russell Crowe heißt. Dabei spüre ich, dass ich Hunger habe. Ich gehe in die Küche und lege ein Brötchen auf den Toaster. Während die Glühfäden glimmen, höre ich im Arbeitszimmer das Signal einer SMS. Zurück am Schreibtisch, wundere ich mich kurz, dass YouTube geöffnet ist. Während mir der Geruch von Verbranntem in die Nase steigt, fällt mir ein, dass ich ja einen Artikel schreiben wollte. Muss ich mir Sorgen machen, dass ich zum sprichwörtlich zerstreuten Akademiker werde, der sein Handy im Kühlschrank vergisst? Oder stellt Abgelenktheit vielleicht den Normalfall dar, während Konzentration eher sonderbar ist? Zunächst könnte man annehmen, Zerstreutheit wäre das Gegenteil von Aufmerksamkeit. Aber das stimmt nicht. Meine Aufmerksamkeit war die ganze Zeit auf etwas gerichtet: Werbung, Film, Hun-

ger, SMS, Geruch. Zerstreutheit ist vielmehr die Unfähigkeit, seine Aufmerksamkeit aktiv auf eine Aufgabe zu fokussieren. Diese Unterscheidung in aktive und passive Aufmerksamkeit haben Ende des 19. Jahrhunderts bereits Hermann von Helmholtz und William James getroffen, zwei Begründer der experimentellen Psychologie. Aktiv ist die Aufmerksamkeit demnach, wenn wir sie selbst kontrolliert auf etwas lenken, passiv, wenn sie zu einem Stimulus hingezogen wird. Die evolution der aufmerksamkeit Vertraut mit dieser Unterscheidung, kann man fragen, ob Zerstreutheit ein natürlicher Zustand ist oder vielmehr eine Folge von Internet und Smartphones? Vermutlich beides. Denn bereits auf unsere Vorfahren prasselten mehr Informationen ein, als sie verarbeiten konnten. Wir hören, sehen, riechen und denken nämlich nicht nebeneinander her, sondern alle Eindrücke fließen zu einem einheitlichen Bewusstseinsstrom zusammen, wie James es ausdrückt. Doch nicht alles fließt in der Mitte des Stromes. Hätten wir nur ein Sinnesorgan, bräuchten wir keine Aufmerksamkeit. Da wir aber dauerhaft mental überfordert sind, überlebten — PhilOSOPhiE MaGaZiN

Fotos: Thorsten Wulff; lee Materazzi

Zerstreute Menschen haben keinen guten ruf. sie gelten als unzuverlässig und unfallgefährdet. dabei waren es gerade die ablenkungsfreudigen unter unseren Vorfahren, die anfänglich höhere Überlebenschancen hatten. Philipp Hübl über die Evolution der achtsamkeit, unsichtbare Gorillas und das Hirngespinst der totalen selbstbeobachtung


Zunächst könnte man annehmen, Zerstreutheit wäre das Gegenteil von aufmerksamkeit. aber das stimmt nicht in der Stammesgeschichte diejenigen, deren Aufmerksamkeit die wichtigen Reize herausgriff: ein lautes Knurren zur Rechten; ein dunkler Schatten, der sich von links nähert … Was wir heute als Zerstreutheit erleben, sind die evolutionären Nachwehen dieser ständigen Wachsamkeit. Auf der Jagd sind die Sinne zwar fokussiert, aber in der übrigen Zeit ist der Geist automatisch auf Alarm gestellt, und so zieht es unseren Fokus von einem Reiz zum nächsten. Vor allem sogenannte „strategische Informationen“ wecken ständig unser Interesse: Wer in unserer Gruppe schaut verärgert? Wer zeigt Interesse Nr. 02 — fEbruar/MärZ 2014

an uns? Soziale Gedanken drängen sich ständig in den Fokus des Bewusstseins: Haben wir uns richtig verhalten, bilden andere Bündnisse gegen uns? Zwar zeigen viele Tiere komplexes Verhalten, doch nur Menschen sind handelnde Wesen. Nur wir können Bewegungen willentlich und überlegt ausführen: die Luft anhalten, unsere Wut unterdrücken oder so tun, als würden wir uns über ein Geschenk freuen. Zu unseren Taten zählen nicht nur Körperbewegungen wie Fahrradfahren, sondern auch mentale Handlungen wie Nachdenken oder Kopfrechnen. Die aktive Aufmerksamkeit

gehört ebenfalls zu diesen mentalen Handlungen. Der Psychologe Roy Baumeister hat in Experimenten gezeigt, dass die Parallelen zu Körperhandlungen hierbei überwältigend sind: So haben Versuchspersonen bei langen Konzentrationsaufgaben mehr Kalorien verbraucht als die entspannte Kontrollgruppe. Sie schneiden sogar bei Klimmzügen schlechter ab. Jeder kennt diese Erschöpfung nach einem harten Arbeitstag, selbst wenn man bloß am Schreibtisch gesessen hat. Baumeister konnte zudem zeigen, dass Aufmerksamkeit wie ein Muskel funktioniert: Wer sich oft konzentrieren muss, ist auf Dauer bei allen Übungen besser. Handeln heißt, willentlich in die Welt einzugreifen, speziell in die Abläufe des eigenen Körpers. Das ist ein enormer Evolutionsvorteil für eine Spezies. Es bleibt bis heute ein Rätsel,

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„Man kommt nie in den Kopf des anderen“ Michael Haneke ist der Philosoph unter den regisseuren. seine Filme erkunden das dünne Eis, auf dem wir im täglichen Miteinander wandeln – und reflektieren die Gefahren des Mediums Film gleich mit. der österreichische oscar-Preisträger über die Gewalt der Bilder, die Grenzen der sprache und wahre kommunikation Das Gespräch führten Wolfram Eilenberger und Svenja Flaßpöhler fotos von Daniel Gebhart de Koekkoek

Es ist eiskalt in Wien. Die Filmakademie weiß den Temperaturen rein atmosphärisch wenig entgegenzusetzen: Am Empfang sagt man uns gleich, dass es für die Fotoaufnahmen leider keinen einzigen schönen Ort gebe. Michael Haneke empfängt in seinem schlicht eingerichteten Büro. Weißer Schreibtisch. Weiße Wände. Der Raum strahlt Ruhe aus. So wie der Filmemacher selbst, der in seinen Werken mit größter Präzision Menschen in ihrer Unberechenbarkeit beschreibt. Häufig spielt ein ganzer Film an nur einem Ort. Nichts lenkt ab vom Ungeheuerlichen, das sich langsam und schleichend anbahnt. Auch jetzt ist es ganz still. Draußen beginnt es zu schneien. Herr Haneke, sprechen wir über Ihren ersten Kinobesuch. Sie haben eine „Hamlet“-Verfilmung gesehen und waren so schockiert, dass Sie das Kino verlassen mussten … Ich war fünf und meine Großmutter ging mit mir ins Kino. Man sieht ein Schloss am Meer und die Wogen branden und die Musik ist düster … Vor mir dieses Riesenbild … Ich selbst kann mich nicht mehr erinnern, aber ich habe mich offenbar so gefürchtet und dann zu weinen und zu schreien begonnen, dass meine Großmutter gezwungen war, mit mir das Kino zu verlassen. Den Film habe ich dann gar nicht gesehen, nur die ersten zwei, drei Minuten. Gibt es noch eine andere, vielleicht weniger traumatische Filmerfahrung, die Sie als Kind gemacht haben? Ja, das war während eines Aufenthalts in Dänemark … Da kann ich mich noch sehr gut daran erinnern. Das war ein Film, der in Afrika gespielt hat, mit vielen Tieren und

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so weiter. Ich war total begeistert. Und dann war der Film aus und die Türen zur Straße gingen auf – und draußen war es finster, weil es Abend war, und ich habe es nicht verstanden. Ich habe gesagt: „Jetzt war ich doch gerade in Afrika, wieso bin ich jetzt wieder da?“ Rückblickend glaube ich, dass das ein entscheidender Moment für mich war, genauer: für mein Misstrauen dem Medium gegenüber. Diese Macht der Bilder, Illusionen zu erzeugen … Der französische Philosoph Roland Barthes spricht vom „Realitätseffekt“ der Bilder – diesen Effekt haben Sie schon damals sehr bewusst wahrgenommen? Ich hatte halt das Glück, in einer Zeit aufzuwachsen, als Fernsehen noch keine Selbstverständlichkeit war. Ein Mensch, der vom Babyalter an mit dem Fernsehen aufgewachsen ist, kann das gar nicht so bewusst wahrnehmen. Ich möchte nicht wissen, wie viele Traumata entstehen bei einem Kleinkind, das sich nicht artikulieren kann und diese Bilder für die Wirklichkeit nimmt. Das ist ja das Dilemma des heutigen Menschen, dass er glaubt, er sieht die Realität, indem er in die Glotze schaut, obwohl das mit der Realität ziemlich wenig zu tun hat. Platon hat die Macht der Bilder in seinem Höhlengleichnis ja schon sehr eindrücklich beschrieben: Die Menschen in der Höhle sehen Schatten an der Wand und halten Sie für lebendige Wesen … Würden Sie Ihr eigenes Werk als eine Art Immunisierung gegen die Verführbarkeit der Bilder bezeichnen? Ja, schon. Ich versuche das Misstrauen gegenüber der Glaubwürdigkeit des Mediums zu nähren. Filme zu — PhilOSOPhiE MaGaZiN


Biografie

Michael Haneke 1942: Geburt in München, Kindheit in der Wiener Neustadt 1967: Abbruch des PhilosophieStudiums, Wechsel zum Südwestfunk als Fernsehdramaturg 1989: Debüt als Kinoregisseur mit „Der Siebente Kontinent“ 2009: Über 40 Auszeichnungen für „Das weiße Band“, unter anderem die Goldene Palme in Cannes 2013: Golden Globe Award und oscar für „Liebe“ in der Kategorie „Bester fremdsprachiger Film“

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diE PHilosoPHEN

DEr KlaSSiKEr

Epikur Lust aufs Leben Er wurde von seinen Zeitgenossen als Vielfraß und sittenstrolch verleumdet. der griechische Philosoph Epikur (341–270 v. Chr.) stellte den menschlichen leib ins Zentrum seines denkens und formulierte ausgehend von dessen zentralen Bedürfnissen eine Philosophie des guten lebens. Gefangen zwischen lust und schmerz, endlicher Existenz und unendlichem streben, sucht der Mensch sein lebensglück. anders als für seine philosophischen Gegenspieler der stoa, findet Epikur das Glück in einer offenen anerkennung der eigenen Bedürfnisse und Triebe. Fern eines oberflächlichen luststrebens weist Epikur damit den Weg zu einer sorgsamen Pflege des selbst, die auch direkt körperliche und sinnliche aspekte unserer Existenz miteinschließt. Eine philosophische Provokation, die bis heute kaum etwas von ihrer sprengkraft eingebüßt hat

illustration: Nazario Graziano, colagene.com

illustrationen von Nazario Graziano

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sPiElE

GeWINNSPIeL schicken sie die passende Unterschrift zu diesem Foto von albert Camus und Jacques Hébertot an:

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DeM ICH AUF DeR SPUR (AUFLÖSUNG AUF S. 97)

Wie zynisch sind Sie? In diesem test finden Sie es heraus Sie gewinnen im Lotto. Was machen Sie mit dem Geld? a) Sie verteilen es unter Ihren Kollegen, weil es Ihnen nicht von Nutzen ist. b) Sie bewahren es sicher auf. c) Sie lassen es mehr werden, auch auf Kosten anderer. 1

Welche Kleidungsform sagt Ihnen zu? a) Lange Haare, nackte Füße und abgewetzte Kleidung. b) Eine normale. c) Viel Raffinesse: Kleider machen Leute – basta! 2

Sie faulenzen gerade am fenster. Plötzlich steht Ihr chef mit bösem blick vor Ihnen. Wie reagieren Sie? a) Sie verweisen darauf, dass die Pausen Ihres Arbeitskollegen dreimal so lange sind wie die eigenen. b) Sie bitten ihn freundlich beiseitezugehen – er versperre Ihre Sicht auf die Sonne. c) Verlegen gehen Sie umgehend wieder an die Arbeit. 3

Woran glauben Sie? a) An sich selbst, niemanden sonst. b) Ihr Land. c) Die ganze Welt. 4

Wer ist Ihr Vorbild in der antike? a) Herakles – frei, heroisch, ungebunden und Anhänger der Askese. b) Dionysos und Aphrodite – nur das Vergnügen in dieser Welt spielt eine Rolle. c) Hermes – Gott des Reichtums und des Glücks, denn das ist es, was Sie in Ihrem Leben zu erreichen erhoffen. 5

menschenfleisch essen – was denken Sie? a) Warum nicht. Es ist Fleisch wie jedes andere auch. b) Allein die Idee ekelt Sie an. c) Gut gekocht wird es bestimmt fantastisch schmecken!

Foto: roger-Violet/Ullsteinbild

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Sie sollen sich mit kaltem Wasser waschen und denken … a) ... das ist ein sehr gutes Training für den Körper. b) ... Sie mögen das nicht, aber Sie werden es schon aushalten. c) ... dass Sie es definitiv bevorzugen, schmutzig zu bleiben. 7

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man schlägt Ihnen ins Gesicht: a) Sie antworten mit der doppelten Härte – keine Frage, dass Sie so etwas nicht über sich ergehen lassen. b) Sie zögern und versuchen, die Stärke des Gegners zu beurteilen. c) Sie schreiben auf Ihrer Stirn den Namen des Täters, um Ihren Gegner zu demütigen. 8

es ist Winter: a) Sie umarmen die mit Schnee bedeckten Statuen, um sich abzuhärten. b) Sie bleiben in Ihrem gemütlichen Nest, die Heizung voll aufgedreht. c) Unwichtig: Dank der globalen Erwärmung wird es bald permanent Sommer sein. 9

Welche Hierarchie bevorzugen Sie? a) Der Mensch als Erstes, dann die Tiere und zuletzt Gott: Sie bevorzugen die menschlichen Werte und die des Lebens. b) Ganz oben Gott, denn er unterliegt keiner Einschränkung; dann die Tiere, die ihren Instinkten ohne Scham folgen, und schließlich der Mensch: Er schätzt vor allem die Freiheit. c) Die Tiere an erster Stelle, weil sie unsere gesamten Sorgen nicht kennen; dann Gott, denn er hat zumindest den Vorteil unendlicher Macht; und zu guter Letzt den Menschen, der nichts Besonderes ist und an wenig glaubt.

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