Philosophie Magazin Nr. 03 / 2014

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april/mai Nr. 03 / 2014

Was macht uns

schön ? Die Optionen, uns zu verschönern, wachsen ständig. Wir streben nach Makellosigkeit und ahnen doch: Wahre Schönheit verlangt nach mehr. Nur wonach?

Michael Hampe im Gespräch:

„Ein gelingendes Leben kennt kein Konkurrenzdenken“

Mein Wille geschehe?

Plädoyer für eine verantwortliche Suizidassistenz

Wo ist links?

Wie wir uns in der Welt orientieren Nr. 15

eilage von

Sammelb

16-seitiges Booklet

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Heidegger

Ein gefährlicher Denker

Deutschland 6,90 € Österreich: 7 €; Schweiz: 12,50 SF; Benelux: 7,40 €. Italien & Spanien: Auf Nachfrage.

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dENkEr iN diEsEM HEFT Seite 56 >

Redaktion: Brunnenstraße 143, 10115 Berlin, deutschland Tel.: +49 (0)30 / 60 98 58 215 E-Mail: redaktion@philomag.de Chefredakteur: dr. Wolfram Eilenberger (V.i.s.d.P.) Stv. Chefredakteurin: dr. svenja Flaßpöhler Berater: alexandre lacroix Art-Direktion: ralf schwanen Layout: Madlen Holz Bildredaktion: Tina ahrens, Michael Biedowicz (Produktion) Verantwortliche Redakteure: dr. Jutta Person (Büchersektion), Marianna lieder Schlussredaktion: sandra schnädelbach Lektorat: Christiane Braun Internet: Cyril druesne Redaktionsassistenz: katharina schenk Praktikant: Tom Woweries Autoren in diesem Heft: adrien Barton, dr. Pierfrancesco Basile, dr. Barbara Bleisch, Prof. dr. klaus-Michael Bogdal, Michel Eltchaninoff, dr. dr. alexander Görlach, dr. Florian Grosser, Prof. dr. Hans Ulrich Gumbrecht, Prof. dr. Markus krajewski, dr. Hans-Peter kunisch, sibylle lewitscharoff, Prof. dr. Henri de Monvallier, Philippe Nassif, Prof. dr. robert Pfaller, Bernd Piringer, Cord riechelmann, Moritz rinke, Prof. dr. Beate rössler, ariadne von schirach, rafael schmauch, daniel schreiber, Gert scobel, Nicolas Tenaillon, katharina Teutsch, Tomi Ungerer, Prof. dr. Paula-irene Villa, dr. Florian Werner, Jürgen Wiebicke, dr. roger Willemsen, Prof. dr. richard Wolin Übersetzerin: Grit Fröhlich (dossier; Was soll das?) Titelbild: Hendrik kerstens, courtesy NUNC Contemporary Verlag: Philomagazin Verlag GmbH Brunnenstraße 143, 10115 Berlin, deutschland Tel.: +49 (0)30 / 60 98 58 219 E-Mail: info@philomag.de Geschäftsführer und Verleger: Fabrice Gerschel Herausgeberin: anne-sophie Moreau Vertrieb: as-Vertriebsservice GmbH süderstraße 77, 20097 Hamburg, deutschland www.as-vertriebsservice.de Litho: tiff.any GmbH Druck: NEEF + sTUMME premium printing GmbH & Co. kG, Wittingen Anzeigen: Jörn schmieding-dieck – MedienQuartier Hamburg Tel.: +49 (0)40 / 60 94 41 401 E-Mail: schmieding-dieck@mqhh.de www.medienquartierhamburg.de Nielsen IV: Markus Piendl – MaV GmbH Tel.: +49 (0)89 / 74 50 83 13 E-Mail: piendl@mav-muenchen.com Anzeigen Buchverlage/Kultur/Seminare: Thomas laschinski – PremiumContentMedia Tel.: +49 (0)30 / 60 98 59 30 E-Mail: advertisebooks@laschinski.com

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peter Trawny

der Professor für Philosophie an der Universität Wuppertal ist der Herausgeber der in diesem Frühling erscheinenden, stark umstrittenen „schwarzen Hefte“ Martin Heideggers (klostermann). im autorendossier spricht Trawny über die Bedeutung der Notizbücher für Heideggers Gesamtwerk

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Beate rössler

Eine Frauenquote ist gerecht, behauptet die Professorin für Praktische Philosophie an der Universität amsterdam im Pro & Contra. Buch zum Thema: „Quotierung und Gerechtigkeit“ (Campus, 1993). ihr widerspricht The-European-Chefredakteur alexander Görlach

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roger Willemsen

Für seine arbeit erhielt er zahlreiche auszeichnungen, unter anderem den Grimme-Preis. soeben ist sein Buch „das hohe Haus – Ein Jahr im Parlament“ bei s. Fischer erschienen. im dossier ergründet der Moderator, regisseur und autor die schönheit der schauspielerin Marie Bäumer

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Klaus-Michael Bogdal

Für sein Buch „Europa erfindet die Zigeuner“ (suhrkamp) erhielt er den leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung. Grund genug, mit dem Bielefelder literaturprofessor über die neuen Ängste gegenüber einwandernden Bulgaren und rumänen zu sprechen. das interview lesen sie im Zeitgeist

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Sibylle lewitscharoff

die schriftstellerin wurde unter anderem mit dem ingeborg-Bachmann-Preis und dem Georg-Büchner-Preis ausgezeichnet. ihr neuer roman „killmousky“ erscheint im april bei suhrkamp. im dossier verrät lewitscharoff, warum sie Bob dylan schön findet

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Michael Hampe

sein Buch „die lehren der Philosophie“ erscheint im april bei suhrkamp. der Professor für Philosophie an der ETH Zürich erläutert im großen Gespräch, woran man ein gelingendes leben erkennt und weshalb die Philosophie eher eine kunst ist als eine Wissenschaft

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paula-irene Villa

im dossier erklärt die Professorin für soziologie und Gender studies an der Universität München, warum Menschen nie einfach von Natur aus schön sind und Frauen besonders hart an sich arbeiten. Bücher zum Thema: „schön normal“ (Transcript, 2008) sowie „sexy bodies“ (springer, 2011)

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Florian Werner

Presse- und Öffentlichkeitsarbeit: sabine schaub Tel.: +49 (0)30 / 31 99 83 40 E-Mail: s.schaub@schwindkommunikation.de www.schwindkommunikation.de

seine Bücher wurden mehrfach ausgezeichnet und in verschiedene sprachen übersetzt. Zuletzt erschien: „Verhalten bei Weltuntergang“ (Nagel & kimche, 2013). im Zeitgeist geht der promovierte literaturwissenschaftler dem Unterschied von links und rechts nach

Abo-Service: Philosophie Magazin Leserservice PressUp GmbH Postfach 70 13 11 22013 Hamburg Tel.: +49 (0)40 / 41 44 84 63 Fax: +49 (0)40 / 41 44 84 99 E-Mail: philomag@pressup.de

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Online-Bestellungen: www.philomag.de/abo

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Barbara Vinken

die Professorin für allgemeine und Französische literaturwissenschaft an der Universität München diskutiert im Heft mit dem Psychoanalytiker Wolfgang schmidbauer über das Unheimliche der schönheit. ihr jüngstes Buch: „angezogen. das Geheimnis der Mode“ (klett-Cotta, 2013)

Thomas Macho

im dossier erklärt der Professor für kulturgeschichte an der HU Berlin, warum der satz „Wer schön sein will, muss leiden“ durchaus sinn ergibt und weshalb das leiden einen ganz eigenen ästhetischen Wert besitzt. Buch zum Thema: „Was ist schön?“ (Wallstein, 2010) Das Philosophie Magazin ist erhältlich im Bahnhofsund Flughafenbuchhandel in Deutschland

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Die nächste Ausgabe erscheint am 15. Mai 2014 — pHilOSOpHiE MagaziN

Fotos: dieter Mayr; alina Gross; University of amsterdam; picture alliance/dpa (2); picture alliance/dpa; Julian salinas; privat; Johanna ruebel; picture alliance/ZB

Zweimonatlich Nr. 03 – April/Mai 2014


iNHalT ZeITGeIST 06 07 08 10 12 14

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Fotos: klaus-dietmar Gabbert/picture alliance/dpa; alejandro reinoso; Elinor Carucci/institute; Emmanuel Polanco, colagene.com/akg-images/Fritz Eschen; isabelle Wenzel „Positions 2013"

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Leser fragen Barbara Bleisch antwortet Tomi Ungerer erklärt kindern die Welt Leserbriefe Sinnbild Radar Plädoyer Mein Wille geschehe? die gegenwärtige debatte um suizidassistenz wird von unhaltbaren Extrempositionen bestimmt. Zeit für einen vermittelnden lösungsvorschlag. Von Svenja Flaßpöhler Pro & Contra ist eine Frauenquote gerecht? Perspektive Die erfindung der Zigeuner Ein Gespräch mit Klaus-Michael Bogdal über die Wurzeln des antiziganismus Lockerungen Freier denken mit Robert Pfaller. diesmal: liebe deinen Übernächsten? Analyse Sag mir, wo die Linke ist der Unterschied von links und rechts ist für unsere orientierung fundamental. aber wo liegt sein Ursprung? Von Florian Werner Brauchen wir e-Zigaretten? Markus Krajewski testet ein neues Produkt

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Was macht uns schön? Was wäre die Welt ohne sie? Wahre schönheit betört, ist unwiderstehlich, bildet den sehnsuchtspunkt unserer Existenz. aber worin liegt ihr Geheimnis? Müssen wir für sie leiden? lieben? oder uns selbst vergessen? Mit Beiträgen von Marianna Lieder, Hans Ulrich Gumbrecht, Thomas Macho, Konrad Paul Liessmann, Sibylle Lewitscharoff, Ariadne von Schirach, Barbara Vinken, Paula-Irene Villa, Roger Willemsen und anderen

DIe PHILoSoPHeN 60 > 66 > 67 > 68 >

Dieses Heft enthält eine 16-seitige Sammelbeilage: „Die Selbstbehauptung der deutschen Universität“ (Rektoratsrede von 1933) von Martin Heidegger

BÜCHeR 80 > 82 > 85 > 87 > 88 > 90 > 93 > 97 > 98 >

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Das Gespräch Michael Hampe: „Ein gelingendes leben kennt kein konkurrenzdenken“ in seinen Werken sucht der Züricher Philosoph nach Wegen in ein gelingendes leben. Ein Gespräch über falsche Erkenntnisideale und musizierende sokratiker Beispielsweise Ist was, Kätzchen? Jacques derridas scham vor der eigenen katze veränderte sein denken über Mensch und Tier Was soll das? „Mathematik ist eine Wissenschaft, in der wir niemals kennen, worüber wir sprechen“, meint Bertrand russell. Britischer Humor oder bittere Wahrheit? Heidegger Er ist der einflussreichste und wuchtigste denker des 20. Jahrhunderts. Wie eng war seine Philosophie mit der Ns-ideologie verbunden? Ein dossier über Heideggers dunkles Vermächtnis Mit Beiträgen von Wolfram Eilenberger, Florian Grosser, Peter Trawny und Richard Wolin

Dem Denken auf die Sprünge helfen Ein Buch über die analogie erklärt, warum unser Hirn Äpfel mit Birnen vergleicht Mit Nietzsche im Schützengraben 100 Jahre Erster Weltkrieg: drei Bücher beleuchten die kriegstreiberei der deutschen dichter und denker Scobel.mag die kolumne mit durchblick Im Verhör Jürgen Wiebicke lauscht „Zehn Milliarden“ Dichter und Wahrheit das taumelnde selbst. die schriftstellerin Siri Hustvedt arbeitet an einem neuen Menschenbild Agenda Philosophische Termine Comic + Spiele Das Gare ist das Wahre Philosophisch kochen mit Bernd Piringer. dieses Mal: adornos kräuterrisotto „Wiesengrund“ Sokrates fragt Jan Costin Wagner antwortet

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ZEiTGEisT PlÄdoyEr

Mein Wille geschehe? die debatte um den begleiteten suizid ist neu entflammt. sie wird bestimmt von extremen Positionen und hoher Emotionalität. Höchste Zeit für aufklärung – und einen vermittelnden lösungsvorschlag Von Svenja Flaßpöhler >

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Fotos: Hollandse Hoogte/laif; Johanna ruebel

s gibt kaum ein Thema, das so existenziell ist und gleichzeitig so tief in das Selbstverständnis einer Gesellschaft hineinreicht wie das des würdigen Sterbens. Hat der Mensch das Recht, selbst über sein Lebensende zu verfügen? Und wenn ja: Inwieweit darf er andere in den Dienst des eigenen Todeswunsches stellen? Diese Fragen bilden den Kristallisationspunkt des neu entbrannten Streits über Suizidassistenz, der gegenwärtig durch zwei extreme Positionen bestimmt wird: Während die einen dem Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen absolute Priorität einräumen und einen umfassenden Anspruch auf eine Suizidbegleitung fordern, ist das erklärte Ziel der anderen, diese Sterbehilfepraxis gesetzlich ein für alle Mal zu verbieten. Ein Wortführer der radikalen Befürworter ist der ehemalige MDR-Intendant Udo Reiter. „Es geht um Menschen, die nicht todkrank sind, aber in freier Entscheidung zu dem Entschluss kommen, nicht mehr weiterleben zu wollen, sei es, weil sie (…) den Verlust ihrer Persönlichkeit im Altwerden nicht erleben wollen, sei es, weil sie einfach genug haben und, wie es im ersten Buch Moses heißt, ,lebenssatt‘ sind“, so der querschnittsgelähmte Publizist in seinem Anfang des Jahres veröffentlichten Plädoyer. „Diese Menschen werden in unserer Gesellschaft allein gelassen. Sie müssen sich ihr Ende quasi in Handarbeit selbst organisieren. Das kann nicht so bleiben.“ Dieser liberalen Haltung widerspricht Gesundheitsminister Hermann Gröhe energisch: So forderte der CDU-Politiker kurz nach Erscheinen des Reiter-Texts ein Gesetz, das nicht nur – wie ein Entwurf der alten Regierung aus dem Jahr 2013 vorsah – die gewerbsmäßige, sondern auch die geschäftsmäßige Suizidassistenz unter Strafe stellt. Verboten werden soll die Beihilfe in jeder organisierten Form; ob nun von gewinnorientierten Vereinen ausgeübt (gewerbsmäßig) oder von Ärzten praktiziert (geschäftsmäßig). Denn, so Gröhe: „Wer (…) die Selbsttötung propagiert, als Ausdruck der Freiheit des Menschen geradezu verklärt, der versündigt sich an der Wertschätzung des menschlichen Lebens in allen seinen Phasen.“ Das nationalsozialistische Trauma Die Leidenschaftlichkeit, mit der diese seit Jahren schwelende Debatte nun endlich geführt wird, ist begrüßenswert. Doch fallen durch die hohe Emotionalität, mit der gerade wir Deutschen über Fragen der Euthanasie (griech. schöner Tod) diskutieren, wesentliche Differenzierungen unter den Tisch. So ist auffällig, dass beide Lager ebenso wie das Gros berichtender Journalisten die Suizidassistenz notorisch als „aktive Sterbehilfe“ und damit als eine Tötung auf Verlangen bezeichnen. Ein Fehler, der Sterbehilfegegnern oft nicht unabsichtlich unterläuft, um das nationalsozialistische Trauma heraufzubeschwören und die Suizidbeihilfe von vornherein zu kriminalisieren. Für eine sachbezogene Debatte ist jedoch eine saubere Unterscheidung der beiden Sterbehilfeformen dringend vonnöten: Zwar hat auch die qua Injektion durchgeführte aktive Sterbehilfe nichts mit der Ermordung von Kindern und Behinder-

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ten im Dritten Reich zu tun; immerhin handelt es sich um eine Tötung auf Verlangen. Dennoch birgt diese Hilfe – die hierzulande genauso verboten ist wie in der Schweiz – die Gefahr des Missbrauchs insofern, als Menschen, die sie in Anspruch nehmen, nicht immer bei Bewusstsein sind. Sollten sie ihren Willen nicht zweifelsfrei in einer Patientenverfügung niedergelegt haben, bleibt ein gewisser Spielraum, den „mutmaßlichen Willen“ zu ermitteln. Bei der Suizidassistenz hingegen ist von vornherein ausgeschlossen, dass ein Arzt einen Patienten ohne dessen erklärtes Einverständnis tötet. Um eine Beihilfe zur Selbsttötung nämlich handelt es sich, wenn der Sterbewillige selbst die zum Tode führende Handlung vornimmt und die Beihilfe sich auf die Ermöglichung oder Erleichterung dieser Handlung beschränkt. Die Missbrauchsgefahr ist im Fall der Suizidassistenz geringer: Der Suizidant muss den Akt eigenhändig und bei voller Urteilsfähigkeit ausführen. Hierfür wird eine tödliche Dosis Natrium-Pentobarbital bereitgestellt, das der Sterbewillige selbst zum Mund führen muss; fehlt

Sowohl die Sichtweise der Freitodhilfebefürworter wie auch die der gegner ist unhaltbar hierfür die Kraft, besteht die Möglichkeit, eine Infusion durch das Betätigen eines Hahns in den eigenen Körper zu leiten. (Zur Unterscheidung der Sterbehilfeformen siehe S. 20.) Der blinde Fleck der Befürworter Doch nicht nur die begrifflichen Unschärfen, auch die Extremität der Positionen zeugt von einem Unwillen, gar einer Angst, sich mit dem Thema wirklich auseinanderzusetzen. Tatsächlich sind beide Sichtweisen, sowohl die der Befürworter wie auch die der Gegner, unhaltbar. Beginnen wir mit den Befürwortern, die einem Sterbewilligen ein Recht auf Beihilfe auch dann zubilligen wollen, wenn er nicht todkrank ist, sondern lediglich „genug“ hat. Das hieße in letzter Konsequenz: Ein altersschwacher Mensch hat genauso Anspruch auf Beihilfe wie ein von Liebeskummer geschüttelter Jugendlicher oder ein Depressiver, der gerade eine Episode durchlebt. Weniger überspitzt formuliert: Wo genau wollte man die Grenze ziehen, wenn letztlich nur der Betroffene selbst entscheiden kann, wann er „lebenssatt“ ist? Wie könnte bei einem solch subjektiven Kriterium, das sich jeder objektiven Überprüfbarkeit entzieht, noch eine Assistenz abgelehnt werden? „Wer bestimmt“, so der Publizist Fritz J. Raddatz, ebenfalls ein radikaler Befürworter der Suizidassistenz, „was jemand wann auf welche Weise darf? Der Staat? Ich spreche dem Staat rundweg jegliches Recht dazu ab.“ An dieser Stelle tritt das fundamentale Problem zutage, über das in den flammenden Plädoyers mit keinem Wort gesprochen wird: dass bei einer Beihilfe zur Selbsttötung nicht einfach ein

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Svenja Flaßpöhler ist promovierte Philosophin, Buchautorin und stellvertretende Chefredakteurin des Philosophie Magazins. Ihr Buch „Mein Tod gehört mir. Über selbstbestimmtes Sterben“ erschien 2013 bei Pantheon

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ZEiTGEisT PlÄdoyEr Mensch für sich entscheidet, dass sein Leben nicht mehr lebenswert ist, sondern er sich explizit an andere wendet. Diese Angesprochenen müssen moralisch vor sich selbst und der Gesellschaft rechtfertigen können, einem Menschen beim Sterben geholfen zu haben. Hier kommt eine weitere wichtige Unterscheidung zum Tragen: So hat ein Patient hierzulande nämlich durchaus ein absolutes Selbstbestimmungsrecht, wenn es um die Frage geht, welche ärztlichen Maßnahmen er vornehmen lassen will und welche nicht. Für den Fall, dass jemand schriftlich in seiner Patientenverfügung fixiert, dass er etwa im Falle eines schweren Unfalls nicht medizinisch behandelt werden möchte, muss der Arzt sich an diese Vorgabe halten – selbst wenn in der konkreten Situation noch die Möglichkeit auf eine Heilung bestünde. Die Nichtanwendung eines Medikaments, das Abschalten eines Geräts, das Unterlassen eines Heilungsversuchs ist aber etwas fundamental anderes, als ein tödliches Mittel bereitzustellen. Im ersten Fall wird der Natur freien Lauf gelassen und die Verfügungsgewalt des je Einzelnen über seinen Körper gewahrt. Im letzten Fall hingegen verhilft ein Mensch einem anderen zum Suizid – und die Verantwortung für diese Hilfe ist letztlich gerade nicht in allen Fällen tragbar. Ein Beispiel: In der Schweiz dürfen auch psychisch Kranke eine Assistenz in Anspruch nehmen, wenn ihr Sterbewunsch „autonom“, „dauerhaft“ und „wohlerwogen“ ist. Die Gefahr jedoch, dass eine Organisation gerade durch ihre „Hilfe“ das (womöglich aus sozialer Kälte resultierende) Minderwertigkeitsempfinden eines Kranken bestätigt, lässt sich im Fall einer Depression kaum ausschließen: „Es hätte mich nie geben sollen“, so schrieb eine psychisch kranke Frau im Frühjahr 2005 an die Organisation Exit. Und: „Meine eigene Familie wusste

Was legitimiert den über 2000 Jahre alten Hippokratischen Eid der Ärzte in zeiten hochgerüsteter Medizin? ja nichts Richtiges anzufangen mit mir.“ Ein paar Monate später verhalf ihr Exit zur Selbsttötung. Kann ein Suizidbeihelfer sein Handeln wirklich mit dem Argument rechtfertigen, dass er einem lebensmüden Menschen lediglich seinen Wunsch erfüllt? Wer diese Meinung ernsthaft vertritt, negiert und leugnet das innerste Funktionsgesetz menschlichen Zusammenlebens: Auch in einer Zeit, in der die Selbstbestimmung des Individuums zu den höchsten Werten zählt, beruht das Funktionieren einer jeden Gesellschaft darauf, dass Menschen einander im Leben halten, sich wechselseitig vom Leben überzeugen, solange noch Möglichkeiten weiterzuleben vorhanden sind. Bei psychisch kranken Menschen ist diese Möglichkeit nie zweifelsfrei auszuschließen – das hat jüngst der Fall „Dianne“ in den Niederlanden gezeigt. Die 35-jährige Frau wurde auf eigenen Wunsch durch aktive Sterbehilfe

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getötet; einer ihrer Hausärzte hat nun geklagt, da seiner Meinung nach noch Heilungschancen bestanden hätten. Wer aufgibt, sich selbst und anderen gute Gründe zu liefern, am Leben zu bleiben, und Todeswünsche vorschnell erfüllt, untergräbt das Gelingen von Sozietät überhaupt: Ohne den Lebenswillen des Einzelnen würde jede Gesellschaft in sich zusammenbrechen. Dieser Wille – darauf haben Philosophen der Moderne eindrücklich hingewiesen – ist aber weder gottgegeben noch allein auf das wollende Subjekt beziehbar. Vielmehr beruht er gerade in einer aufgeklärten Gesellschaft insbesondere auf einem gelungenen Miteinander. „Wir kommen aus ohne Gott“, so schreibt Jean Améry in „Hand an sich legen“. „Wir kommen nicht aus ohne den Anderen.“ Auch wenn der Mensch der Moderne an die Stelle Gottes getreten ist, heißt das folglich nicht, dass er diese Position als Einzelner besetzt. Nur weil wir uns darauf verlassen können, dass die anderen uns im Leben halten wollen und auch selbst am Leben hängen, gehen wir Beziehungen ein, lieben wir, arbeiten wir, ja, trauen wir uns morgens überhaupt auf die Straße. Wer nicht am Leben hängt, wer es zu opfern bereit ist, zerschneidet das Band, wird unter Umständen sogar zu einer Gefahr für die Gesellschaft, wie sich besonders extrem an Amokläufern und Selbstmordattentätern zeigt. Unhaltbarer paternalismus Damit ist allerdings weder gesagt, dass Leben unter allen Umständen erhaltenswert wäre, noch soll der Suizid als „böse“ verdammt werden. Genauso wenig, wie der Lebenswille rein natürlich ist, gibt es eine wie auch immer geartete Pflicht zu leben. Wer hätte das Recht, diese unbedingt auszusprechen? Wie wäre ihre Verbindlichkeit einzuklagen? Damit kommen wir zur Kritik der radikalen Suizidassistenzgegner, zu denen auch die Bundesärztekammer gehört. Um ihre ablehnende Haltung zu begründen, beruft sich die Kammer gebetsmühlenartig auf den Hippokratischen Eid: „Auch werde ich niemandem ein tödliches Gift geben, auch nicht, wenn ich darum gebeten werde.“ Entsprechend sieht die Berufsordnung für Ärzte in Deutschland ein standesrechtliches Verbot der Suizidassistenz vor. Was aber legitimiert diesen über 2000 Jahre alten Eid in Zeiten hochgerüsteter Medizin und fortgeschrittener Diagnostik? Nehmen wir den Fall des Schriftstellers Wolfgang Herrndorf: Herrndorf wusste, dass er an einem unheilbaren Hirntumor leidet und dass er binnen weniger Jahre sterben würde. Die Qualen, die ihm dieses Wissen bereiteten, kann ein gesunder Mensch schwerlich nachvollziehen. Sein Nachdenken über Suizid hat Herrndorf in seinem jüngst als Buch erschienenen Blog eindrücklich geschildert („Arbeit und Struktur“, Rowohlt, 2013). Im August 2013 nahm er sich durch einen Kopfschuss das Leben. Ein eigens durchgeführter Suizid bleibt mit einem hohen Risiko des Misslingens verbunden. Viele Selbstmordversuche enden mit schwersten Behinderungen. Ein assistierter Suizid hingegen birgt diese Gefahr nicht: Natrium-Pentobarbital lässt den Sterbewilligen schmerzlos und garantiert — pHilOSOpHiE MagaziN


Der Fotograf Walter Schels begleitete unheilbar kranke Menschen in Hospizen in Berlin und Hamburg und porträtierte sie kurz vor und kurz nach ihrem Tod.

Fotos: Walter schels

Die Bilder sind Teil der Serie „Noch mal leben“, das gleichnamige Buch (gemeinsam mit der Autorin Beate Lakotta) erschien 2004 bei der Deutschen Verlags-Anstalt

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Zeitgeist analyse

Sag mir, wo die Linke ist … Der Unterschied zwischen links und rechts ist fundamental für unsere Orientierung. Aber wie ist sein Ursprung zu begreifen? Und weshalb wird die eine Seite in unserer Kultur mit allem Linkischen, Falschen, die andere aber mit Recht und Gerechtigkeit verbunden? Lebensentscheidende Fragen, die nicht nur Philosophen seit mehr als 2000 Jahren den Kopf verdrehen Von Florian Werner

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von 1768, „und wenn man bloß auf eine derselben allein sieht (...), so muss eine vollständige Beschreibung der einen in allen Stücken auch von der anderen gelten.“ Unsere Rechte ist ein spiegelbildliches Gegenstück zur Linken, die Linke ein Spiegelbild der Rechten. Wie aber, fragt Kant kritisch nach, können wir beide Hände dann überhaupt voneinander unterscheiden? Worin liegt die Bedingung der Möglichkeit einer eindeutigen Unterscheidung zwischen links und rechts?

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Fotos: alejandro reinoso; Johanna ruebel

Florian Werner ist promovierter Literaturwissenschaftler und präziser Beobachter abseitiger und doch alltäglicher Phänomene. Sein Buch „Die Kuh“ war das originellste Wissenschaftsbuch 2009, es folgte die „Dunkle Materie. Die Geschichte der Scheiße“ (2011). Sein jüngstes Werk (2013): „Verhalten bei Weltuntergang“ (alle Nagel & Kimche)

gal ob wir Auto fahren, jemandem die Hand geben, ein Kreuz auf einem Stimmzettel machen, im Zug sitzen oder als Rekruten über den Kasernenhof traben: Ständig müssen wir uns zwischen zwei Seiten, zwischen links und rechts entscheiden. Wählen wir versehentlich die falsche Seite, kann das gravierende Folgen haben. Im harmlosesten Fall werden wir schief angeschaut, weil wir offenbar grundlegende soziale Umgangsformen nicht beherrschen. Im schlimmsten Fall provozieren wir einen tödlichen Autounfall oder kommen wegen militärischen Ungehorsams ins Gefängnis − von möglichen politischen Verwicklungen gar nicht zu reden. Unser gesamtes soziales und physisches Dasein ist von der Trennung zwischen rechts und links geprägt. Dabei ist aus philosophischer Sicht alles andere als klar, wie sich diese Grundunterscheidung unseres Daseins begreifen und vor allem fundieren lässt. Das Problem beginnt mit unseren ureigensten Organen zur Seitigkeitsunterscheidung: unseren Händen. „Die rechte Hand ist der linken ähnlich und gleich“, schreibt Kant in seiner Schrift „Von dem ersten Grunde des Unterschiedes der Gegenden im Raume“

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Sich im Denken orientieren? Nach Kants Überzeugung verfügt jeder Mensch über einen sogenannten „körperlichen Raum“, eine Art inneren Kompass, der es ihm ermöglicht, sich in der Welt zurechtzufinden. Grundlage dieses subjektiven Raumgefühls, so Kant, bildet die weltweit dominante Rechtshändigkeit. Denn die Natur habe es „an die mechanische Einrichtung des menschlichen Körpers geknüpft, vermittelst deren die eine, nämlich die rechte Seite, einen ungezweifelten Vorzug der Gewandtheit und vielleicht auch der Stärke vor der linken hat. Daher alle Völker der Erde rechtsch sind.“ Rechts ist also da, wo die eigene Hand als stärker und geschickter erfahren wird. Das Auftreten von Linkshändigkeit muss der Weise aus Königsberg in diesem Zusammenhang als verstörende Ausnahme von der Regel abtun – und das, obwohl damals wie heute geschätzte 10 bis 20 Prozent der Menschheit linkshändig sind. Wie sollen diese Menschen durchs Leben kommen? Zumindest Kant weiß es sich nicht recht zu erklären, obwohl die Fähigkeit, zwischen links und rechts zu unterscheiden, für ihn nicht weniger als die Grundbedingung für jegliche intellektuelle und vor allem auch religiös-metaphysische Orientierung darstellt. So imaginiert er in seiner Schrift „Was heißt: sich im Denken orientieren?“ von 1786 folgende Situation: Selbst wenn der gesamte Kosmos eines Nachts plötzlich umgestülpt wäre und alle Sternbilder spiegelbildlich verlaufen würden, könnte sich der Mensch dank seines

„durch die Natur angelegte(n), aber durch öftere Ausübung gewohnte(n) Unterscheidungsvermögen(s) durchs Gefühl der rechten und linken Hand“ am Polarstern orientieren. Im weiteren Verlauf seiner Schrift erweitert Kant dieses praktisch-lebensweltliche Verständnis von „Orientierung“ dahingehend, dass er den Begriff zur zentralen Metapher für sämtliche geistige Tätigkeiten macht. Auch die „mathematische“ Anschauung beginne mit einem subjektiven Links-rechts-Gefühl, etwa wenn man nachts in einem dunklen Zimmer die Lage der Möbel und Gegenstände von einem bekannten Standpunkt aus bestimme. Ja sogar die „reine Vernunft“ gehe, ähnlich wie das Auge des Menschen bei der Betrachtung des Sonnenlaufs, von einem bekannten Erfahrungsgegenstand aus und lasse das Denken von dort aus ins Unendliche und Ideale schweifen. Eine rechtslastige Kultur Man sieht, nicht nur die geografische, mathematische und logische, sondern vor allem auch unsere moralische Orientierung ist durch die Differenz von links und rechts geprägt. Dass es als unfein gilt, bei Begrüßungen dem Gegenüber die linke Hand hinzustrecken, ist nur die Spitze des Eisbergs. „Ein allgemeiner Glaube verbindet das Günstige mit der rechten Seite, das Unheilvolle mit der linken Seite“, schreibt der Philosoph Georges Bataille, „und daraus folgend das Rechte mit dem Reinen, das Linke mit dem Unreinen.“ Dies gilt für Benimmregeln genauso wie für Politik, Religion, Aberglaube: Die deutsche Bundeskanzlerin sitzt im Parlament, zusammen mit ihrem Kabinett, zur Rechten des Bundestagspräsidenten. Der gekreuzigte Christus neigt sein Haupt immer nach rechts. Nach seiner Auferstehung sitzt er, wie es das apostolische Glaubensbekenntnis formuliert, ad dexteram Dei, „zur Rechten Gottes“, und beim Jüngsten Gericht versammelt er die Gerechten natürlich zu seiner Rechten. Woher aber rührt die radikal unterschiedliche Bewertung dieser bei-

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dossiEr

Vertiefen Sie sich in unser aktuelles Titelthema auf Deutschlandradio Kultur in der Sendung Zeitreisen, Erstausstrahlung am 19.03.2014 von 19.30 bis 20.00 Uhr. deutschlandradio.de

Was macht uns

schön ? Wir leben in einer Zeit, in der sich alle Normen aufzulösen scheinen. Doch gerade in Fragen der Schönheit wird der Normierungsdruck immer stärker. Von den Griechen noch mit dem Wahren und Guten gleichgesetzt, unterliegt sie in der modernen Gesellschaft dem Verdacht der Oberflächlichkeit und Gedankenferne. Gerade weil Schönheit uns unmittelbar anzieht, bleibt sie verdächtig. Gerade weil sie von jedem ersehnt wird, kriegt sie keiner recht zu fassen. Nur eines scheint sicher: Ein leben ohne Schönheit wäre schlicht unerträglich. Sie ist der wahre preis unserer Existenz: aber welcher Weg führt am verlässlichsten zu ihr? muss Schönheit leiden? lässt uns nur die liebe schön sein? Oder liegt wahre Schönheit in der Selbstvergessenheit?

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Foto: Hendrik Kerstens, courtesy NUNC Contemporary


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um schön zu sein ?

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dossiEr Was MaCHT UNs sCHöN?

der körper ist eine Baustelle auf natürliche Weise schön zu sein, ist ein sorgsam gepflegtes ideal. der bearbeitete, ausgestellte körper hingegen wird zum signum eines „bösen“ schönheitswahns. aber gibt es überhaupt so etwas wie einen ganz natürlichen körper? Und wer fände ihn schön? Von Paula-Irene Villa

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Foto: Maia Flore/VU/laif; privat

paula-irene Villa ist Professorin für Soziologie und Gender Studies an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Bücher zum Thema: „Schön normal. Manipulationen am Körper als Technologien des Selbst“ (Transcript, 2008) sowie „Sexy bodies“ (Springer, 2011)

o viel ist sicher: Einen „natürlichen“ Körper haben wir, der ist schön oder nicht schön, dick oder dünn, groß oder klein – faktisch meist irgendwo dazwischen. Die Natürlichkeit des Körperhabens gehört zum Menschen ebenso dazu wie die Fähigkeit und der Zwang, diesen Körper zu gestalten. Das heißt, unsere körperliche Natur schließt zwingend und unausweichlich die Möglichkeit ein, uns zu dieser Natur zu verhalten. Als Menschen können wir nicht anders, als uns beim Wahrnehmen wahrzunehmen, so der Philosoph Helmut Plessner. Wir spüren ein Gefühl, wir erleben uns als hungrig oder glücklich, wir beobachten uns und bewerten uns. Doch diese Selbstbeobachtung geschieht selbst nie unschuldig oder gänzlich autonom, sondern ist immer schon durchwirkt von gesellschaftlich geformten Normen, Sehnsüchten oder lustvollen Fantasien, und entsprechend verhalten wir uns zu unserer körperlichen Natur. Dies geschieht nicht erst beim Joggen, Diäthalten oder wenn wir, selbstbestimmt!, auf dem OPTisch einer kosmetischen Chirurgin liegen. Bereits Haarewaschen, Nägelschneiden, Naseputzen, Duschen und das Benutzen von Toilettenpapier sind nur wenige von fast unendlich vielen Beispielen dafür, wie wir durch

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unser Tun (und Lassen) unseren Körper andauernd „manipulieren“. Dies muss nicht bewusst oder absichtsvoll geschehen, die Manipulation des Körpers geschieht vielmehr oft präreflexiv, also unbewusst und ist derart habitualisiert, dass es uns wie Intuition anmutet. Zwang oder Freiheit? Aber darum sind diese Techniken nicht minder gesellschaftlich normiert – man denke nur an die Automatismen, die Kinder langwierig erlernen: Hand vor den Mund beim Niesen oder Husten, das Hinter-dasOhr-Streichen der Haare, die kulturell angemessenen Blicknavigationen in öffentlichen Verkehrsmitteln, die Einhaltung (milieu-, kultur-, regionen-, alters- und anderer) spezifischer Körperdistanzen oder Stimmlautstärken. Kurzum: Unsere „künstliche Natürlichkeit“ (Plessner) schließt in unhintergehbarer Weise Manipulationen des Körpers mit ein. In diesen Manipulationen liegt eine wesentliche und spezifische Qualität von Freiheit. Dass wir, anders als andere Lebewesen, unserem Körper nicht gänzlich ausgeliefert sind und somit der Körper uns (nicht gänzlich, aber wesentlich) verfügbar ist, ermöglicht es uns, zum Beispiel mit Krankheiten und Verletzungen umzu-

gehen oder – viel schlichter und trivialer – uns für uns und andere hübsch zu machen. Die Freiheit der körperlichen Natur des Menschen zeigt sich gerade darin, sich selbst zu gestalten und damit auch (zumindest tendenziell) Autonomie sowie Individualität zu realisieren. Selbstbestimmung, etwa im Sinne Kants, erschöpft sich nicht in einer abstrakten Tätigkeit des Vernunftgebrauchs. Vielmehr hat die Aufklärung als individuelle Haltung und gesellschaftliches Ethos eine körper-leibliche – und damit auch ästhetische – Dimension: Als Menschen nehmen wir unseren Körper in die eigenen Hände und gestalten ihn selbstbestimmt entsprechend unseres Verstands. Genau dies ist im Übrigen das häufigste Argument, wenn es zum Beispiel um die Inanspruchnahme der kosmetischen Chirurgie geht. Wie alle Kulturtechniken sind auch jene des Schönheitshandelns historisch, gesellschaftlich, kulturell je spezifisch und veränderlich. Was als schön gilt, wandelt sich im Laufe der Zeit: Frauenkörper, wie sie Botticelli und Tizian in der Renaissance malten, würden heute mindestens kritisch beäugt, vielleicht sogar wegen Adipositas behandelt. Auch die Art und Weise, wie Menschen sich schön machen, ist variabel, und ebenso vielfältig ist auch, wer sich eigentlich

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3 Sich vergessen, um schön zu sein ?

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— Philosophie Magazin


dossiEr Was MaCHT UNs sCHöN?

der drahtseilakt der anmut Wer schön ist oder sich dafür hält, achtet darauf, wie jede Bewegung und Geste wohl wirken mag. das ist eitel, aber gewiss nicht schön, klagten schon die romantiker und priesen die selbstvergessenheit als Quell wahrer anmut. Wie aber wäre diese zu erlangen? Von Philippe Nassif

Foto: anne Menke/Trunk archive; Hannah assouline/opale

philippe Nassif ist studierter Politologe, Buchautor und Journalist. Seit 2011 ist er redaktioneller Mitarbeiter des französischen Philosophie Magazine. Sein jüngstes Buch: „La Lutte initiale. Quitter l'esprit du nihilisme“ (Denoël, 2011)

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n seinem kurzen Essay „Über das Marionettentheater“ überliefert Heinrich von Kleist den Fall eines jungen Mannes „über dessen Bildung damals eine wunderbare Anmut verbreitet war“. Er war 16 Jahre alt und „nur ganz von fern ließen sich, von der Gunst der Frauen herbeigerufen, die ersten Spuren von Eitelkeit erblicken“. Eines Tages, als er seinen Fuß auf einen Schemel setzte und dabei sein Spiegelbild sah, erkannte er darin die griechische Statue eines Jünglings wieder, die er in Paris gesehen hatte. Er berichtet dem Erzähler seine Entdeckung, der wiederum beschließt, obwohl er denselben Gedanken hatte, „seiner Eitelkeit ein wenig heilsam zu begegnen“. Er lacht ihn also aus und sagt, „er sähe wohl Geister!“ Gekränkt wiederholt der junge Mann seine Geste: Einmal, zweimal, dreimal, doch jedes Mal scheitert er und seine Bewegung wird von Mal zu Mal plumper. Von da an geht es mit dem Jüngling bergab. Er verbringt Tage vor dem Spiegel und verliert nach und nach all seine Reize: „Eine unsichtbare und unbegreifliche Gewalt schien sich, wie ein eisernes Netz, um das freie Spiel seiner Gebärden zu legen, und als ein Jahr verflossen war, war keine Spur mehr von der Lieblichkeit in ihm zu entdecken, die die Augen der Menschen sonst, die ihn umringten, ergötzt hatte.“ Was war geschehen? Durch dieses Erlebnis entdeckt der Erzähler, „welche Unordnungen, in der natürlichen Grazie des Menschen, das Bewusstsein anrichtet“. Was ihm auch ein bekannter Tänzer bestätigt: Dieser ist häufiger Zuschauer im Marionettentheater, wo er mit großem Ver-

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gnügen beobachtet, wie die geschickten Finger des Puppenspielers die Figuren tanzen lassen. Im Gegensatz zum Menschen, erklärte er, sind die Gesten der Marionetten stets vollkommen. Warum? Weil sich Puppen niemals zierten: „Denn Ziererei erscheint, wie Sie wissen, wenn sich die Seele (vis motrix) in irgend einem andern Punkte befindet, als in dem Schwerpunkt der Bewegung.“ Ein Tänzer, so großartig er auch sein mag, läuft immer Gefahr, sich seiner selbst bewusst zu werden und so in plumpe, unkoordinierte Bewegungen zu verfallen. Kleist folgert daraus, dass die Anmut Gott, den Marionetten und den Tieren vorbehalten sei. Für den Menschen aber, der die Frucht vom Baum der Erkenntnis aß, ist „das Paradies (…) verriegelt“. Kleist ist damals 33 Jahre alt – ein Jahr später, 1811, begeht er Selbstmord. Er gehört zu jener Generation visionärer Dichter, die fast ein Jahrhundert vor Nietzsche bereits erkannt haben, dass der Leib „eine große Vernunft“ ist. Doch sie sind gefangen in einer Zeit, in der die Einheit von Körper und Geist noch geleugnet wird, von der christlichen Moral ebenso wie vom abstrakten Rationalismus der Aufklärung. Das hat sich heute geändert: Der groß angelegte Import östlicher Weisheiten hat uns ein wenig die Augen geöffnet. Die tiefgründigsten und zugleich klarsten Gedanken zum Thema der richtigen Haltung von Körper und Geist verdanken wir dem Sinologen Jean François Billeter. Aus den Schriften des taoistischen Philosophen Zhuangzi (gestorben um 300 n. Chr.) zieht er wichtige Erkenntnisse über

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diE PHilosoPHEN michael Hampe

„Wir brauchen keine Experten der Vernünftigkeit“ ist die Welt dafür geschaffen, in ihr glücklich zu werden? Woran erkennt man ein gelingendes leben? in seinen Werken entwirft Michael Hampe ein neues selbstverständnis der Philosophie als lebenskunst. Ein Gespräch über falsche Erkenntnisideale, musizierende sokratiker und die letzte Weisheit des Buddha Das gespräch führte Wolfram Eilenberger Fotos von Julian Salinas

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ie ernst kann es einem Philosophieprofessor mit der Kritik an der Philosophie sein? Sehr ernst. Michael Hampe, der in Zürich an der Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) lehrt und damit einen der prestigeträchtigsten philosophischen Lehrstühle Europas innehat, rebelliert in seinen Büchern schon länger gegen die weisheitsfernen Zumutungen des universitären Denkbetriebs. Für ihn ist Philosophie viel eher eine Kunst der Lebensbefreiung als eine methodisch geleitete Wissenschaft, der es um endgültige Wesensbeschreibungen oder erkenntnistheoretische Grundlegungen ginge. Die letzten beiden Bücher des 53-Jährigen waren folgerichtig philosophische Romane, in deren Zentrum die Suche nach dem Lebensglück und einem neuen Verständnis von Natur stehen. In diesem Frühling legt Hampe nun ein systematisch anspruchsvolles Werk vor, das nicht weniger fordert als eine radikale Reform des akademischen Philosophierens. Herr Hampe, Ihr neues Buch trägt den programmatischen Titel „Die Lehren der Philosophie“. Welche Lehren hatten Sie sich denn einst von der Philosophie erhofft? Es gab kein spezifisches Versprechen. Ich wollte eigentlich Tiermedizin studieren. Ich erinnere noch, wie ich als Schüler das erste Mal ein Tier sezierte: Von außen sah es ganz schlicht aus, aber als ich die Leibeshöhle öffnete, trat diese innere Komplexität zutage. Mir war unklar, in welchem Verhältnis beides zueinander stand. Das hat mich

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fasziniert. Philosophie war ursprünglich nur als Parkstudium geplant. Ich hatte im Dezember Abitur gemacht und bis Oktober Zeit, so habe ich aus Neugier reingeschaut … … um dort von einer Faszination auch für die Komplexität menschlicher Lebensformen erfasst zu werden? Ich würde tatsächlich eine Gemeinsamkeit zwischen den beiden Fächern sehen. Wir existieren organisch und haben keine Ahnung, was in unserem Leib und Schädel abläuft. Und wir existieren in alltäglichen Gewohnheiten und sind uns nicht bewusst, wie feingliedrig unser Alltag strukturiert ist. Führt das schon zu einer möglichen Lehre der Philosophie: der Schärfung des Blickes für die Komplexität der eigenen Existenz? Ich würde allgemeiner ansetzen: Alle Reflexionsprozesse, ob naturwissenschaftlich, künstlerisch oder philosophisch, sind Prozesse der Bewusstwerdung. Wenn ich nicht weiß, wie mein erkrankter Körper funktioniert, kann ich nicht heilend auf ihn einwirken. Aber auch durch einen 1000-seitigen Familienroman kann ich mir bestimmter Dinge bewusst werden, die mir ermöglichen, mich künftig anders zu verhalten. Das Gleiche gilt für ein philosophisches Gespräch. In allen drei Beispielen geht es um Distanzierungsvorgänge zur Steigerung von Selbstbestimmung. Reflexion schafft Distanz und damit Freiräume. Man kann sich fragen: Möchte ich, dass die Vorgänge so weitergehen oder nicht? — pHilOSOpHiE MagaziN


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— pHilOSOpHiE MagaziN

Illustrationen: Emmanuel Polanco, colagene.com; Foto: akg-images/Fritz Eschen


diE PHilosoPHEN

Heidegger Ein gefährlicher Denker Er ist der wirkmächtigste Philosoph des 20. Jahrhunderts. doch bis heute wirft Heideggers Engagement für das Ns-regime Fragen auf, die in das Zentrum seines denkens führen. Mit der Veröffentlichung seiner denktagebücher entflammt die debatte neu: Wie belastet ist seine Philosophie? Von Wolfram Eilenberger

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nd denjenigen, die nun sagen ‚Aber das ist doch keine Philosophie!‘, ant„ worte ich: Nennt es, wie ihr wollt. Die entscheidende Frage ist allein die: Seid ihr stark genug, seid ihr willens genug, euch diesem vollkommen neuen, radikalen Denken zu stellen?“ Jeder, der sich Heideggers Schriften, und sei es nur versuchsweise, einmal geöffnet hat, vermag diese Replik des britischen Philosophen George Steiner nachzuvollziehen. Als Student wie Lehrender kann man die von Heideggers Werken ausgehende Faszination und potenziell existenzverwandelnde Kraft zwar in ihrer ganzen Zwiespältigkeit problematisieren, glaubhaft bestreiten jedoch kann man sie nicht. Das ist es, was den Fall des deutschen Denkers Martin Heidegger (18891976) bis heute so ungeheuer herausfordernd und auch gefährlich macht. Die Tatsache, dass der wuchtigste und wirkmächtigste Philosoph des 20. Jahrhunderts nicht nur Mitglied der NSDAP war, sondern sich in der Frühphase der Nazidiktatur auch mit aller Entschiedenheit in bildungspolitische Gleichschaltungsprozesse des Regimes einbrachte, steht für mehr als rein persönliches Versagen. Sie greift die Substanz des Philosophierens selbst an. Mit der in diesem Frühjahr erfolgten Veröffentlichung der sogenannten „Schwarzen Nr. 03 — april/Mai 2014

Hefte“, Heideggers ab den dreißiger Jahren verfassten Denktagebüchern, ist die Diskussion um nationalsozialistische und antisemitische Motive in Heideggers Werk wieder einmal entfacht. Neue biografische Fakten fördern die „Hefte“ freilich nicht zutage und auch keine Einsichten, die Heideggers Umgang mit jüdischen Kollegen oder Freunden während der Zeit des Nationalsozialismus beträfen. Heideggers mitunter schwerwiegende Verfehlungen in diesem Bereich stehen ohnehin seit langem außer Frage. Bauer und König Der naheliegende Impuls, Heideggers Denken allein auf Basis seiner Parteimitgliedschaft und seines lebenslangen Schweigens zu den Gräueltaten der Nazis zu diskreditieren, beinhaltet bei näherer Betrachtung die Gefahr, die eigentlich entscheidende Frage außer Acht zu lassen: Gibt es eine tiefere, innere systematische Verbindung zwischen Heideggers Philosophie und zentralen Motiven der NS-Ideologie? Mit der Veröffentlichung der „Schwarzen Hefte“ stellt sich diese Frage vor neuem Hintergrund (siehe das Interview mit Peter Trawny, S. 72). Selbstverständlich haben auch biografische Prägungen in die Erörterung einzugehen. Als Sohn

eines Küfermeisters im südbadischen Meßkirch geboren, wuchs Heidegger in einem dörflichen Milieu katholischer Frömmigkeit auf. Bevor der Student dem Ruf der Philosophie folgte, hatte er sein Studium im nahe gelegenen Freiburg mit dem Ziel aufgenommen, Priester zu werden. Zeitlebens fühlte er sich von bildungsbürgerlichen wie großstädtischen Milieus abgestoßen und pflegte einen Habitus heimatverbundener Ursprünglichkeit. Hüttenmensch Heidegger wohnte, ging, aß und kleidete sich am liebsten wie ein Bauer. Der Kontrast zwischen Auftritt und Denkkraft war wesentlicher Teil eines Charismas, dem schon bald eine ganze Generation hochtalentierter, insbesondere jüdischer Philosophie-Studenten verfallen sollte (siehe den Artikel von Richard Wolin, S. 78). Bereits vor der Veröffentlichung seines ersten und auch einzigen Hauptwerks „Sein und Zeit“ im Jahr 1927 genoss der junge Dozent, in den Worten seiner Studentin und damaligen Geliebten Hannah Arendt, den Ruf eines „heimlichen Königs“ der deutschen Philosophie. Dass ein ursprünglicheres und eigentlicheres Lebensverständnis, fern der modernen Selbstentfremdung der städtisch-industrialisierten Existenz möglich und unbedingt wünschenswert sei, genau darin bestand

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DIE PHilosoPHEN diE PHILOSOPHEN HEidEGGEr: DER FALL HEIDEGGER BioGraFiE

„Heideggers philosophisches Erbe steht auf dem Spiel“ „schwarze Hefte“ nannte Heidegger denktagebücher, die er ab 1931 führte. lange geheim gehalten, werden sie nun veröffentlicht. sie enthalten antisemitische Äußerungen, die eine Neubewertung der Heidegger'schen Philosophie erfordern. Gespräch mit Peter Trawny, dem Herausgeber der Hefte Das gespräch führte Wolfram Eilenberger

peter Trawny ist Leiter des MartinHeidegger-Instituts in Wuppertal und Herausgeber der „Schwarzen Hefte“ Heideggers (ab Frühjahr 2014 bei Klostermann)

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Herr Trawny, die erste Bände der „Schwarzen Hefte“ erscheinen dieser Tage. Wie hat man sich diese Hefte vorzustellen? Es handelt sich ganz konkret um schwarze Wachstuchhefte, also im Prinzip Notizbücher. 34 davon sind erhalten und wurden von Heidegger zur Publikation bestimmt. Die fortlaufenden Eintragungen umspannen einen Zeitraum von knapp 40 Jahren, von 1931 bis 1970. Heidegger hat diese sekretiert, also zur Geheimhaltung bestimmt, und testamentarisch verfügt, dass sie erst als letzte Bände der Gesamtausgabe seiner Werke veröffentlicht werden sollen. Handelt es sich inhaltlich um tagebuchartige Einträge, flüchtige Notizen oder im Gegensatz dazu um ein fortlaufendes, gar ausgearbeitetes Werk? Es ist eine ganz eigene Textart, die man noch am ehesten als „Denktagebuch“ bezeichnen könnte. Sie dokumentieren die fortlaufende Selbstbefragung eines Denkers, sind aber weit mehr als bloße Gelegenheitsskizzen, da sich der

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Stil der Hefte inhaltlich wie sprachlich jederzeit auf der Höhe des Heidegger’schen Denkens befindet. Aber nirgendwo in Heideggers Schriften wird die Konfrontation mit der weltgeschichtlichen Lage so explizit geführt wie in den „Schwarzen Heften“. Das macht unter anderem ihre Brisanz aus, gerade mit Sicht auf die dreißiger Jahre, in denen Heidegger diese Hefte sehr intensiv geführt hat. Wie hat Heidegger seine Rolle als Denker in diesen Jahren ganz allgemein verstanden? Es ist, gerade aus heutiger Sicht, ein höchst eigentümliches Selbstverständnis. Zunächst ist es von einem, wie ich es nennen würde, „starken Begriff der Philosophie“ getragen. Die Stimme, die sich auch in den „Schwarzen Heften“ vernehmen lässt, ist nicht die einer biografischen Person. Auch Platon oder Nietzsche sind für Heidegger ja keine Personen, sondern Ereignisse einer offenen Seinsgeschichte. Diese Perspektive nimmt Heidegger auch auf sich selbst ein. Er hielt sein Denken für einen epochalen Wen— pHilOSOpHiE MagaziN


„Appell der deutschen Wissenschaft Leipzig 1933": Wahlkundgebung unter Anwesenheit Martin Heideggers (durch Kreuz markiert)

depunkt in der Geschichte des Abendlands und auch in der Geschichte des deutschen Volkes. Das wird in den Heften bedrückend deutlich. Ein Selbstbild also des „prophetischen Narzissmus“? Ich würde das nicht vorschnell pathologisieren. Klar ist, Heidegger sah sich auf einer Art seinsgeschichtlicher Mission und war der Ansicht, auch andere hätten dies vorbehaltlos anzuerkennen. Das hat natürlich seine Vorläufer in der deutschen Geschichte, von Wagner und Hölderlin bis Nietzsche und auch aus dem George-Kreis kennen wir ähnliche Selbstwahrnehmungen, nicht zuletzt von Hitler. Wann setzt dieses Selbstverständnis ein? Bereits mit der Veröffentlichung von „Sein und Zeit“, also um 1927, es intensiviert sich aber noch einmal zu Beginn der dreißiger Jahre, gleichzeitig mit Heideggers Forcie-

„Er sieht die Juden als gruppe, die das ‚Machenschaftliche‘ in perfektion beherrschen“ rung des Gedankens, das deutsche Volk hätte die Aufgabe einer epochalen seinsgeschichtlichen Wende zu vollziehen. Es finden sich 1933, zur Zeit seines Freiburger Rektorats, dann Einträge wie: „Die große Erfahrung und Beglückung, daß der Führer eine Wirklichkeit erweckt hat, die unserem Denken die rechte Bahn und Stoßkraft gibt.“ Vor allem ist ihm der Gedanke „des deutschen Volkes“ wichtig, dass es da ein zu neuer Lebendigkeit erwachtes Volk gibt, das eine besondere seinsgeschichtliche Aufgabe hat. In diesem Prozess sprach er den Nazis zunächst eine produktive Rolle zu. Das änderte sich dann drastisch.

Foto: picture alliance/akg; alina Gross; dla Marbach

Handschriftliche Eintragungen Martin Heideggers in eines seiner „Schwarzen Hefte", geführt von 1931 bis 1970

In der Tat, das ist seine Formulierung. Einerseits lehnt er die Verabsolutierung der Rasse im Sinne der Nazis, diesen kruden Biologismus, die Rasse zum Erklärungsschlüssel für alles zu machen, strikt ab. Aber andererseits ist es eben auch nicht so, dass er Rasse – als Erklärungskategorie – vollends ablehnte. Er verwendet gelegentlich auch den Begriff „arisch“ ohne erkennbaren Vorbehalt. Ab 1938 spricht er in Zusammenhang mit dem Judentum dann ganz explizit vom „rechnenden Denken“ der Juden, von deren „Rechenhaftigkeit“. Aber dort operiert er dann gerade nicht mit dem Begriff der „Rasse“, sondern diese Überlegungen stehen eher im Zusammenhang mit seiner Seinsgeschichte und damit dem Zeitalter der „Technik“ oder eben der „Machenschaft“. Die Juden werden von Heidegger in diesen Einträgen als die Gruppe gesehen, die dieses „Machenschaftliche“ gleichsam in Perfektion beherrscht. „Eine der verstecktesten Gestalten des Riesigen und vielleicht die älteste ist die zähe Geschicklichkeit des Rechnens und Schiebens und Durcheinandermischens, wodurch die Weltlosigkeit des Judentums gegründet wird“, heißt es einmal. Die Juden repräsentieren also beispielhaft ein Zeitalter, das Heideggers seinsgeschichtliche Vision zu überwinden sucht. Und das einzige Volk, das diesen Neuanfang vollbringen soll, sind die Deutschen. So ergibt sich in seinem Denken eine klare Freund-Feind-Konstellation. In Heideggers Denken sind es, hier gilt es zu differenzieren, nicht die Deutschen, die gegen Juden kämpfen, sondern die Nazis – die Deutschen als Volk sind bei ihm begrifflich noch einmal anders belegt. Man muss noch einmal betonen, dass Heidegger, die „Schwarzen Hefte“ zeigen dies überdeutlich, keineswegs ein glühender Anhänger des Nationalsozialismus ist. Auch die Nazis sind für ihn sehr bald Protagonisten der „Machenschaft“. Was er sieht, ist ein Konflikt zwischen Juden

In den „Schwarzen Heften“ der Jahre 1932 bis 1938 werden zahlreiche Gruppen extrem scharf kritisiert, allen voran der Nationalsozialismus selbst. Es findet sich zunächst jedoch kein einziger Eintrag über Juden oder gar die Juden. Wie geht man mit dieser Absenz um? Heidegger äußert sich nie zu einzelnen Schicksalen jüdischer Kollegen oder auch Schüler. Für das, was er sein Werk nennt, haben diese Dinge einfach keine Relevanz, er blendet sie vollkommen aus. Gewisse Gruppen oder Parteien werden von ihm allerdings mit Zorn und Kritik überzogen, aber auch hier fehlt das Judentum völlig – jedenfalls bis 1938. Was man von dem Begriff der „Rasse“ allerdings nicht behaupten kann. Heidegger spricht von dem Begriff „Rasse“ in einem eigenen Eintrag als einer „notwendigen Bedingung“ des geschichtlichen Daseins.

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Bücher

von Jutta Person

l Für Neugierige l Mit Vorwissen l Hoch motiviert

Buch des monats

Mensch, erbse

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Dem Denken auf die Sprünge helfen douglas Hofstadters und Emmanuel sanders Mammutwerk zur analogie: ohne Äpfel und Birnen, Hitler und Hussein kommt das Hirn nicht in Fahrt

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l Douglas Hofstadter & Emmanuel Sander Die analogie. Das Herz des Denkens Übersetzt von Susanne Held / Tropen / 784 S. / 34,95 €

n den siebziger Jahren revolutionierte ein junger Physiker die Wahrnehmung der Naturwissenschaften. Douglas Hofstadter, der Sohn des Physik-Nobelpreisträgers Robert Hofstadter, hatte mit „Gödel, Escher, Bach“ ein Kultbuch geschrieben. Es verquickte die damals noch euphorisch gefeierte Künstliche-Intelligenz-Forschung mit der Ästhetik wiederkehrender Muster, wie man sie in Kunstwerken oder Musikstücken findet – von M. C. Escher bis zu Johann Sebastian Bach. Die Grundfrage Hofstadters bezog sich auf den Umstand, dass viele Einzelteile – etwa eine Ameise im Ameisenstaat, die Töne in einer Melodie oder der Basiscode einer Programmiersprache – noch keine intelligenten Entitäten bilden. Es seien erst gewisse selbstbezügliche Muster, wiederkehrende Schleifen innerhalb der Wahrnehmung, die im Menschen so etwas wie ein Bewusstsein ausbildeten. Hofstadters Frage lautete damals: Wie kommt Bewusstsein in Dinge, die selbst keines haben? In seinem Buch „Ich bin eine seltsame Schleife“ formulierte er es so: „Die Zellen in einem Gehirn sind nicht die Träger seines Bewusstseins; die Träger des Bewusstseins sind Muster.“ Damit wendete er sich gegen die Erkenntnisgrundlagen der heutigen

Neurowissenschaften. Die schiere Abbildbarkeit von mehr oder weniger aktivierten Hirnarealen könne noch keinen Aufschluss darüber geben, wie es denn nun konkret zu unseren Bewusstseinsinhalten komme, wie diese strukturiert seien und wie Subjektivität also generell zu denken sei. Nun hat sich Hofstadter zusammen mit dem französischen Wahrnehmungspsychologen Emmanuel Sander erneut mit dieser Frage beschäftigt. 700 Seiten umfasst ihre Studie zur Struktur der Ähnlichkeit, die sich auf nahezu alle intelligiblen Prozesse anwenden lässt. Auf der Ebene der Sprache stellen Metaphern – vom Tischbein bis zum Buchrücken – solche Bezüge her. Gleichzeitig ist die Analogie auch eine kognitive Struktur, die es Menschen erlaubt, aus einzelnen Beobachtungen allgemeine Schlüsse zu ziehen. Um überhaupt etwas bewusst zu verarbeiten, benötigt man Begriffe von Dingen und folglich Kategorien für diese Begriffe. Diese wiederum entstehen durch einen nie abreißenden Prozess der Analogiebildung. Analogien sind der „Antriebsstoff und das Feuer des Denkens“. So bemühte George Bush der Ältere gerne die Analogie zwischen Saddam Hussein und Hitler, um den ersten Irakkrieg zu rechtfertigen. — pHilOSOpHiE MagaziN

Fotos: Trevor Good; isabelle Wenzel „Positions 2013"

Was haben Tauben, Erbsen und Menschen gemeinsam? Sie sind Lieblingsfetische von Züchtern, die in ewiger Frickelarbeit die resistentesten, schönsten oder grünsten Exemplare kombinieren wollten. Seit Bestehen der Tier- und Pflanzenzucht gibt es auch den Traum von der Veredelung des Menschen, den Staatsgründer, Naturforscher und Philosophen geträumt haben. Aber erst mit der Eugenik des 19. Jahrhunderts kam es zu wissenschaftlichen Zuchtwahltechniken. „Eugenik und andere Übel“ (Suhrkamp, 20 €) heißt ein klarsichtiger und wunderbar polemischer Essay von 1922, aus einer Zeit also, in der man noch blauäugig an die Nützlichkeit des Machbaren glaubte. Verfasst hat ihn Gilbert Keith Chesterton, besser bekannt als Autor zahlloser „Pater Brown“-Geschichten. Chesterton war aber auch ein Zeitdiagnostiker: Er prangerte den Klassenhass der Briten an, zog gegen staatliche Allmachtsfantasien zu Felde und pochte darauf, dass die Wissenschaft beim Kinderkriegen nichts zu reglementieren hätte (dies allerdings in den Grenzen seiner katholischen Weltsicht). Den viel schwerer zu durchschauenden Reglements der Gegenwart ist andreas Bernard in „Kinder machen“ auf der Spur (S. Fischer, 21,99 €). Von der Leihmutter bis zum Samenspender untersucht der Kulturwissenschaftler, wie die neuen Reproduktionstechnologien die Ordnung der Familie verändern. Klar: Die Züchtungsfantasien der Moderne stehen auf einem anderen Blatt als die Zeugungswünsche der Gegenwart. Das Supersperma aus kalifornischen Samenbanken – gesunde, weiße, sportliche, intelligente Spender – wäre aber auch Chesterton ein Grauen gewesen.

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l Für alle


Undercover Fiktion und Philosophie von Wolfram Eilenberger

Junge Union

Tischbein, wortwörtlich: Das Denken sucht sich analogien, um vom Bekannten zum Unbekannten zu kommen (Foto aus der Serie von isabelle Wenzel, „positions 2013“)

In acht ausführlichen Kapiteln, vom frühkindlichen Spracherwerb bis hin zu den wissenschaftlichen Revolutionen, wird die Verwendung von Ähnlichkeiten als Erkenntnismittel erörtert. Philosophisch gesehen hat die Analogie eine ebenfalls lange Tradition: In der Antike galt sie als „fruchtbares Medium des Denkens“, wie Hofstadter schreibt; Platons Gleichnisse etwa bezeugten das. Nietzsches Rede von der Wahrheit als einem „beweglichen Heer von Metaphern“ deute allerdings darauf hin, dass unsere Urteilskraft manchmal nicht auf sicherem Sprachgrund steht. Was bei Hofstadter und Sander leider kaum Behandlung findet, ist die historische Perspektive. Der französische Denker Michel Foucault etwa hatte 1966 in der „Ordnung der Dinge“ dargelegt, dass jede Epoche über eigene epistemische Wissensordnungen verfügt. „Den Sinn zu suchen, heißt an den Tag zu bringen, was sich ähnelt“, schreibt er über die Wissensproduktion vom Mittelalter bis zur Nr. 03 — april/Mai 2014

Renaissance. Ein einfaches Beispiel: Augenkrankheiten wurden mit Pflanzen behandelt, deren Blätter Ähnlichkeit mit einem Auge hatten. Von der wissensgeschichtlichen Lücke abgesehen überzeugt Hofstadter seine Leser dort am meisten, wo er sich am besten auskennt: in der Physik des 19. und 20. Jahrhunderts. Dass selbst ein Genie wie Albert Einstein seine Erkenntnisse zur Quantenphysik nicht aus rein logischen Operationen gewann, sondern eben auch mittels Analogiebildung, kann Laien durchaus überraschen. Die Frage, was das Bewusstsein im Kern letztlich ausmacht dürfte aber auch im neurowissenschaftlichen Zeitalter als nicht geklärt gelten. Das Wesen der Analogie, erklären die Autoren in ihrem so erhellenden wie unterhaltsamen Buch, bestehe darin, „dass sie eine bestimmte mentale Struktur auf eine andere mentale Struktur überträgt“. Wir erkennen eben vor allem das, was wir bereits kennen. Katharina Teutsch

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Zwischen dem Endlichen und dem Unendlichen liegt eine Unendlichkeit. Das ist für Wesen wie uns selten ein praktisches Problem. Es sei denn, man wollte sich etwa als Mystiker erlösend mit Gott selbst vereinen oder aber als pubertierender Pennäler mit einer strahlenden Schulschönheit aus der höchsten Klassenstufe. Den Ich-Erzähler von Navid Kermanis autobiografischem Roman „Große Liebe“ plagen nun gleich beide Sehnsüchte auf einmal. Als erwachsener, glücklich geschiedener Vater eines 15-jährigen Sohnes hält er in einer hundert Tage währenden Meditation Rückschau auf das Ereignis seiner ersten großen Liebe am Gymnasium einer westdeutschen Kleinstadt. Um die existenzielle Wucht und offenbare Narretei dieses Ereignisses geistig zu durchdringen, sucht Autor Kermani in seinem Erinnerungsprozess immer wieder den Dialog mit den großen Mystikern und Liebeslyrikern des Islam – Ahmad Ghazali, Ibn Arabi oder Rumi. Was kulturell wohl zuerst kam: das unbedingte Streben nach Vereinigung mit dem transzendenten Einen – oder nicht doch das mit der angebeteten, leiblichen Einen? Sind beide Liebesformen überhaupt voneinander zu unterscheiden, oder erweisen sie sich nicht gerade im Fall einer „großen Liebe“ und der ersten körperlichen Vereinigung als identisch? „Ich glaube nicht“, erinnert Kermani seine Unruhe vor der ersten großen Nacht mit seiner kellnernden Göttin, „dass die Schriften dem Gläubigen Größeres, Faszinierenderes, Geheimnisvolleres verheißen als ihr Dienstschluss dem Jungen“. Schöne, wahre Gedanken. Auf jeder Seite, ja fast mit jedem Satz. Man kann dieses Buch l freilich auch ganz unphi- Navid Kermani losophisch genießen, und Große Liebe 224 S. / zwar als berührend prä- Hanser / 18,90 Euro zise Schilderung einer großen Jugendliebe in der BRD der achtziger Jahre, als viel zu kleine Jungs viel zu schöne Mädchen vom Rand der Raucherecke aus über Monate anschmachteten. Genau so war es nämlich. Genau so hat sich das angefühlt. Nie waren wir Gott näher.

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Das Philosophie Magazin

februar/märz Nr. 02 / 2014

Das zer -

streute Ich

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Ständig werden wir abgelenkt, können kaum noch klare Gedanken fassen. Müssen wir uns von Neuem sammeln? Oder hat unser Selbst gar kein Zentrum?

Michael Haneke

„Kunst ist unmöglich geworden“

Die verlorene Vernunft der Inka

Eine Spurensuche in Peru

Überwachen oder vertrauen? Juli Zeh streitet mit Ute Frevert Nr. 14 ge von

Sammelbeila

16-seitiges booklet

Epik u r ißt L ebe n he

Menoikeus“ „Brief an

n ge nieß e

und „Weisungen

Epikur

Deutschland 6,90 € Österreich: 7 €; Schweiz: 12,50 SF; Benelux: 7,40 €. Italien & Spanien: Auf Nachfrage.

Der Geschmack des Glücks

“ (Auszug)

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