Philosophie Magazine Nr. 04 / 2015

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Nr. 04 / 2015

Juni /Juli

MAGAZIN

Bin ich,

was ich esse? YANIS VAROUFAKIS streitet mit Jon Elster:

„Ich verlange nicht, dass Deutschland alles zurückzahlt!“ DAVID HARVEY: „Urbane Lebensqualität muss erkämpft werden“

Philosophie Magazin Nr. 04 / 2015 / 1

0 4 4 192451 806907

Dostojewski und die Schuld

D: 6,90 €; Ö: 7,- €; CH: 12,50 SF; Benelux: 7,40 €

DIE WELT ALS BLASE Unterwegs in Europas größtem Spaßbad


Denker in diesem Heft

S. 34

S. 62

S. 70

Yanis Varoufakis

Sarah Wiener

David Harvey

Der griechische Finanzminister lehrte als Wirtschaftsprofessor u. a. in Cambridge. Sein Spezialgebiet ist die Spieltheorie. In seinem Buch „Der globale Minotaurus“ (Kunstmann, 2012) analysiert er die Funktionsweise des weltumspannenden Kapitalismus. Im groĂ&#x;en Streitgespräch erĂśrtert er mit dem norwegischen Philosophen und Ă–konomen Jon Elster die Paradoxien der griechischen Schuldenkrise.

Die 51-jährige gebĂźrtige Wienerin ist KĂśchin, Unternehmerin und Buchautorin. Ihre Kochsendungen auf Arte und in der ARD erfreuen sich seit Jahren groĂ&#x;er Beliebtheit. Mehrfach wurde sie fĂźr ihr soziales und Ăśkologisches Engagement ausgezeichnet. Im Dialog mit dem Philosophen Harald Lemke argumentiert sie leidenschaftlich fĂźr eine ebenso naturnahe wie genussorientierte Lebensweise.

Der britische Geograf und Philosoph ist einer der einflussreichsten Marxisten der Welt. Durch seine populären Online-Vorlesungen Ăźber „Das Kapital“ erreicht er unzählige HĂśrer. In unserem Gespräch zeigt er Ungerechtigkeiten und Ungleichheiten des Kapitalismus anhand der globalen Entwicklung der Urbanisierung auf. Zum Thema: „Siebzehn WidersprĂźche und das Ende des Kapitalismus“ (Ullstein, 2015).

S. 1–100

S. 26

Beiheft

Nils Markwardt

Philipp Felsch

FrĂŠdĂŠric Gros

Er ist als Redakteur neu beim Philosophie Magazin. Nach dem Studium der Literaturwissenschaft und Sozialwissenschaft an der Humboldt-Universität Berlin arbeitete er als freier Kulturjournalist fßr Literaturen, Der Freitag oder ZEIT ONLINE. Seine Schwerpunkte sind Politische Philosophie und Theorien der Popkultur. Als Fan von Borussia Dortmund hatte er es in den letzten Wochen nicht leicht.

Der Kulturwissenschaftler lehrt als Juniorprofessor Geschichte der Humanwissenschaften an der Berliner Humboldt-Universität. Sein Buch „Der lange Sommer der Theorie. Geschichte einer Revolte. 1960–1990“ (Beck, 2015) war fĂźr den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert. Gemeinsam mit Yael Reuveny begab er sich fĂźr uns in das SpaĂ&#x;bad Tropical Islands und entdeckte dort die „Die Welt als Blase“.

Der Philosoph lehrt als Professor an der UniversitĂŠ Paris XII und hat seinen Arbeitsschwerpunkt im Gebiet der politischen Theorie. FĂźr das Philosophie Magazin erklärt er im Klassiker-Beiheft die Spannung zwischen Freiheit und Schuld in Fjodor Dostojewskis groĂ&#x;em Roman „Die BrĂźder Karamasow“. Zuletzt erschien von Gros auf Deutsch „Die Politisierung der Sicherheit“ (Matthes & Seitz, 2014).

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Die nächste Ausgabe erscheint am 16. Juli 2015

Fotos: getty images/Bloomberg Finance; Isadora Tast; Enver Hirsch; Johanna Ruebel; privat; Emmanuel Robert-Espalieu/Opale/Leemage/laif

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Inhalt

Intro

Horizonte

Dossier

Ideen

S. 3 Editorial S. 6 Ihre Frage S. 7 Kinder fragen Tomi Ungerer S. 8 Leserbriefe

S.26 Reportage Die Welt als Blase. Unterwegs in Europas grĂśĂ&#x;tem SpaĂ&#x;bad 7PO Philipp Felsch und Yael Reuveny S. 34 Dialog Gefangen im griechischen Dilemma? Yanis Varoufakis streitet mit Jon Elster

Bin ich, was ich esse?

S. 70 Das Gespräch David Harvey Ăźber urbanen Kapitalismus S. 76 Werkzeugkasten LĂśsungswege / Latah / Die Kunst, recht zu behalten S. 78 Der Klassiker Dostojewski und die Schuld 7PO .JDIFM &MUDIBOJOPŢG + Sammelbeilage: „Die BrĂźder Karamasow“ .JU FJOFN 7PSXPSU WPO FrĂŠdĂŠric Gros und einem Ăœberblick von Martin Duru

Zeitgeist S. 10 Sinnbild S. 12 DenkanstĂśĂ&#x;e S. 14 Resonanzen Späte MĂźtter: Keine „natĂźrlichen Grenzen“? / Clintons Familienmacht / Interview mit dem Podemos-GrĂźnder J. C. Monedero S. 20 Weltbeziehungen %JF 7FSNFTTVOH EFT (MĂ™DLT Kolumne von Hartmut Rosa S. 22 Kaufrausch Brauchen wir Anti-Prokrastinations-Armbänder? Kolumne von Markus Krajewski

S. 25

S. 44 Besessen vom Essen 7PO $BUIFSJOF /FXNBSL S. 48 Der gastrosophische Test: Sage mir, was du isst ‌ S. 52 Metaphysik EFS 7FSEBVVOH Ein historischer Ăœberblick von CĂŠcilia Bognon-KĂźss S. 56 Mythische Mahlzeiten Sechs Lebensmittel philosophisch betrachtet von Ronald DĂźker S. 60 Utopien gehen durch den Magen Essay von Nils Markwardt S. 62 Gutes Essen, gutes Leben? Kulinarischer Dialog mit Sarah Wiener und Harald Lemke

BĂźcher S. 84 Buch des Monats Michael Hagners Streitschrift fĂźr eine nachhaltige Printkultur S. 86 Thema Altersforschung: Gekommen, um zu bleiben? S. 88 Scobel.Mag S. 90 Die Philosophie-MagazinBestenliste

Fotos: Pawel Bajew; Steffen Roth; Brooke DiDonato; Rebecca RĂźtten

Finale

S. 69

S. 26

S. 92 Agenda S. 94 Comic S. 95 Spiele S. 96 Lebenszeichen 7PO 5JFSFO MFSOFO Die Trottellumme / Das Gare ist das Wahre S. 98 Sokrates fragt Florian David Fitz

S. 45

Philosophie Magazin Nr. 04 / 2015 / 5


DIE WELT ALS

BLASE

Foto: Steffen Roth; Autorenfotos: privat

Was man in Europas größtem Spaßbad über die Zukunft der Menschheit erfahren kann

26 / Philosophie Magazin Juni /Juli 2015


Horizonte

Reportage

Vollüberdacht, klimakontrolliert, lustmaximierend. Willkommen in der Welt von morgen! Anstatt sich an einer zunehmend lebensfeindlichen Außenwelt abzuarbeiten, setzen Utopisten verstärkt auf die Idee einer voll technisierten Kunstsphäre. Wie es sich anfühlt, sollte diese Vision Wirklichkeit werden, lässt sich bereits heute in einem alten Zeppelin-Hangar außerhalb Berlins erspüren. Eine Reportage Von Philipp Felsch und Yael Reuveny Philipp Felsch

N

Philipp Felsch ist Juniorprofessor für Geschichte der Humanwissenschaften an der Humboldt-Universität Berlin. Jüngste Publikation: „Der lange Sommer der Theorie. Geschichte einer Revolte“ (C. H. Beck, 2015)

achdem uns der Shuttle-Bus zurück auf die Erde gebracht hat, stehen wir wortlos an den Gleisen. Der Bahnhof von Brand in der Niederlausitz ist ein trostloser Ort. Ein verrammelter Backsteinbau im schütteren Kiefernwald und nasser Schnee auf ausgebrannten Fundamenten. Kaum zu glauben, dass hier schon seit 25 Jahren keine DDR mehr ist. Doch trotz der Tristesse kommt uns die Szene idyllisch vor. Inbrünstig heben wir die Augen zum grauen Himmel. In tiefen Zügen atmen wir die nach Braunkohle duftende Luft. In einer halben Stunde kommt der Regionalexpress, der uns zurück nach Berlin bringen wird. Zeit genug, um ein paar der Eindrücke zu notieren, die uns in den letzten 24 Stunden zuteilgeworden sind. Wir haben gesehen, wie 6000 Kubikmeter Wasser mit Natriumhypochlorit-Konzentrat „geimpft“ werden. Wir haben irgendwann aufgehört, die TribalTattoos, Bauchnabel-Piercings und Deutschlandtrikots zu zählen. Wir haben festgestellt, wie viele Gerichte es gibt, die man mit Dosenananas verfeinern kann. Wir haben herausgefunden, dass wir zusammen

Yael Reuveny Yael Reuveny ist Dokumentarfilmerin und lebt in Berlin und Tel Aviv. Ihr Film „Schnee von gestern“ (2014), der einen Teil ihrer Familiengeschichte erzählt, wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet

135 Kilo wiegen. Wir sind in einem Heliumballon über den Regenwald gef logen. Bei 28 Grad haben wir einen Tag und eine Nacht lang nichts als unsere Badesachen angehabt. In einer sprudelnden, grün leuchtenden Lagune sind wir um Mitternacht in hysterisches Gelächter ausgebrochen. Wir haben vergeblich versucht, einen hellblauen Papagei namens Carlos zum Sprechen zu bringen. Wir haben angefangen, uns gegenseitig mit Nummern anzureden. Wir waren überrascht festzustellen, wie leicht uns das fiel. Tropical Islands, Europas größtes tropisches Indoor-Badeparadies (wie der malaysische Betreiber seine Anlage bewirbt), befindet sich auf dem Gelände eines ehemaligen sowjetischen Militärf lughafens. In den sechziger Jahren soll Juri Gagarin hier einmal gelandet sein. In einem gigantischen Hangar, den die Cargolifter AG in den Jahren um die Jahrtausendwende auf dem brachliegenden Gelände für ihren nie in Fertigung gegangenen Lastenzeppelin errichten ließ, wachsen heute mehrere gefühlte Hektar Regenwald. Während der Hochsaison im Winter passen bis zu 6000 Besucher in die Halle. Für 1000 von ihnen gibt >>> Philosophie Magazin Nr. 04 / 2015 / 27


Horizonte

Dialog

Gefangen im griechischen Dilemma:

Nichts

geht mehr? Yanis Varoufakis / Jon Elster Angesichts der Schuldenkrise schwanken Athen und Europa zwischen zwei Optionen: Kooperation oder eigenmächtige Nutzenmaximierung (Defektion). Diese Alternative steht im Zentrum der Spieltheorie, einer Spezialität des griechischen Finanzministers Yanis Varoufakis. Er hat sich zu einem Gespräch mit dem Philosophen Jon Elster bereit erklärt, dessen Werk er seit langem kennt und schätzt. Gemeinsam wägen sie das Gewicht der Emotionen und der (FTDIJDIUF BC BVDI KFOTFJUT EFS ÓLPOPNJTDIFO 7FSOVOGU

W

ährend über der Akropolis die Nacht hereinbricht, laufe ich durch die Gassen des PlakaViertels in Richtung Syntagma-Platz, wo das neoklassische Gebäude des griechischen Parlaments und das moderne Hochhaus des Finanzministeriums einander gegenüberstehen. Ich bin mit dem griechischen Finanzminister Yanis Varoufakis verabredet. Der brillante Wirtschaftsexperte und Spezialist der Spieltheorie hat eingewilligt, ein Telefongespräch mit dem in New York weilenden Wirtschaftsphilosophen Jon Elster zu führen. Athen ist sichtbar von der Krise gezeichnet: In manchen Parks haben junge Leute Zelte errichtet und unterhalten behelfsmäßige Gemüsegärten; auf den Terrassen der Cafés versuchen ältere Menschen, sich durch den Verkauf von Papiertaschentüchern ein paar Euro dazuzuverdienen. Am Eingang zum Ministerium trägt eine Skulptur die Spuren einer Demonstration von 500 dort angestellten Putzfrauen, die unter dem Druck der Troika erst entlassen und nun wieder eingestellt wurden. Eine von ihnen, bulgarischstämmig, ist sogar zur europäischen Abgeordneten gewählt worden. Nach einhelliger Meinung hat alles ganz den Anschein, als ob Griechenland im Zuge seiner Konfrontation mit dem Abgrund – kollektiver Bankrott, Ausstieg aus dem Euro, Massenarbeitslosigkeit und

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allgegenwärtiges Prekariat – dabei ist, eine neue Art von Politik zu erfinden. Das Land will mit den Gepflogenheiten einer politischen Kaste brechen, die als Belohnung für die Wahlstimmen des Volkes Privilegien verteilte. Doch fühlen sich die Griechen weiterhin hin- und hergerissen: zwischen der Forderung nach einer Verringerung der Schulden und dem Verlangen nach einem Verbleib in Europa, zwischen dem Bedürfnis nach einer Beendigung der Sparpolitik, die der Bevölkerung die Luft zum Atmen nimmt, und dem Versprechen der Wiederherstellung ihrer Würde. Haben die Griechen ein Interesse daran, mit den Europäern zu kooperieren? Haben sie die Mittel dazu? Oder sollten sie auf Defektion setzen? Und was die Europäer anbelangt, haben sie recht, die Griechen so in die Enge zu treiben? Nach einer zweistündigen, leidenschaftlichen Diskussion, in der es ebenso um Geschichte, Moral, Strategie wie um Ökonomie ging, drückt Yanis Varoufakis meine Schulter: „Angesichts der Situation wird man mir vorwerfen, ich vergeude meine Zeit, wenn ich mit Philosophen plaudere. Doch ich mache das so gern. Sie haben einfach einen klareren Blick.“ Als ich wieder aus dem Finanzministerium herauskomme, laufe ich am Parthenon entlang, wo vor 2500 Jahren ein gewisser Solon die ersten demokratischen Institutionen erfand – und die Schulden der Kleinbauern erließ. Wird sich die Geschichte wiederholen?

Foto: Yorgos Karahalis/Bloomberg via Gettyimages

Aufgezeichnet von Martin Legros


Griechenland in Zahlen

einwohnerZahl

11 millionen

BiP

% einwohner -in22 5 Jahren euro 2014 athens

230 milliarden

4 millionen

296 milliarden

euro 2009

wachstum 0,6 % Gesamtschuldensumme

318 milliarden euro davon 8 % Beim iwF und 92 % Bei euroPa

macht 138 % deS BiP

die GläuBiGer

iwF 25 milliarden euro euroPäische staaten

293 milliarden euro

davon deutschland 50 milliarden arBeitslosenquote

27 % unter 26 Jahren

Yanis Varoufakis Der Professor für Ökonomie an der Universität Athen, Gastprofessor an der Universität von Texas und ehemalige Berater eines Computerspielentwicklers wurde im Januar 2015 zum Finanzminister der Regierung von Alexis Tsipras ernannt. Als Spezialist für Spieltheorie denkt er entgegen dem herrschenden Trend, dass sich Kooperation mehr auszahlt als Einzelkämpfertum. Er hat mehrere Sachbücher verfasst und mit „Der globale Minotaurus“ (Kunstmann, 2012) einen faszinierenden Essay über die Krise des globalen Kapitalismus vorgelegt

davon 50 % JunGe leute

Yanis Varoufakis : Ich bin kein professioneller Politiker. Ich war mein ganzes Leben lang ein Wirtschaftstheoretiker, mein Spezialgebiet ist die Spieltheorie. Ich bin erst vor dreieinhalb Monaten in die Politik gegangen. Ich würde mich als einen „erratischen Marxisten“ definieren, insofern ich der Ansicht bin, dass Marx, indem er seiner Theorie den Status einer ehernen Gesellschafts- und Geschichtswissenschaft verlieh, eine Mitverantwortung für die autoritäre Haltung eines Teiles der Linken trägt. Aber ich bin nach wie vor davon überzeugt, dass er eine der eindringlichsten Analysen des Kapitalismus geliefert hat. Jedes Mal, wenn ich aus dem Fenster sehe, bin ich mit den Widersprüchen konfrontiert, auf die er hingewiesen hat. Jon Elster : Ich würde mich eher als einen „verwelkten“ Marxisten darstellen. Mein Marxismus ist sogar verwelkt, be-

vor er wirklich hat aufblühen können. Ich bin in Norwegen aufgewachsen. Mein Vater war Sprecher der Norwegischen Arbeiterpartei. Nachdem ich nach Paris gezogen war, habe ich bei Raymond Aron eine Doktorarbeit über Marx verfasst, um herauszufinden, ob ich Marxist war, und habe festgestellt, keiner zu sein. Ich bin stattdessen Marxologe geworden. Seither denke ich über die Theorie der rationalen Entscheidung nach, die davon ausgeht, dass Vernunft und Nutzen unsere Entscheidungen bestimmen. Ich habe eine immanente Kritik dieser Vision des „rationalen und nutzenorientierten“ Menschen entwickelt, einer Vision, die weder den Verhaltensweisen der Individuen entspricht noch deren Motivationen Rechnung trägt. Deshalb bin ich neugierig zu erfahren, was einen Universitätsgelehrten wie Sie dazu motiviert >>> hat, sich in der Politik zu engagieren. Philosophie Magazin Nr. 04 / 2015 / 35


DOSSIER

esse? M ich

ensch sein heißt, vom Baum der Erkenntnis gekostet zu haben. Mehr denn je steht die Essenswahl heute unter gesellschaftlichem Druck. Selbst gewählte Nahrungstabus bilden das Zentrum unserer Identität, ersetzen zunehmend religiöse und auch politische Bekenntnisse. Die damit verbundenen Haltungen pendeln zwischen lebensfroher Heilserwartung und genussferner Hypersensibilität, revolutionärer Energie und Angst vor staatlicher Überregulierung. Ist gutes Essen wirklich immer gesund? Gibt es überhaupt natürlichen Genuss? Und wenn ja, weist er wirklich den Weg zu globalen Lösungen? Oft, schrieb einst Friedrich Nietzsche, entscheidet ein „einziger Bissen Nahrung, ob wir mit einem hohlen Auge oder hoffnungsreich in die Zukunft schauen“. Hatte er recht?

42 / Philosophie Magazin Juni /Juli 2015

Foto: Ted Sabarese

Bin ich, was



DOSSIER

Bin ich, was ich esse?

Test

Sage mir, was du isst … Ungezügelter Genussmensch oder bedachter Gesundgenießer? Unsere Haltung zur Nahrung verrät viel über uns. Machen Sie den Test, was gastrosophisch in Ihnen steckt!

Foto: „Pizza is the new black“, a project by Erwan Fichou, Black Pizza design studio and chief Julie Basset

7PO Wolfram Eilenberger

48 / Philosophie Magazin Juni /Juli 2015


Test 1 Wenn Sie Ihr ganzes Leben lang nur ein einziges Gericht essen dürften, welches wäre es: Spaghetti Bolognese Reis mit Bohnen Dann lieber sterben 2 Sie haben sich mit der Hühnerbrühe viel Mühe gemacht, dennoch weigert sich das Kleinkind, auch nur einen Löffel zu essen. Was tun Sie: Sie zwingen das Kind zu nichts und machen ihm ein Salamibrot Sie zwingen das weinende Kind dennoch zum Verzehr Sie versuchen spielerisch von der Speise zu überzeugen 3 Was würde Sie an einem Lebenspartner am meisten stören? Dass er/sie stets mit vollem Mund spricht Dass er/sie sich ständig vollkleckert Dass er/sie immer alles runterschlingt 4 Welches Tier würden Sie niemals freiwillig essen? Hund Heuschrecke Ratte

8 Ihr bester Freund hat seine langjährige Freundin verlassen, weil diese sich fortan nur noch von Licht ernähren will. Was denken Sie? Ein Glück ist er die Irre los Das wäre für mich kein Trennungsgrund Das ist ein Hilfeschrei, er muss ihr gerade jetzt beistehen 9 Ein Bekannter regt an, doch mal gemeinsam in ein Dunkelrestaurant zu gehen. Ihr erster Gedanke: Tolle Idee, klingt spannend! Ob das auch was mit Sex zu tun hat? Da kucke ich lieber drei Stunden ins Klo 10 Dem Satz „Liebe geht durch den Magen“ stimmen Sie … … voll zu … teilweise zu … überhaupt nicht zu 11 Von welcher Philosophin würden Sie sich am ehesten bekochen lassen? Hannah Arendt Teresa von Avila Judith Butler

Sie sind kein Vegetarier … … wären aber eigentlich gern einer … und wollen auch keiner sein Doch, Sie sind Vegetarier 12

5

Sie haben in Ihrem Leben … … schon wiederholt gefastet … weniger als dreimal gefastet … noch nie gefastet

6 Vor der Bestellung in einem Restaurant … … prüfen Sie die gesamte Speisekarte ausführlich … suchen Sie gezielt nach einem bestimmten Gericht … lassen Sie sich vom Kellner etwas vorschlagen

Von welchem Philosophen würden Sie sich am ehesten bekochen lassen? Peter Sloterdijk Richard David Precht Byung-Chul Han 7

13 Nach dem Sex haben Sie regelmäßig Lust auf: Eine Zigarette Rührei mit Speck Ein Nickerchen 14 Dass Todeskandidaten in den USA die letzte Mahlzeit selbst bestimmen dürfen, halten Sie für … … eine erniedrigende Farce, unmenschlich wie die Todesstrafe … eine nachvollziehbare letzte Gnadengeste

… einen Ritus, der so alt ist wie die Menschheit

Müsste ich mich erst mal schlaumachen

15 Menschen, die selbst gekochte Gerichte auf Facebook posten … … tun Ihnen einfach nur leid … teilen damit etwas von ihrer Lebensfreude … werden von Ihnen gelegentlich nach dem Rezept gefragt

21 Auf welchen Menü-Gang freuen Sie sich am meisten? Vorspeise Hauptgang Nachspeise

16 Als Sie noch ein Säugling waren, wurden Sie … … von Ihrer Mutter gestillt … von Ihrer Mutter nicht gestillt Das haben Sie Ihre Mutter nie gefragt 17 Welchen der folgenden Buchtitel würden Sie am ehesten verschenken: Der gastrosexuelle Mann Gourmet in zehn Minuten Healthy Vegan Dogs – Wie man Hunde vegan ernährt 18 Das größte Problem mit Kochbüchern ist für Sie: Dass die Gerichte meistens doch nichts werden Dass die dort geforderten Zutaten so schwer erhältlich sind Dass Sie die dort geforderten Zutaten oft nicht kennen 19 Ich koche so selten Fisch, weil … … ich mir nie sicher bin, ob er auch frisch ist … ich mir nie sicher bin, wie ich ihn zubereiten soll … ich die drohende Überfischung der Weltmeere für ein riesiges Problem halte 20 Thema Eigenurin – wie schätzen Sie dessen Heilwirkung ein? Wird grundsätzlich überschätzt Wird grundsätzlich unterschätzt

22 Welches Organ spielt für das menschliche Wohlbefinden Ihnen zufolge die größte Rolle? Der Darm Das Gehirn Das Herz 23 Die erzieherische Aufforderung „Iss deinen Teller leer, in Afrika verhungern die Kinder“ halten Sie für … … motivational denkbar unproduktiv … pädagogisch besonders wertvoll … ein klassisches Relikt der siebziger Jahre 24 Was ist für Sie bei einer Mahlzeit am wichtigsten? Dass sie schmeckt Dass sie nahrhaft ist Dass sie frisch zubereitet ist 25 Und, wie hältst du’s mit dem Thermomix? Finde ich super, ich hätte selber gerne einen! Finde ich schrecklich, würde ich mir nie anschaffen! Ich verstehe diese Frage nicht. 26 Als Sie das letzte Mal zum Abendmahl gegangen sind, haben Sie Ihrer eigenen Überzeugung nach … … den Leib und das Blut Christi in sich aufgenommen … Symbole für Leib und Blut Christi in sich aufgenommen … einfach mitgemacht

Auswertung auf Seite 50 Philosophie Magazin Nr. 04 / 2015 / 49


DOSSIER

Bin ich, was ich esse?

Gutes Essen,

gutes Leben? Haben wir das Gefühl für gute Nahrung verloren? Oder ist die Idee einer genussvollen Ursprünglichkeit nur ideologischer Schein? Die Köchin Sarah Wiener und der Philosoph Harald Lemke im Streitgespräch über platonisches Fast-Food, verbissene Veganer und das alltägliche Wagnis, vom Baum der Erkenntnis zu naschen

H

Das Gespräch führte Wolfram Eilenberger / Fotos von Isadora Tast

ier gibt es die beste Rohmilch der Stadt“, schwärmt Sarah Wiener bei ihrer Ankunft im Tide, einem kleinen Feinkostladen mitten in Hamburg-Altona. Und rät mir dennoch entschieden davon ab, ebenfalls ein Glas zu bestellen. „Wenn man nicht daran gewöhnt ist, kann es da leicht zu Problemen kommen“, erklärt sie. Philosoph Harald Lemke nickt zustimmend. „Muss man als Anfänger mit aufpassen.“ Da ist es wieder, dieses verunsi„ chernde Gefühl, selbst über so ein alltägliches Nahrungsmittel wie Milch einfach viel zu wenig zu wissen. Immer wieder wird das Gespräch zu diesem Phänomen zurückkehren. Wir alle essen jeden Tag, so gut wie alles – und machen uns doch kaum tiefere Gedanken darüber. Auch wenn Lemkes und Wieners Erklärungen dafür stark voneinander abweichen, in einem stimmen sie stets überein: Das muss sich ändern und wird sich ändern – wenn die Menschheit überleben will.

Philosophie Magazin: Das Thema Essen und Ernährung steht für Sie beide im Zentrum Ihres Lebens. Wie kam es dazu? Harald Lemke: In meinem Fall hat das weniger mit frühen Gourmeterfahrungen als mit politischen Prägungen aus den achtziger Jahren zu tun. Über Ostermärsche und die Anti-AtomkraftBewegung führte mein Weg in die Philosophie. Dort beschäftigte ich mich vor allem mit Fragen nach der Begründbarkeit des Guten. Im Rahmen meiner Promotion habe ich dann über die Möglichkeit einer Ethik des Soziallebens, der guten Freundschaft nachgedacht. Danach griff ich die komplett vernachlässigte Frage auf: Wie steht es eigentlich mit unserem Essen? Es gibt doch einen offenkundigen Unterschied zwischen guten und schlechten Ernährungsver62 / Philosophie Magazin Juni /Juli 2015

hältnissen. Aber worauf beruht dieser Unterschied? Wie lässt er sich begründen? Diese Fragen sind bislang kaum bearbeitet worden. Deshalb tue ich das seit einiger Zeit.

Kommerz dienen. Das ist bis heute mein roter Faden. Mir geht es ja nicht nur um das Kochen, mein Thema sind Lebensmittel, also die ganze Kette vom Anbau über die Zubereitung bis zum Verzehr.

Sarah Wiener: Ich habe schon immer eine sehr spezielle Beziehung zum Essen gehabt – das aber erst relativ spät für mich festgestellt. Als ich jung war, hat meine Mutter stets frisch gekocht. Das hatte auch ökonomische Gründe, denn wir hatten nicht viel Geld, und damals war das noch günstiger als Dosen-Food. Ich erinnere mich noch, wie ich als kleines Mädchen mit acht Jahren gehört habe, dass Coca-Cola süchtig macht – von dem Tag an habe ich nie wieder Cola getrunken. Da zeigte sich bereits instinktiv eine Abneigung gegen industrielle Nahrungsmittel, die nicht dem Wohlbefinden, sondern nur dem

Lemke: Aber Sie haben sich dann auch zur Köchin ausbilden lassen? Wiener: Nein, ich bin Autodidaktin. Ich war ein ziemlich ungestümes Mädchen, Schulabbrecherin, renitent, alles Mögliche. Hätte mir jemand mit 15 gesagt, du wirst mal Köchin, da hätte sich mein ganzer Freundeskreis auf die Schenkel geklopft. Das war negativ besetzt, nicht zuletzt wegen des Bildes des kochenden Hausmütterchens. Diese Spannung besteht ja bis heute. Lemke: Und sie existiert bereits am Anfang der Philosophie. Aristoteles be-


Harald Lemke

Sarah Wiener

Harald Lemke ist Philosoph. Er promovierte bei Axel Honneth und lehrt heute am Institut für Kulturtheorie an der Universität Lüneburg. Er ist Deutschlands führender Theoretiker zur Ethik und Kultur des Essens. Jüngste Buchpublikationen: „Über das Essen – Philosophische Erkundungen“ (Fink, 2014), „Politik des Essens – Wovon die Welt von morgen lebt“ (transcript, 2012)

Sarah Wiener ist Köchin, Unternehmerin und Buchautorin. Sie betreibt einen Catering-Service sowie zahlreiche Restaurants. Durch ihre erfolgreichen Koch- und Reisesendungen bei ARTE und ARD ist sie seit Jahren einem größeren Publikum bekannt. 2006 rief sie die Sarah Wiener Stiftung „für gesunde Kinder und was Vernünftiges zu essen“ ins Leben

richtet zum Beispiel von Heraklit, dieser sei einst in der Küche gestanden und hätte seinen Gästen zugerufen: „Auch in der Küche leben die Götter!“ Aber Aristoteles interpretiert diese Anekdote dann nicht im Sinne einer wahren Göttlichkeit des Kochens, sondern er bezieht dies allein auf die Wärme des Herdes. Der Gedanke, dass gerade in der Küche viel Weisheit und Wissen stecken könnte, kommt ihm nicht einmal in den Sinn. Diese abwertende Haltung zieht sich eigentlich durch die ganze Philosophiegeschichte: Etwas, das so alltäglich und handfest ist, interessierte die Männer der Theorie nicht sonderlich. Das hat natürlich auch etwas mit klassischen Rollenzuschreibungen von (dem philosophierenden) „Mann“ und (der kochenden) „Frau“ zu tun. Dabei steckt gerade im Kochen ein enormes Weltwissen.

Wiener: Die Religion war auch nicht immer hilfreich, vor allem nicht der Protestantismus. Ich meine, überall wo es katholische Monarchen gab, gab es Völlerei und Dekadenz und damit auch eine hoch entwickelte Kochkultur. Dort, wo zum Beispiel Calvinisten oder Protestanten herrschten, darbte die Kochkunst, und darbt sie eigentlich bis heute. Lemke: Ich würde diese Klage sogar noch weiter fassen, denn wir leben in einer Kultur, die vor 2500 Jahren, mit Platon, eine grundsätzliche Unterscheidung getroffen hat: Der Geist ist wichtiger als der Leib, die Erkenntnis wichtiger als die Lust, das Ideelle und Ewige wirklicher als das Konkrete, Flüchtige und Selbstgemachte. Von da führt eine recht klare Linie auch zur kulturellen Abwertung des Essens und der philoso- >>> Philosophie Magazin Nr. 04 / 2015 / 63



Ideen

David Harvey

Das Gespräch

Marxismus und Geografie, mit dieser ungewöhnlichen Theoriemischung legt der britische Denker David Harvey die zentralen Widersprüche unserer Zeit frei. Ein revolutionäres Gespräch über Städte als Beute, falsche Krisenbegriffe und die Notwendigkeit für die Linken, endlich richtig zuzubeißen Das Gespräch führte Nils Markwardt / Fotos von Enver Hirsch Bernard

David

Harvey

»Kapitalisten mögen keinen Wettbewerb!

D

as Aprilwetter meint es gut mit diesem Ostersonntag. Vor dem Audimax der Universität Hamburg, wo gerade eine kapitalismuskritische Konferenz stattfindet, versuchen die Besucher noch schnell ein wenig Sonne zu tanken. Mitten im Gewimmel steht David Harvey. Der meistzitierte Geograf der Welt strahlt britisches Understatement aus: Daunenjacke, Rucksack, in der Hand einen Plastikbecher mit Kaffee. Dennoch erkennt man ihn schon von weitem an seinen weißen Haaren und dem leuchtend roten Schal. Rot, die Farbe passt zu ihm. Denn Harvey hat sich zeitlebens nicht nur mit der Urbanisierung beschäftigt, sondern auch Generationen von Studenten in Baltimore und Oxford Karl Marx’ „Kapital“ gelehrt. Durch seine Schriften zur politischen Ökonomie, die auch junge amerikanische Denker wie Benjamin Kunkel beeinf lussten, avancierte er zu einem der wichtigsten Sozialwissenschaftler im englischsprachigen Raum – und zu einem der einf lussreichsten Marxisten unserer Zeit. Am nächsten Morgen fliegt der 79-Jährige wieder zurück in die USA, wo er an der City University of New York Geografie unterrichtet.

Herr Harvey, worin liegt für Sie der Zusammenhang zwischen Philosophie und Geografie? Immerhin stehen Sie in einer interessanten Tradition, auch Immanuel Kant begann ja als Geograf. David Harvey: Kant hat zwar für einige Jahre Geografie gelehrt, aber die Texte, die wir aus dieser Zeit kennen, strotzen nur so von ungeprüften Annahmen. Seine geografischen Ausführungen dienten vor allem dazu, die europäischen Vorurteile über vermeintlich barbarische Praktiken der „Eingeborenen“ zu bedienen. Die bis heute interessante Frage dabei bleibt, wie Kants Universalismus und Kosmopolitismus mit seinem geografischen Ansatz zusammengehen könnten. Der einzige Vorteil von Kants Denken bestünde in diesem Kontext darin, dass Wissen nicht außerhalb spezifischer Konstellationen von Raum, Zeit, Ort und Umwelt existiert, sodass wir Begriffe wie Gerechtigkeit, Ethik oder Rationalität stets kritisch darauf hin überprüfen müssen, wie sie in geografischen Eigenheiten verwurzelt sind. Auch Heidegger bezieht sich in Schriften wie „Bauen – Wohnen – Denken“ ganz direkt auf diese Form der Verwurzelung. Es gibt also einerseits Beispiele, wo geografische TheorieansätPhilosophie Magazin Nr. 04 / 2015 / 71

>>>


78 / Philosophie Magazin Juni /Juli 2015

Illustration: Emmanuel Polanco, Bildvorlage: FineArtImages/Leemage


Ideen

Der Klassiker

Dostojewski und die

SCHULD In seinen leidenschaftlichen, abgründigen Romanen be-

gegnet man Ausgestoßenen, Schwachsinnigen, exaltierten Spielern – und vor allem Mördern. Als Meister des metaphysischen Krimis lässt uns der russische Schriftsteller Dostojewski in die Abgründe der menschlichen Natur blicken. Wir erscheinen darin als gespaltene Wesen, hin- und hergerissen von gegensätzlichen Kräften: Liebe und Hass, Wahrheit und Lüge, Gut und Böse – stets gefangen in Versuchung. Jedes Verbrechen, ob mit oder ohne Gewissensbisse begangen, zieht in der Realität notwendigerweise eine Strafe nach sich. Dostojewski geht sogar noch weiter: Ihm zufolge sind wir alle schuldig. Das Gefühl der Schuld ist nichts Zufälliges, sondern die Grundlage aller Existenz. Michel Eltchaninoff beleuchtet im Klassikerdossier die daraus resultierende Ethik Dostojewkis. Frédéric Gros stellt uns im beiliegenden Booklet „Der Großinquisitor“ vor, das zentrale Kapitel des Romans „Die Brüder Karamasow“, in dem Dostojewski über die Begriffe von Freiheit und Autorität nachdenkt. Dort gerät die Literatur in Schwingungen, die auch die Philosophie tief prägten, ja erschütterten.

Philosophie Magazin Nr. 04 / 2015 / 79


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