Nr. 03 / 2015
April / Mai
magazin Die Hölle, das sind die
Anderen? Unternehmen Unsterblichkeit Reportage aus dem Silicon Valley Michael j. Sandel: „Wir haben Angst vor dem guten Leben“
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Voltaire und die Toleranz
D: 6,90 €; Ö: 7,– €; CH: 12,50 SF; Benelux: 7,40 €
Warum fasten? Von der Ekstase des Verzichts
Energiewende? Die ist doch viel zu teuer! Denken Sie? Überlegen Sie lieber, wie viele Vorteile erneuerbare Energien für Mensch und Umwelt haben. Und was das auf lange Sicht an Kosten spart. Wechseln Sie also gleich zum sauberen Ökostrom von NaturEnergiePlus. Aus 100% deutscher Wasserkraft. Je schneller, desto günstiger. Für Sie. Und die Natur. Stromanbieter ändern. Welt verändern. www.naturenergieplus.de
S. 44
Beiheft
S. 1–100
Eric Klinenberg Als Professor für Soziologie an der New York University beschäftigt sich Klinenberg vor allem mit Urbanistik und Umwelt. Sein jüngstes Buch „Going Solo“ (Penguin Press, 2012) befasst sich mit dem Trend zum Alleinleben vor allem in Großstädten, der Klinenberg zufolge nicht Resultat einer beklagenswerten Vereinzelung ist, sondern sich aus wachsender Prosperität und Wahlfreiheit heraus erklären lässt.
André Glucksmann
Catherine Newmark
Als vehementer Totalitarismuskritiker ist der französische Philosoph ein Intellektueller, der politische Ereignisse mit scharfer Analyse begleitet. Sein besonderes Interesse gilt den Quellen des Totalitarismus. Glucksmann ist Mitherausgeber der Zeitschrift Le Meilleur des Mondes. Für unser Klassiker-Booklet führt er in Voltaires Denken der Toleranz ein.
Sie ist als Redakteurin neu beim Philosophie Magazin. Nach einigen Jahren als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Freien Universität Berlin arbeitet die promovierte Philosophin heute vor allem als Kulturjournalistin. Ihre Dissertation schrieb sie zur Geschichte der Emotionstheorien („Passion, Affekt, Gefühl“, Meiner, 2008). Ein gutes Gefühl, sie neu dabei zu wissen!
S. 60
S. 68
S. 60
Gesine Schwan
Michael J. Sandel
Armen Avanessian
Die Politikwissenschaftlerin und ehemalige SPD-Bundespräsidentschaftskandidatin diskutiert in dieser Ausgabe mit Armen Avanessian über die Möglichkeit, mit radikal Anderen in einen Dialog zu treten. Die Sozialdemokratin arbeitete während ihrer politischen Laufbahn immer wieder an transnationaler Verständigung, etwa als Koordinatorin für deutschpolnische Zusammenarbeit der Bundesregierung.
Sandel lehrt Philosophie an der Harvard University (USA), gilt als Mitbegründer des Kommunitarismus und zählt zu den einflussreichsten politischen Denkern weltweit. In seinen millionenfach verkauften Büchern und gefeierten Vorlesungen vor Tausenden von Zuhörern setzt er sich kritisch mit der Wechselwirkung von Marktwirtschaft, Finanzmarkt und Moral auseinander. So auch bei uns im großen Gespräch.
Mit seinen viel beachteten Thesen zum Akzelerationismus stieg der österreichische Literaturwissenschaftler zu einer wichtigen Stimme der linken Theorie auf. Im Streitgespräch mit Gesine Schwan beharrt Avanessian auf dem politischen Wert des radikalen Dissenses und der Anerkennung von unüberbrückbarer Andersheit. Jüngste Publikation: „Überschrift. Ethik des Wissens – Poetik der Existenz“ (Merve, 2015).
Die nächste Ausgabe erscheint am 13. Mai 2015
Fotos: privat; picture alliance/dpa; Johanna Rübel; Malte Jäger; Édouard Caupeil; Malte Jäger
Denker in diesem Heft
Inhalt
Intro
Horizonte
Dossier
Ideen
S. 3 Editorial S. 6 Ihre Frage S. 7 Kinder fragen Tomi Ungerer S. 8 Leserbriefe
S. 26 Reportage Unternehmen Unsterblichkeit – Der Traum des Silicon Valley vom neuen Menschen Von Alexandre Lacroix S. 34 Essay Warum fasten? Von Daniel Schreiber
Die Hölle, das sind die Anderen?
S. 68 Das Gespräch Mit Michael J. Sandel S. 74 Werkzeugkasten Lösungswege / Haschisch / Die Kunst, recht zu behalten S. 76 Der Klassiker Voltaire und die Toleranz Von Philippe Raynaud + Sammelbeilage: Voltaire: „Über die Toleranz“ Mit einem Vorwort von André Glucksmann und einem Überblick von Mathilde Lequin
Zeitgeist
S. 10 Sinnbild S. 12 Denkanstöße S. 14 Resonanzen Impfverweigerer: Die Rückkehr der Masern / Finanzwelt: Worauf Banker schwören / Querfront: Neue Machtgefüge in Europa S. 20 Weltbeziehungen Die Gewalt der religiösen Gefühle Kolumne von Hartmut Rosa S. 22 Kaufrausch Brauchen wir Parfüm mit Papiergeruch? Kolumne von Markus Krajewski S. 34
S. 42 Was wollen wir vom Anderen? Von Wolfram Eilenberger S. 44 „Das Leben als Single ist keine tragische Entscheidung“ Interview mit Eric Klinenberg S. 46 Durchbruch zum Anderen? Von Martin Legros S. 50 Gibt es einen Ausweg aus Sartres Hölle? Von Fritz Breithaupt S. 52 Die Städte der Anderen Reportage von Nils Markwardt S. 60 Freund oder Feind? Dialog mit Gesine Schwan und Armen Avanessian
Bücher S. 82 Buch des Monats „Mehr! Philosophie des Geldes“ Von Christoph Türcke S. 84 Thema Der Theorieboom der Siebziger S. 86 Scobel.Mag S. 88 Die Philosophie-MagazinBestenliste S. 90 Dichter und Wahrheit Der Nihilismus des Michel Houellebecq
Fotos: Vincent Fournier/Gallery Stock; Stock Food/Yelena Strokin; Meike Fischer; Mehryl Levisse
Finale
S. 53
S. 25
S. 92 Agenda S. 94 Comic S. 95 Spiele S. 96 Lebenszeichen Von Tieren lernen: Der Schwan / Das Gare ist das Wahre S. 98 Sokrates fragt Meret Becker
S. 85
philosophie Magazin Nr. 03 / 2015 / 5
Foto: Cultura Travel/Jouko van der Kruijssen/Gettyimages ; Gettyimages
Horizonte
Reportage
26 / philosophie Magazin April / Mai 2015
Reportage aus dem Silicon Valley
Unternehmen Unsterblichkeit
Seit mehr als 40 Jahren ist das Silicon Valley das kreative Zentrum unserer Welt. Derzeit wird auf einen neuen, vorgeblich epochalen Sprung in der Evolution unserer Art hingearbeitet. Im „Posthumanismus“ sollen Mensch und Maschine verschmelzen und so der älteste aller Menschheitsträume Wirklichkeit werden: ewiges Leben. Ortsbesuch bei den Architekten unserer „singulären“ Zukunft Von Alexandre Lacroix
Restaurant La Jardinière San Francisco
Machine Intelligence Research Institute Berkeley University of California Berkeley
Pacifica
Palo Alto Singularity University Nasa Research Park Mountain View
Von unserem Autor bereiste Orte in Kalifornien, USA
S
an Francisco hat sein eigenes Mikroklima: Auch an diesem Morgen hüllt ein frischer, grauer Nebel die Stadt ein. Bei meinem Spaziergang am Jachthafen nahe der Golden Gate Bridge, von der mich nur ein Strand trennt, auf dem die pet sitters die Hunde ihrer reichen Arbeitgeber ausführen, bemerke ich ein Holzschiff, das ein wenig wie eine Freibeuterkorvette aussieht. „SINGULARITY“ lautet sein Name. Seltsame Koinzidenz. Wenn es stimmt, dass Kalifornien eine Welt für sich mit ihrem eigenen zivilisatorischen Mikroklima ist, so beruht ihr charakteristischster Zug in dem erstaunlichen Hang ihrer Bewohner, Träume auf die Erde herabzuholen und die Ideen der Avantgarde in die Tat umzusetzen. Und eben für eine Recherche über die letzte gerade hoch im Kurs stehende Idee, die Singularität, habe ich die Reise hierher unternommen. Den Begriff „technologische Singularität“ hat der Mathematiker und Science-Fiction-Autor Vernor Vinge 1993 auf einem von der NASA organisierten Symposium eingeführt. In Analogie zur allgemeinen Relativitätstheorie, in der die Schwarzen Löcher als Krümmungssingularitäten bezeichnet werden, das heißt als Objekte von unendlicher Dichte, in deren Nähe die traditionellen physikalischen Gesetze aufgehoben werden, nimmt Vinge an, dass es bald auch zu einer „technologischen Singularität“ kommen wird. Von da an werden alle Gesetze der Menschheitsgeschichte anders sein. Glaubt man Vinge, werden die Menschen bis 2030 „Entitäten mit höherer Intelligenz als der menschlichen“ erschaffen. Dies kann auf verschiedene Weise erreicht werden: Entweder werden die Computer klüger als die Menschen, oder das Computernetzwerk „erwacht“, oder aber der Mensch schließt seinen Körper an Computer an, oder er modifiziert die Biophilosophie Magazin Nr. 03 / 2015 / 27
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Foto: Maria Sturm, Autorenfoto: David Payr
Horizonte
Essay
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Warum fasten?
Die Kulturtechnik des Fastens steht für mehr als nur freiwilligen Nahrungsverzicht. Sie ist seit Jahrtausenden Teil des bewussten Strebens, das Verhältnis zum eigenen Selbst und zur Welt zu erneuern. Über die philosophischen Wurzeln eines neuen Massenphänomens Essay von Daniel Schreiber Testimonials aufgezeichnet von Tom Woweries und Eva Maria Gerstenlauer
Foto: Yelena Strokin/StockFood; Autorenfoto: Daniel Schreiber lizensiert unter CC
Ü
ber mehrere Tage oder sogar Wochen hinweg auf die Nahrungsaufnahme verzichten – auf den ersten Blick gibt es wohl kein widersinnigeres Gebot. Warum in aller Welt sollten Wesen wie wir uns – freiwillig – der faktischen Grundlage unseres Daseins berauben? Als ob das Leben nicht an sich hart genug wäre. Und doch zählt das Fasten zu den ältesten Kulturtechniken der Menschheit. Sämtliche Weltreligionen kennen es als zyklisch wiederkehrenden Imperativ der Selbstüberwindung. Auch in den antiken Schulen der Lebenskunst galt das Fasten als fester Bestandteil einer gelingenden Lebensführung. Die Philosophen des alten Griechenlands verstanden unter askesis (von askeín, dt. „sich üben, sich bef leißigen“) zunächst ganz allgemein sowohl körperliche Übungen der Ertüchtigung und Enthaltsamkeit als auch eine geistige Schulung zur Einübung der Tugend. Dieser Askese-Fokus hatte je nach Schule unterschiedliche Ausprägungen. Während die Stoiker auf innere Ruhe und Freiheit zielten, zogen die Kyniker wie sonderliche Wandermönche durch die Gegend. Spezifische Überlegungen zum Sinn des Fastens sind vor allem von Epikur überliefert. Wie Seneca in seinen „Briefen über Ethik an Lucilius“ schrieb, fastete Epikur vor allem, um sich seine Lebenslust zu erhalten. Er wollte sich schlicht dazu erzie-
hen, sein Dasein auch ohne Luxus genießen zu können, für den Fall, dass dieser ausblieb – also für Notzeiten des Hungers. Es ging ihm, so Seneca, auch darum, körperliche und geistige Ermüdung zu vermeiden. An erster Stelle aber stand das Ziel, eine nachhaltigere Form der Lust zu kultivieren. Für Epikur regeneriert und intensiviert das Fasten unsere seelische Erlebnisfähigkeit; ein Ansatz, der auch für unser heutiges Essverhalten besonders plausibel erscheint. Schließlich haben wir, zumindest in den Wohlfahrtsgesellschaften des Westens, weitgehend vergessen, was es bedeutet, Hunger zu leiden. Die derzeitige Fastenrenaissance spielt sich damit vor der Folie einer Epoche ungeahnter, luxuriöser Fülle ab, einer Kultur, in der die meisten Menschen die ganze Zeit essen. Noch vor zwei Jahrzehnten hielten Eltern ihre Kinder dazu an, zwischen den Mahlzeiten nichts zu sich zu nehmen. Damals ließen wir, verschiedenen Studien zufolge, etwa viereinhalb Stunden zwischen den Mahlzeiten verstreichen, heute sind es nur noch drei. Außerdem nimmt ein europäischer Durchschnittsbürger heute am Tag durchschnittlich über 300 Kalorien mehr zu sich als damals. Wir alle sind uns der gesundheitlichen Folgen dieses Essverhaltens bewusst. Meistens ändern wir trotzdem nichts daran. Wir leben in einer Zeit, in der für viele Menschen das Essen mit kurzfristiger Freude verbunden
Daniel Schreiber Daniel Schreiber ist Schriftsteller und Journalist. Er arbeitete u. a. für Monopol, Cicero, die ZEIT und die taz. Sein jüngstes Buch „Nüchtern. Über das Trinken und das Glück“ erschien 2014 im Hanser Verlag
ist, aber mit einem langfristigen, antiepikureischen Abbau an Lebenslust. „Wer mit permanenter Fülle konfrontiert wird, sehnt sich nach Leere“, schreibt der Philosoph Thomas Macho in einem Essay zur „Aktualität des Verzichts“. Für ihn sind die neuen, asketisch wirkenden Lebensansätze, und besonders die Formen des Fastens, eine „Funktion des Konsums“, die „zur Vermeidung von Überdruss und Sattheit“ beiträgt – der integrale Bestandteil und die notwendige Begleiterscheinung einer Dialektik des Zuviel. Die existenzielle Bedeutung der Unterscheidung zwischen „leer“ und „voll“, die für frühere Generationen zum kollektiven Wissen gehörte, sei uns heute schlicht unbegreif lich, so Macho. Wir sind daran gewöhnt, dass immer etwas da ist. Der seltsame Effekt dieser Fülle sei jedoch, dass wir weder wirklich verstehen, was „voll“ noch was „leer“ bedeutet. Denn das eine können wir nicht ohne das andere wahrnehmen. Schon der radikale rumänisch-französische Philosoph Emil Cioran hatte diese Dialektik auf den Punkt gebracht: „Die Leere“, so Cioran, sei „die Bedingung der Ekstase, ebenso wie die Ekstase die Bedingung der Leere ist“. Obwohl das Fasten seit Jahrtausenden praktiziert wird, ist es erst in den vergangenen Jahren gründlich medizinisch erforscht worden. Wie der britische Arzt Michael Mosley, eine Art Medienguru der angelsächsi- >>> philosophie Magazin Nr. 03 / 2015 / 35
Foto: Henrik Jauert/Gallery Stock/laif
Die Hรถlle, das sind die
Anderen?
Dossier
W
ohin man auch blickt: überall Andere! Nicht immer ist ihre Anwesenheit ein Segen: Allzu oft stören sie, nerven, machen einem das Leben gar regelrecht zur Hölle. Andererseits, wer wollte ernsthaft ohne andere Menschen leben? Ohne deren Berührung, Mitgefühl, Inspiration? Besonders herausfordernd ist der Andere in seiner Rolle als kulturell Fremder. Was tun? Tolerieren, diskutieren, drangsalieren – oder ihn einfach mutig ins Herz schließen? Fragen, die direkt in das Zentrum unserer modernen Einwanderungsgesellschaften führen. Weshalb ein Dasein als Single heute besonders genussvoll erscheint, erklärt der Soziologe Eric Klinenberg. Fritz Breithaupt argumentiert gegen Sartre, dass unser Leben erst zu dritt zu ertragen ist. Nils Markwardt besucht zwei Städte, deren Migrantenanteil unterschiedlicher nicht sein könnte. Gesine Schwan streitet zum Abschluss mit Armen Avanessian über die richtige Strategie im Umgang mit radikalen Störenfrieden.
philosophie Magazin Nr. 03 / 2015 / 41
Dossier
Die Hölle, das sind die Anderen?
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ffenbach
die städte der Von Nils Markwardt / Fotos von Meike Fischer
Offenbach und Zwickau, zwei deutsche Städte, wie sie auf den ersten Blick nicht ähnlicher sein könnten. Beide gleich groß, beide ehemalige Industriezentren, beide mit niedriger Arbeitslosenquote. Was sie radikal voneinander unterscheidet, ist ihr Verhältnis zum Anderen. Denn das hessische Offenbach hat mit 57 Prozent den höchsten Migrantenanteil der BRD, das sächsische Zwickau gehört mit 2,6 Prozent 52 / philosophie Magazin April / Mai 2015
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wickau
anderen Ausländeranteil hingegen zu den kulturell einheitlichsten Städten der Republik. Beispielhaft stehen sie damit für zwei alternative Visionen eines Deutschlands der Zukunft: Hybridität versus Homogenität, Multikulti oder Leitkultur, dynamische Polyphonie gegen klassische Harmonie. Eine Doppelreportage auf der Suche nach der Funktion des Anderen in unserer Mitte
philosophie Magazin Nr. 03 / 2015 / 53
Dossier
Die Hölle, das sind die Anderen?
Freund oder Feind? Globale Migrationsströme, religiöse Ressentiments, kriegerische Konflikte – die Figur des Anderen hat politische Hochkonjunktur. Lässt sich kulturelle Andersheit im Dialog aufheben, oder gibt es vernünftige Differenzen, die keiner Vermittlung zugänglich sind? Das Gespräch führte Catherine Newmark / Fotos von Malte Jäger
B
erlin, Pariser Platz, ganz nah am Zentrum der Macht. Hier residiert Gesine Schwan als Leiterin der HUMBOLDT-VIADRINA Governance Platform, einem Dialogforum zur globalen Förderung der Demokratie. Keine leichte Mission. Wie sie erfolgreich zu erfüllen wäre, weiß die 71-jährige Politologin dennoch genau zu erklären. Durch Dialog, durch Argument, durch Vernunft. Die ehemalige SPD-Präsidentschaftskandidatin ist auch philosophisch eine klassische Vertreterin der Generation Habermas. Das kann man von Armen Avanessian nun gerade nicht behaupten. Als neuer Shootingstar am linken Theoriehimmel setzt der 41-jährige Österreicher mit armenischen Wurzeln viel eher auf radikale Systemkritik und misstraut dem Konsens. Im Gespräch begegnen sich die beiden mit ausgesuchter Höflichkeit und großer Offenheit, ohne in ihren wesentlichen Punkten jeweils auch nur einen Zentimeter zurückzuweichen. So lässt es sich gerne streiten.
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dern das verweist auf das Andere, das überall ist, auch in unserer Zivilisation und in jedem Individuum, zumindest als Potenzial. Armen Avanessian: Ich kenne die Empfindung von Andersheit weniger im Sinne einer unvermittelten, ursprünglichen Erfahrung. Andersheit lässt sich meiner Meinung nach auch gar nicht wirklich unmittelbar erfahren. Natürlich kann man merken, „das ist mir fremd“ – aber es ist immer eine vermittelte Erfahrung, Ergebnis einer tiefer gehenden Auseinandersetzung. Wenn man nun diese Bilder – die ich mir bewusst nicht angesehen habe – betrachtet: Was hilft es, diese Täter als „den Anderen“, als „das Andere“ zu bezeichnen? Mit dem Anderen hat das womöglich gar nichts zu tun, sondern es ist schlicht etwas, das wir nicht mit uns vereinbaren können und nicht integrieren wollen.
Gesine Schwan
Armen Avanessian
Philosophie Magazin: Frau Schwan, wann hatten Sie zuletzt ein tief greifendes Erlebnis kultureller Fremdheit?
Die Politikwissenschaftlerin und Politikerin (SPD) Gesine Schwan war Professorin für Politologie in Berlin und Präsidentin der Universität Frankfurt/Oder. Heute leitet die ehemalige Bundespräsidentschaftskandidatin die HUMBOLDT-VIADRINA Governance Platform. Sie veröffentlichte zahlreiche Bücher zur politischen Theorie, zuletzt „Woraus wir leben – das Persönliche und das Politische“ (Piper, 2009)
Armen Avanessian lehrt an der Freien Universität Berlin und als Gastprofessor an verschiedenen Kunstakademien. Mit seiner fachübergreifenden „Spekulativen Poetik“ (www.spekulative-poetik. de) und seinen Thesen zum „Akzelerationismus“ hat er breite Beachtung erlangt. Publikationen u. a. „#Akzeleration“ (Merve, 2013), „Überschrift. Ethik des Wissens – Poetik der Existenz“ (Merve, 2015)
Gesine Schwan: Ich hatte eine solche Erfahrung nicht in persönlichen Begegnungen. Aber bei den Bildern von den Hinrichtungen des IS fragte ich mich, ob ich überhaupt irgendeinen Zugang finden könnte zu solchen Menschen. Das ist ein ähnlicher Zweifel, wie er sich auch immer bei der Vergangenheitsaufarbeitung Deutschlands einstellt, angesichts der NS-Täter. Und ich finde: Ja, man kann selbst zu Menschen, die solch grauenvolle Taten vollbringen, einen Zugang finden. Zum Beispiel durch die schreckliche Freude am Töten. Das liegt dem Menschen inne. Und wenn man mehr über den IS erfährt, etwa über die vielen Europäer, die dabei sind, kann man eben nicht sagen: Das ist uns gänzlich fremd, son-
Schwan: Vor allem dann nicht, wenn man Ref lexionsarbeit leistet und daraufhin zu einer normativen Position gelangt, die besagt: Das ganz und gar andere Andere in dem Sinne, dass ich es nicht in mir hätte, das gibt es gar nicht. Mir geht es immer darum, das Gemeinsame im Anderen zu finden. Auch in Sachen Menschenrechte vertrete ich das: Es gibt eine Universalität, wenn auch in unterschiedlichen kulturellen Formen. Mir ist klar, dass hinter dieser normativen Position auch eine Glaubensposition steht – sowohl im philosophischen als auch im religiösen Sinne. Avanessian: Ich bin selber ein Einwanderungskind und insofern interessiert mich gerade das Phänomen der europäischen IS-Kämpfer – aber auch weniger extreme Beispiele von gescheiterter Integration. Ich habe in meinem Umfeld beobachtet, dass viele Kinder der armenischen und persischen Freunde meines Vaters psychologische Probleme hatten. Die erste Einwanderergeneration ist voll und ganz mit ihrer Assimilation beschäftigt, die scheinbar schon etablierteren späteren Generationen haben es schwerer. Oft wird erst für eine zweite, dritte Generation die Frage, wie man das eigene >>> philosophie Magazin Nr. 03 / 2015 / 61
Ideen
Das Gespräch
Michael J. Sandel
Michael J. Sandel ist der Rockstar unter Amerikas Moralphilosophen. Mit seinen Vorträgen füllt der Harvard-Professor ganze Stadien. Über YouTube fasziniert er ein Millionenpublikum weltweit. Das Denken des Rawls-Schülers kreist um die Frage, wie die voranschreitende Ökonomisierung der Gesellschaft unser moralisches Empfinden verändert – und zunehmend verarmen lässt Das Gespräch führte Martin Legros / Fotos von Édouard Caupeil
Michael J.
Sandel
»Wir haben Angst vor der Idee des guten Lebens«
S
eid ihr bereit, mit mir an dieser Diskussion teilzunehmen?“ Wie ein Rockstar wandte sich Michael J. Sandel im Juni 2012 an die 15 000 Personen, die ins Amphitheater der Yonsei University in Seoul gekommen waren, um zu erleben, „ wie er bei der „größten Philosophie-Vorlesung aller Zeiten“ unter freiem Himmel über ethische Fragen debattierte. Ob Peking, Schanghai, Taipeh, London oder Berlin – wohin ihn seine philosophische „Welttournee“ auch führte, die Begeisterung des Publikums war dieselbe. Sandel spricht Fragen an, die den Nerv der Zeit treffen: „Gibt es Güter und Dienstleistungen, die vor dem Zugriff des Marktes geschützt werden müssen? Warum sollte man die Einführung marktwirtschaftlicher Anreize in Bereichen wie Bildung, Gesundheit oder Elternschaft ablehnen? Wann dient der Markt dem öffentlichen Wohl, wann untergräbt er moralische Werte?“ Vor allem die Art, mit der er beim Einzelnen das Nachdenken über diese Fragen anregt, hat Michael J. Sandel zu der großen 68 / philosophie Magazin April / Mai 2015
Stimme der zeitgenössischen Ethik und politischen Philosophie gemacht. In der akademischen Welt hatte er sich bereits durch seine Kritik an der Gerechtigkeitstheorie John Rawls’ als eine der wichtigen Figuren des Kommunitarismus etabliert – jener Strömung, für die die Zugehörigkeit der Individuen zu moralischen und politischen Gemeinschaften ebenso wichtig ist wie die Verteidigung ihrer Rechte und Freiheiten. Sandel kann ein großes Publikum fesseln, indem er beim Reden anregende Verknüpfungen zwischen Realität und Ideen herstellt. Man muss gesehen haben, wie er ohne einen Stichwortzettel seine Gedankenexperimente und moralischen Dilemmata vorträgt und das gebannte Publikum auffordert, auf jene doch ganz einfache Frage zu antworten: „What’s the right thing to do?“ Im persönlichen Gespräch wirkt er hingegen ausgesprochen ruhig und bescheiden. Er strahlt die echt sokratische Aufgeschlossenheit von jemandem aus, der stets bereit ist, „an einer Diskussion teilzuneh>>> men“. Womöglich liegt darin sein Erfolgsgeheimnis.
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Illustration: Bertrand Salle, Bildvorlage: Bianchetti/Lemage/akg-images
Ideen
Der Klassiker
Voltaire und die
Toleranz Schlagartig
ist die Bedeutung der Toleranz wieder ins Zentrum des öffentlichen Bewusstseins getreten. Kein Philosoph hat dieses Ideal schärfer und einflussreicher verteidigt als der französische Aufklärer Voltaire. Ausgehend von der unrechtmäßigen Hinrichtung des Protestanten Johann Calas durch katholische Eiferer, richtet sich Voltaires 1763 veröffentlichte Abhandlung „Über die Toleranz“ gegen den religiösen Fanatismus seiner Zeit – und aller Zeiten. Mögen die Feinde der Toleranz heute auch andere sein, die Grundfragen bleiben die gleichen: Wo liegt die Grenze des Tolerierbaren? Wie geht eine
offene Gesellschaft mit den Feinden der Toleranz um? Ist kulturelle Vielfalt eine Bedingung für wahre Toleranz? Voltaire spricht zu uns als Zeitgenosse. Wie Philippe Raynaud darlegt, appelliert er an die in jedem Menschen angelegte Vernunft und stellt das Glück auf Erden über das Seelenheil. Doch bleibt die größte Qualität dieses Denkers seine Klarsichtigkeit für die Schwäche und religiöse Verführbarkeit des Menschen, wie André Glucksmann in seiner Einführung zum Beiheft erläutert. Gelebte Toleranz ist für Voltaire eine zivilisatorische Tugend, die alles andere als selbstverständlich ist – und jeden Tag aufs Neue eingeübt werden muss.
philosophie Magazin Nr. 03 / 2015 / 77
präsentiert
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magazin rSondebe a ausg
Weimar 1934: Hitler vor einer Büste Friedrich Nietzsches
die philosophen und der
NatioNalsozialismus Denker in der Nach Auschwitz: Diktatur: Original- Starb Gott in den texte der Zeit Lagern?
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4 198673 809900
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Die geistigen Quellen der NS-Ideologie
HannaH arendt und die Banalität des Bösen • Der Fall HeiDegger • Originaltexte vOn THeoDor W. aDorno • giorgio agamben • WalTer benjamin • ernsT Cassirer • Karl jaspers • Hans jonas … Beiträge vOn aleiDa assmann • VolKer gerHarDT • per leo …
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