Philosophie Magazin Nr. 5 / 2015

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Nr. 05 / 2015

August /September

magazin

Braucht mein Leben ein

Ziel?

„Konsens ist das Ende der Politik“ Gespräch mit Chantal Mouffe

Rache ohne Reue? Giuseppe Grassonellis Weg vom Killer zum Philosophen

Von Axel Honneth und Martin Gessmann

0 5 4 192451 806907

Hegel und die Anerkennung

D: 6,90 €; Ö: 7,- €; CH: 12,50 SF; Benelux: 7,40 €

Unendliche Weiten Eine Ideenreise in die Tiefe des Kosmos


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Denker in diesem Heft

s. 62

s. 50

s. 68

Wilhelm Schmid

François Jullien

Chantal Mouffe

Wilhelm Schmid lebt als Philosoph und Schriftsteller in Berlin und lehrt als außerplanmäßiger Professor an der Universität Erfurt. Sein Werk widmet sich den klassischen Themen der Lebenskunst: Liebe, Freundschaft, Glück und, in seinem jüngsten Bestseller, der „Gelassenheit“ (Insel, 2014). Im Titeldossier spricht er über die Kraft der Berufung und die Frage, ob jeder Mensch ein Lebensziel braucht.

Der französische Philosoph und Sinologe studierte in Peking und Schanghai und lehrt in Paris klassische chinesische Philosophie und Ästhetik. Durch den distanzierten Blick aus Fernost versucht Julliens Forschung neue Einsichten in das europäische Denken zu gewinnen. Im Interview entwickelt er auf Basis der chinesischen Philosophie Lebensalternativen zum europäischen Zieldenken.

Als Professorin für Politische Theorie an der University of Westminster beschäftigt sich Chantal Mouffe intensiv mit Demokratieund Machttheorien. Ihr Buch „Hegemonie und radikale Demokratie“ (1985) avancierte zu einem der wirkungsmächtigsten Werke des postmarxistischen Denkens. Im großen Gespräch diskutiert sie die Möglichkeiten linker Politik im Lichte neuer politischer Akteure wie Podemos und Syriza.

s. 1-100

s. 40

s. 26

Anna Metz

Brigitte Falkenburg

Alexandre Lacroix

e Für all ten n e Abonn nlos e t s o k 19 .

Siehe S

Jetzt die Philosophie-Magazin-App kostenlos herunterladen! >>> beim App-Store für iOS >>> bei Google-play für Android Das Einzelheft kostet 5,99 €, das Jahresabo 29,99 €

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www.philomag.de/app

Nach ihrem Studium der Philosophie, Psychologie und Neurowissenschaften in Berlin und Magdeburg sammelt unsere Praktikantin gerade Praxiserfahrung im Journalismus. In ihrer Masterarbeit beschäftigt sie sich mit dem Verhältnis von Phänomenologie, Wissenschaftstheorie und Lebenswelt. Für unsere Bücherwahl hat sie sich als passionierte Selbstdenkerin in die Verteidigung der Autonomie vertieft.

Die Physikerin und Professorin für Theoretische Philosophie lehrt an der TU Dortmund. Zahlreiche ihrer Arbeiten setzten sich mit Fragen der modernen Kosmologie und Erkenntnistheorie auseinander. In den Horizonten erklärt sie physikalisch, warum wir am Sternenhimmel immer nur die Vergangenheit des Kosmos sehen, nie aber dessen aktuellen Zustand.

Der Chefredakteur des französischen Philosophie Magazine ist Philosoph und Schriftsteller. In seiner Reportage „Rache ohne Reue?“ berichtet er von Giuseppe Grassonelli, der einen privaten Feldzug gegen die Cosa Nostra führte und während seiner lebenslangen Haftstrafe ein Philosophiestudium abschloss. Zuletzt erschien von Lacroix: „Kleiner Versuch über das Küssen“ (Matthes & Seitz, 2013)

Die nächste Ausgabe erscheint am 17. September 2015

Fotos: privat; laif/Leemage/Opale/Boccon Gibod; Marcus Höhn; privat (2), Serge picard

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Inhalt

Intro

Horizonte

Dossier

Ideen

S. 3 Editorial S. 6 Ihre Frage S. 7 Kinder fragen Tomi Ungerer S. 8 Leserbriefe

S. 26 Reportage Rache ohne Reue? Der Weg eines Killers zum Philosophen Von Alexandre Lacroix S. 34 Kosmologie Unser Ort im Universum Von Brigitte Falkenburg, Frédéric Nef und Andreas Weber

Braucht mein Leben ein Ziel?

S. 68 Das Gespräch „Konsens ist das Ende der Politik“ Mit Chantal Mouffe S. 74 Werkzeugkasten Lösungswege / Lilith / Die Kunst, recht zu behalten S. 76 Der Klassiker Hegel und die Anerkennung Von Axel Honneth + Sammelbeilage: „Herrschaft und Knechtschaft“ Mit Martin Gessmann

Zeitgeist

S. 10 Sinnbild S. 12 Denkanstöße S. 14 Resonanzen Erhabener Schrecken: Der IS in Palmyra / Kulturkampf: Bürger­ bewegungen gegen die Gender­ theorie / Kognitiver Totalausfall: Verdrängung des Klimawandels S. 20 Weltbeziehungen Schere im Kopf: wider Denktabus Kolumne von Hartmut Rosa S. 22 Kaufrausch Brauchen wir den Thermomix 5? Kolumne von Markus Krajewski S. 26

S. 44 Ja, wo laufen Sie denn? Von Wolfram Eilenberger S. 48 Mitten ins Leben Historische Doppelseite Von Anna Metz und Tom Woweries S. 50 „Qi ist die Lösung“ Interview mit François Jullien S. 52 Vom Glück der Ziellosen Vier leuchtende Beispiele Von Philipp Felsch S. 56 Das große Zielspiel S. 60 Mein Leben als Liste Von der Gefahr, sein Leben einfach abzuhaken Von Catherine Newmark S. 62 Folge der Intensität! Gespräch mit Wilhelm Schmid über die Kunst, ein ziel­ gerichtetes Leben zu führen

Bücher S. 82 Buch des Monats Lieber Scholem, lieber Adorno Von Marianna Lieder S. 84 Thema Was zeigen Landkarten wirklich? Von Ronald Düker S. 86 Scobel.Mag S. 88 Die Philosophie-MagazinBestenliste S. 90 Dichter und Wahrheit Der Wahnwitzige César Aira Von Tobias Lehmkuhl

Fotos: gallerystock.com/Westend61/Corwin von Kuhwede; Bruno Bressolin/Valerie Oualid

Finale

S. 46

S. 60

S. 92 Agenda S. 94 Comic S. 95 Spiele S. 96 Lebenszeichen Von Tieren lernen: Die Kuh / Das Gare ist das Wahre S. 98 Sokrates fragt Benedict Wells

S. 36

philosophie Magazin Nr. 05 / 2015 / 5


Illustrationen : Bruno Bressolin/ValÊrie Oualid; Autorenfoto: Claude Gassian

Horizonte

Reportage

26 / philosophie Magazin August / September 2015


Rache ohne

Reue?

Seit 23 Jahren sitzt Giuseppe Grassonelli als Kopf eines Rachefeldzugs gegen die Cosa Nostra hinter Gittern. Da er eine Kronzeugenregel ablehnte, wird der mehrfache Mörder das Gefängnis nie wieder verlassen. Im Verlauf der Haft entdeckte der Sizilianer die Philosophie für sich, begann ein Studium, schloss es mit Auszeichnung ab. Wir haben Grassonelli, der lange Jahre in Hamburg lebte, im Gefängnis getroffen: Wie denkt er heute über seine Vergangenheit? Treffen mit einem Menschen, dem der Dialog mit Hegel und Nietzsche wichtiger wurde als alles andere Von Alexandre Lacroix / Illustrationen Bruno Bressolin

U

Von Alexandre Lacroix

m Nietzsche zu verstehen, muss man unbedingt ein bisschen Deutsch können. Sonst kommt es leicht zu Missverständnissen. So wird die deutsche Bedeutung von ,Übermensch‘ im Italienischen ziemlich schlecht mit ,superuomo‘ wiedergegeben. ,Über‘ bedeutet aber weniger ,darüberstehend‘ als vielmehr ,jenseits‘. Es wäre auch falsch und naiv zu glauben, dass Nietzsche mit seinem Konzept des Übermenschen ein Wesen meint, das mit übernatürlichen Fähigkeiten ausgestattet ist. Eine getreue Übersetzung würde ,Übermensch‘ mit ,jenseits des Menschlichen‘ wiedergeben. Das Menschliche überschreiten bedeutet also, sich von den üblichen gesellschaftlichen und moralischen Konventionen zu befreien, in die unser Leben allzu oft eingesperrt ist. Das ist Nietzsches Botschaft. Geh über das Menschliche hinaus heißt nichts anderes als: Lerne, selbst zu denken, trenne dich von den anderen, misstraue ihren Regeln. Schaue nicht zum Himmel, sondern betrachte die Erde mit ihren Gerüchen und Farben. Liebe das Leben. Es gäbe kein Amor Fati oder anders gesagt: keine Liebe zu einem möglichen Schicksal, wenn es unsere Mission wäre, uns in Helden zu verwandeln, in Halbgötter. Amor Fati, wie Nietzsche es versteht, ist die Akzeptanz unserer Sterblichkeit, eine Befreiung im Diesseits. Sein Wille zur Macht bedeutet nichts anderes, als unsere Bejahung des Lebens

Alexandre Lacroix ist Philosoph. Der Chef­redakteur des französischen Philosophie Maga­ zine lebt in Paris und ist Autor zahlreicher Sach­bücher und Roma­ne. Zuletzt erschien: „Kleiner Versuch über das Küssen“ (Matthes & Seitz, 2013)

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philosophie Magazin Nr. 05 / 2015 / 27


Horizonte

Kosmologie

Unser Ort im Universum Staunen, Ehrfurcht, metaphysischer Taumel – der Blick aufs Firmament ruft tiefste Sehnsüchte und Ängste hervor. Dabei haben wir von der wahren Größe und Reichhaltigkeit des Universums kaum eine Vorstellung. Einladung zu einer planetarischen Gedankenreise, ergänzt von drei philosophischen Meditationen zur Stellung des Menschen im Kosmos

Grafische Konzeption: williamlondiche.com, Bildrecherche: Cecile Vazeille ; Fotos: Nasa

Von Charles Perragin

Hier sehen Sie die der Erde am nächsten liegenden Gestirne unseres Sonnensystems, geordnet nach deren Durchmesser

34 / philosophie Magazin August / September 2015

MOND

MERKUR

mars

3 474 km

4 878 km

6 780 km


vEnus

erde

12 104 km

12 756 km

>>>

philosophie Magazin Nr. 05 / 2015 / 35



Dossier

Braucht mein Leben ein

Ziel?

Foto: getty images/Colin Anderson

U

nd, wie lautet Ihr Ziel im Leben? Sie haben doch eins, oder? Kaum ein Mensch, der sich dem Druck dieser Frage entziehen könnte. Sie trifft das Zentrum unserer Existenz, legt tiefste Wünsche und Hoffnungen frei – und nicht zuletzt auch Ängste. Was, wenn ich mein Ziel nicht erreiche? Was, wenn ich mein Ziel noch gar nicht kenne? Und vor allem: Was, wenn es gerade selbst gesetzte Ziele wären, die mein Leben einengen und mich unglücklich machen? In der Frage nach dem Lebensziel prallen zwei menschliche Sehnsüchte aufeinander. Die nach einem tätigen Leben in dauerhaft sinnvoller und zielgerichteter Selbstbestimmung. Und die nach einer tief entspannten Existenz in lustvoller Gelassenheit. Wie sähe wohl ein Leben aus, dessen Ziel darin bestünde, beide Ideale miteinander zu vermitteln?

philosophie Magazin Nr. 05 / 2015 / 43


Dossier

Braucht mein Leben ein Ziel?

Vom Glück

der

Ziellosen

Nicht mehr wollen, nicht mehr sollen, nicht mehr müssen – wäre das nicht wahre Freiheit, Weisheit, Souveränität? Vier wegweisende Beispiele für einen ersehnten Zustand, den die wenigsten je erreichen Von Philipp Felsch / Illustrationen von Julia Pfaller

I

Charles Baudelaire

Illustrationen: Julia Pfaller, Bildvorlage: akg-images; Autorenfoto: privat

T

Der Bohemien

heodor W. Adorno meinte genau zu wissen, seit wann wir unser Leben in den Dienst von Zielen stellen. Die Urszene aufgeklärter Subjektivität, mit der das begonnen habe, erblickte er in den Irrfahrten des Odysseus. Der homerische Held sei nur deshalb in der Lage gewesen, die mythischen Ungeheuer zu besiegen, weil ihm ein Ziel vor Augen stand: nämlich zurück nach Ithaka zu gelangen. Seither, so Adorno, habe die lineare Zeit der bürgerlichen Gesellschaft die zyklische der Vorgeschichte abgelöst, und seither verlaufe auch das Leben der Individuen zwangsläufig in Form einer Entwicklungskurve. Das ist eine brillante Interpretation, historisch aber nicht präzise. Odysseus war kein Bürger, sondern ein Adliger, der zurück zu seinen Ländereien wollte, die ihm durch Geburt zugefallen waren. Von unseren Zielen und Erwartungen werden wir aber erst gelenkt, seitdem wir nicht mehr durch ständische Herkunft privilegiert oder unterprivilegiert werden. Als Indiz dafür, dass sich eine zielorientierte Lebensweise als Verhaltensnorm des westlichen Menschen durchsetzt, kann das Spek­ trum moderner Gegenentwürfe dienen. Erst seitdem der Anspruch gängig ist, eine Karriere zu haben, kann man sich bewusst entscheiden, sie nicht zu verfolgen. Das Jurastudium, das Charles Baudelaire (1821–1867) auf Wusch seines Stiefvaters anfing, kam nicht über die Immatrikulation hinaus. Stattdessen führte er ein Leben als Bohemien. Die Pariser Boheme war das Sammelbecken der Unangepassten und Ausgestoßenen, der Künstler und adligen Söhne ohne Berufsabsicht. Als Milieu, in dem die Regeln der bürgerlichen Erwerbsbiografie außer Kraft gesetzt waren, stellt sie die erste Gegenkultur der Moderne dar. Während der Revolution von 1848 gründete Baudelaire eine sozialistische Zeitschrift und beteiligte sich an den Barrikadenkämpfen, doch nach ersten Rückschlägen ließ sein politisches Engagement rasch

52 / philosophie Magazin August / September 2015

wieder nach. Dem Dandy mangelte es an der Zielstrebigkeit des Agitators. Der „spleen“, den er als urbanes Lebensgefühl ästhetisierte, verlieh der Kehrseite der modernen Fortschrittsgläubigkeit Ausdruck: einer Melancholie angesichts einer beschleunigten Welt, in der sich doch nichts tut. Die Antwort des Bohemiens bestand darin, sein Kapital zu verschwenden, anstatt es zu vermehren; seine Gesundheit ebenso wie seine Zeit und sein Geld. Baudelaire verschleuderte das Erbe seines leiblichen Vaters und zog sich wie viele eine unheilbare Syphilis zu. Um ihre Missachtung für das Zeitregime der Bourgeoisie auszudrücken, führten die Dandys von Paris ihre Schildkröten eine Weile lang an der Leine aus. Ein Jahrhundert später erhoben die Situationisten das ziellose Umherstreifen in der Stadt zum Prinzip ihrer künstlerischen Praxis. Die Karten, mittels derer sie ihre dérives dokumentierten, sind Hieroglyphen der Ziellosigkeit. Aber künstlerische Praxis heißt, am Ende doch produktiv zu werden. Während seines Lebens unter Prostituierten und Trinkern schrieb Baudelaire den Gedichtzyklus, mit dem er später Weltruhm erringen sollte. Ist die Existenz als Bohemien nur eine Station auf dem Weg zur Selbstverwirklichung, ein temporärer Aufschub der Karriere, um danach umso sicherer zu reüssieren? Schon Balzac unterstellte der Boheme eine kultur- und deshalb geradezu staatstragende Bedeutung. In der „digitalen Boheme“, die in den Nischen der Netzgesellschaft ihr lukratives Auskommen findet, erhält diese Idee ihre zeitgenössische Form.

Philipp Felsch Der Junior­professor für Geschichte der Humanwis­sen­schaften an der HumboldtUniversität Berlin veröffentlichte jüngst: „Der lange Sommer der Theorie“ (C. H. Beck, 2015)


II

Siddhartha

A

Der Buddhist

uf meinem Nachttisch steht ein chinesischer Buddha-Kopf aus Messing mit vier verschiedenen Gesichtern: Das erste ist traurig, das zweite fröhlich, das dritte zornig, und das vierte lacht. Merkwürdigerweise sehen sie alle aber irgendwie zufrieden aus. Wann hätte man Jesus, den europäischen Religionsbegründer, jemals zufrieden gesehen? Die christliche Ikonografie bildet ihn entweder leidend oder in göttlicher Erhabenheit ab. Dagegen verbreiten manche Buddha-Darstellungen eine Stimmung von weltlicher Heiterkeit. Die Überlieferung vom indischen Prinzen, der sein Erbe ausschlug und Frau und Kind verließ, um das irdische Leiden zu überwinden, indem er lernte, sein Ego zu transzendieren, stellt eine radikale Alternative zur westlichen Lebensführung dar. Im Gegensatz zum christlichen Gottessohn orientierte Gautama Buddha, der fünf Jahrhunderte früher gelebt haben soll, seine Anhänger nicht auf jenen eschatologischen Zeithorizont, der seinen Fluchtpunkt im Jenseits findet und als theologisches Unbewusstes womöglich noch in unseren individuellen Zielvorstellungen weiterlebt, sondern propagierte einen Zustand der Ich-Auslöschung, einen diesseitigen, vollkommenen Ruhepunkt. „Sein, sonst nichts“, heißt es in Adornos berühmtem Aphorismus über den Menschen nach seiner Erlösung. Diese Vorstellung haben zumal westliche Bohemiens und Freigeister seit dem 19. Jahrhundert mit Vorliebe mit dem Buddhismus in Zusammenhang gebracht. Richard Wagner hinterließ eine unvollendete Buddha-Oper. Nietzsche erblickte in Buddha den Menschen, der sein Heil in die eigenen Hände nimmt. Hermann Hesse, der sich zu Beginn der zwanziger Jahre einer Psychoanalyse bei C. G. Jung unterzog, schrieb zur gleichen Zeit die wohl einflussreichste Adaption der Buddha-Legende in deutscher Sprache. „Siddhartha“ erzählt die Geschichte des gleichnamigen Helden, eines Brahmanen-Sohnes, der sich zu Lebzeiten Buddhas ebenfalls auf die Suche nach der Erlösung macht. Nach Zwischenstationen bei einer rigorosen Asketengemeinschaft und bei Gautama selbst begegnet Siddhartha der Kurtisane Kamala und geht ein Verhältnis mit ihr ein. Um sich seine kostspielige Geliebte leisten zu können, häuft er materielle Besitztümer an, wird spiel- und trunksüchtig und kommt völlig von seiner spirituellen Suche ab. Als er das erkennt, ergreift er die Flucht, gelangt ans Ufer eines großen Flusses und will sich ins Wasser stürzen. Doch

in einer Vision wird ihm hier die entscheidende Einsicht zuteil: Das Scheitern war eine notwendige Station auf seinem Weg. Statt sich das Leben zu nehmen, heuert er daher als Gehilfe bei einem Fährmann an. Er lebt bescheiden und kontemplativ und lernt, auf das Rauschen des Flusses zu hören. Da­ rüber wird ihm schließlich die gesuchte Erleuchtung, das Gefühl der Einheit mit allem Existierenden zuteil. Die Moral von Hesses „indischer Dichtung“ lautet, dass sich dieses Ziel nicht durch Befolgung einer Lehre, sondern nur durch eigene Erfahrung erlangen lässt. Sie ist die Moral eines westlichen Individualismus. Der Buddhismus, auf den der Dichter 1911 während seiner Indienreise gestoßen war, erschien ihm vulgär; mit seinen Bildern, seinen Schreinen und singenden Mönchen erinnerte er ihn an „spanischen Katholizismus“. Daher bastelte er sich in seinem Schweizer Exil eine eigene Version zusammen, die Generationen von Lesern in ihren Bann geschlagen hat. Darin liegt viel Ironie, denn Hesse hatte vollkommen recht, als er ernüchtert notierte: „Europa wird nie ein Reich des Buddhismus werden.“ philosophie Magazin Nr. 05 / 2015 / 53


DoSSIER

Braucht mein Leben ein Ziel?

Das große

3 3

Zielspiel!

Weiter so! Sie haben, mit Peter Sloterdijk gesprochen, bereits als Kleinkind ordentlich „Vertikalspannung“ in der Existenz, lernen früh laufen und auch sprechen. Bei der Theateraufführung Ihres Kindergartens dürfen Sie die Hauptrolle selbst auswählen. Sie entscheiden sich: a) für das Kasperle (weiter auf Feld 7), b) die Großmutter (Feld 8), oder c) das Krokodil (Feld 9).

Viele Wege führen zum Ziel – noch mehr aber nirgendwohin. Wie gestalten Sie Ihre Lebensreise? Ein philosophisches Vademecum in 20 Feldern Von Wolfram eilenberger / Illustration Bettina Keim

Ruhig Blut! Zugegeben, bisher läuft das noch nicht optimal (vor allem aus Sicht Ihrer Eltern). Sie lutschen bei der Einschulung noch immer am Daumen, sitzen gern verträumt in der Ecke und haben es zudem oft an den Ohren. Doch noch ist nichts verloren, denn: „Wenn ein Mensch nicht Schritt mit seinen Mitmenschen hält, so kommt das vielleicht daher, weil er eine andere Trommel hört“ (Henry David Thoreau). Also im eigenen Rhythmus weiter auf Feld 6.

2 Start

Glückwunsch! Von Millionen möglichen Spermien waren Sie das mit Abstand zielstrebigste. Das sollte Mut und Selbstvertrauen geben. Jetzt nur noch entschlossen durch den Geburtskanal, hinaus ins Licht der Welt. Ihre Zielvorgabe ist fortan klar und denkbar umfassend: „Es liegen viele Keime in der Menschheit, und nun ist es unsere Sache, die Naturanlagen proportionierlich zu entwickeln und die Menschheit aus ihren Keimen zu entfalten und zu machen.“ (Kant)

56 / philosophie Magazin August / September 2015

4 Was tun? Im Prinzip gibt es jetzt drei Möglichkeiten: trinken – schreien – schlafen. Bereits hier wird vieles entschieden, denn: „Wie du anfingst, wirst du bleiben, so viel auch wirket Not und die Zucht, das Meiste nämlich vermag die Geburt.“ (Hölderlin) Sind Sie ein Säugling, der schnurstracks die Mutterbrust anpeilt? Dann unmittelbar auf Feld 3. Als ebenso ungeduldiges wie zielverwirrtes Schreikind geht es zu Feld 4. Bevorzugen Sie als allzu selbstzufriedener Säugling vor allem ausgiebige Nickerchen, müssen zum Stillen gar eigens geweckt werden, ist Feld 5 für Sie vorgesehen.


Immerhin! Wenigstens zum Frühstück wissen Sie genau, was Sie wollen: Nutella! Immer nur Nutella. Auch sonst sind Sie vorrangig an den Zuckerseiten des Lebens interessiert. Ihr Bewegungsdrang ist eingeschränkt, Ihre Daumen vom vielen Computerspielen wund gewetzt. Schon lange nehmen Ihre Eltern Sie nicht mehr zum Einkaufen mit, weil es bei den Schokoriegelregalen an der Supermarktkasse regelmäßig zu Wutanfällen kommt. Aber merke: „Die Zivilisation, das ist nicht Nutella, die Zivilisation, das ist Selbstüberwindung.“ (Régis Debray) Also ab auf Feld 7, aber hopp, hopp!

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„Willst du reich werden, so wirst du reich werden; wenn du gelehrt werden willst, wirst du gelehrt werden; willst du ein guter Mensch werden, wirst du auch einer. Nur musst du das Angestrebte tatsächlich wollen. Du musst das, was du willst, ausschließlich anstreben und darfst nicht gleichzeitig hundert andere Ziele verfolgen, die mit dem Hauptziel unvereinbar sind.“ Dito, da hat Ihr Auswahltrainer wieder mal vollkommen recht: Fokus, Baby! Man muss es halt nur wollen! Dass er dieses Zitat von William James geklaut hat, wissen Sie noch nicht. Und auch sonst wartet noch manch ungewollte Desillusionierung auf Sie. Dennoch: Sportlich voran zu Feld 14!

Die Party war mies, eigentlich wollten Sie nach Hause gehen, doch auf einmal stand er/sie da. Es durchfuhr Sie beide wie ein Blitz: DAS IST ES! Wer braucht schon Ziele, wenn er die große Liebe findet? Denn sie ist Glück, Lust, Glaube, Hoffnung, Anerkennung und Sinn in einem. Sie ist schlicht und einfach das größte unter allen Gütern (Korintherbrief). Ob das wirklich lebenslang reicht, erfahren Sie auf Feld 12.

77

9

9

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Illustrationen : Bettina Keim

6 6 Wussten wir’s doch: Das Kind ist hochbegabt! Sowohl wissenschaftlich wie amtlich verbürgt, ändert diese Zauberdiagnose schlagartig alles. Eigentlich gilt es jetzt nur noch zu wählen, welche Ihrer vielfältigen Anlagen zu lebensbeglückender Exzellenz geführt werden soll. Doch Vorsicht: Sie wären nicht der erste Mensch, dem die Natur sämtliche Talente in den Schoß gelegt hat – bis auf das eine Talent, nämlich das, diese auch wirklich zu nutzen. Feld 10 wird vieles entscheiden.

Sie sind noch keine 18 Jahre, aber bereits jetzt von der fundamentalen Sinnlosigkeit insbesondere Ihrer Existenz überzeugt. Live sucks. Allzu frühe Camus-Lektüren machen es nur noch schlimmer, so enden Sie über Kafka („Es gibt zwar ein Ziel, aber keinen Weg“) schließlich bei Cioran: „Nicht geboren zu werden, ist zweifellos der beste Zustand, leider steht er niemandem zu Gebot.“ Ach. Da kann, wenn überhaupt, nur noch Feld 13 helfen.

philosophie Magazin Nr. 05 / 2015 / 57


Dossier

Braucht mein Leben ein Ziel?

Folge der

Intensität! Für den Philosophen und Bestsellerautor Wilhelm Schmid steht die Frage nach der Wahl im Zentrum der Lebenskunst. Gespräch mit einem Denker, der seine Berufung früh gefunden hat – und dennoch fast an ihr zerbrochen wäre Das Gespräch führte Wolfram Eilenberger Herr Schmid, Menschen äußern meist sehr früh konkrete Lebensziele, der eine will Feuerwehrmann werden, die andere Tierärztin. Wie war das bei Ihnen? Hatten Sie schon als Kind ein konkretes Ziel vor Augen? Wilhelm Schmid: Ja, seit ich denken kann, wollte ich Bücher schreiben. Ich war mir sicher, dass dies die Bestimmung meines Lebens ist, und habe mich auch sofort ans Werk gemacht. Ich weiß es noch wie heute: Ich saß als kleiner Schuljunge am Küchentisch, meine zwei jüngeren Geschwister neben mir, die wie üblich Tohuwabohu veranstaltet haben, und schrieb an meiner Geschichte. Ich habe auch Bilder dazu gemalt und das Ganze dann mit einem Faden zu einem Buch zusammengebunden. So ging das meine gesamte Kindheit und Jugend hindurch. Später habe ich die Werke dann auch Verlagen angeboten, es waren zu Beginn Kinder- und Jugendbücher. Da kamen dann bestenfalls Antworten wie: „Ja, das Manuskript ist eingegangen.“ Aber das hat mich nicht davon abgehalten weiterzuschreiben. Hatten Sie niemals Zweifel, ob das erwählte Ziel Ihnen auch wirklich entspricht? In der Tat gab es da einen Dreh- und Angelpunkt im Verlauf eines einjährigen Studienaufenthalts an der Sorbonne in Paris. Das war der Tiefpunkt meines Lebens, eine Phase des absoluten, gewollten Rückzugs. Ich wollte mich nur noch dem reinen Denken widmen, habe alles andere vernachlässigt: Beziehungen, auch Ernährung, auch Trinken … Rückblickend eine sehr gefährliche Zeit, denn ich war bald auch körperlich ein Wrack. Meine Sorge, in Kürze an Kreislaufversagen zu sterben, war wahrscheinlich nicht falsch. Ich war dermaßen am Ende, dass ich die Rasierklinge neben mir bereithielt. Und just in dieser Situation, die sich über mehrere Wintermonate erstreckte, an dem Nullpunkt meines Lebens, überfiel mich, von woher auch immer, die Idee: „Du musst das Leben von Grund auf neu lernen!“ Theoretisch und praktisch. Das kulmi62 / philosophie Magazin August / September 2015

nierte im Begriff „Lebenskunst“. Lebenskunst ist dein Begriff, den musst du analysieren, denn die große Aufgabe ist es, eine Lebenskunst für unsere Zeit neu zu begründen! Ein Wahnsinnsprojekt, vor dem mir schummrig geworden ist. Aber ich habe die Aufgabe leidenschaftlich gerne übernommen.

Wie lässt sich die von Ihnen beschriebene Gefahr einer totalen Existenzverdunkelung im Namen eines gewählten Zieles mit den Mitteln der Lebenskunst mildern? Durch eine maximale Erweiterung des Horizonts, und zwar nicht um seiner selbst willen, sondern um der Einsicht willen, dass ein Leben immer in Horizonten gelebt wird, die weit über das eigene Selbst hinausgehen. Insofern tun wir gut daran, die Augen absolut offen zu halten für alles, was auf das eigene Leben Einfluss nehmen könnte. Vor allem der enge Austausch mit Freunden, mit Menschen, die in anderen Kontexten leben, die andere Berufe ausüben und in der Regel andere Erfahrungen machen, mindern das Risiko, den eigenen Blick zu sehr zu verengen. Welche Kriterien gibt es für die Entscheidung, ein gewähltes und lang verfolgtes Ziel besser aufzugeben? Auch da kommen in meinem eigenen Fall Freunde ins Spiel. Nachdem ich mich dem Thema Lebenskunst verschrieben hatte, bin ich dann doch irregeworden daran. Ich hatte damals eine akademische Hilfskraftstelle am Historischen Institut, nicht in der Philosophie. Es öffnete sich die Möglichkeit, dort wissenschaftlich Fuß zu fassen, Karriere machen zu können. Dazu habe ich mich dann entschlossen, denn in der Philosophie waren meine Aussichten unter null! Das habe ich dann auch meinen Freunden verkündet. Und es brach ein Gewitter über mich herein. Die haben mich beschimpft, beleidigt, mir bitterste Vorwürfe gemacht: „Du verletzt deine Berufung! Du bist ein Vollidiot!“ So ging das über

Wilhelm Schmid Wilhelm Schmid ist Philosoph und Schriftsteller. Zentral für sein umfangreiches, in mehrere Sprachen übersetztes Werk ist der Begriff der Lebenskunst. Er publizierte zu Themen wie Liebe, Freundschaft, Glück sowie jüngst zu „Gelassenheit. Was wir gewinnen, wenn wir älter werden“ (Insel, 2014)


unser Sein durchzieht fortan eine Spur, die eine starke Intensität in sich birgt. Eine Intensität, die über alles, was wir gewöhnlich kennen, weit hinausgeht. Diese Intensität wird bei verschiedenen Erfahrungen spürbar, zum Beispiel in einer starken Erfahrung der Liebe, auch der körperlich gelebten Liebe. In so mancher Nacht, nicht in jeder, spüren wir eine enorme Intensität, die uns geradezu „hinwegschwemmt“. Die Erfahrung der Berufung ist eine vergleichbare: Ich spüre, wenn ich das mache, wallt Energie in mir. Ich spüre, wie richtig es ist, wenn ich dieser Energie folge.

Platon spricht in diesem Zusammenhang von einem wie Feuer überspringenden Licht der Seele, „das sich fortan selbst nährt“. Ganz genau, Platons Theorie des Enthusiasmus aus dem „Phaidros“, das ist diese Erfahrung einer starken Energie. Und man kann sicher sagen: Das Leben und das Beziehungsleben stellt dermaßen große Schwierigkeiten, dass diese nur mit einer starken Energie überwunden und bewältigt werden können. Insofern täten Menschen gut daran, sich immer wieder zu fragen: Wo sind meine Energiequellen? Und Paare: Wo sind unsere Energiequellen? Sollte es keine geben, wäre es klug, auf die Suche zu gehen, herumzuspüren, auszuprobieren. In meinen Gesprächen mit anderen Menschen habe ich immer zuerst gefragt: Was ist schön für Sie? Denn mit dem Begriff des Schönen kommen wir auf die Spur dieser Quellen.

Foto: privat

Wochen hinweg, bis ich mir gesagt habe: Das sind deine engsten Freunde. Kann es sein, dass sie recht haben? Ich habe dann die Tätigkeit in der Geschichte beendet um einer Perspektive willen, die erst einmal keine war. Es war also, um Hölderlin zu zitieren, „ein Gang ins Offene“. Viele Male habe ich im Leben die Erfahrung gemacht: Geh ins Offene! Du wirst etwas finden und entdecken, was du jetzt einfach nicht sehen kannst. Ganz einfach, weil du noch nicht im Offenen bist.

Der Begriff der Berufung ist stark religiös aufgeladen, oder nicht? An sich verstehe ich ihn nicht direkt religiös, aber es kommt dabei dennoch etwas Transzendentes ins Spiel, also etwas, das über meine Endlichkeit und meine momentane Befindlichkeit, vor allem über das Alltägliche hinausgeht. Es ist etwas, das wir in uns fühlen oder besser: „spüren“, denn wir nehmen dann tatsächlich eine „Spur“ auf. Wir wissen noch nicht, woher sie kommt oder wohin sie führt. Aber unser Leben und

Auch das ist ja ein platonischer Gedanke, die Konzentration auf das Schöne als leitende Idee. Ich bin nicht fern von Platon, nur an einem einzigen Punkt widerspreche ich entschieden: Ich glaube nicht, dass man die Leiter zur Erkenntnis des Schönen nur einmal hochsteigen muss, um dann ewig dort verbleiben zu können, wie Platon es im „Symposium“ entwickelt. Sondern man muss immer wieder herunter, herunter auf die Erde, also in den Alltag, der gerade nicht von hoher energetischer Intensität geprägt ist. Das gehört in meinen Augen zur „Atmung des Lebens“. Ein Leben bewegt sich immer zwischen Auf und Ab und Hin und Her. Wenn wir bereit sind, mit dieser „Atmung“ zu leben, dann wird es ein erfülltes Leben. Versuchen wir, gegen diese Atmung, gegen diesen Rhythmus zu leben, haben wir viel zu überwinden und mögen letztlich an uns scheitern. Viele Menschen leiden gerade heute unter einer gegenteiligen Erfahrung. Sie wünschen sich sehnlichst, von etwas ganz und gar angesprochen zu werden, aber nichts packt sie. Wie geht man mit diesen Fällen um? Als Philosoph würde ich sehr grundsätzlich ansetzen und infrage stellen, ob Menschen das wirklich brauchen in ihrem Leben – jedenfalls in Form einer konkreten Zielstellung. Sicher, in der antiken Philosophie philosophie Magazin Nr. 05 / 2015 / 63


Ideen

Das Gespräch

Chantal Mouffe

Chantal Mouffe ist die politische Denkerin der Stunde. Ihre Theorie der „radikalen Demokratie“, die seit Jahrzehnten linke Aktivisten beeinflusst, liefert mittlerweile die Blaupause für Protestparteien wie Podemos oder Syriza. In ihren Werken plädiert sie für mehr demokratischen Widerstreit und zeigt, wie aus Feinden Gegner werden Das Gespräch führte Nils Markwardt / Fotos von Marcus Höhn

Chantal

Mouffe

»Konsens ist das Ende der Politik«

R

egenwolken hüllen Kreuzberg in einen grauen Schleier. Chantal Mouffes roter Blazer scheint bei diesem Wetter deshalb nur noch heller zu leuchten. Wie eine Signalfarbe, ein Bekenntnis. Denn die belgische Politikwissenschaftlerin, die an diesem Frühsommertag anlässlich der „Woche der Zukunft“, einer von der Linkspartei organisierten Veranstaltungsreihe, in Berlin weilt, gehört zu den einflussreichsten Stichwortgeberinnen kapitalismuskritischer Politik. Mit Büchern wie „Hegemonie und radikale Demokratie“ prägte sie weltweit Akademiker wie Aktivisten. Die Gründer der spanischen Protestpartei Podemos, von denen Mouffe einige persönlich kennt, berufen sich auf ihre Schriften. Und auch in der Strategie der griechischen Syriza sind ihre Gedanken wiederzufinden. In diesen kritischen Monaten des Jahres 2015, in denen Europa verzweifelt nach einem tragfähigen Konsens sucht, erscheint Mouffe als Theoretikerin des notwendigen Konflikts, gar als Philosophin der Stunde. Denn die 72-jährige Belgierin, die an der University of Westminster lehrt, könnte man als realistische Radikale beschreiben. Radikal, weil sie in ihren Werken einerseits für eine energische und

68 / philosophie Magazin August / September 2015

konfliktfrohe Linke plädiert und sich damit klar von einem habermasianischen Konsensdenken distanziert. Realistisch, weil sie sich andererseits gegen jenen systemstürzenden Utopismus wendet, wie ihn etwa Antonio Negri oder Alain Badiou vertreten. Mouffe will eine Linke, die sich nicht an den neoliberalen Zeitgeist anpasst, den politischen Wirklichkeiten aber dennoch ins Auge blickt. Deshalb kreist ihr Werk auch nicht um die Revolution, sondern die Hegemonie: den steten Kampf um Vorherrschaft emanzipatorischer Ideale.

Ihre Arbeit ist geprägt von einer gewissen Ambivalenz, die in der politischen Theorie sonst selten auftritt. Zum einen steckt sie voller philosophischer Reflexionen, zum anderen geht sie immer wieder konkret auf politische Strategien ein. Chantal Mouffe: Meine Arbeit ist theoretisch und praktisch zugleich. Auslöser für meine theoretischen Überlegungen sind immer praktische politische Probleme. Nie betreibe ich Theorie um der Theorie willen. So war es auch bei „Hegemonie und radikale Demokratie“, dem Buch, das ich 1985 zusammen mit Ernesto Laclau schrieb. Was uns antrieb, war die Frage, wie die

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76 / philosophie Magazin August / September 2015

Illustration: Elo誰se Oddos, Bildvorlage: akg-images


Ideen

Der Klassiker

Hegel und die

Anerkennung Wer nicht bereit ist,

sein Leben zu riskieren, hat keine Chance auf das absolute Wissen. So direkt hätte das Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831) selbstverständlich nie ausgedrückt. Dennoch beruht Hegels Theorie der Anerkennung – und damit sein gesamtes philosophisches System – auf dem Mut und dem Willen, sich anderen Menschen entgegenzustellen und dabei seine eigene Position mit allen Mitteln zu behaupten. Beispielhaft zeigt sich dies in dem Kapitel über „Herrschaft und Knechtschaft“ aus Hegels Hauptwerk von 1807, der „Phänomenologie des Geistes“. Axel Honneth geht in seinem Essay den Quellen von Hegels Anerkennungsbegriff nach. Als derzeitiger Kopf der Frankfurter Schule hat Honneth den Begriff der Anerkennung für die politische Theorie der Gegenwart neu fruchtbar gemacht. Anerkennung ist demnach das Kernproblem der modernen Gesellschaft: Soziale Konflikte sind grundsätzlich Anerkennungskonflikte, selbst wenn sie vordergründig um Materielles kreisen. Sozialer Fortschritt bedeutet nach Honneth Fortschritt in Verhältnissen gegenseitiger Anerkennung. Insbesondere individuelle Selbstverwirklichung ist ohne Anerkennung nicht möglich. Martin Gessmann veranschaulicht im Beiheft die genauere Dynamik des Machtkampfs zwischen Stark und Schwach, der für Hegel einen zentralen Schritt auf dem Weg zu Erkenntnis und geschichtlicher Weiterentwicklung bildet. Hegels Theorie der Anerkennung prägt bis heute unser Verständnis politischer wie gesellschaftlicher Konflikte. Ihre Aktualität lässt sich an Fragen der gesellschaftlichen Arbeitsteilung, der sozialen Teilhabe von Minderheiten, des Verhältnisses der Geschlechter oder des religiös pluralen Zusammenlebens täglich neu erfahren.

philosophie Magazin Nr. 05 / 2015 / 77


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