Nr. 03 / 2016
April / Mai
MAGAZIN
Wer ist mein
wahres
Selbst? ÉLISABETH BADINTER IM GESPRÄCH: „Die Linke hat ihre Seele verloren“
UTOPIA IN KURDISTAN
und der Krieg
Sammelbeilage
Vorwort / Jean-Claude Zancarini Überblick / Victorine de Oliveira
„Die Kun des Krie st ges“ (Auszüge )
1 / Machiavelli und der Krieg
Machiavelli und der Krieg
0 3 4 192451 806907
Machiavelli Nr. 27
D: 6,90 €; Ö: 7,- €; CH: 12,50 SF; Benelux: 7,40 €
Reportage aus der anarchistischen Republik Rojava
Über die Kunst, seine Vorgesetzten zu lenken.
Denker in diesem Heft
S. 32
S. 58
S. 68
Wes Enzinna
Byung-Chul Han
Élisabeth Badinter
Der New Yorker Essayist und Dokumentarfilmer reiste ins umkämpfte Kurdengebiet Rojava, wo nach den Vorstellungen eines Philosophen namens Murray Bookchin regiert wird. Gleichberechtigung der Geschlechter und Religionsfreiheit gehören zu Bookchins anarchistischer Vision. Wes Enzinnas Reportage lesen Sie in der Rubrik Horizonte.
Der Autor des Bestsellers „Müdigkeitsgesellschaft“ (Matthes & Seitz, 2010) analysiert im Dossier den heutigen Terror der Authentizität. Byung-Chul Han ist Professor für Philosophie und Kulturwissenschaft an der Universität der Künste in Berlin. Demnächst erscheint sein neues Buch „Die Austreibung des Anderen“ bei S. Fischer.
In ihrem heftig diskutierten Buch „Mutterliebe“ (Piper, 1981) hinterfragt die französische Philosophin die angebliche Natürlichkeit dieses Gefühls. Élisabeth Badinter lehrt an der Eliteuniversität École polytechnique. Im Heft spricht sie über ihre Geschlechtertheorie, den Terror in Paris und die Notwendigkeit einer Trennung von Kirche und Staat.
S. 82
S. 52
S. 16
Mara Delius
Andreas Reckwitz
Yascha Mounk
Die Philosophin promovierte am Londoner King’s College über Geschichte und Fotografie in der deutschen Gegenwartsliteratur und war Mitarbeiterin u. a. der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Seit 2011 ist Mara Delius Redakteurin der Zeitung Die Welt. In dieser Ausgabe bespricht sie unser Buch des Monats: David Grae bers „Bürokratie“ (Klett-Cotta).
Der Professor für Vergleichende Kultursoziologie lehrt an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt an der Oder. Sein Buch „Die Erfindung der Kreativität“ (Suhrkamp, 2012) wurde vom Börsenverein des deutschen Buchhandels ausgezeichnet. Im Dossier antwortet er auf die Frage: Sind kreative Menschen näher am eigenen Selbst?
Der gebürtige Münchner promovierte in Harvard, wo er heute Politische Philosophie lehrt. Im Zeitgeist spricht er über den USamerikanischen Präsidentschaftswahlkampf und die Chancen Hillary Clintons, als Frau gegen den ausgewiesenen Sexisten Donald Trump zu gewinnen. Sein jüngstes Buch: „Echt, du bist Jude?“ (Kein & Aber, 2015).
»Der neue Chef ist eines der wenigen Organisationsprobleme, dem mit Recht universelle Bedeutung beigemessen werden kann.« »Hilfreich ist die Vorstellung, der Vorgesetzte habe keine Kleider an.« »Der Umgang mit Vorgesetzten ist gewiß nicht einfacher als der mit Untergebenen.«
Suhrkamp www.suhrkamp.de
Die nächste Ausgabe erscheint am 12. Mai 2016
Fotos: privat; Michael Hudler; Serge Picard/Agence VU/laif; Martin Lengemann; privat; Steffen Jänicke/Kein & Aber Verlag
Herausgegeben und mit einem Nachwort von Jürgen Kaube. 120 Seiten. Geb. € 10,–
Intro
Horizonte
Dossier
Ideen
S. 3 Editorial S. 6 Ihre Frage S. 7 Kinder fragen Tomi Ungerer S. 9 Leserbriefe
S. 26 Dialog Das Ende der Autonomie? Harald Welzer und Reinhard Merkel im Gespräch S. 32 Reportage Utopia im Krieg Wes Enzinna über ein philosophisches Experiment im kurdischen Rojava
Wer ist mein wahres Selbst?
S. 68 Das Gespräch Élisabeth Badinter S. 74 Werkzeugkasten Lösungswege / Gedanken von anderswo / Die Kunst, recht zu behalten S. 76 Der Klassiker Machiavelli und der Krieg Von Nicolas Tenaillon + Sammelbeilage: „Die Kunst des Krieges“ Mit Jean-Claude Zancarini
Zeitgeist S. 10 Sinnbild S. 12 Denkanstöße S. 14 Resonanzen AfD: Die Apokalypse für Deutschland? / Virtual Reality: Mark Zuckerbergs schöne neue Schattenwelt / US-Wahlkampf: Kann Clinton den Albtraum Trump verhindern? S. 20 Erzählende Zahlen Die neue Kolumne von Sven Ortoli S. 22 Weltbeziehungen Da steckt doch was dahinter! Kolumne von Hartmut Rosa
S. 37
S. 42 Wenn die innere Stimme schweigt Von Svenja Flaßpöhler S. 46 Mein authentischer Tag Protokoll eines Großstadtnomaden S. 52 Sind Kreative näher am eigenen Selbst? Interview mit Andreas Reckwitz S. 54 Das bin ich Vier Porträts von David Lauer S. 58 Der Terror des Andersseins Essay von Byung-Chul Han S. 60 Spielen wir immer nur Theater? Mourad Zerhouni und Georg W. Bertram im Dialog
Bücher S. 82 Buch des Monats Bürokratie. Die Utopie der Regeln S. 84 Thema Wie gerecht ist Ungleichheit? S. 86 Scobel.Mag S. 88 Die Philosophie-MagazinBestenliste S. 90 Dichter und Wahrheit Alexander Kluge
Fotos: © 2013 Suzanne Heintz; Lynsey Addario/New York Times Magazine; Malte Jäger; Lara Zankoul
Finale
S. 63
S. 43
S. 92 Agenda S. 94 Comic S. 95 Spiele S. 96 Lebenszeichen Von Tieren lernen: Der Löwe / Das Gare ist das Wahre S. 98 Sokrates fragt Nicolette Krebitz
S. 26
Philosophie Magazin Nr. 03 / 2016 / 5
Das Ende der Autonomie? Wir leben in einer Welt, in der uns Konzerne umfassender ausspähen als Geheimdienste. Entzieht die Digitalisierung einem selbstbestimmten Leben die Grundlagen? Harald Welzer und Reinhard Merkel im Streitgespräch
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issen ist Macht. Das gilt beson ders für Informationen, die ei gene Gewohnheiten, Vorlieben und Schwächen betreffen. Un sere persönlichen Daten werden derzeit, vor allem von Privatun ternehmen, in einem Ausmaß gesammelt und aus gewertet, wie es jede Vorstellungskraft übertrifft. Was bedeutet diese Entwicklung für das Ideal eines selbstbestimmten Lebens? Untergräbt, wie der
26 / Philosophie Magazin April / Mai 2016
Soziologe Harald Welzer mahnt, der digitale Wandel gar die Grundlagen moderner Demokratien? Wie frei kann eine Gesellschaft sein, die jede Bewegung doku mentiert, jede Äußerung speichert? Der Wille zur totalen Datensammlung betrifft heute auch den Bereich der Gesundheit und Medizin. Für den Rechts philosophen Reinhard Merkel ein weiterer Grund zu fragen, welche Regeln im Umgang mit hochsensiblen Daten gelten müssen? Und vor allem: Warum wir sie Dritten freiwillig zur Verfügung stellen?
Foto: Lara Zankoul
Das Gespräch führte Barbara Bleisch
Horizonte
Dialog
Harald Welzer Der Soziologe ist Direktor der Stiftung FUTURZWEI und Professor für Transformati onsdesign an der Universität Flensburg. Er geht in seinen Werken den politischen und technischen Bedingungen gesellschaftlicher Auto nomieverluste nach, etwa in „Selbst Denken. Eine Anleitung zum Widerstand“ (S. Fischer, 2013). Im April erscheint sein neues Buch „Die smarte Diktatur. Der Angriff auf unsere Freiheit“ (S. Fischer, 2016)
Reinhard Merkel Reinhard Merkel ist Professor für Strafrecht und Rechtsphilosophie an der Universität Hamburg und Mitglied des Deutschen Ethikrats. Im Zentrum seines Denkens stehen Fragen nach der menschlichen Freiheit im Kontext technischer Innovationen und Wissenszuwächse, so auch in seinem Werk: „Willensfreiheit und rechtliche Schuld. Eine strafrechtsphilosophische Untersuchung“ (Nomos, 2008)
Barbara Bleisch: Herr Welzer, Herr Merkel, welche Voraussetzungen hat wahrhaft selbstbestimmtes Handeln? Inwiefern scheinen Ihnen diese Voraussetzungen im Moment besonders bedroht? Harald Welzer: Zunächst ist Selbstbestimmung, als eine Form von Freiheit, immer bedroht. Denn sie ist an bestimmte gesellschaftliche Ordnungen gebunden und diese Ordnungen können verändert werden. Freiheitliche Gesellschaften können zu Diktaturen werden, das wissen wir. Die derzeitige Bedrohung unserer Selbstbestimmung aber ist eine andere und schwerer zu analysieren. Es
spricht vieles dafür, dass die internen Verkehrsformen der Gesellschaft sich so verändern, dass Freiheit verschwindet, obwohl nach außen und von der Regierungsform her alles im Lot zu sein scheint. Als These: Zu Freiheit und demokratischer Selbstbestimmung gehört ganz wesentlich Privatheit. Und diese Privatheit ist im Verschwinden begriffen. Sie wird ersetzt durch eine merkwürdige Form von Transparenz, ja sogar die Forderung nach mehr Transparenz. Darin besteht eine große Gefahr. Reinhard Merkel: Bemerkenswert an diesen Thesen ist zunächst die Identifizierung von „Autonomie“ und „Frei- >>> Philosophie Magazin Nr. 03 / 2016 / 27
Horizonte
Reportage
Utopia im Krieg
UTOPIA im Im umkämpften Grenzgebiet zwischen Syrien, dem Irak und der Türkei findet derzeit eines der spannendsten politischen Experimente der Erde statt. Ausgerechnet in Rojava, dem faktisch autonomen Kurdengebiet Syriens, wo ein mitunter als terroristisch eingestufter PKK-Ableger den Ton angibt, wird nach den Vorstellungen eines unbekannten amerikanischen Philosophen regiert. Sein Name lautet Murray Bookchin. Seine anarchistisch inspirierte Vision: eine dezentrale Räterepublik nach griechisch-antikem Vorbild – samt Gleichberechtigung der Geschlechter und Religionsfreiheit. Reportage aus einem ebenso unwahrscheinlichen wie umstrittenen Ort Von Wes Enzinna / Fotos von Lynsey Addario
Foto: Lynsey Addario/New York Times Magazine; Autorenfoto: privat
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ei der Kleinstadt Fischchabur im äußersten Nordwesten des Irak liegt einer der halbwegs sicheren Grenzübergänge nach Syrien. Ein Beamter der kurdischen Regionalregierung begleitet uns zu einer Pontonbrücke, die auf den dunkelbraunen Fluten des Tigris wippt. Ende 2014 überquerten 30 000 Flüchtlinge diese Brücke in der Gegenrichtung, halbtot und vom Entsetzen gezeichnet. Um einem ISMassaker zu entrinnen, waren sie 30 Stunden am Stück gelaufen. Unser Ziel ist nun Rojava, das „Land des Sonnenuntergangs“, ein Gebiet im Norden Syriens. Weder das Assad-Regime noch UNO oder Nato erkennen seine Autonomie an. Doch wenn stimmt, was ich gehört habe, sind in Rojava die Gesetze des benachbarten IS„Kalifats“ auf den Kopf gestellt. Dort, so heißt es, werde ein Gesellschaftsmodell erprobt, das der PKK-Vordenker Abdullah Öcalan entworfen hat und dessen Grundpfeiler Umweltschutz, direkte Demokratie und die Gleichberechtigung der Frau seien. Doch die Informationen sind widersprüchlich. Für die türkische Regierung ist Rojava – ein Gebiet etwas
32 / Philosophie Magazin April / Mai 2016
Wes Enzinna Der US-Amerikaner ist Reporter, Autor und Dokumentarfilmer. Seine Texte erscheinen in der New York Times, Harper’s und der London Review of Books. Enzinna studierte an der Universität Berkeley und lebt und arbeitet heute in New York
kleiner als Schleswig-Holstein – nur ein Nest der verhassten PKK. „Wir werden nicht zulassen, dass die Kurden in Nordsyrien einen Staat gründen“, drohte Präsident Erdogan im letzten Sommer. „Wir werden dagegen kämpfen, koste es, was es wolle.“ Westliche Besucher dagegen sehen Rojava als einen Ort, an dem die Saat des Arabischen Frühlings als Utopie aufgehen könnte. Raymond Jolliffe, ein Mitglied des britischen Oberhauses, spricht von einem „einzigartigen Experiment, das hoffentlich glücken wird“. Der niederländische Historiker Jan Best de Vries spendete 10 000 Dollar zum Kauf von Lehrbüchern für kurdische Studenten. Und der Anthropologe David Graeber, einer der Köpfe von Occupy Wall Street, nennt die Region „einen der wenigen hellen Flecken (dafür aber besonders hell), die aus der Tragödie der syrischen Revolution hervorgegangen sind“. Über Facebook stieß ich auf die Mesopotamische Akademie für Sozialwissenschaften, die neu gegrün- >>>
Fünf junge kurdische Soldaten ziehen durch Tell Brak, ein Dorf, das früher vom IS kontrolliert wurde
ROJAVA
KRIEG
Syrien
Philosophie Magazin Nr. 03 / 2016 / 33
DOSSIER
Wer ist mein
wahres
Selbst? Foto: Aisha Zeijpveld
E
cht sein. Einzigartig. Authentisch. Nie war die Sehnsucht nach Eigentlichkeit größer als heute. Gerade in Zeiten der digitalen Selbstdarstellung ist der Übergang von der gekonnten Verstellung in die dauerhafte existenzielle Entfremdung fließend. Auch der Alltag ist bei genauerer Betrachtung eine Abfolge von Situationen, in denen man eine bereits vorbestimmte Rolle möglichst überzeugend zu spielen hat. Wie also kann der Mensch zu sich selbst finden? Gibt es Momente, Orte, Vorbilder des Authentischseins? Hatte Rousseau recht, wenn er den Rückzug zur Natur als Heilmittel anpries? Kommen wir unserem Selbst näher, wenn wir kreativ sind? Eigensinnig? Schlicht und ergreifend: anders? Oder liegt das Problem gerade in der permanenten Aufforderung, sich abzuheben von der Masse? Erleben wir gar einen wahrhaften Terror der Authentizität? Und wenn ja: Wie können wir ihm entkommen? Mit Beiträgen unter anderem von Byung-Chul Han, Georg W. Bertram und Andreas Reckwitz
Philosophie Magazin Nr. 03 / 2016 / 41
DOSSIER
Wer ist mein wahres Selbst?
Mein
#authentischer
Tag
Schau mal, wie echt ich bin! Der digitale Mensch ist permanent auf der Jagd nach authentischen Erfahrungen. Keine ganz leichte Übung. Unser Autor dokumentiert den Tag eines typischen Großstadtnomaden Von Nils Markwardt / Fotos von Jörg Brüggemann
8:43 Einatmen, ausatmen, einatmen, ausatmen. Der Puls steigt, das Bronchialsystem weitet sich. Jetzt, nach drei Kilometern, da das rhythmische Rasseln der Lunge, das mich mahnend daran erinnert, weniger zu rauchen, langsam ausklingt, provoziert das einsetzende Stechen im Schulterblatt abermals die Frage nach dem Warum. Also warum, um Himmels willen, bin ich nicht im Bett geblieben? Warum lasse ich am Samstagmorgen keuchend die Kälte in den Trainingsanzug kriechen, 46 / Philosophie Magazin April /Mai 2016
während ich die müden Augen noch ein, zwei Stunden hätte im Kopf kissen vergraben können? Die Antwort ist nicht so einfach. Der ganze Gesundheitsfanatismus, den austrainierte Fitnesstaliban von Plakatwänden predigen, ist es jedenfalls nicht. Und von Spaß kann auch keine Rede sein. Nicht jetzt, da sich das Stechen bis zur Hüfte vorarbeitet. Also warum? Vielleicht, weil erst der Versuch, eine athletische Existenz zu führen, sei dieser auch noch so kläglich, mir offenbart, dass innere Einsichten stets
durch die „Somatisierung des Unwahrscheinlichen“. Gut, joggen zu gehen, ist jetzt eher die 5 min Bausparerversion davon, aber immerhin. Und schließlich hatte schon Der Puls steigt, das Bronchialsystem weitet sich. Nietzsche in seiner „Morgenröthe“ proFortgeschrittene Ich-Beobachtung. Nietzsche wäre stolz klamiert: „Vor allem zuerst die Werke! / Das heisst Übung, Übung, Übung! / Der auf mich. 7 Replies dazugehörige ‚Glaube‘ wird sich schon einstellen, / – dessen seid versichert!“ Wobei es jetzt, da fast Kilometer fünf erreicht ist und über den Wettkampf mit sich selbst führen. Erst die „Vertikalisierung“ des Daseins, so hat es Peter Slo noch ein letzter Anstieg folgt, mit dem Glauben dann doch so eine Sache ist. Aber auch hier gilt die Devise terdijk in seinem Buch „Du mußt dein Leben ändern“ Sloterdijks: „Gebirge kritisiert man nicht, man bebeschrieben, ermöglicht die fortgeschrittene Ichsteigt sie oder lässt es bleiben.“ Oder, weitere MögBeobachtung. Konkret: Ich erfahre, wer ich wirklich lichkeit: Man lässt es bleiben und behauptet auf Face bin, durch den kontinuierlichen Versuch, ein anderer, ja Besserer zu werden – in Sloterdijks Worten: book dennoch, man hätte es getan.
Großstadtnomade
# vertikalspannung # dumusstdeinlebenändern # niewieder Peter Sloterdijk Friedrich Nietzsche Joschka Fischer
9:37 Wieder zu Hause, lebend. Also ab unter nehmen sie sich ab dann die Dusche. Beim Betreten des Badezimmers wird un- nicht mehr als chaotische terdessen schnell klar, dass hier die Wahrheit wohnt. Ansammlung von „PartialDas zeigt sich bereits beim flüchtigen Blick in den objekten“ – Nase, Hände, Spiegel, dem analogen Selfie. Dieser führt, zumal in Beine –, sondern als vollständiesem abgekämpften Zustand, nämlich nicht nur in diges Ganzes wahr und beganzer Unmittelbarkeit die menschlichen Makel vor grüßen das Ich-Bild mit eiAugen, die schiefe Nase, den mittlerweile recht hohen Haaransatz Großstadtnomade und die zwei Pickel am rechten Mundwinkel, sondern ruft auch in 3min Erinnerung, dass die Fähigkeit, sich als authentisches Selbst zu Hoher Haaransatz: Im Badezimmer wohnt die Wahrheit. begreifen, keineswegs selbstverständlich, sprich: angeboren ist. 10 Replies Erst zwischen dem sechsten und 18. Lebensmonat, so hat es der Psychoanalytiker Jacques Lacan 1936 in seiner berühmten Theorie des „Spiegelstadiums“ ner „jubilatorischen Geste“. Aber es ist nicht nur der dargelegt, entwickeln Kinder die Gabe, sich selbst zu Spiegel, der das Bad zum truth space macht. Während erkennen. Im Gegensatz zu den allermeisten Tieren ich nun endlich das warme Wasser über die Haut fliePhilosophie Magazin Nr. 03 / 2016 / 47
DOSSIER
Wer ist mein wahres Selbst?
Das bin ich Schluss mit der Verstellung – aber wie? Vier Menschen haben es vorgemacht: als Provokateur, als Idiot, als Dandy und als Widerstandskämpferin. Was können wir heute von ihnen lernen? Von David Lauer / Illustrationen von Julia Pfaller
I Diogenes (412-323 v. Chr.) Zwänge abstreifen
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er Mann war die personifizierte Provoka tion. Diogenes von Sinope war ein Clochard, ein Schnorrer, der in einem ausrangierten Weinfass schlief, tagsüber saufend auf der Agora herumlungerte und die Passanten belästigte. Diogenes, mit anderen Worten, war der erste Punk. Er selbst nannte sich, ironisch die Verachtung spiegelnd, mit der die Bürger ihn beäugten, einen Hund – auf Griechisch: kyon. Seine Lehre wurde deshalb als Kynismus bezeichnet. (Unser Wort „zynisch“ leitet sich davon ab.) Als Iggy Pop und The Stooges 1969 sangen „I wanna be your dog“, standen sie, ob sie es wussten oder nicht, auf seinen Schultern. Frei und authentisch lebt, so erklärte der Bürgerschreck, wer allein seiner inneren Natur folgt. Die Natur ist in jedem von uns korrumpiert worden, eingesperrt hinter einem Panzer zivilisatorischer Zurüstungen. Weg damit! – so fordert Diogenes. Authentisch zu leben bedeutet, dass du dich von allen bürgerlichen Konventionen befreist! Er selbst ging mit dieser Auffassung ziemlich weit. Er kackte mitten ins Theater, wenn ihn die Notdurft während der Vorstellung überkam, und masturbierte ungeniert in aller Öffentlichkeit. Vor allem aber predigte er – wie so viele Zivilisationskritiker vor und nach ihm – radikalen Konsumverzicht und führte ein Leben in äußerster Bedürfnislosigkeit. Sprichwörtlich wurde die Antwort, mit der er die Aufforderung Alexanders des Großen quittierte, sich von ihm zu wünschen, was immer er wolle. „Geh mir aus der Sonne!“, soll Diogenes gesagt haben. Seine Gleichung, die in vielerlei Varianten noch heute Kredit genießt: Je genügsamer, desto unabhängiger, desto näher bei sich. Allerdings – und das unterscheidet Diogenes von typischen Aussteigern – ging sein Rückzug auf die Natur
54 / Philosophie Magazin April / Mai 2016
keineswegs mit dem Rückzug aus der Polis einher. Er war kein freundlicher Hippie, im Gegenteil: Demonstrativ lebte er seine Vorstellung eines natürlichen Lebens in der Mitte der Gesellschaft aus. Genau das aber weist auch auf das Problem seiner Lehre hin. Denn stimmt es überhaupt, dass ich meine wahre Natur gewissermaßen unterhalb meiner kulturellen Existenz zu suchen habe? Ist es nicht vielmehr die Natur des Menschen, ein kulturelles Wesen zu sein? Bin ich nicht der, der ich bin, wesentlich in meinen sozialen Beziehungen, samt den Traditionen, in denen diese stehen? Und überhaupt: Hat nicht die überanstrengte Negativität des Diogenes auch etwas unangenehm Zwanghaftes, Verkniffenes an sich? Wie unabhängig ist er wirklich? Bleibt seine vermeintliche Unmittelbarkeit nicht immer angewiesen auf eben jene gesellschaftlichen Regeln, die er mit Füßen tritt? Mach dich mal locker, möchte man ihm manchmal zurufen – oder seinen weiterhin zahlreichen Nachfolgern. Die hängen immer noch saufend auf den Marktplätzen ab. Gerne mit Hund.
II Oscar Wilde (1854-1900) Zum Kunstwerk werden
Illustration: Julia Pfaller; Bildvorlage: akg-images
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as Ziel des Lebens ist Selbstentfaltung. Das eigene Wesen vollkommen zu verwirklichen – das ist es, wozu jeder von uns hier ist … Leben Sie! Leben Sie das wunderbare „ Leben, das in Ihnen ist.“ Kann man sich eine mitreißendere, lebensbejahendere Aufforderung vorstellen? Sie stammt aus Oscar Wildes Roman „Das Bildnis des Dorian Gray“. Aus den Worten der Figur Lord Henry Wotton spricht hier Wilde selbst, das schillernde Enfant terrible der Londoner Gesellschaft des Fin de Siècle. Unendlich ist das Potenzial, das du in dir trägst, so ermutigt uns Wilde. Doch wie wenig davon darfst du in deinem grauen Alltag verwirklichen. Brich aus! Scheiß auf die Spießer! Erfinde dich neu, und nicht einmal, sondern immer wieder! You can be anything you wanna be! Koste das Leben bis zur Neige! Oscar Wilde propagierte das Ideal, das eigene Leben als Kunstwerk zu gestalten. Um Wahrheit oder Moral geht es nicht. Alles was zählt, sind Originalität und Style. Wilde, ursprünglich ein mäßig erfolgreicher Literat, wurde als Prophet dieses radikalen Ästhetizismus zum Popstar. Er und David Bowie hätten sich gut verstanden. (Ganz zu Recht beginnt der aberwitzige Glam-Rock-Film „Velvet Goldmine“ von 1998 mit der Geburt Oscar Wildes.) Mindestens so sehr wie über Wildes brillante Bonmots und seine vor beißendem Spott berstenden Gesellschaftskomödien sprach man über seine neueste Frisur, seine extravagante Kleidung und die Opulenz seiner Partys. Lebte er heute, wäre er ein celebrity, eine Stilikone – jemand, der nur ein Foto seiner neuen Sneakers posten muss, damit diese am nächsten Tag weltweit ausverkauft sind. Es ist schwer, Wilde nicht zu lieben, seine Verspieltheit, seine Neugier, seine Ironie. Leidenschaftlich forderte er dazu auf, gesellschaftliche Konventionen abzustreifen, um authentisch zu werden – aber nicht für eine verhärmte Renaturierung, sondern für eine grenzenlose Kultivierung all dessen, was ich sein kann. Und dennoch: Huldigt Wilde nicht letztlich einem Kult der Oberflächlichkeit? Hat nicht das ewige Vexierspiel der tausend Masken auch den Charakter des Davonlaufens vor der Leere, die sich dahinter auftut? In privaten Briefen Wildes deutet sich gelegentlich etwas Derartiges an: „Der Welt gegenüber erscheine ich – und das ist meine Absicht – lediglich als Dilettant und Dandy – es ist nicht klug, der Welt sein Herz zu zeigen.“
Er sollte grausam recht behalten. Als seine Liebe zu einem jungen Lord ans Licht kam, nagelte die viktorianische Gesellschaft das Pop-Chamäleon auf die Identität des amoralischen Verderbers der Jugend fest. Homosexualität galt als Verbrechen. Am Ende eines Prozesses, der ihn finanziell ruinierte, wurde er zu zwei Jahren Zuchthaus verurteilt. Seine Stücke verschwanden über Nacht von den Spielplänen, seine Bewunderer wandten sich ab. Oscar Wilde verstarb in Paris, ein verarmter und einsamer Mann. Man stelle sich vor, wie Bowie ihm hätte erzählen können, dass er lediglich seiner Zeit voraus war.
Philosophie Magazin Nr. 03 / 2016 / 55
60 / Philosophie Magazin April / Mai 2016
Georg W. Bertram
Mourad Zerhouni
Georg W. Bertram ist Professor für Philosophie mit den Schwerpunkten Ästhetik und theoretische Philosophie an der Freien Universität Berlin. Sein zentrales Forschungsinteresse gilt der Frage, wie sich das menschliche Selbst- und Weltverhältnis durch Sprache und Kunst herausbildet. Buch zum Thema: „Kunst als menschliche Praxis. Eine Ästhetik“ (Suhrkamp, 2014)
Mourad Zerhouni, Sohn deutsch-marokkanischer Eltern, kam mit schweren körperlichen Behinderungen zur Welt. Der Holländer Antoine Timmermans entdeckte die innere Kraft und Performancekunst des drahtigen, kleinen Mannes. Seither tritt Zerhouni als Dragqueen BayBJane auf und ist neben Timmermans die gefeierte Hauptfigur im Dokumentarfilm „One Zero One“ (2014)
DOSSIER
Wer ist mein wahres Selbst?
Spielen
wir immer nur
Theater?
Menschen sind Schauspieler. Durch und durch. Ihre Rollen ablegen können sie nie. Oder vielleicht doch? Der Philosoph Georg W. Bertram und die Dragqueen BayBJane alias Mourad Zerhouni über Authentizität, Anerkennung und Momente der Wahrheit Das Gespräch führte Svenja Flaßpöhler / Fotos von Malte Jäger
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ie Komische Oper im Herzen Berlins. Der Bühnenraum ist eine Pracht, roter Plüsch, barocke Üppigkeit, das Gespräch findet in einem mit großen Wandspiegeln verse henen Nebenraum statt. Der Philosoph Georg W. Bertram freut sich sichtlich über die Begegnung mit dem Künstler Mourad Zerhouni. Die Ästhetik ist ein Schwer punkt in Georg W. Bertrams Forschung. Kunst begreift er als eine spezifische Pra xis, durch die Menschen Stellung zu sich selbst beziehen. Kunst, so Bertram, ist ein Beitrag zur Subjektwerdung – und Mourad Zerhouni also die leibhaftige Konkretion dieser These? Zumindest drängt sich diese Schlussfolgerung auf, denn wahrhaft aufgeblüht ist der 1,48 Meter große Mann, als er sich eines Tages in eine Dragqueen mit überdimensionierter Schaumstoffperücke verwandelte. „Das geht ganz schnell“, sagt Zerhouni im Anschluss an das Gespräch und verschwindet in der Toilette. Heraus kommt einige Minuten später BayBJane.
Philosophie Magazin: Herr Zerhouni, Herr Bertram, haben Sie ein wahres Selbst? Mourad Zerhouni: Sicher. Ich trage ein wahres Ich in mir. Absolut. Georg W. Bertram: Erst einmal sollten wir klären: Was ist das, ein „wahres Selbst“? Wenn wir darunter verstehen, dass man weiß, was man für wichtig hält und dafür im Zweifelsfall auch einsteht, dann kann ich Ihre Frage ebenfalls bejahen. Zerhouni: Was genau meinen Sie damit? Dass ein Mensch Ideale braucht, um er selbst zu sein?
Bertram: Mir ist der interaktive Aspekt wichtiger: Das wahre Selbst ist nicht etwas, das ich einfach so für mich habe, sondern das sich wesentlich sozial ergibt, für das ich manchmal auch kämpfen muss. In anderen Situationen wiederum weiß ich vielleicht gar nicht, wofür ich eigentlich stehe, es gibt auch krisenhafte Momente. Doch genau dann zeigt sich, dass ein wahres Selbst ohne eine Auseinandersetzung mit dem anderen nicht zu haben ist. Zerhouni: Also, ich trage mein wahres Ich mit mir herum wie meinen Arm: Es ist den ganzen Tag bei mir, ich arbeite mit ihm, ohne groß darüber nachzudenken. Aber natürlich hat sich dieses
Ich entwickelt: Was jemand in seinem Leben mit sich „herumträgt“, hat ganz viel mit seiner Kindheit zu tun. Was hat ein Mensch als Kind bekommen? Was nicht? Ich war sehr oft im Krankenhaus, als ich klein war, meine Eltern konnten höchstens am Wochenende oder abends kurz da sein. Bertram: Wir entwickeln unser Ich in Reaktion auf Erfahrungen, die wir machen, auch negative Erfahrungen. Wenn ich keine Reaktion von anderen habe, kann ich stehen, wofür auch immer ich will: Das Ich bleibt leer. Das heißt aber natürlich nicht, dass ich durch die anderen einfach nur manipuliert werde oder mich zwangsläufig >>> Philosophie Magazin Nr. 03 / 2016 / 61
Ideen
Das Gespräch
Élisabeth Badinter
Élisabeth Badinter ist Feministin und bedingungslose Anwältin einer strikten Trennung von Kirche und Staat. Nach den jüngsten Attentaten in Paris und der Rückkehr des Fanatismus appelliert sie mit Nachdruck an die Kraft der Vernunft Das Gespräch führte Martin Legros / Fotos von Serge Picard
Élisabeth
Badinter
Fotos: Serge Picard/Agence VU/laif
»Die Linke hat ihre Seele verloren«
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on Élisabeth Badinters Büro hat man ei nen freien Blick über die Dächer von Paris und auf den Jardin du Luxembourg. Eine Wendeltreppe führt hinauf. Die Wände sind fast vollständig hinter Büchern und Fotos verschwunden. Ihr Buch „Die Mutterliebe“ ( 1980 ), das den Begriff des Mutterinstinkts infrage stellt, sorgte auch in Deutschland für eine heftige Debatte. Die politische Denkerin bezieht immer wieder Stellung: zum Thema Kopftuch, Gleichberechtigung oder Leihmutterschaft und auch zu den Terroranschlägen in Paris. Angesichts der jüngsten Ereignisse fürchtet sie, dass Fanatismus und Paral-
68 / Philosophie Magazin April / Mai 2016
lelgesellschaften wiederkehren. Gleichzeitig bedauert die Philosophin, dass die französischen Intellektuellen nicht neugieriger sind auf die große Umstrukturierung der Welt, in der wir leben. In ihrer aktuellen Arbeit untersucht Élisabeth Badinter die weibliche Seite der Macht. Wie? Im Rahmen einer Biografie über Maria Theresia von Österreich recherchiert sie in den Archiven der europäischen Hauptstädte. „Ich nehme Ernst Kantorowiczs Hypothese über die zwei Körper des Königs auf. Und ich zeige, dass die absolute Macht einer Frau sehr viel größer ist als die eines männlichen Souveräns. Der Körper einer Frau ist eine einzigartige Quelle von Fruchtbarkeit und Macht.“ Ob sie damit auch Angela Merkel meint?
76 / Philosophie Magazin April / Mai 2016
Illustration: Emmanuel Polanco, Bildvorlage: akg-images
Ideen
Der Klassiker
Machiavelli und der
KRIEG Ist er das Ende
oder vielmehr der Anfang aller Dinge? Und wirklich in jedem Fall ein vermeidbares Übel? Niccolò Machiavellis Werk über die „Kunst des Krieges“ widmet sich Themen von trauriger Aktualität: Berufsarmee oder allgemeine Wehrpflicht? Welche Bedeutung kommt der Religion und einer starken Führergestalt für den Kampfeswillen zu? Ist die Qualität der Waffen entscheidend oder die Ausbildung der Soldaten? Fragen, die seit Menschengedenken über Leben und Tod, über die Zerstörung alter oder die Schaffung neuer Staaten entscheiden. Bis in unsere heutige Zeit, ja unseren eigenen Kontinent hinein. Zwar mögen Machiavellis Antworten nicht immer unsere moralische Zustimmung verdienen. Sehr wohl aber unser politisches Interesse.
Philosophie Magazin Nr. 03 / 2016 / 77
Die zentralen philosophischen Texte Exklusiv ausgewählt vom »philosophie Magazin« und ergänzt um die besten Beiträge aus den Klassiker-Dossiers mit • einer Zeitleiste zu Leben und historischem Kontext • Erläuterungen der Grundbegriffe des jeweiligen Werks
ISBN 978-3-596-03554-0
ISBN 978-3-596-03558-8
• Beiträgen von Julian Nida-Rümelin, Moritz Rinke und Hilal Sezgin, Otfried Höffe u.a.
NEU!
Alle 6 Bücher ab 10. März im Handel
ISB N 978-3-596-03556-4
• einer sachkundigen Einführung in Werk und Vita
www.fischerverlage.de | www.philomag.de
ISBN 978-3-596-03555-7
ISBN 978-3-596-03557-1
ISBN 978-3-596-03559-5
Jedes Taschenbuch, € (D) 9,99, € (A) 10,30, Auch als E-Book erhältlich