Philosophie Magazin Nr. 1 / 2017

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Nr. 01 / 2017

Dezember/Januar

Die Familie: Zuflucht oder

MAGAZIN

Zumutung?

EIN JAHR NACH KÖLN: Warum kippen Stimmungen? Anton Amo: Der afrikanische Philosoph der Aufklärung

und die Angst

Nr. 31

Sammelbeilage

Vorwort und Überlick / Andreas Kubik

„Von der Freiheit eines Christenmenschen“ (Auszüge) 1 / Martin Luther und die Angst

Luther und die Angst Von Thea Dorn

0 1 4 192451 806907

Martin

Luther

D: 6,90 €; Ö: 7,- €; CH: 12,50 SF; Benelux: 7,40 €

MICHAEL TOMASELLO: „Nur Menschen teilen ihre Welt“


Denker in diesem Heft

Schüler- und Studentenabo Zum Vorteilspreis von 26€ statt 41,40€

S. 78

S. 60

S. 68

Thea Dorn

Jana Hensel

Michael Tomasello

Die erfolgreiche Schriftstellerin, studierte Philosophin und TVModeratorin bezeichnet sich selbst als Agnostikerin. Im einlei­ tenden Essay unseres Klassiker­ dossiers über „Martin Luther und die Angst“ erläutert sie Licht­ und Schattenseiten der von Luther be­ haupteten Freiheit des Christen­ menschen. Ihr neuer Roman „Die Unglückseligen“ (Knaus, 2016) handelt von der Unsterblichkeit im Zeitalter der Biomedizin.

Schlagartig bekannt wurde die Journalistin mit ihrem Debüt „Zonenkinder“ (Rowohlt, 2002). In „Neue deutsche Mädchen“ (Rowohlt, 2008) definiert sie (gemeinsam mit E. Raether) die Herausforderungen eines mo­ dernen Feminismus. Im Dossier diskutiert Jana Hensel mit dem Kulturwissenschaftler Andreas Bernard über neue Familienord­ nungen und die befreiende Wir­ kung des Patchworkkonzepts.

Sein Konzept der „geteilten Intentionalität“ gilt als einer der wichtigsten Beiträge zur MenschTier-Differenz. Der Anthropolo­ ge und Verhaltensforscher ist Co­Direktor am Leipziger Max­ Planck­Institut für evolutionäre Anthropologie. Im Gespräch er­ klärt er, warum der Mensch Sprache und Moral ausbildet. Sein jüngstes Buch: „Eine Natur­ geschichte der menschlichen Moral“ (Suhrkamp, 2016).

S. 50

S. 26

S. 1-100

Dirk Baecker

Heinz Bude

Svenja Flaßpöhler

„Der Widerspruch hält die Familie lebendig“, behauptet Dirk Baecker. Der Soziologe und Professor für Kulturtheorie und Management an der Universität Witten/Herdecke erläutert im Interview die paradoxale Stel­ lung der Familie in der moder­ nen Gesellschaft. Mit seiner Auf­ satzsammlung „Wozu Theorie?“ (Suhrkamp, 2016) legte Baecker zuletzt eine Einführung in die Systemtheorie vor.

„Das Gefühl der Welt. Über die Macht von Stimmungen“ (Hanser, 2016): So heißt das jüngste Buch des bekannten Soziologen. Heinz Bude ist Professor für Ma­ krosoziologie an der Universität Kassel. Ein Jahr nach „Köln“ streitet er mit dem Tübinger Me­ dienwissenschaftler Bernhard Pörksen über das Phänomen der individuellen wie kollektiven Stimmung und die Frage, wie Stimmungen „kippen“ können.

Sie war vom ersten Tag an dabei! Als stellvertretende Chefredak­ teurin prägte Svenja Flaßpöhler das Philosophie Magazin fünf Jahre lang mit. Sie schrieb und fragte, entwarf und widersprach. Nun verlässt sie das Magazin auf eigenen Wunsch. Im Dezember wird die promovierte Philosophin eine Stelle als Leitende Redakteu­ rin beim Deutschlandradio Kul­ tur antreten. Danke für die wun­ derbare Zusammenarbeit!

6 Ausgaben pro Jahr / Jederzeit kündbar

+ Geschenk: Set mit Haftnotizzetteln ÜBER

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+ 49 (0)40 / 38 66 66 309 >>> online auf

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S. 19 im Heft

Die nächste Ausgabe erscheint am 05. Januar 2017

Fotos: Peter Rigaud; Jan von Holleben; Jussi Puikkonen; privat; Christian Thiel/OSTKREUZ; Johanna Ruebel

(nach dem ersten Jahr)


Intro

Horizonte

Dossier

Ideen

S. 3 Editorial S. 6 Ihre Frage S. 7 Kinder fragen Tomi Ungerer S. 8 Leserbriefe

S. 26 Dialog Was lässt Stimmungen kippen? Heinz Bude und Bernhard Pörksen S. 32 Historie Amo. Der afrikanische Philosoph der Aufklärung

Die Familie – Zuflucht oder Zumutung?

S. 68 Das Gespräch Michael Tomasello S. 74 Werkzeugkasten Lösungswege / Gedanken von anderswo / Die Kunst, recht zu behalten S. 76 Der Klassiker Martin Luther und die Angst Von Thea Dorn + Sammelbeilage: „Von der Freiheit eines Christenmenschen“ Mit Andreas Kubik

Fotos: Julie Blackmon; Fotomontage, Bildvorlage: Getty Images/Corbis/C. J. Burton; picture-alliance (5); Getty Images/The Washington Post; Dieter Telemans/Panos Pictures; Daniel Rosenthal/lauf; ZDF neo; Illustration: Mathieu Poupon: Foto: Marco Zanoni/Lunax

Zeitgeist S. 10 Sinnbild S. 12 Denkanstöße S. 14 Resonanzen Problem Reichsbürger: Ein Therapievorschlag / Horrorclowns: Die Rückkehr in den Naturzustand? / Friedens­ abkommen: Kolumbiens Chaos S. 20 Prêt-à-penser Die Kolumne von Barbara Vinken Diesmal: Die Krise des Kompliments S. 22 Erzählende Zahlen Kolumne von Sven Ortoli

S. 46

S. 42 Das Karenina-Paradox Von Wolfram Eilenberger S. 46 Der Familienrat Historisches Pro & Contra S. 50 „Die Familie trägt die Selbstauflösung in sich“ Interview mit Dirk Baecker S. 52 Ohne euch Fünf Testimonials. Mit Kommentaren von Svenja Flaßpöhler S. 58 „Ich schulde euch gar nichts!“ Von Barbara Bleisch S. 60 Lässt sich Familie neu erfinden? Jana Hensel und Andreas Bernard im Dialog

Bücher S. 82 Buch des Monats Die Schwester S. 84 Dichter und Wahrheit Christian Kracht S. 86 Scobel.Mag S. 88 Die Philosophie-MagazinBestenliste S. 90 Fiktion zum Fest: Weihnachtstipps aus der Redaktion

Finale

S. 32

S. 26

S. 92 Agenda S. 94 Comic S. 95 Spiele S. 96 Lebenszeichen Von Tieren lernen: Das Känguru / Das Gare ist das Wahre / Impressum S. 98 Sokrates fragt Daniel Brühl

S. 67

Philosophie Magazin Nr. 01 / 2017 / 5



Horizonte

Dialog

Fotomontage, Bildvorlage: Getty Images/Corbis/C. J. Burton; picture-alliance (5); Getty Images/The Washington Post; Dieter Telemans/Panos Pictures; Daniel Rosenthal/lauf; ZDF neo

Heinz Bude / Bernhard Pörksen

Was lässt Stimmungen kippen? Vor einem Jahr sorgte „Köln“ für einen republikweiten Stimmungsumschwung. Anlass genug, genauer hinzusehen: Wie wird der Mensch, wodurch ein Volk gestimmt? Oder sind wir es selbst, die unsere Stimmung bestimmen? Der Soziologe Heinz Bude streitet mit dem Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen Das Gespräch führte Svenja Flaßpöhler

D

as Foyer der Kölner Stadtbibliothek. Die phil.cologne hat zu diesem Abend geladen, der Saal ist voll, die Stimmung: gespannt. Anlass für die Veranstaltung ist immerhin ein Ereignis, das ganz in der Nähe stattfand und auch weltoffene Bürger nachhaltig irritierte. „Köln“ ließ die Stimmung „kippen“ – darin waren sich die Medien nach der Silvesternacht 2015/2016 einig. In

Philosophie Magazin: Stimmt es, dass in der Kölner Silvesternacht die Stim­ mung gegenüber Flüchtlingen „kippte“ – und wenn ja, wie kam es zu dieser Kipp­ bewegung? Heinz Bude: Für viele war diese Sil­ vesternacht die Gelegenheit, innerlich eine Korrektur an der Idee des konzep­ tionellen Flüchtlings vorzunehmen. Der konzeptionelle Flüchtling ist der Flüchtling, von dem man annimmt, er wolle nichts anderes als sein Leben ret­ ten, wolle nichts anderes als seine Fami­ lie in Sicherheit bringen und er wolle in Ruhe sein Glück in unserer Gesellschaft finden. Aber um es mit Brecht zu sagen:

seinem jüngsten Buch „Das Gefühl der Welt“ seziert der Soziologe Heinz Bude präzis das Phänomen der Stimmung und behauptet mit Heidegger: Stimmungen stimmen den Menschen. Sie sind das Unverfügbare schlechthin. Für Bernhard Pörksen hingegen sind Stimmungen gezielt herstellbar – auch durch Skandale, deren Dynamik der Medienwissenschaftler in seinem Buch „Der entfesselte Skandal“ nachspürt. Der Streit um die Stimmung, er kann beginnen.

Der Flüchtling ist deshalb so interes­ sant, weil er auch schlechte Nachrich­ ten bringt. Genau das hat Köln gezeigt. Bernhard Pörksen: Das Beispiel Köln verdeutlicht, dass Stimmungen kippen, wenn Menschen das Gefühl haben, mit ihren Sorgen und Ängsten, ihren Wahr­ nehmungen und Ideologien – ganz gleich, ob mir die selbst irrational und übertrieben erscheinen – nicht durchzu­ dringen. Man konnte unmittelbar nach Köln eine Sofortdeutung des Ereignisses beobachten, eine massive Instrumenta­ lisierung der furchtbaren Attacken auf Frauen für das eigene Weltbild: In rech­ ten Blogs war unmittelbar von Massen­ >>> Philosophie Magazin Nr. 01 / 2017 / 27


Horizonte

Historie

32 / Philosophie Magazin Dezember 2016 / Januar 2017


AMO A

DER AFRIKANISCHE PHILOSOPH DER AUFKLÄRUNG Kennen Sie Anton Wilhelm Amo? Vermutlich nicht, dabei ist sein Lebensweg ebenso einzigartig wie bemerkenswert. Seiner Heimat am Ufer des Golfes von Guinea im 18. Jahrhundert entrissen und einem deutschen Fürsten „geschenkt“, wird er als erster Schwarzer an einer europäischen Universität Doktor der Philosophie. Ein Lebensweg jenseits der Norm, der vielen Vereinnah mungen Tür und Tor öffnet, aber auch ein Denken freilegt, das es wiederzuentdecken gilt Von Martin Duru / Illustrationen von Mathieu Poupon

m Anfang stand der denkbar größte Zufall. Eine dem Magazin nahestehende Phi­ losophieprofessorin war gerade dabei, ein Hilfspro­ gramm für Schulabbrecher zu initiieren. Bevor sie ihren ersten Workshop ins Leben rief, wurde sie von einer Kollegin gebrieft. Die Jugendlichen stellen oft Fragen, die unsere Political Correctness vor Heraus­ forderungen stellen, darunter immer wieder: „Ist die Philosophie nicht eine Erfindung und ein Diskurs von Weißen? Gab es in der Geschichte schwarze, afrikani­ sche Philosophen?“ Laut dieser Kollegin konnte ein Name genannt werden – der von Anton Wilhelm Amo, Denker der Aufklärung. Die Reaktion der Professorin? Dieselbe wie unsere. Amo? Nie gehört. Auch in gängi­ gen Lexika und Werken zur Philosophiegeschichte: nichts. Kein Amo, nirgendwo. Schließlich googelt man den Namen. Und erst da entdeckt man, dass die ihm gewidmete Seite auf Wikipedia recht umfangreich ist. Dass es ganze Werke, Artikel und gar Webblogs von Amo-Spezialisten gibt. Kurzum, dass Amo ein extrem berühmter Unbekannter ist. Worin seine Besonderheit besteht? „Er ist“, heißt es auf der französischen, ver­ gleichsweise ausführlichen Wikipediaseite, „zweifel­ los die erste Person aus dem subsaharischen Afrika, die an einer europäischen Universität studierte, und der erste Afrikaner, der einen Doktortitel einer euro­ päischen Universität erhielt.“ Ein afrikanischer Phi­ losoph der Auf klärung! Sofort ist man von dieser >>> Geschichte gefesselt. Philosophie Magazin Nr. 01 / 2017 / 33



DOSSIER

Die

Familie –

Zuflucht oder Zumutung?

Foto: Vincent Besnault/Getty Images

S

ie ist ein Refugium. Ein wärmender Schutzraum, ja Bollwerk in Zeiten des Leistungsdrucks. Ein Ort der Identitätsfindung und Selbstvergewisserung, des Rückzugs und der Geborgenheit. Doch die Familie, das ist auch: Enge. Unfreiheit. Ein Nährboden für Neurosen, Traumata und tiefe Verletzungen. Gerade jetzt, in der Vorweihnachtszeit, reißt der innere Konflikt wieder auf. Einerseits verdanken wir der Familie so viel, nicht zuletzt unsere Existenz. Gleichzeitig ist sie kaum zu ertragen. Aber warum? Weshalb scheitern so viele Familien? Ist die Ursache individueller oder doch eher struktureller Art? Kommt die Familie als Konzept in der Moderne an ihre Grenzen? Brauchen wir neue Modelle, die weniger auf Verwandtschaft als vielmehr auf Zusammenhalt beruhen? Wäre gerade die Integration Dritter der Weg, um die Familie neu zu stabilisieren? Und was schulden wir eigentlich unseren Eltern? Womöglich – gar nichts?

Philosophie Magazin Nr. 01 / 2017 / 41


DOSSIER

Familie – Zuflucht oder Zumutung?

Der Familienrat Streit gibt es in jeder Familie. Die Frage ist nur, wie man ihn führt. Und vor allem: mit welchen Argumenten. Klassische Hilfestellungen für den nächsten Megaknatsch – von den Vätern kluger Gedanken Von Dominik Erhard und Nils Markwardt


Ist Zorn auf die eigenen Eltern normal ? Freud

Aristoteles

> 1856-1939

Ja,

natürlich darf man gegenüber seinen Eltern Zorn emp­ finden, man muss ihn nur einzuordnen wissen. Der von Sigmund Freud diagnostizierte Ödipuskomplex beschreibt zunächst sogar ein noch stärkeres Gefühl als Zorn, nämlich den unterschwelligen Wunsch, den eigenen Vater zu töten, um dessen Platz an der Seite der Mutter einzunehmen. Da dieses unbewusste Verlangen jedoch verdrängt wird, bilden sich Schuldgefühle heraus, welche sich dann wiederum in anderen Symptomen, etwa Zorn und Angst, ausdrücken

Fotos: Julie Blackmon; akg-images (2)

Die Wut auf die eigenen Eltern ist lediglich eine Äußerung urkindlicher Wünsche können. Handelt es sich beim Zorn auf die eigenen Eltern also ledig­ lich um eine Äußerung jener urkindlichen Wünsche, die sich in anderer Weise Bahn brechen? Möchte ich meinem Vater eigentlich eine Gabel in den Hals rammen, wenn mich seine lauten Schluck­ geräusche verrückt machen? Will ich meiner Mutter einfach nur näher sein, wenn mich ihre Fürsorge in den Wahnsinn treibt? Ob­ wohl es auch heute noch Analytiker gibt, die in diese Richtung den­ ken, ist es mittlerweile stark umstritten, ob die vom Gründervater der Psychoanalyse entwickelten Modelle tatsächlich plausibel sind. Zumal schon ein Blick auf Freuds eigenes Leben die Sache anders aussehen lässt. Zwischen Sigmunds Vater Jakob, einem Wollhändler, und seinem Jungen sind keine Zerwürfnisse bekannt. Anhand von Briefen und Berichten seines engsten Umfelds ist heute klar, dass Freud auch selbst stets darauf achtete, seinen sechs Kindern keine Gründe zu liefern, ihm als Vater gegenüber zornig zu sein. Obgleich sein unbändiger Arbeitswille ihn oft vom Familienleben entrückte, bildete er mit seiner Präsenz, die auch immer eine Abstinenz war, ein Gegenbild zu den großteils übergriffigen Vätern jener Zeit, die ihren Kindern durch regelmäßige Prügelattacken wirklichen Grund zum Zorn, ja zum Hass lieferten. Freud würde demnach sagen, dass die Frage, ob der Zorn auf die eigenen Eltern normal sei, pauschal nicht zu beantworten ist, sondern immer mit Blick auf die spezifi­ sche Geschichte des Individuums analysiert werden muss.

Quellen: „Totem und Tabu“, „Das Ich und das Es“

> 384-322 v. Chr.

Nein,

und wäre Aristoteles heute am Leben, müss­ te man ihn sich als einen jener topfunktionalen Väter vorstellen, die mit gepflegtem Dreitagebart und umgeschnalltem Baby den Wocheneinkauf erledigen und dabei derart vital aussehen, dass man nur neidisch staunen kann. Abends fände er stets noch Zeit für einen Anruf bei den eigenen Eltern, um ihnen zu versichern, dass die Kleine ihre Erkältung fast hinter sich hat. Eudaimonía, es ist ein gutes Leben! In philosophischer Hinsicht war Aristoteles ein großer Familienmensch. Diesen Eindruck vermittelt zumindest seine Schrift „Politik“, wo er der Familie als kleinster Einheit des gesell­ schaftlichen Zusammenlebens einen hohen Stellenwert einräumte. Immerhin leistet diese nicht nur die Kindererziehung, sondern bil­ det auch die Grundlage des politischen Gemeinwesens. Für Aristoteles zeigt sich im Haushalt, dem oikos, eine Freund­ schaft unter Ungleichen, wobei diese Ungleichheit lediglich dem Umstand geschuldet ist, dass Eltern ihre Kinder als Erweiterung ihrer selbst ansehen und somit intensiver und zeitlich früher lieben, als es umgekehrt der Fall ist. Würde man den Musterdaddy Aristo­ teles also heute fragen, ob es normal sei, dass Kinder wütend auf ihre Eltern sind, würde er vermutlich antworten: Nun, jeder ist mal sauer auf seine Mitmenschen, aber wirklich tiefen Zorn kann man gegenüber seinen Eltern nicht verspüren. Alles, was man weiß, weiß man von ihnen, und die Haltung, die man im Leben gegenüber seiner Umwelt einnimmt, erlernt man zunächst als Haltung gegenüber

Wer Vater und Mutter nicht ehrt, kann später kein guter Mensch oder Bürger werden seinen Eltern. Wer also Vater und Mutter nicht ehrt, kann später kein guter Mensch und auch kein guter Bürger sein. Für Aristoteles ist die Achtung der Altvorderen eine Voraussetzung für den mora­ lisch guten Menschen. Aus diesem Grund polemisierte er in der „Nikomachischen Ethik“, die er wahrscheinlich nach seinem Sohn Nikomachos benannte, auch gegen Platon, der zur Errichtung eines Ständestaats die Auf lösung der traditionellen Familie forderte.

Quellen: „Nikomachische Ethik“, „Politik“

>>>

Philosophie Magazin Nr. 01 / 2017 / 47


DOSSIER

Familie – Zuflucht oder Zumutung?

Lässt sich Familie neu erfinden? Die Familie befindet sich im Umbruch. Reproduktionsmedizin und Patchwork öffnen sie für Dritte. Die Feministin Jana Hensel und der Kulturwissenschaftler Andreas Bernard über Enge, Abkühlung und die Entdeckung neuer, lebbarer Räume Das Gespräch führte Svenja Flaßpöhler / Fotos von Jan von Holleben

B

erlin-Kreuzberg, im Studio des Fotografen Jan von Holleben. Gebäck steht bereit, Kaffeeduft füllt den Raum. Fast familiär wirkt die Atmosphäre – womit wir direkt beim Thema wären. Lässt sich Familie auch anders denken? Offener, freier, durchlässiger? Brauchen wir eine neue Form der Großfamilie, die sich nicht mehr rein auf Verwandtschaft, sondern auf sozialen Zusammenhalt gründet? In seinem Buch „Kinder machen“ hat sich Andreas Bernard mit der Reproduktions­ medizin auseinandergesetzt und behauptet: Künstliche Befruchtung hat der Fami­ lie neues Leben eingehaucht. Jana Hensel, Journalistin, Feministin und Autorin des Buches „Neue deutsche Mädchen“, lebt seit drei Jahren in einer Patchworkfamilie. Gut gelaunt nimmt sie neben dem Kulturwissenschaftler Platz. Eines ist sofort klar: Hier treffen sich zwei, die der Veränderung offen gegenüberstehen.

60 / Philosophie Magazin Dezember 2016 / Januar 2017

Andreas Bernard Der Kulturwissenschaftler ist Professor am Center for Digital Cultures der Leuphana Universität Lübeck und schreibt außerdem für die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung. 2014 erschien sein Buch zum Thema: „Kinder machen: Neue Reproduktionstechnologien und die Ordnung der Familie“(S. Fischer)


Jana Hensel Die Journalistin erhielt 2010 den Theodor-WolffPreis und war bis 2014 Stellvertretende Chefredakteurin des Freitag. In ihrem Buch „Neue deutsche Mädchen“ (Rowohlt, 2008) formuliert die Journalistin gemeinsam mit Elisabeth Raether die Herausforderungen eines modernen Feminismus. Jana Hensel lebt als freie Autorin in Berlin

westdeutsche Frauen ist es bis heute kein Widerspruch, feministisch zu denken und finanziell abhängig vom Mann zu sein. PM: Aber gibt es jenseits der Bedin­ gungen auch Strukturelles an der Fami­ lie, das sie scheitern lässt?

Philosophie Magazin: Frau Hensel, Herr Bernard, die glückliche Familie: ein erstrebenswertes Ideal oder von vorn herein unmöglich? Andreas Bernard: Es ist grundsätz­ lich problematisch, denke ich, über einen Begriff wie Glück zu reden. Man neigt dann dazu, Glück wie eine Essenz zu be­ trachten, für die das Individuum selbst verantwortlich ist, und zum Beispiel so­ ziale und ökonomische Bedingungen auszublenden. Insofern müsste man sich eher fragen: Wie wurde unter bestimm­ ten Voraussetzungen und zu einer be­ stimmten Zeit über Familie nachgedacht? In dieser Hinsicht finde ich es übrigens immer wieder interessant, Freud zu lesen, der ja sehr bemüht war, die zeitspezifi­ schen Faktoren seiner vermeintlich über­ zeitlichen Familientheorien auszublen­ den. Im bürgerlichen Milieu des späten

19. und frühen 20. Jahrhunderts gab es Hausangestellte, die die kindlichen eroti­ schen Fantasien beflügelten, es gab viele Geschwister, es gab eine traditionelle Rol­ lenaufteilung der Geschlechter: Ohne diese soziale Realität ist die psychoanaly­ tische Problematisierung der Familie kaum denkbar. Jana Hensel: Auch der deutsche OstWest-Unterschied ist bedeutsam, alle fa­ milienpolitischen Studien weisen darauf hin. Die DDR hatte die höchste Schei­ dungsrate der Welt, weil Frauen dort fi­ nanziell unabhängig waren. Das spürt man bis heute. Das Konzept der Gleichbe­ rechtigung war ein ökonomisches. Auch wurde und wird Erziehung dort delegiert, es gibt ein hohes Vertrauen in Kitas und Krippen. Der Staat darf sich als Familie inszenieren. Aus dem Westen stammt dagegen das Ehegattensplitting, für viele

Hensel: Wir sollten den Begriff des Scheiterns nicht mehr verwenden! Fami­ lien zerbrechen, aber sie scheitern nicht. Sie dürfen, wenn es Kinder gibt, nicht scheitern, sondern müssen sich verän­ dern, sich in anderer Form neu zusam­ mensetzen. Patchwork eben. Sie müssen durchlässig sein und genau dadurch wieder an Stabilität gewinnen. Ich lebe seit drei Jahren in so einer Patchworkfa­ milie, weil ich mit dem Vater meines Kindes nicht mehr zusammen bin. Um es klar zu sagen: Niemand beendet leicht­ fertig eine Beziehung. Aber dass Männer und Frauen heute die Möglichkeit haben, sich zu trennen, halte ich für einen gro­ ßen zivilisatorischen Fortschritt. Warum sollte man mit einem Menschen den Rest seines Lebens zusammenbleiben, nur weil man mit ihm Kinder bekommen hat? Ich weiß nicht, wie viele tatsächlich funktionierende Paare es unter denjeni­ gen gibt und gegeben hat, die ihr ganzes Leben miteinander verbringen. Bernard: Jahrzehntelange Ehe ist sicher nicht gleichbedeutend mit jahr­ zehntelanger Glückseligkeit, sondern oft eher mit dem Fehlen anderer Optionen. Die Fiktion der bürgerlichen Familie war ja von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis 1968 relativ stabil. Es gab die klare genea­ logische Erwartung, sich als Familie über Generationen zu definieren, Traditionen fortzuführen. Dass eine Familie zer­ >>> Philosophie Magazin Nr. 01 / 2017 / 61


68 / Philosophie Magazin Dezember 2016 / Januar 2017


Ideen

Michael Tomasello

Das Gespräch

Primatenforscher, Sprachwissenschaftler, Philosoph: Michael Tomasello ist all das – und mehr. Der Amerikaner erklärt, warum sich der Mensch so anders verhält als jedes andere Wesen auf diesem Planeten. Ein Gespräch über asoziale Schimpansen, hilflose Kleinkinder und den Zwang zur Kooperation Das Gespräch führte Wolfram Eilenberger/ Fotos von Jussi Puikkonen

Michael

Tomasello

»Nur Menschen teilen ihre Welt«

N

ach 18 Jahren als Leiter des Max-PlanckInstituts für Evolutionäre Anthropologie in Leipzig kehrte Michael Tomasello diesen Herbst an seine Heimatuniversität in North Carolina, USA, zurück. In den vergangenen zwei Jahrzehnten schuf der Amerikaner eine Theorie, die nichts Geringeres anstrebt als die Beantwortung der Frage nach dem Ursprung des Menschen. In der Tradition des amerikanischen Pragmatismus und der deutschen Kultur­ philosophie sieht Tomasello den Menschen als ein animal symbolicum: als ein symbol- und vor allem sprachverwendendes Tier. Und legte in Studien mit Schimpansen und Kleinkindern die evolutionären Vorbedingungen unseres Sprachvermögens frei. Letztlich, so seine Überzeugung, geht alles auf die Notwendigkeit des Homo sapiens zur Kooperation zurück. „Dort den Gang entlang“ und „dann rechts“, erklärt er dem Besucher nach dem Gespräch den Weg hinaus aus dem riesigen Forschungsgebäude. Da ist sie, die Zeigegeste. So etwas können nur wir.

Philosophie Magazin: Herr Tomasello, Sie haben Ihr Leben der Erforschung einer ganz besonderen Spe­ zies gewidmet, nämlich der Spezies Mensch. Kann man das so sagen? Michael Tomasello: Ja, vor allem in Abgrenzung zu dem, was beispielsweise die meisten Psychologen tun: Sie studieren das Verhalten von Menschen. Ich hingegen studiere den Men­

schen so, wie man jede andere beliebige Spezies auf diesem Planeten auch studieren würde. Was mich interessiert, ist: Wie kommt es dazu, dass sich diese Spezies so überaus eigen­ artig und komplex verhält, wie sie es nun einmal tut.

Was sofort auffällt: Diese Spezies spricht. Die mensch­ liche Lebensform ist eine Lebensform des Sprechens. Gewiss, Sprache ist das Differenzmerkmal. Entscheidend für meinen Werdegang dabei war die frühe Auseinandersetzung mit den Arbeiten des Biologen und Entwicklungspsychologen Jean Piaget. Er studierte Kleinkinder so, als ob sie eine eigene Spezies wären. Und er argumentierte, dass diese Wesen in ihrer eigenen Welt leben, die einer ganz eigenen Logik folgt. Sie waren damals selbst gerade Vater einer kleinen Tochter geworden. Hatten solch ein „Wunder­ wesen“ also gleich bei sich zu Hause. Meine Frau und ich führten damals ein sehr detailliertes Ta­ gebuch über die Sprachentwicklung unserer Tochter. Diese Aufzeichnungen bildeten die Basis meiner Doktorarbeit. Es ging dabei vor allem darum, welche Rolle Verben, also Tätig­ keitswörter, für die geistige Entwicklung und das Weltver­ ständnis von Kindern spielen. Die Konzentration auf Tätigkeitswörter trifft gleich eine zentrale These Ihres Forschungsansatzes,

>>>

Philosophie Magazin Nr. 01 / 2017 / 69


Illustration: EloĂŻse Oddos, Bildvorlage: akg-images

76 / Philosophie Magazin Dezember 2016 / Januar 2017


Ideen

Der Klassiker

Martin

Luther und die ANGST

Sein kultureller Einfluss ist nicht zu überschätzen:

Martin Luthers Bibelübersetzung bildet den Anfang der deutschen Schrift­ sprache, seine religiösen Überzeugungen markieren den Beginn einer neuen Lebenshaltung, seine theologischen Traktate legen das Fundament einer neuen Glaubensrichtung. In der Lesart Thea Dorns hat Luther die Deutschen aber vor allem eines gelehrt: das Fürchten. Oder präziser: die Angst. In ihrem brillanten Psychogramm des großen Reformators geht die Schriftstellerin und Philosophin den Urgründen von Luthers Angst nach – und deren uns bis heute prägenden Auswirkungen. Wie das Ver­ hältnis von Angst, Freiheit und Moral nach protestantischer Lehre genau­ er zu begreifen ist, erklärt Andreas Kubik in seiner Einführung zu Luthers Schlüsselschrift „Von der Freiheit eines Christenmenschen“ im Beiheft.

Philosophie Magazin Nr. 01 / 2017 / 77


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Mythen Was sie über uns verraten

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Jahre

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Argos und die Grenzen der Überwachung

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DIE KLASSISCHEN TEXTE KOMMENTIERT VON JAN ASSMANN • BARBARA VINKEN • THOMAS MACHO MICHEL SERRES • JOSEPH VOGL • WINFRIED MENNINGHAUS MIT BEITRÄGEN VON FREUD • ILLOUZ BLUMENBERG • DERRIDA • HEGEL • CIXOUS • BLANCHOT • NIETZSCHE • BUTLER • DELEUZE ...

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