Philosophie Magazin Nr. 1 / 2018

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Nr. 01 / 2018

Dezember /Januar

MAGAZIN

Wo ist das

Kind, das ich war?

REPORTAGE Leben im Kibbuz – wie Utopien enden

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Platon und das Virtuelle

D: 6,90 €; Ö: 7,- €; CH: 12,50 SF; Benelux: 7,40 €

ORHAN PAMUK: „Für eine Ethik des Widerstands“


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Denker in diesem Heft

S. 64

S. 58

S. 34

Orhan Pamuk

Susan Neiman

Michel Serres

2005 erhielt er den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels sowie 2006 den Nobelpreis für Literatur. Der in Istanbul lebende Schriftsteller, dessen aktueller Roman „Die rothaarige Frau“ (Hanser) gerade auf Deutsch er­ schienen ist, zählt zu den bedeu­ tendsten Autoren der Gegenwart. Im Heft spricht er über seine phi­ losophischen Einflüsse und war­ um er trotz der aktuellen Entwick­ lungen stolz auf die Türkei ist.

Seit 2000 ist Susan Neiman Direktorin des Einstein Forums in Potsdam. Davor lehrte sie Philo­ sophie in Yale und Tel Aviv. In ih­ rem 2015 erschienenen Buch „Warum erwachsen werden?“ (Hanser) liefert sie ein originelles Plädoyer dafür, der Kindheit nicht nostalgisch hinterherzutrauern. Im Titeldossier spricht die dreifa­ che Mutter über die Notwendig­ keit, auch im Erwachsenenalter noch etwas vom Leben zu fordern.

Nach einer Ausbildung an der französischen Marineakademie und der École normale supérieure fuhr Michel Serres zehn Jahre zur See. Anschließend arbeitete er als Assistent von Michel Foucault und lehrte Philosophie an der Sor­ bonne sowie der Stanford Univer­ sity. Im Heft vertritt er die These, dass Roboter und Algorithmen uns keine Angst machen sollten. Sie werden nicht unsere Herren, sondern unsere Knechte sein.

S. 22

S. 50

S. 1–100

Hilal Sezgin

Meike Sophia Baader

Dominik Erhard

Weihnachtsgarantie Bei Bestelleingang bis 18.12.2017 erhalten Sie die Geschenkkarte rechtzeitig zu Weihnachten geliefert (innerhalb Deutschlands). * Prämie nur für Abonnements über 12 Monate

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Die Publizistin und Philosophin tritt für einen liberalen Islam ein. Zudem engagiert sie sich für die Rechte von Tieren und gibt ihnen auf ihrem Hof bei Lüneburg ein neues Zuhause. Dieses Jahr er­ schien ihr Buch „Nichtstun ist keine Lösung. Politische Verant­ wortung in Zeiten des Umbruchs“ (DuMont). Im Pro & Contra erläu­ tert Hilal Sezgin, warum sie für die Einführung eines islamischen Feiertags in Deutschland plädiert.

Die Philosophin und Erziehungswissenschaftlerin ist Professorin an der Universität Hildesheim. Sie forscht zur romantischen Idee der Kindheit, zum Thema Bildung und Reformpädagogik. 2005 erschien ihr Buch „Erziehung als Erlösung“ (Weinheim). Im Heft spricht Meike Sophia Baader über die Geschichte der Kindheit und den Weg, auf dem wir zum heutigen Verständ­ nis von Kindheit kamen.

Frisch von der Ludwig-Maximilians-Universität München kommend, verstärkt Dominik Erhard als Redakteur das Team des Philosophie Magazins. Im Studium be­ fasste er sich mit dem Denken Michel Foucaults sowie den philo­ sophischen Einflüssen im Werk von David Foster Wallace. Für das Titeldossier reiste er nach Öster­ reich, um mit Kindern im Alter von acht und neun Jahren die ganz großen Fragen zu diskutieren.

Die nächste Ausgabe erscheint am 04. Januar 2018

Fotos: Manuel Braun; Daniel Hofer/laif; Olivier Roller; privat; Universität Hildesheim; privat

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Intro

Horizonte

Dossier

Ideen

S. 3 Editorial S. 6 Ihre Frage S. 7 Kinder fragen Tomi Ungerer S. 8 Leserbriefe

S. 26 Reportage Kibbuz: Wie Utopien enden Von Philipp Felsch S. 34 Perspektive Die Dialektik von Herr und Roboter Von Michel Serres

Wo ist das Kind, das ich war?

S. 64 Das Gespräch Orhan Pamuk S. 70 Werkzeugkasten Lösungswege / Gedanken von anderswo / Die Kunst, recht zu behalten S. 72 Der Klassiker Platon und das Virtuelle + Sammelbeilage: „Der Staat“ (Auszüge)

Illustration: Nazario Graziano/Colagene; Bildvorlage: akg-images/De Agostini Picture Lib./G. Dagli Orti; Fotos: Scarlett Hooft Graafland; Yoram Liberman

Zeitgeist S. 10 Sinnbild S. 12 Denkanstöße S. 14 Resonanzen Europas neuer Jugendstil / Air-Berlin-Pleite / Insektensterben S. 18 Hübls Aufklärung Diesmal: Bitte nicht wörtlich nehmen Von Philipp Hübl S. 20 Erzählende Zahlen Die Kolumne von Sven Ortoli S. 22 Pro & Contra Ein islamischer Feiertag für Deutschland?

S. 72

S. 42 Zum Kinde werden? Von Wolfram Eilenberger S. 46 Erste Schnitte sind die tiefsten. Kindheitserinnerungen großer Denker S. 50 „Die Romantiker entdeckten das Kind in uns“ Interview mit Meike Sophia Baader S. 52 Im Anfang ist das Staunen Von Dominik Erhard S. 58 „Wir dürfen die Kindheit nicht verklären“ Gespräch mit Susan Neiman

Bücher S. 80 Buch des Monats Die Quellen der Identität S. 82 Thema Was in den Sternen steht S. 84 Scobel.Mag S. 86 Die PhilosophieMagazin-Bestenliste S. 88 Lichter im Dunklen Weihnachtstipps aus der Redaktion

Finale

S. 34

S. 50

S. 90 Agenda S. 93 Comic S. 95 Spiele S. 96 Lebenszeichen Von Tieren lernen: Der Igel / Das Ding an sich / Impressum S. 98 Sokrates fragt Lotte

S. 31

Philosophie Magazin Nr. 01 / 2018 / 5


Horizonte

Reportage

Die israelischen Landkommunen waren Laboratorien utopischer GesellschaftsentwĂźrfe. In der sozialistischen Basisdemokratie sollte der Neue Mensch entstehen. Inzwischen haben die meisten Kibbuzim die Privatisierung eingeleitet. VĂśllig vergessen sind die alten Ideale trotzdem nicht Von Philipp Felsch und Yael Reuveny / Fotos von Yoray Liberman

26 / Philosophie Magazin Dezember 2017 / Januar 2018


KIBBUZ:

WIE UTOPIEN ENDEN

A

m frühen Nachmittag steigt die Temperatur im Busbahnhof von Tiberias auf 36 Grad Celsius. Die jungen Soldaten und religiösen Backpacker, die den Großteil der Passagiere ausmachen, beeilen sich, aus der Sonne in den Schatten der Wartehalle zu kommen. Es ist Ende September. Wie es sich hier wohl im August anfühlt, wenn der Asphalt bei über 40 Grad Celsius in den Haltebuchten schmilzt? Für die jüdi­ schen Siedler, die kurz vor dem Ersten Weltkrieg aus Russland und der heutigen Ukraine an den See Gene­ zareth kamen, um auf den sonnenverbrannten Hän­ gen Getreide anzubauen, müssen die Hitze und die Unwirtlichkeit der Landschaft ein Schock gewesen sein. Dass es auch nur einigen von ihnen gelang, sich hier dauerhaft niederzulassen, ist umso erstaunlicher, wenn man bedenkt, dass niemand von ihnen wusste, wie das geht: Landwirtschaft. Zu Hause in Minsk oder Odessa hatten ihre Eltern vielleicht eine Kuh oder Ziege im Hinterhof gehalten. Seit Jahrhunderten schlossen die Gesetze Juden aber von der bäuerlichen Lebensweise aus. Praktisches Know-how kann für den Erfolg der Siedlungsbewe­ gung in Palästina also nicht den Ausschlag gegeben haben. Entscheidend war, dass die Aussteiger aus dem Laboratorium der Moderne, das heißt aus Russland kamen, dessen Intelligenzija um die Jahrhundertwen­ de die radikalste Europas war. Abgesehen von der wirklichkeitsverneinenden Kraft der Jugend hatten sie ein Füllhorn politischer und sozialer Utopien, da­ runter Sozialismus, Anarchismus, aber auch jede >>> Menge lebensreformerischer Ideen im Gepäck. Philosophie Magazin Nr. 01 / 2018 / 27


Horizonte

Perspektive

34 / Philosophie Magazin Dezember 2017 / Januar 2018


Die Dialektik von Herr und

Roboter Von Michel Serres

Es wird oft behauptet, Maschinen stünden kurz davor, die Herrschaft über die Menschen zu erringen­. Dabei ist das Gegenteil der Fall, wie der Philosoph Michel Serres erklärt. Für Serres sind Roboter und Algorithmen unsere neuen Knechte – und das ist auch gut so

Foto: Spencer Lowell/Trunk Archive; Autorenfoto: Olivier Roller

Von Michel Serres / Aus dem Französischen von Danilo Scholz

Michel Serres ist emeritierter Professor an der Stanford University. Er wurde 1930 im französischen Agen geboren. Heute gehört Serres zu den einflussreichsten Denkern Europas. „Hermes“ (Merve, 1991–1994), seine von der Kybernetik beeinflusste Theorie der Kommunikation, gilt als wegweisend. 2013 erschien von ihm „Erfindet euch neu! Eine Liebeserklärung an die vernetzte Generation“ (Suhrkamp)

S

o wie Sokrates einst gegen das Schrifttum wetterte, löst heute der digitale Wandel bei vielen Menschen Sorge und Unmut aus. Nichts ist bes­ ser geeignet, diese rückwärtsgewandte Haltung zu überwinden, als ein Werk, das zwei besonnene Kenner der Materie veröffentlicht haben: Serge Abiteboul, ein Informatiker, und Gilles Dowek, ein auf Informatik spezialisierter Philo­ soph. Mit „Le temps des algorithmes“ haben die beiden einen bemerkenswer­ ten Essay vorgelegt, der Licht auf eine wichtige, doch häufig fehlgedeutete Triebkraft dieser Entwicklung wirft: den Algorithmus.

Es ist ratsam, das Thema locker anzuge­ hen. Zum Beispiel so: Das Rezept für Apfelkuchen ist eine Art Algorithmus. Soll der Kuchen gelingen, muss man sich bei jedem Schritt an die Anweisun­ gen des Rezepts halten und auf keinen Fall – und ich meine wirklich in gar kei­ nem Fall – davon abweichen. Das Ba­ cken gehorcht eigenen Regeln; im Ge­ gensatz zu anderen Arten des Kochens haben die Improvisation, das Ungefähre und die Abweichung hier nichts verlo­ ren. Der Algorithmus des Rezepts sagt, wo es langgeht. Heißt das, dass wir ihm deshalb sklavisch folgen? Ja und nein. Ja, falls es uns darum geht, etwas Köst­ liches zuzubereiten. Nein, denn nie­ mand zwingt uns, zu irgendeinem Zeit­ >>> Philosophie Magazin Nr. 01 / 2018 / 35


DOSSIER

Wo ist das Kind,

das ich war?

40 / Philosophie Magazin Dezember 2017 / Januar 2018

Foto: Joe Baran

E

ine unheimliche Erfahrung. Dieser Mensch auf dem Foto, der mit Zahnlücke in die Kamera lächelt, das soll einmal ich gewesen sein? Mit allen seinen überschüssigen Träumen, Ambitionen, Fragen und Plänen? Fast unmöglich, ein geklärtes Verhältnis zu den eigenen Anfängen zu finden. Jenseits von Nostalgie und romantischer Verklärung. Aber auch frei von der Illusion, die biografische Vergangenheit ganz hinter sich lassen zu können. Während die einen die Infantilisierung der Gesellschaft beklagen, fordern andere eine heilende Rückkehr zum inneren Kind. Ist der Weg ins Erwachsenenleben notwendig der einer Desillusion und Selbstentfremdung? Und was könnte das überhaupt heißen: erwachsen sein? Ein Dossier über eine Frage, die sich jeder stellen muss


Philosophie Magazin Nr. 01 / 2018 / 41


DOSSIER

Wo ist das Kind, das ich war?

Erste Schnitte sind die tiefsten Gerade die ersten Erfahrungen können das Leben und Denken eines Menschen prägen. Das gilt auch für die Philosophie. Große Geister über beglückende und traumatische Kindheitserlebnisse, die tiefe Spuren in ihrem Werk hinterlassen haben

Zusammengestellt von Marie Denieuil, Martin Duru, Samuel Lacroix und Dominik Erhard


Augustinus (354–430) DER BIRNENDIEBSTAHL

Michel de Montaigne (1533–1592) DER LYNCHMORD EINES ADELIGEN

Was er als Kind entdeckte:

Die zerstörerische Kraft der Gewalt

In den „Bekenntnissen“ erinnert sich der Kirchenvater an seine tur­ bulente Jugendzeit und ein nächtliches Abenteuer, auf das er im Nachhinein alles andere als stolz ist: Mit einem Freund stahl er Birnen vom benachbarten Grundstück. In der nachträglichen Reflexion stellt er fest, dies nur aufgrund des Vergnügens am Unerlaubten getan zu haben. Das Böse, so folgert er, ist das Produkt eines ent­ gleisenden Willens, der sich von Gott abwendet.

Es ist eine schreckliche Szene, die der Verfasser der „Essais“ im Alter von 15 Jahren miterleben musste: Vor seinen Augen wurde der Baron Tristan de Moneins von einem wütenden Mob grausam hingerichtet. Die Lehre, die der Philosoph aus diesem Massaker zieht: Man muss in der Lage sein, die Sympathie seiner Mitmen­ schen zu gewinnen, ebenso sollte man sie jedoch auch das Fürch­ ten lehren können.

E

Fotos: plainpicture/Anne Matzen; akg-images/Rabatti & Domingie; akg-images; Illustrationen: Bettina Keim

Was er als Kind entdeckte:

Der Mensch ist verantwortlich für das Böse

in Birnbaum stand in der Nähe unseres Weinbergs, voll von Früchten, die weder durch Aussehen noch Ge„ schmack anzulocken vermochten. Bis tief in die Nacht hatten wir jungen Nichtsnutze nach übler Gewohnheit unser Spiel auf unseren Tummelplätzen ausgedehnt, machten uns nun daran, den Baum zu schütteln und zu plündern, und schleppten riesige Men­ gen von Früchten fort, nicht etwa, um sie selbst zu verspeisen, sondern um sie vielmehr den Schweinen vorzuwerfen; selbst wenn wir ein wenig davon aßen, dann doch nur aus Gefallen am Unerlaubten. Sieh mein Herz, mein Gott, sieh mein Herz, dem du im tiefsten Abgrund deine Barmherzigkeit erwiesen hast! Sieh, nun soll dieses mein Herz dir sagen, worauf es damals aus war, mir den Freibrief des Übeltäters zu erteilen, ohne daß es für meine Bosheit einen Grund gab, ausge­ nommen die Bosheit selbst. Sie war widerwärtig, ich aber liebte sie; ich liebte mein Verderben, liebte meinen Fehl, nicht etwa den Gegen­ stand meines Fehls, sondern meinen Fehl als solchen liebte ich: eine nichtswürdige Seele, die sich von deinem festen Grund losreißt und in die eigene Vernichtung stürzt, indem sie nicht etwa durch schänd­ liches Tun auf etwas aus ist, sondern auf das schändliche Tun selbst. (…) Was also habe ich an jenem Diebstahl geliebt, und worin habe ich, freilich verworfen und verkehrt, meinen Herrn nachge­ ahmt? War es etwa die Lust, wenigstens durch Betrug gegen das Gesetz zu handeln, da ich aus wirklichem Vermögen dazu nicht fähig war, um mir so als Sklave eine verstümmelte Freiheit vorzutäuschen, in­ dem ich Unerlaubtes ungestraft tat in schattenhafter Ähnlichkeit mit der Allmacht? (…) Hat das Unerlaubte, nur weil es unerlaubt war, diese Lust wecken können?“

Quelle: „Bekenntnisse“ (Reclam, 2008)

I

ch erlebte in meiner Jugend einen Mann, der sich als Befehlshaber einer großen Stadt dem plötzlichen Aufruhr „ einer wutentbrannten Bevölkerung gegenübersah. Um die Rebellion im Keim zu ersticken, beschloss er, den völlig sicheren Ort, an dem er sich befand, zu verlassen und sich unter die Meute der Meuterer zu begeben – was ihm schlecht bekam, denn er wurde auf jämmerliche Weise ermordet. Mir scheint sein Fehler nun weniger darin bestanden zu haben, dass er sich überhaupt hervorwagte – wie man es ihm gewöhnlich heute noch vorwirft –, als vielmehr darin, dass er dann einen Weg der Nachgiebigkeit, ja Unterwerfung ein­ schlug und die Volkswut mehr durch Folgen als Führen besänftigen wollte, mehr durch Flehen als Ermahnen; und ich bin der Meinung, dass gelassene Strenge, verbunden mit einem Selbstsicherheit und Vertrauen ausstrahlenden, seinem Rang und der Würde seines Am­ tes entsprechenden militärischen Befehlston, für ihn erfolgreicher gewesen wäre, wenigstens aber ehrenvoller und standesgemäßer. Nichts ist von einem derart rasenden Monster weniger zu erwarten als Menschlichkeit und Milde; viel eher lässt es sich bändigen, indem man ihm Furcht und Ehrfurcht einflößt. Außerdem würde ich die­ sem Mann vorhalten, dass er, wenn er schon den (meines Erachtens mehr wackeren als waghalsigen) Entschluss fasste, sich unbewaffnet, nur im Wams mitten in diese tobende See von Wahnsinnigen zu stürzen, auch bis zum Ende hätte durchhalten müssen und seine Rolle nicht aufgeben dürfen.“

Quelle: „Essais“ (Die Andere Bibliothek, 2016)

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Philosophie Magazin Nr. 01 / 2018 / 47


DOSSIER

Wo ist das Kind, das ich war?

„Die Romantiker entdeckten

das Kind in uns“ Schon wegen der hohen Kindersterblichkeit traten Eltern ihrem Nachwuchs in der Frühen Neuzeit deutlich distanzierter gegenüber. Unser heutiger Blick auf Kinder geht auf die Romantik zurück Das Gespräch führte Philipp Felsch Frau Baader, woher kommt eigentlich die Idee, Kinder wären die bessere Version von uns? Meike Sophia Baader: Das ist das Erbe der europäischen Romantik. In der Aufklärungspädagogik, bei John Locke etwa, wird das Kind als Tabula rasa aufgefasst, die die Gesellschaft nahezu nach Belieben durch ihre Erzie­ hung prägen kann. Ziel war der erwachsene, mündige Bürger. Von dieser Auffassung setzt sich die Romantik als Gegenbewegung ab. Die Romantiker entdecken die Kindheit als Zustand eigenen Rechts, der nicht per se auf das Ziel des Erwachsenwerdens ausgerichtet ist. Für den romantischen Dichter Ludwig Tieck stellen Kinder die „schönste Menschheit“ dar; Friedrich Schiller idea­ lisiert sie wenig später als „unverstümmelte Natur“. Im Hintergrund steht eine organische Vorstellung: Genau wie bei den Pf lanzen ist auch bei den Kindern schon alles angelegt und wird sich von selbst entwickeln – wenn man ihnen den Raum dafür gibt. Das ist ein Ge­ danke, der auf Rousseau zurückgeht.

den Deformationen der menschlichen Zivilisation. Dabei schwingt unüberhörbare Kritik an der moder­ nen Gesellschaft mit.

Repräsentieren Kinder für die Romantiker die unverdorbene Natur, die vor den Deformatio­ nen der Kultur geschützt werden muss? Das haben sie unter Bezugnahme auf Rousseau mit der Figur des „edlen Wilden“ gemein. Ganz analog lässt Goethe seinen Werther über die Kinder von Lot­ te ausrufen: „Alles so unverdorben, so ganz!“ Hier bezieht er sich seinerseits auf eine lange christliche Tradition, die an Matthäus 18,3 anknüpft: „Wenn ihr nicht umkehrt und werdet wie die Kinder, so werdet ihr nicht ins Himmelreich kommen.“ Aber erst die Romantiker machen Kinder zu einer Projektionsf lä­ che für Ganzheit, Reinheit und Unversehrtheit von

Wie muss man sich das vorstellen? Warum wurden Kinder erst in dieser Zeit als Kinder wahrgenommen? Das hat viel mit der Institutionalisierung von Schule zu tun. 1794 ist im Preußischen Allgemeinen Landrecht das erste Mal davon die Rede, dass alle Kinder schulpflichtig sind. Der Prozess, das flächendeckend und klassenüber­ greifend – zumindest für die ersten vier Schuljahre – durchzusetzen, zieht sich allerdings bis ins 20. Jahrhun­ dert. Entscheidend ist, dass die Schulpf licht eine Trennung von kindlicher und erwachsener Lebenswelt mit sich bringt. Während die Erwachsenen arbeiten oder den Haushalt führen, gehen die Kinder in die Schule.

50 / Philosophie Magazin Dezember 2017 / Januar 2018

Lassen Sie uns einen Schritt zurückgehen. Hat sich unsere Vorstellung von Kindheit nicht überhaupt historisch verändert? In Deutschland ist man, rechtlich gesehen, bis zum Al­ ter von 14 Jahren ein Kind. Die UN-Kinderrechtskonven­ tion setzt diese Zäsur dagegen erst mit 18 an. Wenn Sie jedoch ins Mittelalter zurückgehen, stellen Sie fest, dass hier die Grenze zwischen Kindern und Erwachsenen im Schnitt bei sieben Jahren verlief. Ab sieben wurden die Kinder aus Bauern- oder Handwerkerfamilien in andere Haushalte geschickt, um dort zu arbeiten – wie kleine Erwachsene. Kindheit im Sinne einer kategorial unter­ schiedenen Lebensphase war damals wesentlich weni­ ger deutlich ausgeprägt. Diese Auffassung setzt sich erst allmählich im Lauf der Frühen Neuzeit durch.

Meike Sophia Baader Die Professorin für Er­ziehungs­ wissenschaft lehrt an der Universität Hildesheim. Sie forscht u. a. zur romantischen Idee der Kindheit und zur Re­ for­mpädagogik. 2005 erschien von ihr „Erziehung als Erlö­ sung“ (Weinheim)


Kommen wir zu den Romantikern zurück. Manche von ihnen gingen sogar so weit, aus der Kindheit des Individuums die Utopie einer besseren Gesellschaft abzuleiten. Was halten Sie davon? Kindheit als utopischer Ort – das ist ein Motiv, das zu­ letzt Ernst Bloch aufgegriffen hat. Wie er in seinem Buch „Das Prinzip Hoffnung“ schreibt, scheint in der Erinnerung an die Kindheit etwas auf, wonach wir uns alle sehnen, wohin wir nicht zurückfinden können – wovon wir aber trotzdem eine Ahnung haben. Ohne diesen Erfahrungshintergrund wären wir überhaupt nicht in der Lage, auch gegen alle Wahrscheinlichkeit an die Möglichkeit einer besseren Zukunft zu glauben. Das ist insofern politisch bedenklich, als wir heute wis­ sen, welche Gefahren von utopischen Gesellschaftsent­ würfen ausgehen.

Foto: Scarlett Hooft Graafland; Autorenfoto: Julia Moras/Universität Hildesheim

Durch die Trennung von Wohn-, Schlaf- und Kinderzim­ mern dringt diese Unterscheidung sukzessive auch in die Privatsphäre der bürgerlichen Familie ein.

Inwiefern ist unsere Einstellung zur Kindheit an diesen Familientyp geknüpft? Die bürgerliche Familie – oder Kernfamilie, wie wir sa­ gen – lässt sich von älteren, seien es adelige, seien es bäuerliche Familien, unter anderem dadurch unter­ scheiden, wer alles nicht dazugehört: Die Bediensteten, Mägde und Knechte, aber auch die Großeltern scheiden aus. Die bürgerliche Familie wird aus dem Nukleus von Eltern und Kindern gebildet. Erst in dieser Konstellation kann sich die Rolle der Mutter als Fürsorgende heraus­ bilden, die für die Betreuung und Erziehung ihrer Kin­ der da ist. Das Kind rückt zunehmend ins Zentrum der familiären Aufmerksamkeit, während die Beziehungen sowohl der Eltern untereinander als auch zu ihren Kin­ dern immer gefühlsbetonter werden. Traten Eltern ihren Kindern denn früher gefühllos gegenüber? Sie wären erschrocken, wenn Sie sich manche Zeugnisse über den Kindstod aus der Frühen Neuzeit ansehen wür­ den. Ein Kind zu verlieren, ist für Eltern heute der schlimmste Schicksalsschlag. Bis ins 17. Jahrhundert war dieses Schicksal wesentlich verbreiteter und alltäg­ licher, während der Umgang mit Kindern insgesamt deutlich nüchterner war. Enge und innige Beziehungen zu den Kindern aufzubauen, wäre für Eltern auch emo­ tional viel zu riskant gewesen – denn die Hälfte der Kin­ der starb ohnehin. Unsere Kinderliebe hat also auch viel mit den Fortschritten der Hygiene und Medizin zu tun.

Das „Prinzip Hoffnung“ war für die 68er wichtig. Sind in den 1970er-Jahren romanti­ sche Kindheitsutopien wieder aufgelebt? Ähnlich wie die Romantiker glaubten die 68er, Kinder trügen den Keim für eine bessere Gesellschaft und einen neuen Menschen in sich – sofern man sie nur machen ließe. Demgemäß war ihre antiautoritäre Erziehung auf große Permissivität aufgebaut. Selbst aggressives Ver­ halten – gegenüber anderen Kindern oder Erziehern – sollte nicht sanktioniert werden, denn wenn die Kinder sich „ausleben“ dürften, so glaubte man, könnten genau diese Aggressionen abgebaut werden. Warum ist die Idealisierung der Kindheit in unserer Gesellschaft seit 200 Jahren so attraktiv? Das Glaubensbekenntnis des Bürgertums lautet seit dem 19. Jahrhundert, dass das Individuum seine Stellung nicht seiner Herkunft – so wie noch der Adel –, sondern seiner Leistung verdankt. Nun ist diese Leistungsorien­ tierung mit massiven Anforderungen verbunden: An­ forderungen an Bildungsprozesse, an Berufskarrieren, an die Erarbeitung einer gesellschaftlichen Stellung in­ klusive der ökonomischen Voraussetzungen, die dafür nötig sind. In der Idealisierung des Kindes drückt sich der Wunsch aus, sich den Zumutungen zu verweigern, die mit dieser Art von Individualisierung verbunden sind. In unserer heutigen Gesellschaft scheinen diese Zumutungen bedrohlicher denn je zu sein. Führen wir uns deshalb, wie viele Kritiker behaupten, immer infantiler auf? Ich würde eher von einer Juvenilisierung der Gesell­ schaft reden. Nach einer kurzen Kindheit treten wir heute in eine beinahe unendlich lange Jugendphase ein, die unter Umständen bis ins hohe Alter reichen kann. Da wirkt der Jugendmythos aus dem frühen 20. Jahrhundert nach. Als gesellschaftliches Leitbild ist heute nicht der kindliche, sondern der jugendliche Habitus tonangebend. Philosophie Magazin Nr. 01 / 2018 / 51


DOSSIER

Wo ist das Kind, das ich war?

Im Anfang ist das

Staunen

Was macht große Ideen aus? Sicherlich nicht die Größe derer, die sie haben. Das zeigt sich etwa im österreichischen Vorarlberg, wo wir eine Gesprächsrunde mit 14 kleinen Philosophen besucht haben. Hier wird deutlich, was das kindliche Denken so besonders macht: eine Mischung aus wahrhaftigem Staunen, blitzartiger Erkenntnis und dem Fehlen von Selbstverständlichkeiten Von Dominik Erhard / Fotos von Dominic Nahr

Fotos: Dominic Nahr/MAPS Agency

D

urch die Fenster des Kindergartens im österreichischen Lustenau dringt die Morgensonne und breitet sich über die hellen Flure aus. Die war­ men, mit ungehobeltem Holz verklei­ deten Räume bieten ebenso zum zum Spielen wie zum Denken ausreichend Platz. Letzteres kommt hier tatsächlich nicht zu kurz: 14 Schülerinnen und Schüler im Alter von acht und neun Jahren finden sich in dem würfelförmigen, erst vor vier Jahren errich­ teten Neubau ein, um unter der behutsamen Leitung der Kinderphilosophin Maria Rüdisser zusammen die gro­ ßen Fragen zu diskutieren. Die Gemeinde Lustenau, die das Philosophieren mit Kindern vor zwei Jahren einführte, gehört damit zu den Leuchttürmen einer Entwicklung, die sich der­ zeit über den gesamten deutschsprachigen Raum er­ streckt. Denn seit einiger Zeit wird das Philosophieren mit Kindern immer stärker in pädagogische Projekte und Schulworkshops eingebunden. Und das scheint nur folgerichtig: Bereits viele große Denker der ver­ gangenen Jahrhunderte beschrieben den kindlichen,

52 / Philosophie Magazin Dezember 2017 / Januar 2018

kulturell unverstellten Blick als etwas derart Produk­ tives, dass es sich auch für Erwachsene lohne, diesen ab und an wieder einzunehmen. So definierten Aris­ toteles und Platon das Staunen, Descartes den Zweifel und Jaspers das Betroffensein als Grundpfeiler der Philosophie. Tagtäglich würden gerade Kinder diese Erregungszustände in besonderer Intensität erleben, weshalb sie „oft eine Genialität“ besitzen, „die im Er­ wachsenenalter verloren geht“, wie Karl Jaspers in seiner „Einführung in die Philosophie“ bemerkt. Folgt man dieser Einsicht, scheinen Kinder also buchstäblich fürs Philosophieren gemacht. Wobei es da freilich auch manches zu beachten gibt. Fordert man das Denken der Kinder, das bisweilen zwischen ohnmächtigem Zweifel und blitzartiger Erkenntnis pendelt, nämlich allzu übermütig heraus, kann das Gespräch leicht aus dem Runder laufen. Um für Struktur zu sorgen, greift Maria Rüdisser im Aus­ tausch mit den Kindern deshalb auf die Technik des Gründers der hawaiianischen Schule des Kinderphi­ losophierens Thomas E. Jackson zurück. Diese basiert auf zwei einfachen Regeln. Erstens: „Es darf niemand


“ Jenny (9): Was heißt denn eigentlich „gleich“? Reden wir nur davon, warum wir alle ein bisschen anders aussehen oder warum wir auch alle anders sind, weil wir nicht die gleichen Sachen denken?

ausgelacht werden, was auch immer sie oder er äu­ ßert.“ Und zweitens: „Jeder hat das Recht darauf, dass ihm zugehört wird.“ Außerdem wird den Kindern ein Werkzeugkasten voller logischer Hilfsmittel an die Hand gegeben, der ihnen hilft, sich am Gespräch zu beteiligen, und dabei gleichzeitig auch, dessen Struktur nachzuvollziehen. Dafür werden sieben Symbolkarten mit unterschiedlichen Bedeutungen eingeführt. „Was meinst du mit …?“ ist beispielswei­ se eine solche Karte, die immer dann in die Höhe schnellt, wenn eine Aussage noch nicht ganz klar formuliert wurde. Auch können die Kinder durch die Tafeln ein Beispiel fordern oder anzeigen, wenn je­ mand die logische Verbindung „Wenn …, dann …“ benutzt. Ebenso dürfen sie ein Gegenbeispiel in die Diskussion einbringen.

Neben den inhaltlichen Werkzeugen gibt es zudem Ab­ kürzungen, welche die Diskussion ordnen sollen. Hat beispielsweise jemand das Gefühl, dass sich das Ge­ spräch zu weit vom eigentlichen Gegenstand entfernt, nutzt man den Einwurf „WISCHA“, um zu sagen, dass „wir abschweifen“. Oder es wird „NÄFI“ gerufen, „nächste Frage, bitte“, wenn man zur Ansicht gelangt, das aktuelle Thema für den Moment ausreichend be­ ackert zu haben. Beim Philosophieren mit Kindern sei es nach Jackson besonders wichtig, so erklärt Maria Rüdisser, dass sich die Kinder ernst genommen fühlen. Dazu gehöre auch, dass sie die diskutierten Fragen selbst bestimmen dürfen. „Würden hier wieder Erwach­ sene eingreifen und bestimmen, was eine wichtige Frage ist, wäre die Freiheit der Kinder nur eine Schein­ freiheit und kein Gespräch unter Gleichen.“ So schreibt vor der Diskussion jedes der Kinder seine Frage auf ein Stück Papier. Darunter: „Warum gibt es die Welt?“ oder „Was wäre, wenn wir hören >>> Philosophie Magazin Nr. 01 / 2018 / 53


DOSSIER

Wo ist das Kind, das ich war?

„Wir dürfen die Kindheit nicht verklären“ Ob in Werbung, Filmen oder Ratgebern: Das „innere Kind“ zu entdecken, gilt heute als großes Glücksversprechen. Doch liegt darin auch eine gefährliche Nostalgie. Die Philosophin Susan Neiman über die Schönheit des Erwachsenwerdens, das Peter-Pan-Syndrom und die Radikalität Immanuel Kants

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Das Gespräch führte Nils Markwardt

Philosophie Magazin: Frau Neiman, im Mittel­ alter galt man mitunter schon mit sieben Jahren als erwachsen, heute ist man es, zu­ mindest juristisch gesehen, mit achtzehn. Doch wann ist man eigentlich aus philosophi­ scher Perspektive kein Kind mehr? Susan Neiman: Ich würde sagen: wenn man selbst denken kann. Wir wachsen zunächst mit vielen Ent­ scheidungen auf, die wir nicht beeinflussen können. Das reicht vom Ort unserer Geburt über Fragen der

58 / Philosophie Magazin Dezember 2017 / Januar 2018

Susan Neiman Die in Atlanta, Georgia, geborene Philosophin ist seit 2000 Direktorin des Einstein Forums in Potsdam. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen der Moralphilosophie und politischen Theorie. 2015 erschien ihr Buch „Warum erwachsen werden?“ (Hanser)

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Bildung und Religion bis zur Musik, die unsere Eltern damals gehört haben. Für mich ist jemand erwachsen, wenn er oder sie über die Entscheidungen von anderen nachdenken kann. Wenn er oder sie also sagen kann: Dieses oder jenes hätte ich nicht freiwillig gemacht. Und dafür gibt es auch kein bestimmtes Alter. Ist man erwachsen, wenn man selbst Kinder hat? Möglich, aber nicht zwangsläufig. Ist man erwachsen, wenn man seinen eigenen Lebensunterhalt verdient? Kann sein, kann aber auch nicht sein. Die Fähigkeit, selbst


zu mir: „Ach, du siehst so jung aus.“ Darauf erwider­ te ich: „Wenn du mir sagen möchtest, dass ich gut aussehe, höre ich das so gern wie jede andere. Aber was tun wir uns an, wenn wir gut aussehen mit jung aussehen gleichsetzen?“ Denn das heißt: Man sieht nur gut aus, wenn wir etwas vortäuschen. Ebenso sagt man gerne: „Er ist im Herzen jung geblieben“, was heißen soll: Der lebt noch, ist noch offen, ihm passiert noch was. Derlei suggeriert immer: je jünger, desto besser. Fürchterlich. Zumal der Witz auch ist: Es gibt sozialpsychologische Studien, die besagen, dass wir im Alter tatsächlich glücklicher werden.

Entgegen dem Klischee ist die Jugend also nicht die beste Zeit? Als ich das Buch schrieb, waren meine drei Kinder Mit­ te bis Ende zwanzig. Sie weckten in mir die Erinnerung, wie verdammt schwer diese Phase ist. Es ist eine Zeit der totalen Unsicherheit, des totalen Drucks. Und inte­ ressanterweise hat sich das auch in den Reaktionen auf mein Buch gezeigt. Zu meiner freudigen Überraschung sind bei den Lesungen viele Mittzwanziger zu mir ge­ kommen, die sich geradezu bedankten, dass jemand einmal sagt, wie schwer diese Zeit ist – und dass es vor allem etwas gibt, worauf man sich danach freuen kann.

zu denken, ist, philosophisch gesehen, deshalb der Kern der Sache. Und den erreichen manche Leute auch mit neunzig nicht.

Foto: Julie Blackmon; Autorenfoto: Daniel Hofer/laif

Erwachsen zu werden, ist also ein Prozess, der niemals endet. Ja, hoffentlich wird man sein ganzes Leben lang immer wachsen. Einfach zu sagen, man ist erwachsen, heißt eigentlich: Man wächst nicht mehr. Nun gibt es aber offensichtlich Menschen, die sich wieder nach ihrer Kindheit sehnen. Man muss nur einen Blick auf den Ratgeber­ markt werfen, wo vermehrt Bücher er­schei­nen, die versprechen, das „innere Kind“ ­wiederzufinden. Was ist davon zu halten? Es ist zunächst einmal nachvollziehbar, weil unser bestehendes Bild vom Erwachsensein so schlecht ist. Wir verstehen es als Resignation, als das Aufgeben von Abenteuern, Veränderungen und Erlebnissen. Und da steckt auch eine politische Botschaft drin: Erwarte nichts vom Leben, erwarte nichts von dir selber! Das beginnt schon im Alltag. Ich erinnere mich, dass ich vor einer Weile eine sehr gute Freundin traf. Sie sagte

Womöglich ist diese Sehnsucht nach Kindheit und Jugend auch damit verbunden, dass in ihr das Versprechen des Neuanfangs auf­ scheint. Natürlich. Aber die Idee, dass man nach dreißig nicht neu anfangen könne, ist einfach perfide. Und die zeigt sich auch bei Menschen, bei denen man es gar nicht erwarten würde. Ich hatte drei sehr gute Freunde, alle Anfang siebzig. Sie waren perfekte Beispiele für Erwachsene: noch voll im Leben, mehrsprachig, poli­ tisch engagiert und künstlerisch aktiv. Als ich ihnen davon erzählte, dass ich ein Buch mit dem Titel „Wa­ rum erwachsen werden?“ schreibe, sagte jedoch jeder von ihnen: „Was für ein schreckliches Thema!“ Selbst diese drei hochintelligenten Menschen wollten lieber Peter Pan sein. Das Peter-Pan-Syndrom, der Wille zur Infanti­ lisierung, ist also ein Signum unserer Zeit? Bevor „Peter Pan“ Anfang des 20. Jahrhunderts ge­ schrieben wurde, wäre zumindest niemand auf die Idee gekommen, dass es das Beste wäre, wieder ein Kind zu sein. Natürlich auch deshalb, weil Kindheit zu jener Zeit zuvorderst noch bedeutete, nicht frei zu sein, was wiederum auch mit den damaligen Erzie­ hungsmodellen zusammenhing. >>> Philosophie Magazin Nr. 01 / 2018 / 59


Ideen

Das Gespräch

Orhan Pamuk

Okzident und Orient, Europa und Asien, osmanische Tradition und westliche Moderne: Orhan Pamuk ist der Denker des Dazwischen. Im Gespräch erläutert der Literaturnobelpreisträger, welche Philosophen sein Schreiben prägten, was ihn an der Türkei ängstigt und warum er trotzdem stolz auf seine Heimat ist Das Gespräch führte Boris Razon / Fotos von Manuel Braun / Aus dem Französischen von Till Bardoux

Orhan

Pamuk

»Es bedarf einer Ethik des Widerstands«

D

er Mann, der uns an diesem Septembertag in einem Salon des Pariser Verlagshauses Gallimard empfängt, wirkt zu groß für die kleinen, blauen Velourssessel. Das liegt nicht an seinen Armen oder Beinen. Es liegt an seinen lachenden Augen. Sie werfen ein anderes Licht auf einen Raum, der nicht recht weiß, was er zu sein versucht: das geronnene Bild einer längst vergangenen Zeit oder die elegante Version einer Flughafenlobby. Doch dieser Ort passt zu Orhan Pamuk, dem Schriftsteller des Dazwischen, der 2006 als erster türkischsprachiger Romancier den Literaturno­ belpreis erhielt. In seinen Romanen zeigt Pamuk Istanbul als eine Weltstadt und die moderne Türkei als einen Kosmos des Literarischen. Er erzählt von den osmanischen Traditionen und den westlichen Sehnsüchten einer Bourgeoisie mit ihrer Lust nach Raki und Freiheit. Diese doppelte Zugehörigkeit, seine Kenntnis der westlichen literarischen und philosophischen Kultur, führten Pamuk dazu, die großen Figuren des zeitgenös­ sischen Romans alla turca neu zu interpretieren. Seine Bücher erfahren auch in der Türkei einen großen Erfolg; eines seiner jüngsten Werke, „Diese Fremdheit in mir“, verkaufte sich dort rund 250 000-mal. Doch Pamuk, dessen aktueller Roman „Die rothaarige Frau“ gerade auf Deutsch erschien, hat sich niemals

64 / Philosophie Magazin Dezember 2017 / Januar 2018

hinter seinem Werk versteckt. Als mutiger Demokrat unter­ stützte er stets die Meinungsfreiheit. 2005 brach er etwa ein Tabu, als er die Verantwortung seines Landes für den Völker­ mord an den Armeniern im Jahr 1915 anerkannte. Von der Justiz verfolgt und mit Morddrohungen konfrontiert, musste er für eine Weile das Weite suchen. Anfang 2008 kehrte er in die Türkei zurück. Noch heute, da Erdogan den Staat autoritär umbaut, gelte, wie er mit besonnener, doch fester Stimme sagt, dass es für „ein Land ohne Meinungsfreiheit keine Zukunft gibt“. Und seine Augen lachen noch immer.

Philosophie Magazin: Herr Pamuk, Sie wollten anfangs Maler werden. Wie sind Sie dann doch zum Schreiben gekommen? Orhan Pamuk: Als Kind zeichnete ich die ganze Zeit. Daheim und in der Schule sagten alle: „Mein Gott, das ist ein Maler.“ Doch ich komme aus einer Familie von Bauingenieuren, mein Großvater konstruierte Eisenbahnen, mein Vater und mein Onkel folgten ihm auf diesem Weg. Sie sagten mir: „Warum wirst du nicht Architekt? Ein Architekt ist ein Maler, der zu­ gleich auch Ingenieur ist.“ Während meines Architekturstu­ diums kam es mir aber so vor, als würde sich ein Schrauben­ zieher in mein Hirn bohren. Ich verließ die Universität und >>>



72 / Philosophie Magazin Dezember 2017 / Januar 2018

Illustration: Nazario Graziano/Colagene; Bildvorlage: akg-images/De Agostini Picture Lib./G. Dagli Orti


Ideen

Der Klassiker

Platon und das Virtuelle Im Internet sind alle

nur vorstellbaren Inhalte verfügbar, Compu­ terspiele lassen komplexe Parallelwelten entstehen, 3-D-Filme beeindrucken mit hy­ perrealistischen Bildern. Die Fortschritte in Informationstechnologie und Digitalisie­ rung begründen das Zeitalter einer umfassenden Virtualität. Treten nun Illusionen an die Stelle der Wahrheit? Diese Frage führt unweigerlich zu Platon zurück, der in seinem Höhlengleichnis (abgedruckt in unserem Beiheft) die Verführungskraft der Bilder aufgezeigt und angeprangert hat. Doch die Aktualität des griechischen Philo­ sophen besteht nicht nur darin, uns daran zu erinnern, dass wir in einer großen Matrix oder Höhle 2.0 leben. Mit Platon können wir auch verstehen, wie die heutigen Computerbilder erzeugt werden. Bringt uns die Virtualität vielleicht sogar der realen Struktur der Welt näher, statt uns von der Wahrheit zu entfernen?

Philosophie Magazin Nr. 01 / 2018 / 73


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