Nr. 3 / 2018

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Nr. 03/ 2018

April/Mai

MAGAZIN

Einfach leben

SILICON SOWJETS: VOM RUSSISCHEN UTOPISMUS ZUM TECH-KAPITALISMUS

0 3 4 192451 806907

THEA DORN: „WIR BRAUCHEN EINEN AUFGEKLÄRTEN PATRIOTISMUS“

D: 6,90 €; Ö: 7,- €; CH: 12,50 SF; Benelux: 7,40 €

Warum ist das so kompliziert?

EVA ILLOUZ ÜBER #METOO: „FRAUEN SIND DIE VERLIERERINNEN DER SEXUELLEN REVOLUTION“


Denker in diesem Heft

Kluge Antworten auf eine der drängendsten Lebensfragen Broschiert · 120 S. ISBN 978-3-15-020492-4 · € 12,00

S. 66

Beiheft

S. 36

Thea Dorn

Jean-Luc Nancy

Paula-Irene Villa

„Über Deutschland“ heißt das neue Buch der Schriftstellerin und Philosophin, das im April bei Knaus erscheint. Warum sie einen „aufgeklärten Patriotismus“ for­ dert und die deutsche Identität nichts mit Scholle und Blut zu tun hat, erklärt sie im großen Ge­ spräch. Thea Dorn ist festes Mit­ glied im „Literarischen Quartett“. Ausgezeichnet wurde sie unter anderem mit dem Deutschen Kri­ mi Preis und dem Grimme­Preis.

Der französische Denker zählt zu den bedeutendsten Philosophen der Gegenwart. Zuletzt ist von ihm auf Deutsch erschienen: „Ba­ nalität Heideggers“ (diaphanes, 2017). Jean­Luc Nancy war eng mit Jacques Derrida befreundet, dessen Konzept der Dekonstruk­ tion wir im Klassikerdossier vor­ stellen. Für Derridas „Brief an einen japanischen Freund“, zu lesen im Beiheft, hat Nancy das Vorwort verfasst.

In ihrem jüngsten Buch „Unterscheiden und Herrschen“ (gemeinsam mit Sabine Hark; transcript, 2017) kritisiert sie die rassistische Instrumentalisierung des Feminismus. Paula­Irene Villa ist Lehrstuhlinhaberin für Sozio­ logie und Gender­Theorie an der LMU München. Im Heft streitet sie mit dem Philosophen Robert Pfaller über die Grenzen des Sag­ baren und die verletzende Kraft der Sprache.

S. 94

S. 22

S. 56

Catherine Meurisse

Eva Illouz

Gernot Böhme

Die Liebesordnung im Kapitalismus ist einer ihrer Forschungsschwerpunkte. Mit Blick auf #me­ too erklärt die Denkerin im Zeitgeist, warum Frauen die Ver­ liererinnen der sexuellen Revolu­ tion sind. Eva Illouz ist Professo­ rin für Soziologie an der Hebrä­ ischen Universität Jerusalem und an der EHSS in Paris. Soeben ist der von ihr herausgegebene Band „Wa(h)re Gefühle“ bei Suhrkamp erschienen.

Zu seinen Schwerpunkten zählen die Philosophie der Natur, der Technik und des Leibes. Bis 2002 war Gernot Böhme Professor für Philosophie an der TU Darm­ stadt. Seit 2005 ist er Direktor des Instituts für Praxis der Philoso­ phie e. V. Im Dossier zeigt er, in­ wiefern unsere Leiblichkeit den Weg in ein einfaches Leben weist. Sein Buch „Gut Mensch sein. Anthropologie als Proto­Ethik“ (Graue Edition) erschien 2016.

In Kooperation mit dem

Die Buchreihe von Philosophie Magazin und Reclam bietet kompakte Gedankenanregungen; eine geistreiche Mischung aus Essay, Einführung in das Denken und Texte der wichtigsten Philosophen sowie Gespräche mit zeitgenössischen Denkern: kluge Antworten auf wichtige Fragen unserer Zeit.

Bereits erschienen

978-3-15-020490-0 € 12,00

978-3-15-020491-7 € 12,00

Reclam www.reclam.de

Die Karikaturistin hat zehn Jahre für das Satire-Magazin Charlie Hebdo gearbeitet und entkam dem Attentat auf die Redaktion nur durch Zufall. Ihre Erfahrung verarbeitete sie in der Graphic Novel „Die Leichtigkeit“ (Carl­ sen, 2017). Ab dieser Ausgabe ist Catherine Meurisse die neue Co­ miczeichnerin des Philosophie Magazins. Bienvenue, Madame Meurisse!

Die nächste Ausgabe erscheint am 09. Mai 2018

Fotos: Maria Sturm; diaphanes; Florian Rainer; Rita Scaglia/Carlsen; Maurice Weiss/OSTKREUZ; Dagmar Mendel

Gebunden · 304 S. · 50 farb. Abb. ISBN 978-3-15-011149-9 · € 28,00


Intro

Horizonte

Dossier

Ideen

S. 3 Editorial S. 6 Ihre Frage S. 7 Kinder fragen Tomi Ungerer S. 8 Leserbriefe

S. 30 Analyse Silicon Sowjets Von Nils Markwardt S. 36 Dialog Wo liegt die Grenze des Sagbaren? Streitgespräch mit Paula-Irene Villa und Robert Pfaller

Einfach leben – warum ist das so kompliziert?

S. 66 Das Gespräch Thea Dorn S. 72 Werkzeugkasten Lösungswege / Das Ding an sich / Die Kunst, recht zu behalten S. 74 Der Klassiker Derrida und die Dekonstruktion + Sammelbeilage: „Brief an einen japanischen Freund“ (Auszüge)

Zeitgeist S. 10 Sinnbild S. 12 Denkanstöße S. 16 Resonanzen Fahrverbot: Der Diesel in uns / Amoklauf in Florida: Freiheit der Furcht /Verteilungs­ kämpfe: Streit um Essen S. 20 Hübls Aufklärung Diesmal: Kein Abgrund S. 22 Perspektive Eva Illouz: „Frauen sind die Verliererinnen der sexuellen Revolution“ S. 26 Erzählende Zahlen Die Kolumne von Sven Ortoli

S. 29

S. 44 Wege in die Komplexitätsreduktion Von Svenja Flaßpöhler S. 46 Die Leichtigkeit des Seins: Askese, Minimalismus, Authentizität S. 50 Verzicht mit Maß Reportage von Philipp Felsch aus dem Benediktinerkloster im bayerischen Ettal S. 56 Woran erkennt man das Wesentliche? Interview mit Gernot Böhme S. 58 Die Kunst der Einfachheit Barbara Vinken und Hilal Sezgin im Dialog

Bücher S. 82 Buch des Monats Wolfram Eilenberger: „Zeit der Zauberer“ S. 84 Jubiläum: 1968 S. 86 Scobel.Mag S. 88 Kolumne: Das philosophische Kinderbuch S. 90 Thema: Rechtsphilosophie

Fotos: Evan James Atwood; Julien Pacaud; Andrew B. Myers; Can Dargaslani

Finale

S. 36

S. 30

S. 92 Agenda S. 94 Comic Neu im Heft: Catherine Meurisse: Menschliches, Allzumenschliches S. 96 Lebenszeichen Von Tieren lernen: Der Hase / Spiele / Impressum S. 98 Sokrates fragt Bernd Begemann

S. 56

Philosophie Magazin Nr. 03 / 2018 / 5


Zeitgeist

Perspektive Eva Illouz

„Frauen sind die großen

Verliererinnen der sexuellen

Revolution“

Die gegenwärtige Debatte um sexualisierte Gewalt zeigt, dass wir über die Revolution der 1960er-Jahre neu nachdenken müssen: Das ist die überraschende These von Eva Illouz. Die französisch-israelische Soziologin und Philosophin über Weiblichkeit als Ware, #metoo und die Möglichkeit einer neuen Erotik

Das Gespräch führte Martin Legros Eva Illouz

Philosophie Magazin: Seit dem Skandal um Harvey Weinstein haben viele Frauen in der #metoo-Debatte das Ausmaß sexueller Belästigung aufgezeigt. Warum wurde das Schweigen erst so spät gebrochen? Eva Illouz: Der Feminismus ist mit einer zentralen Schwie­ rigkeit konfrontiert: Die Beziehung zwischen Männern und Frauen ist sehr viel verwickelter als zum Beispiel die zwischen Schwarzen und Weißen. Die Machtbeziehung ist schwerer zu fassen, weil sie sich mit einer affektiven und sexuellen Beziehung verbindet. Männer sind von de­ nen, über die sie Macht ausüben, zugleich abhängig. Und sie haben Mütter, Frauen, Schwestern, Töchter, die meist nicht imstande sind, ihre Söhne, Männer, Brüder, Väter als Ausbeuter zu sehen. Frauen tragen aktiv zu der Herr­ schaft bei, der sie unterliegen. Das macht das Anprangern von Machtbeziehungen extrem schwierig. War die Weinstein-Affäre aus Ihrer Sicht die Gelegenheit dafür, dass sich Frauen als eine Gruppe konstituieren konnten? Es scheint, als hätte sich ihr Klassenbewusstsein mit neuer Kraft entwickelt. Das Wort „Klasse“ ist etwas zu stark. Aber ein neues Be­ wusstsein hat sich auf internationaler Ebene tatsächlich 22 / Philosophie Magazin April / Mai 2018

herausgebildet. Es hat sich endlich die Erkenntnis durch­ gesetzt, dass Frauen ganz unabhängig von Nationalität und sozialer Klassenzugehörigkeit eine bestimmte Lage teilen, die überall auf der Welt ähnliche Züge aufweist. Inwiefern ist es von Bedeutung, dass die #metoo-Debatte in Hollywood ihren Ausgang genommen hat? Hollywood und die Werbung haben eine zentrale Rolle bei der Veränderung des Bilds von Frauen gespielt: Sie haben sich des weiblichen Körpers bemächtigt, um ihn in ein visuell-sexuelles Objekt zu verwandeln. Insofern über­ rascht es nicht, dass eine Figur wie Harvey Weinstein aus diesem Milieu stammt. Aber es ist auch sehr bedeutend, dass der Gegenschlag aus demselben Milieu erfolgt ist. Die Reaktionen von Schauspielerinnen hatten einen mobili­ sierenden Effekt. Wenn Frauen im wirklichen Leben Opfer von Vergewaltigung oder sexueller Belästigung werden, löst dies bei ihnen Scham oder sogar Schuldgefühle aus, so als läge die Schande auf ihrer Seite. Als Ikonen der weib­ lichen Schönheit erklärt haben, dass auch sie zu Opfern wurden, konnten „gewöhnliche“ Frauen diese Scham ab­ legen und ihr Schweigen brechen.

Eva Illouz ist Professorin für Soziologie an der Hebräischen Universität Jerusalem und an der École des Hautes Études en Sciences Sociales in Paris. Ihre Werke befassen sich u. a. mit dem Geschlechterverhältnis im Kapitalismus (z. B. „Konsum und Romantik“ (2007), „Warum Liebe weh tut“ (2012)). Soeben ist der von ihr herausgegebene Band „Wa(h)re Gefühle. Authentizität im Konsumkapitalismus“ erschienen (alle Suhrkamp)


Foto: Catharina Caprino; Autorenfoto: Maurice Weiss/Ostkreuz

Eine Ihrer Thesen lautet: Das innerste Funktionsgesetz der Sexualität ist wirtschaftlicher Natur. Können Sie das erklären? Anthropologen und Soziologen haben eindrücklich gezeigt, dass wir Sexualität traditionell als Teil wirtschaftlicher Zir­ kulation denken müssen. Diesen Ansatz verfolgt etwa die italienische Anthropologin Paola Tabet mit ihrem Konzept des „ökonomisch-sexuellen Tauschs“. Sie zeigt, dass Frauen in allen Gesellschaften, in denen Männer die wirtschaftliche Macht besitzen, ihre Sexualität als eine Art Währung ein­ setzen. Bei der Prostitution liegt das auf der Hand. Aber es gilt auch für die traditionelle Ehe, die Frauen lange Zeit dazu gedient hat, sich einen ökonomischen und sozialen Status zu sichern. Der Mann gibt Sicherheit, die Frau gibt Sex. Dieser Tausch funktioniert, wenn ich Sie richtig verstehe, nach 1968 nicht mehr? Die sexuelle Befreiung lässt sich als ein Prozess der Deregu­ lierung betrachten: Sexualität wurde von tradierten sozia­ len, moralischen oder religiösen Vorschriften abgelöst, in die sie bislang eingefasst war. In der christlichen Kultur hatte die Sexualität eine soziale Zielbestimmung, die Ehe,

und eine biologische, die Fortpflanzung. Die Ehe sollte Ge­ fühle, Sexualität und Fortpflanzung verbinden. Das hat Vorgesetzte und Hausherren nicht daran gehindert, Arbei­ terinnen und Dienstmädchen zu belästigen oder sogar zu vergewaltigen. Aber die Sexualität war moralisch streng geregelt. Mit der Deregulierung bleibt nur noch eine Ethik übrig, nämlich die des Einverständnisses: Man darf alles tun, was man will, solange die Person, mit der man es tut, darin einwilligt. Das führt dazu, dass es mehr potenzielle Partner gibt, während die Vermittlungen, die bislang den Zugang zu ihnen gewährleisteten, verschwinden. Es ist wie auf dem kapitalistischen Markt, auf dem sich Käufer und Verkäufer direkt begegnen und niemand vorab den Preis festlegt: Der Wert der Ware wird ausschließlich durch das Gesetz von Angebot und Nachfrage bestimmt. Man kann das heute sehr gut an Dating-Websites wie Tinder beobach­ ten, wo Algorithmen die Nutzer ausschließlich auf der Grundlage von Kriterien zusammenbringen, über die die Nutzer selbst entscheiden. Aber warum sind die Frauen hier die Leidtragenden? Weil die Deregulierung geschieht, ohne die soziale und wirt­ schaftliche Macht der Männer anzutasten! Man braucht sich >>> Philosophie Magazin Nr. 03 / 2018 / 23


Analyse

Silicon Sowjets

Horizonte

Google, Amazon und Co entdecken das Unternehmen Unsterblichkeit. So wie knapp 100 Jahre zuvor eine Gruppe sowjetischer Denker. Die Schriften dieser kommunistischen Philosophen und die Utopie des Silicon-Valley-Kapitalismus weisen erstaunliche Parallelen auf. Sie verraten viel über unsere Bereitschaft, Freiheit gegen Erlösung einzutauschen Von Nils Markwardt / Illustrationen von Julien Pacaud

K

alifornien, 2018: Eineinhalb Liter Blutplasma, verabreicht über zwei Tage, für schlappe 8000 USDollar. Dieses Angebot macht das Start-up Am­ brosia seit kurzem seinen zahlungskräftigen Kunden aus dem Sili­ con Valley. Ambrosia: Das ist die „Speise der Götter“ aus der griechischen Mytho­ logie. Ihre Wirkung: Unsterblichkeit. Bei über 35-Jährigen wirke das Frisch­ blut, das von unter 25-Jährigen stammt, wie ein buchstäblicher Jungbrunnen, so lautet das Versprechen der Unterneh­ mer. Der Grund liege im vitalitätsstei­ gernden Prinzip der Parabiose, also dem Zusammenschluss zweier Organismen. Neueste Experimente mit Mäusen lie­ ferten dafür tatsächlich erstaunliche Ergebnisse. Die Körper älterer Nager regenerierten sich durch den Zusatz des Blutes von jüngeren: Die Muskelkraft

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stieg wieder, die Bauchspeicheldrüse erneuerte sich, die Gehirnleistung nahm zu. Doch gibt es bis dato keinerlei klini­ sche Evidenz, dass diese Wirkung auch beim Menschen einsetzt. Der Attrakti­ vität des Angebots von Ambrosia tut das keinen Abbruch. Dem Vernehmen nach soll das Start-up, für das Facebook-In­ vestor Peter Thiel bereits reges Interesse zeigte, über 600 Kunden verfügen. Der Silicon-Valley-Kapitalismus hat das In­ nerste des Körpers erreicht. Moskau, 1928: Alexander Bogdanow ist auf dem Höhepunkt seiner Karriere. Hatte der Arzt, Philosoph und Schrift­

steller schon in seinem 1908 erschiene­ nen Roman „Der rote Stern“ von einer revolutionären Steigerung der Lebens­ geister durch die „wechselseitige Trans­ fusion des Blutes zweier menschlicher Wesen“ geträumt, wähnt er sich seinem Ziel nun näher als je zuvor. Seit langem führt er dazu Experimente durch, seit zwei Jahren sogar an dem von ihm ge­ gründeten Institut für Bluttransfusio­ nen. Die Ergebnisse sieht er als vielver­ sprechend an. In seinem Text „Der Kampf um die Vitalität“ berichtet Bog­ danow von einem 50-jährigen Revoluti­ onär, dem das Blut eines 20-Jährigen


zugesetzt wurde. Bei Ersterem sei die Arbeitsfähigkeit gestiegen, die Sehkraft habe sich verbessert und sogar das Schnarchen nachgelassen. Für Bogda­ now, früher Weggefährte Lenins und Vordenker des Bolschewismus, ist die Aussicht auf veritable Lebensverlänge­ rungen jedoch nur ein erster Schritt. Als Teil einer damals einflussreichen Grup­ pe sowjetischer Intellektueller, die sich Immortalisten und Biokosmisten nen­ nen, geht es ihm letztlich darum, Marx und Engels radikal zu Ende zu denken. Der Kommunismus müsse sich tief in den Körper einschreiben. Und dafür

brauche es perspektivisch vor allem eins: das ewige Leben.

Paradoxe Parallelen Völlig unterschiedliche Zeiten, Orte und Systeme, aber das gleiche Phantasma, die gleichen Methoden. Es scheint eine paradoxe Parallele, die sich hier zwi­ schen dem futuristischen Denken der jungen Sowjetunion und dem Diskurs des Silicon Valley auftut. Und je genau­ er man sie betrachtet, so deutlicher wird sie. Man kann sogar sagen: Der Geist des kalifornischen Tech-Kapitalismus lässt sich erst vollständig verstehen, wenn

man ihn vor der Folie seines kommunis­ tischen Pendants liest. Man mag das „Tal der Zukunft“ zwar immer noch mit Smartphones, Software oder sozialen Netzwerken assoziieren, doch im Kern geht es hier längst schon um etwas ande­ res, Größeres. Das Silicon Valley wird zunehmend zum biotechnischen Großla­ bor. Ambrosia ist deshalb auch kein Ein­ zelfall, sondern vielmehr exemplarisch: Die fast durchweg drahtigen, mit ChiaSamen und Gesundheitspräparaten voll­ gepumpten Tech-Pioniere haben in den letzten Jahren das Unternehmen Unsterb­ >>> lichkeit entdeckt. Philosophie Magazin Nr. 03 / 2018 / 31



Horizonte

Dialog

Robert Pfaller / Paula-Irene Villa

Wo liegt die Grenze des Sagbaren? Kaum eine Frage wird derzeit kontroverser diskutiert: Ist rücksichtsvolles Sprechen Ausdruck des sozialen Fortschritts? Oder blockieren Sensibilitäten die demokratische Debattenkultur? Der Philosoph Robert Pfaller und die Soziologin Paula-Irene Villa über Verletzlichkeit, Political Correctness und die Macht der Worte Das Gespräch führte Nils Markwardt

W

ien ist reich an Widersprüchen. Wird hier eine distinguierte Höf­ lichkeit gepf legt, ist die Stadt ebenso für sein Grantlertum be­­ kannt. Und während die Metropole als Bastion der Linken gilt, sitzen in der Hofburg nun die Rechtspopulisten. Ein passender Ort, um eine aktuell polarisierende Frage zu diskutieren: Sind wir zu empfindlich? Gilt es, andere vor Diskriminierung zu schützen – oder führt sensibles Sprechen am Ende zu Paternalismus, gar

Robert Pfaller

Foto: Andrew B. Myers

ist Professor für Philosophie und Kulturtheorie an der Universität für künstlerische und industrielle Gestaltung Linz. In seinem aktuellen Buch „Erwachsenensprache. Über ihr Verschwinden aus Politik und Kultur“ (Fischer, 2017) geht er der Frage nach, warum im öffentlichen Diskurs ein so starker Fokus auf Befindlichkeiten gelegt wird

Philosophie Magazin: An der Berli­ ner Alice-Salomon-Hochschule entzün­ dete sich zuletzt eine Kontroverse. Eugen Gomringers Gedicht „Avenidas“ wird bald von deren Fassade verschwinden, weil Studierende es als sexistisch be­ trachten. Wie bewerten Sie diesen Fall? Robert Pfaller: Man kann hier eine Entwicklung beobachten, die aus Nord­ amerika kommt und dazu führt, dass Menschen nichts mehr dulden, was ih­ rem spontanen Empfinden zuwider­ läuft. Universitäten sollen nun „safe spaces“ sein, wo nichts auftauchen darf, was irritiert. Dabei besteht die Aufgabe der Universität doch gerade darin, mün­ dige und kritische Intellektuelle hervor­ zubringen. Tatsächlich müsste die Uni­ versität ein Trainingsgelände voller

Zensur? Der in Linz lehrende Philosoph Robert Pfaller meint, eine Kultur des Zartsprechens lenke von Verteilungskonflikten ab und nutze am Ende den Rechten. Paula-Irene Villa, Professorin für Soziologie und Gender-Theorie in München hingegen behauptet: Nur wer sich Verwundbarkeiten öffnet, belebt den liberalen Diskurs. Man sitzt bei Kaffee und Kuchen zusammen. Was die Qualität des Gebäcks angeht, sind sich die Soziologin und der Philosoph schnell einig. Doch auch darüber hinaus offenbaren sich überraschende Berührungspunkte.

Fremdkörper sein, damit die Leute im­ munisiert werden und kleine von großen Widerständen unterscheiden können.

Paula-Irene Villa ist Professorin für Soziologie

und Gender Studies an der Paula-Irene Villa: Ich sehe das Ent­ Ludwig-Maximilians-Univerfernen von „Avenidas“ auch kritisch, da sität München. Zu ihren Forschungsschwerpunkten ich hier keinen Sexismus erkenne. Aber zählen u. a. Körpersoziologie in der Debatte wird übersehen, dass und Cultural Studies. In ihrem Kunst an einer Hochschulfassade eben Buch „Unterscheiden und Herrschen“ (transcript, 2017) keine Installation im Museum ist. Die untersucht sie mit Sabine Hochschule setzt ihren Bildungsauftrag Hark die Verflechtungen zwischen Rassismus, ja womöglich gerade darin um, sich im Sexismus und Feminismus Sinne der Mündigkeit mit den Lesarten auseinanderzusetzen. Auch würde ich keine Gesellschaftsdiagnose daraus ab­ leiten. Denn an den Hochschulen wird heute sehr wohl kontrovers diskutiert. Sie, Herr Pfaller, sagen, diese Entwick­ lungen kommen aus den USA. Empirisch ist das aber wesentlich schwieriger zu >>>

Philosophie Magazin Nr. 03 / 2018 / 37


Einfach l warum ist das so kompliziert?


DOSSIER

eben– E Foto: Blue Magic, 2017 ©Daniel Rueda (@drcuerdaon Instagram)

infach leben, das klingt so leicht. Nach Gelassenheit, geistiger Weite. Nach einer Existenz, die ihre Freiheit in der Beschränkung findet. Nach Balance, Übersicht, Halt. Doch wer versucht, ein solches Dasein auf Dauer zu stellen, scheitert schnell an den Realitäten des Alltags – und auch an sich selbst. Wie verzichten in einer Welt, die permanent Neues anpreist? Wie ausgeglichen sein, wenn Verlangen und Lust – ganz zu schweigen von den Ansprüchen der anderen – die innere Ruhe permanent stören? Die Philosophie zeigt drei Wege zum einfachen Leben auf: Erst die Übung führt uns zur Leichtigkeit. Das Geheimnis einer erfüllten Existenz ist die Leere. Das Wesentliche zu sehen, setzt Selbsterkenntnis voraus. Askese, Minimalismus, Authentizität: Einfachheit beginnt in uns.

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DOSSIER

Einfach leben

Die Leichtigkeit des

Seins

Simplify your life? Gar nicht so ­einfach. So viele Dinge, Menschen und Verführungen, die das tägliche Dasein verkomplizieren. Hier drei Lockerungsübungen Illustrationen von Hendrik Jonas

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I

Askese

Lerne üben

F

asten Sie gerade? Oder gehören Sie zu denen, die sich den Verzicht auf Süßigkeiten oder Alkohol immer wieder fest vornehmen, aber dann doch umschwenken? Möglich, dass Sie (sofern Sie nicht gläubig sind) schlicht noch keine Klarheit darüber haben, was eigentlich der Gewinn der Entsagung ist – abgesehen von vielleicht ein paar Gramm weniger auf der Waage. Große Denker der Philosophiegeschichte geben eine durchaus ermutigende Antwort: Was Sie durch Ent­ sagung gewinnen? Sich selbst! Sie bilden Ihren Cha­ rakter und lebenswichtige Tugenden aus, anstatt Ihre Talente zu verschwenden. Die Methode hierfür ist die Askese, die sich vom griechischen Wort askein ableitet und wörtlich über­ setzt: „üben“ bedeutet. Gemeint ist mit diesem Be­ griff eine enthaltsame Lebensweise, eine Selbstüber­ windung im Dienste von Höherem. Wie sollte der Mensch seine ihm eigene Kraft entfalten und zum Optimum seiner Fähigkeiten streben, wenn er nicht Verlockungen und Ablenkungen entsagte? Keine Selbstüberwindung ohne Mühe, keine Leistungs­ steigerung ohne Training. In der Antike sind die philosophischen Schulen der Stoa und Epikurs einschlägig. In diesen beiden miteinander verwandten Lehren geht es zentral um die Herstellung einer „Seelenruhe“ (ataraxia), einer wohltuenden Abwesenheit von Stimmungsschwan­ kungen also, die nur durch Übung und Disziplin zu erreichen ist. So lautete der Rat der Stoiker: Lass dich von den Dingen, die du ohnehin nicht ändern kannst, nicht aus der Ruhe bringen. Übe dich in Gelassenheit. Epikur indes mahnte zur sinnlichen Mäßigung: Nur wer sich mit „einfacher Nahrung“ zufrieden zu geben wisse, sei für die Lust empfäng­ lich und, so der Philosoph, „mache sich furchtlos gegenüber dem Schicksal“. Ganz offensichtlich besitzen diese Lehren noch heute hohe Überzeugungskraft – wer wollte bestrei­

ten, dass die Regulation von Emotionen und sinnli­ chen Genüssen die innere Ausgeglichenheit signi­ fikant steigert? Durch die Antike inspiriert war der größte Asket der Moderne: Friedrich Nietzsche. Sein Kernanlie­ gen: die Ausbildung von Exzellenz. Seine Überzeu­ gung: keine Perfektionierung ohne Übung und Ent­ sagung. Letztere gilt für Nietzsche vor allem in sexueller Hinsicht. So führt der Denker in seiner „Genealogie der Moral“ aus, dass ein mönchisches Dasein leben müsse, wer sich mit Recht Philosoph nennen wolle. Der wahrhafte Philosoph wendet sich entschlossen „höchster und kühnster Geistigkeit“ zu, verzichtet auf Beischlaf und „bejaht“ damit sein Dasein. Nietzsche schreibt: „Darin ist Nichts von Keuschheit aus irgend einem asketischen Skrupel und Sinnenhass, so wenig es Keuschheit ist, wenn ein Athlet oder Jockey sich der Weiber enthält: so will es vielmehr, zum Mindesten für die Zeiten der grossen Schwangerschaft, ihr dominierender Ins­ tinkt. Jeder Artist weiss, wie schädlich in Zuständen grosser geistiger Spannung und Vorbereitung der Beischlaf wirkt.“ In diesen Sätzen Nietzsches offenbart sich glas­ klar die produktive, ja lustvolle Seite des Verzichts. Ein Tor, wer beim Wort Askese sofort an schlecht gelaunte, blutleere, sexuell unterversorgte Mitmen­ schen denkt. Nein, der wirkliche Asket verlagert seine Lust vom Körperlichen ins Schöpferische. Ein Gedanke, den Nietzsche aus Platons Dialog „Sym­ posion“ übernommen hat und der später auch in Sigmunds Freuds Begriff der „Sublimation“ eine zentrale Rolle einnimmt: Wer „sublimiert“, ver­ wandelt und veredelt seine Triebe zu wertvoller Kulturarbeit. Zur Beruhigung: Freud zumindest war der An­ sicht, dass ein gewisses Maß an sexueller Betätigung nicht nur erlaubt, sondern der Gesundheit durchaus zuträglich sei. Und – überzeugt? (sf)

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DOSSIER

Einfach leben

Verzicht mit Maß Ist es möglich, dem Chaos der Welt zu entfliehen und einer klaren Ordnung zu folgen? Schon immer war das Kloster für diesen Traum der prädestinierte Ort. Die Askese der Benediktinermönche im oberbayerischen Ettal lässt durchaus Platz für sinnliche Genüsse. Unser Autor im Selbstversuch

E

s ist keine halbe Stunde her, dass wir uns zum Abendessen hingesetzt haben, doch aus den Augenwinkeln sehe ich, dass die Mönche an den langen Tischen des Refektoriums schon alle fertig sind. Auch die Episode, die einer der Brüder aus der Vita des Heiligen Benedikt vorliest, neigt sich unüberhörbar ihrem Ende zu. Kann es sein, dass Essen hier zu den olympischen Sportarten gerech­ net wird? Hastig schlinge ich die letzten Bissen meiner köstlichen Chicken Wings hinunter. Auch das halbe Helle trinke ich vorsorglich auf ex. So hatte ich mir das Leben im Kloster nicht vorgestellt. Ich bin in Ettal, einer bayerischen Benediktiner­ abtei, um einige Tage zusammen mit den Mönchen zu verbringen – um zur Ruhe zu kommen, zu schwei­ gen und den Rhythmus des hiesigen Lebens zu über­ nehmen. Zwar stamme ich mütterlicherseits selbst aus einer katholischen Familie, doch ist meine Vorbil­ dung so bescheiden, dass ich nicht einmal die Elemen­ te einer gewöhnlichen Messe richtig identifizieren kann. Daher werde ich einerseits in die Rolle eines distanzierten, teilnehmenden Beobachters schlüpfen.

50 / Philosophie Magazin April / Mai 2018

Doch zugleich bin ich selbst auf eine asketische Erfah­ rung aus. Was passiert, wenn ich mich darauf beschrän­ ke, zu den Gottesdiensten zu gehen, zu essen und in meiner Zelle zu meditieren? Welche Gedanken stellen sich ein, wenn ich auf Bücher, Zeitung und Internet verzichte? Als jemand, der viel Zeit mit Lesen ver­ bringt, stelle ich mir die Abstinenz von Buchstaben besonders einschneidend vor. Ettal liegt in einem engen, schneesicheren Tal in der Nähe von Garmisch-Partenkirchen. Schon von weitem sind die Basilika mit ihrer großen Kuppel, das zur Abtei gehörige Hotel und die prächtigen Barock­ fassaden des Internats zu sehen. Dagegen liegt das eigentliche Kloster vor neugierigen Blicken geschützt nach hinten um einen stillen Innenhof. Pater Sebasti­ an, der sich um die Gäste kümmert, holt mich an der Pforte ab, um mir die wichtigsten Orte, das Refektori­ um, die Hauskapelle und meine Zelle zu zeigen. Als wir die Klausur, den inneren, den Mönchen und ihren Gästen vorbehaltenen Bereich des Klosters betreten, habe ich das deutliche Gefühl, eine symbolische Schwelle zu überschreiten, hinter der ein Paralleluni­ versum mit anderen Regeln beginnt.

Foto: Matthias Fend

Von Philipp Felsch


Der Ordensgründer Benedikt von Nursia verfügte im 6. Jahrhundert nach Christus, dass jedes Benedikti­ nerkloster wirtschaftlich autark sein müsse, um seine geistige Unabhängigkeit zu garantieren. Doch fern davon, sich auf ihren Lebensunterhalt zu beschrän­ ken, hat die Autarkie der Mönche mindestens ebenso viel mit der Minimierung äußerer Bezüge und der Errichtung einer nur ihren eigenen Gesetzen gehor­ chenden spirituellen Ordnung zu tun. Auf Laien hat dieser Gestus der radikalen Abnabelung schon immer eine starke Faszination ausgeübt. Auch für mich ist das Kloster mit dem Phantasma einer aufgeräumten, von allen Ablenkungen und lästi­ gen Fremdbestimmungen befreiten Existenz verbun­ den. Schon die Stille kommt mir hier drinnen durch­ dringender als draußen vor. In den folgenden Tagen mache ich allerdings eine irritierende Erfahrung: Ettal

ist einerseits viel weltlicher und andererseits viel welt­ fremder, als ich mir hätte träumen lassen. Tatsächlich folgt das Kloster seiner eigenen räumlichen und zeitli­ chen Ordnung, doch spielen sich auch hier die Mecha­ nismen menschlichen Zusammenlebens ein. Daher fühle ich mich im einen Moment im Mittelalter – im nächsten aber in einer großen Männer-WG. Erst aus der Nähe bekomme ich eine Ahnung davon, welchen immensen Verzicht die Mönche leisten. Doch mit mei­ nen landläufigen Vorstellungen von Askese hat dieser Verzicht wenig zu tun. Am nächsten Morgen geht der Tag um fünf Uhr mit der Vigil, dem ersten von sieben Stundengebeten in der Hauskapelle los. Das Kerngeschäft der Benediktiner be­ steht darin, die 150 Psalmen des Alten Testaments zu beten. Am Ende ihres Zyklus, nach knapp zwei Wochen, fangen sie von vorne an. Verstärkt vom Dämmerzustand >>> Philosophie Magazin Nr. 03 / 2018 / 51


DOSSIER

Einfach leben

Die Kunst der Einfachheit


Rückzug oder Geselligkeit: Welche Existenzform ist die einfachere? Sind wir nur auf dem Land authentisch und frei von Konkurrenzdruck? Oder sind die Raffinessen der Zivilisation die Voraussetzung für ein erfülltes Dasein? Barbara Vinken und Hilal Sezgin über schwierige Tiere, richtigen Konsum und wahren Luxus

Barbara Vinken Die Professorin für Allgemeine und Französische Literaturwissenschaft an der Ludwig-MaximiliansUniversität München ist überzeugte Großstädterin. 2016 erschien von ihr: „Die Blumen der Mode“ (KlettCotta). Aktuell arbeitet sie an ihrem Buch „Paris – der innere Orient“, das 2019 erscheinen wird

E

s ist kalt an diesem grauen Berliner Nachmittag, weshalb Barbara Vinken im Pelzmantel erscheint. Sie hat schon eine kleine Odyssee hinter sich, weil ihr ICE wegen der Verwüstungen, die Tief „Friederike“ angerichtet hat, auf halber Strecke liegen geblieben ist. Die Literaturwissenschaftlerin und Romanistin ist Wahlmünchnerin, ihre Leidenschaft: die Verführungen der Mode und die Schönheit des Großstadtlebens. Die Philosophin Hilal Sezgin ist 2007 von Frankfurt auf ihren „Gnadenhof“ in der Lüneburger Heide gezogen, wo sie mehr als 50 Tieren eine artgerechte Existenz gewährt. Sezgin ist überzeugte Veganerin. Zur Stärkung bietet sie der ausgehungerten Vinken ein Sojajoghurt aus ihrem Reiseproviant an. Der Tierrechtlerin selbst ist kalt. Aber das freundliche Gegenangebot, sich doch den molligen Pelz um die Schultern zu legen, möchte sie lieber nicht annehmen. Die Irritation löst sich in Gelächter.

Hilal Sezgin Die Philosophin lebt auf einem Gnadenhof in der Lüneburger Heide, wo sie 50 Tieren ein Zuhause gibt. 2011 erschien ihr Buch „Landleben. Von einer, die auszog“ (DuMont). Ihr jüngstes Werk: „Nichtstun ist auch keine Lösung. Politische Verantwortung in Zeiten des Umbruchs“ (Fischer, 2017)

Das Gespräch führte Philipp Felsch / Fotos von Urban Zintel

Philosophie Magazin: Frau Sezgin, Frau Vinken, verschwenden Sie beim Aufstehen einen Gedanken an die Frage, was Sie heute anziehen werden? Barbara Vinken: Natürlich, aber erst wenn ich Kaffee getrunken und et­ was Heißes, Süßes gegessen habe. Erst danach kann ich denken. Ich frühstü­ cke im Morgenmantel und ziehe mich erst danach an. Das gibt mir Zeit, mich in den Tag hineinzufühlen und zu ent­ scheiden, wie ich mich ihm stellen will. Hilal Sezgin: Als Feministin muss ich erst mal fragen, ob Sie diese Frage auch zwei Männern stellen würden. Aber nein, ich denke nie darüber nach. Morgens ver­ suche ich, wach zu werden, und gieße dazu sehr viel Tee in mich hinein. Dann schmeiße ich mir irgendwas über und gehe raus, um die Tiere zu versorgen. Ich

ziehe mich am Tag sowieso hundertmal um. Wenn ich zu den Tieren gehe, ziehe ich meine Stallsachen über, und danach ziehe ich sie wieder aus. Bei mir liegen überall Hosen rum, die bleiben liegen, nachdem ich aus ihnen rausgestiegen und an den Schreibtisch gegangen bin. PM: Ich frage deshalb, weil für Lud­ wig XIV. der Tag mit dem lever du roi begann, einem Ritual, das penibel fest­ legte, welcher Höf ling zu welcher Zeit sein Schlafzimmer betreten und wer ihm welche Perücke anreichen durfte. Ist dieses höfische Zeremoniell nicht geradezu die Negativfolie dessen, was wir uns als einfaches Leben wünschen: das Überflüssige weglassen, um uns auf das Wesentliche zu konzentrieren? Vinken: Genau dieser Ansicht war die Gattin Ludwig XVI., Marie Antoi­

nette! Deswegen hat sie ihren Körper den Augen des Hofes entzogen und ein­ faches Leben gespielt, mit Hirten und Schafen und allem Drum und Dran. Das „einfache Leben“ ist eine höchst raffi­ nierte, ja künstliche Idee, an der wir alle hängen. Es orientiert sich an litera­ rischen Motiven wie zum Beispiel dem griechischen Arkadien und dem pasto­ ralen Schäferleben und richtet sich gegen die Zwänge der höfischen Reprä­ sentation. Sezgin: Ich stimme Ihnen zu, dass das ländliche Leben nicht authentischer, echter oder richtiger als das höfische oder städtische ist. Sie gehören beide zum menschlichen Leben. Es gibt dieje­ nigen, die die Vorzüge der urbanen Exis­ tenz schätzen. Man kann sich in ein Café setzen, ins Theater oder ins Kino gehen. >>> Da war ich aber nie der Typ dafür. Philosophie Magazin Nr. 03 / 2018 / 59


Ideen

Das Gespräch

Thea Dorn

Thea Dorn differenziert, wo andere sich nicht trauen. In ihrem neuen Buch „Über Deutschland“ fragt sie, wie sich das Spezifische der deutschen Kultur ohne Blut-und-Boden-Ideologie denken lässt. Ein Gespräch mit einer der streitbarsten Intellektuellen unserer Zeit Das Gespräch führte Svenja Flaßpöhler / Fotos von Maria Sturm

Thea

Dorn

»Die deutsche Kultur ist ein Netz aus Ähnlichkeiten«

E

ine weitläufige Wohnung im Westen Berlins. Hier schreibt Thea Dorn – die ihren Künstlerna­ men an Theodor W. Adorno angelehnt hat – ih­ re Sachbücher, Romane, Drehbücher und The­ aterstücke. Hier erfindet sie auch ihre Krimi­­Heldinnen, die einen gewissen Hang zur Gewalt haben und ihren ganz eigenen Weg gehen. Letzteres gilt auch für Dorn selbst, die eigentlich Opernsängerin werden wollte, sich dann aber der Philosophie und dem Schreiben widmete. Oft, erzählt sie, sei es nicht leicht, Zeit für die eigenen Bücher zu finden; nachdem sie viele Jahre lang Buchsendungen im Fernsehen moderiert hat, wirkt sie heute als Kritikerin im „Literarischen Quartett“ mit. Umso gespannter darf man auf das neue Buch der studierten Philosophin sein, das im April erscheint: „Über Deutschland“ (Knaus) heißt es und wagt den Versuch, einen „aufgeklärten Patriotismus“ gegen Kritik von links sowie eine Vereinnahmung von rechts zu verteidigen. Eine heikle Gratwanderung. Und genau das Richtige für Thea Dorn. Das folgende Gespräch wird drei Stunden dauern, un­ terbrochen durch Pausen auf dem Balkon, von dessen Brüstung sich ein Netz hoch bis zur Decke spannt. „Das ist Schutz gegen die Fledermäuse, die hier immer alles vollkacken. Abschot­ tung, wenn Sie so wollen“, erklärt die Denkerin und lacht.

66 / Philosophie Magazin April / Mai 2018

Philosophie Magazin: Frau Dorn, Sie haben Philoso­ phie studiert. Hat sich dieses Interesse früh abgezeichnet? Thea Dorn: Abgesehen davon, dass ich eine große „Warum?“Nervensäge gewesen bin, fallen mir einige Begebenheiten ein, die mir als Kind keine Ruhe gelassen haben. Eine ist mir be­ sonders im Gedächtnis geblieben. Vor unserem Haus gab es eine Baustelle mit einem riesigen Bulldozer. Und ich habe mich gefragt, wenn da jetzt noch ein Bulldozer kommt, der genauso stark ist, und die fahren gegeneinander – was passiert dann? Im Grunde beschäftigt mich diese Frage bis heute. In Ihrem Buch „Die neue F-Klasse“ ist zu lesen, dass Sie ursprünglich Sängerin werden wollten, dann aber an der Oper mit einem zudringlichen Regisseur konfrontiert waren, sodass Ihnen die Philosophie langfristig als der bessere Weg erschien. Klingt nach einer klassischen #metoo-Erfahrung? Ach, die Geschichte ist viel komplexer. Ja, ich wollte Sängerin werden, unbedingt. Meinen Eltern, die von meiner Idee wenig begeistert gewesen sind, habe ich irgendwann gesagt: „Entwe­ der ich werde Callas, oder ich bringe mich um.“ Singen war meine Obsession. Doch dann habe ich irgendwann gemerkt, >>>


Philosophie Magazin Nr. 03 / 2018 / 67


74 / Philosophie Magazin April / Mai 2018

Illustration: Bertrand SallĂŠ, Bildvorlage: Jacqueline Salmon/Artedia/Leemage/picture-alliance


Ideen

Der Klassiker

Derrida und die

DEKONSTRUKTION Das Kernanliegen Derridas lässt sich klar benennen: Es ging

ihm darum, Machtverhältnisse aufzulösen – und zwar über und durch die Sprache. Was wir als Identität begreifen, so lautet die bahnbrechende The­ se Derridas, ist ein nachträglicher Effekt unseres sprachlichen Gebrauchs. Wenn wir also Zeichen anders verwenden, ihre Bedeutungen aufbrechen, verändern wir die Wirklichkeit: Genau dies ist das Versprechen der Dekon­ struktion. Svenja Flaßpöhler führt in Derridas Denken ein und zeigt: Ge­ rade jetzt, da die Diskussion um geschlechtliche und kulturelle Identität wieder entf lammt, ist die Denkbewegung der Dekonstruktion aktueller denn je. In der Sammelbeilage schreibt Jean-Luc Nancy eine Hommage an Derrida und stellt den dort abgedruckten Text Derridas vor: „Brief an einen japanischen Freund“. N ­ ancy war einer der engsten Freunde Jacques Derri­ das und zählt zu den bekanntesten Philosophen der Gegenwart.

Philosophie Magazin Nr. 03 / 2018 / 75


Derrida

und die Dekonstruktion

Nr. 39

Sammelbeilage

Vorwort / Jean-Luc Nancy Überblick / Martin Duru

„Brief an einen japanischen Freund“ (Auszüge) 1 / Derrida und die Dekonstruktion


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