Nr. 4 /2018

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Nr. 04/ 2018

Juni/Juli

MAGAZIN

Männer und Frauen

Wollen wir dasselbe?

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NASSIM N. TALEB: „BANKER MÜSSTEN IHRE HAUT AUFS SPIEL SETZEN“ FUSSBALL-WM 2018: WELCHE WAHRHEIT BIRGT DER PLATZ? KÜNSTLICHE INTELLIGENZ: SIND MASCHINEN MORALISCHER ALS WIR?

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D: 6,90 €; Ö: 7,- €; CH: 12,50 SF; Benelux: 7,40 €

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Ferdinand Fellmann

Denker in diesem Heft

Lebensgefühle Wie es ist, ein Mensch zu sein

S. 46

S. 20

S. 66

Virginie Despentes

Rahel Jaeggi

Nassim N. Taleb

Bekannt wurde die französische Schriftstellerin und Regisseurin durch ihren Film „Fick mich“ (2000), der wegen der drastischen Pornografie indiziert wurde. Auf Deutsch ist zuletzt ihr Bestseller „Vernon Subutex 2“ erschienen (Rowohlt, 2018). Im Dossier spricht sie über ihre frühen Gewalterfahrungen und erklärt, warum Männer ihre eigene Sexualität nicht verstehen und lesbische Beziehungen einfacher sind.

Die Professorin für Praktische Philosophie an der Humboldt-Universität Berlin leitet seit Februar 2018 das Center for Humanities and Social Change. Im Interview spricht sie über die Herausforderung der Neuen Rechten für die Kritische Theorie und zeigt Wege auf, gesellschaftliche Veränderungen durch philosophische Reflexion anzustoßen. Ihr neues Buch „Fortschritt und Regression“ erscheint im Herbst bei Suhrkamp.

Nach seiner Zeit als Spezialist für Finanzderivate an der Wall Street begann Nassim N. Taleb eine Karriere als Theoretiker des Zufalls. In seinem Bestseller „Der Schwarze Schwan“ (Knaus, 2008) sagte er die Finanzkrise voraus, sein neues Buch „Skin in the Game“ ist soeben auf Englisch erschienen (Random House). Im Gespräch zeigt er, warum Banker nur moralisch handeln, wenn sie ihre Haut aufs Spiel setzen.

S. 32

S. 52

Beiheft

Christoph Biermann

Mithu M. Sanyal

Kurt Bayertz

Mit ihrem Buch „Vulva“ (Wagenbach, 2009) legte sie die erste Kulturgeschichte der weiblichen Geschlechtsorgane vor. Zuletzt erschien ihr preisgekröntes Werk „Vergewaltigung“ (Nautilus, 2016). Im Dossier kritisiert die promovierte Kulturwissenschaftlerin, dass Frauen heute paternalistisch vor Verletzungen geschützt werden, anstatt sie zu einer aktiven weiblichen Sexualität aufzufordern.

Der Philosoph ist Seniorprofessor am Exzellenzcluster Religion und Politik der Universität Münster. Für die Studie „Der aufrechte Gang“ (C. H. Beck, 2012) wurde er mit dem Tractatus-Preis ausgezeichnet. In seinem neuen Buch „Interpretieren, um zu verändern: Karl Marx und seine Philosophie“ (C. H. Beck, 2018) legt er die philosophischen Schichten von Marx’ Werk frei. Für unsere Marx-Sammelbeilage verfasste er das Vorwort.

Blaue Reihe. 2018. 141 Seiten. 978-3-7873-3433-9. Kartoniert

»Das Leben ist mehr als die Summe der Ereignisse; Leben ist, wie die Menschen ihre Welt erleben und was sie daraus machen.« (Ferdinand Fellmann)

Der Sportjournalist gehört zur Chefredaktion des Fußballmagazins 11 Freunde und ist Mitglied der Deutschen Akademie für Fußballkultur. Kürzlich erschien sein Buch „Matchplan“ (KiWi, 2018), in dem er die Rolle des Zufalls für den Fußball analysiert. Anlässlich des WM-Starts im Juni diskutiert er mit dem Philosophen Wolfram Eilenberger, was Fußball über die Zukunft der Gesellschaft verrät.

Die nächste Ausgabe erscheint am 12. Juli 2018

Fotos: JF Paga; Gene Glover/Agentur Focus; Edouard Caupeil; Peter Rigaud; Regentaucher; privat

EUR 16,90. Auch als eBook!


Intro

Horizonte

Dossier

Ideen

S. 3 Editorial S. 6 Ihre Frage S. 7 Kinder fragen Tomi Ungerer S. 8 Leserbriefe

S. 26 Analyse Sind Maschinen moralischer als wir? Von Alexandre Lacroix S. 32 Dialog Welche Wahrheit birgt der Platz? Wolfram Eilenberger und Christoph Biermann

Wollen wir dasselbe?

S. 66 Das Gespräch Nassim N. Taleb: „Moralisch ist, wer seine Haut aufs Spiel setzt“ S. 72 Werkzeugkasten Lösungswege / Das Ding an sich / Die Kunst, recht zu behalten S. 74 Der Klassiker Karl Marx und der Klassenkampf + Sammelbeilage: „Das Manifest der Kommunistischen Partei“

Zeitgeist S. 10 Sinnbild S. 12 Denkanstöße S. 14 Resonanzen Putins Postmoderne / Die Logik des Babys / Das Kreuz mit Bayern S. 18 Hübls Aufklärung Diesmal: Die Gefahr des Gewöhnlichen S. 20 Perspektive Rahel Jaeggi: „Ich halte nichts von Showkämpfen zwischen links und rechts“ S. 22 Erzählende Zahlen Die Kolumne von Sven Ortoli

S. 26

S. 40 Die große Verfehlung Von Svenja Flaßpöhler S. 42 Der kleine Unterschied Perspektiven aus drei Wissenschaften S. 46 „Männer verstehen ihre eigene Sexualität nicht“ Interview mit Virginie Despentes S. 48 Kontrakt und Koitus Von Nils Markwardt S. 51 Ist das neue Sexual­ strafrecht sinnvoll? Interview mit Sabine Müller-Mall S. 52 Befreit die weibliche Lust! Von Mithu M. Sanyal S. 54 Das Spiel der Verführung S. 58 Und jetzt? Eva von Redecker und Harald Welzer im Gespräch S. 48

Bücher S. 82 Buch des Monats Die kommende Versammlung S. 84 Thema: Der Geist des Gartens S. 86 Scobel.Mag S. 88 Kolumne: Das philosophische Kinderbuch

Fotos: Marcel Christ; Inmoov by Gael Langevin, photo by Yethy; Olivia Bee/Trunk Archive; Aleksandra Kingo

Finale S. 90 Agenda S. 92 Comic Catherine Meurisse: Menschliches, Allzumenschliches S. 94 Lebenszeichen Von Tieren lernen: Der Frosch S. 97 Spiele / Impressum S. 98 Sokrates fragt Anneke Kim Sarnau S. 42

S. 52

Philosophie Magazin Nr. 04 / 2018 / 5


Zeitgeist

Perspektive

Rahel Jaeggi

„Ich halte nichts von Showkämpfen zwischen links und rechts“ Die Neue Rechte fordert die Kritische Theorie heraus: Das sagt die Philosophin Rahel Jaeggi, Direktorin des neu gegründeten Center for Humanities and Social Change. Was kann die Philosophie zur Lösung der Demokratiekrise beitragen? Das Gespräch führte Svenja Flaßpöhler

Wie genau kann das Philosophieren über die Krise in die Wirklichkeit eingreifen? Sozialphilosophie leistet Begriffsarbeit, sie stellt Konzepte bereit, mit denen Problemstellungen, Krisen, soziale Erosionserscheinungen aufgespürt, sortiert und interpretiert – und letztendlich gesellschaftliche Verhältnisse verstanden, bewertet und kritisiert werden können. Philosophische Begriffe machen auf besondere Weise Erfahrungen artikulierbar, sie haben für die Praxis der Kritik eine erschließende und mobilisierende Kraft – und können so im besten Fall als Katalysatoren für Dynamiken sozialer Kämpfe und sozialer Veränderung wirken. Soziale Akteure machen keine „nackten“ oder unmittelbaren Erfahrungen sozialen Leids oder gesellschaftlichen Unwohlseins. Es sind immer auch Begriffe wie Ausbeutung, Entfremdung, Verdinglichung, Beschleunigung oder Entwürdigung, die dafür sorgen, dass bestimmte Erfahrungen überhaupt verstanden werden können. So etwas entfaltet im Zweifelsfall

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eine kollektiv mobilisierende Kraft. Auch das ist etwas, das wir im Center tun wollen: einen Austausch ermöglichen zwischen Theorie und Praxis, also auch: mit denen reden, die mit den Schlüsselproblemen unserer Gesellschaft täglich zu tun haben. Nun beanspruchen auch rechte Bewegungen für sich, gesellschaftliche Verhältnisse zu kritisieren. Und ein Viktor Orbán oder ein Alexander Gauland würden ebenfalls behaupten, dass ihre ausländer­feindliche Politik einen Wandel zum Besseren anstößt. In der Tat! Das ist eine herausfordernde Situation. Die, die Kritik üben, kommen nicht mehr verlässlich von links, soziale Bewegungen auch nicht. Aber so neu ist das auch wieder nicht. Eigentlich waren die Auseinandersetzung mit dem Faschismus und die Erfahrung rechter Massenbewegungen ja die Geburtsstunde der Kritischen Theorie. Aber ja, wir haben jetzt eine Rechte, die sich in ihren Protestformen an denen der Linken orientiert und um Hegemonie und Anerkennung kämpft. Es ist offensichtlich, dass diese Bewegungen nicht für Freiheit, Gleichheit oder Demokratie stehen, sondern für Ausschluss, Diskriminierung, Unfreiheit und Unterdrückung und eine Art von Gemeinschaft, die auf aggressiver Ausgrenzung beruht. Aber damit hat man eben noch nicht viel gesagt und nicht viel verstanden. Hier werden einige Züge der frühen Kritischen Theorie wieder sehr aktuell: Faschismus als Regressionsphänomen zu verstehen und nicht nur als Ausdruck des absolut Bösen war der Schlüssel zu einem Verständnis, das über die moralische Bewertung hinausging. Was genau unterscheidet denn Fortschritt und Regression? Fortschritt lässt sich als ein Prozess der Anreicherung begreifen, innerhalb dessen Probleme auf immer komplexeren Niveaus gelöst werden. Regression, und hier verorte ich die Neue Rechte, meint das genaue Gegenteil: Bestimmte Erfah-

Rahel Jaeggi Rahel Jaeggi ist Professorin für Praktische Philosophie an der HumboldtUniversität Berlin und Direktorin des Center for Humanities and Social Change. Ihr Buch „Fortschritt und Regression“ erscheint im Oktober bei Suhrkamp

Foto: Hans Christian Plambeck/laif; Autorenfoto: Gene Glover/Agentur Focus

Frau Jaeggi, wie kam es zur Gründung des Centers for Humanities and Social Change? Rahel Jaeggi: Durch eine Spende von Erck Rickmers, einem vermögenden Hamburger Reeder, der mit seiner Stiftung Humanities and Social Change weltweit vier solche Center gegründet hat. Das Berliner Center wird sich mit der Krise der Demokratie und des Kapitalismus aus der Perspektive einer kritischen Theorie der Gesellschaft beschäftigen. „Demokratie“ verstehen wir dabei nicht nur als Regierungsform, „Kapitalismus“ nicht lediglich als ökonomische Formation, sondern als vielfältiges Geflecht von unterschiedlichen sozialen Institutionen und Praktiken, als gesellschaftlich-kulturelle Lebensform. Verstehen und Kritisieren sind hier eng miteinander verbunden. Und im Fluchtpunkt eines solchen Unternehmens steht natürlich die Hoffnung, durch solche Analysen und die Verständigung über die aktuellen Krisenerscheinungen etwas verändern zu können.


Angesichts der regressiven Neuen Rechten werden die Ansätze der frühen Kritischen Theorie wieder hochaktuell

” Im medialen Fokus: AfD-Politiker Alexander Gauland

rungsprozesse werden nicht gemacht, Probleme nicht gelöst. Deshalb spreche ich hier von einer Erfahrungs- oder Lernblockade. Was würden Sie dem Schriftsteller Uwe Tellkamp antworten, der die „Gemeinsame Erklärung 2018“ unterschrieben hat und jetzt sagen könnte: „Ihr pragmatischer Ansatz ist schön und gut, Frau Jaeggi, aber die Lernblockade liegt leider auf der Seite der Linken. Immerhin ist sie es, die die Flüchtlingskrise total unterschätzt und immer noch an gesinnungsethischen Idealen festhält.“ Ich antworte, dass die Furcht vor Überfremdung auf irrationalen Affekten und Ressentiments beruht. Wie viel muss man eigentlich besitzen, damit man nicht mehr glaubt, auf Schwächere eintreten zu müssen? Natürlich gibt es auch hierzulande Menschen, die nicht viel besitzen. Das Problem sind aber nicht die Geflüchteten, sondern dass Arme gegeneinander ausgespielt werden und Umverteilung nicht funktioniert. Das ist eine Verschiebung: Das Gefühl, „fremd im eigenen Land“ zu sein, hat ja durchaus eine Grundlage. Ich fühle mich auch nicht mehr zu Hause, wenn ich sehe, wie der Kapitalismus das Grundbedürfnis des Wohnens und der Teilhabe als Luxusgut vermarktet, das Bildungssystem systematisch unterfinanziert, den Sozialstaat untergräbt. Mir ist aufgefallen, dass die Philosophen und Philoso­phinnen, mit denen Ihr Center zusammen­

arbeitet, nahezu alle der Kritischen Theorie angehören. Wäre es nicht sinnvoll, gerade heute, da die Spaltung der Gesellschaft zunimmt, auch mit denen zu debattieren, die anders denken? Dass man mit bestimmten Leuten einen Diskussions- und Arbeitszusammenhang etabliert, bedeutet ja nicht, dass man mit anderen nicht reden will. Es ist meine Überzeugung, dass die Kritische Theorie gerade dort interessant ist, wo sich herausstellt, dass sie Anknüpfungspunkte an methodisch wie inhaltlich ganz andere Theoriezusammenhänge hat. Im akademischen Feld sind wir da pluraler als manch andere Richtung. Wenn Sie damit die politisch gerade viel diskutierte Frage meinen, ob man mit Rechten reden soll: Ich halte nichts von dieser medial verstärkten Debatte, in der die radikale und autoritäre Rechte auf allen Kanälen über „Denkverbote“ klagt. Bestimmte zivilisatorische Mindeststandards nicht zur Debatte zu stellen, ist keine Tabuisierung – sondern Resultat einer historischen Erfahrung mit den sich hier artikulierenden Positionen. Ich halte es für keine kluge Strategie, dem Kampf der Rechten um kulturelle Hegemonie – und das ist ja sehr offen, dass er das ist – damit zu begegnen, dass man selbst die Grenzen der Diskussion nach rechts verschiebt. Man kann dem nur begegnen, indem man die richtigen Fragen stellt und die wichtigen Probleme analysiert und aufgreift. Die Krisen, die zu der Lage geführt haben, in der wir heute sind. Anstatt Showkämpfe zwischen Linken und Rechten zu organisieren, geht es darum, genau diese Dynamiken in den Blick zu nehmen.

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Sind

Maschinen


Horizonte

Analyse

moralischer als

wir?

Vor wenigen Wochen ist es passiert: In den USA starb eine Frau durch ein selbstfahrendes Auto. Damit stellt sich die Frage nach der Moralität der Maschine auf dringliche Weise. Können Roboter lernen, Gut und Böse zu unterscheiden? Und nach welchen moralischen Kriterien entscheiden sie im Zweifelsfall? Fünf Experten antworten

Fotos: Yethy, Inmoov by Gael Langevin

Von Alexandre Lacroix / Aus dem Französischen von Felix Kurz

eit 2016 läuft sie bereits, fast 40 000 Menschen haben an ihr teilgenommen: die Online-Umfrage „Moral Machine“ des renommierten Massachusetts Institute of Technology (MIT). Ihr Ziel ist es, unsere moralischen Intuitionen anhand von dramatischen Entscheidungsszenarien zu erforschen. Ein Beispiel: Bei einem selbstfahrenden Auto versagen die Bremsen und es gibt nur zwei Möglichkeiten: Soll es gegen eine Mauer fahren, wodurch die Insassen sterben, oder soll es drei Kinder zu Tode fahren, die gerade aus der Schule kommen? Macht es einen Unterschied, wenn die Kinder bei Rot über die Ampel gehen? Oder wenn das Auto ein Baby an Bord hat? Das Szenario ist nicht aus der Luft gegriffen. Mit der bevorstehenden Zulassung selbstfahrender Autos auf unseren Straßen müssen wir uns einem Problem stellen, das 1967 von Philippa Foot formuliert wurde und in der angloamerikanischen Ethikdebatte seitdem als Trolley-Problem bekannt ist (s. Abb. S. 28). Eine Straßenbahn rast auf fünf Menschen zu. Sie können jedoch eine Weiche umstellen, sodass die Bahn nur einen Menschen töten würde. Würden Sie das tun, auch wenn Sie damit für

diesen einen Tod verantwortlich wären? Die meisten Menschen antworten mit Ja. Betrachten wir nun folgende Variante: Sie können die Straßenbahn stoppen, indem Sie einen stark übergewichtigen Mann auf die Gleise stoßen. Würden Sie das auch tun? Die meisten Menschen lehnen dies ab, obwohl das Ergebnis dasselbe wäre. Das beweist, dass wir nicht vollkommen „konsequenzialistisch“ denken, also unser moralisches Urteil über eine Handlung nicht allein an ihrem Resultat, ihren Konsequenzen ausrichten (s. Kasten S. 30).

Baby, you can’t drive my car Einer der maßgeblichen Entwickler des MIT-Tests, Jean-François Bonnefon, ist Professor an der Toulouse School of Economics und forscht im Bereich der kognitiven Psychologie. Ich kontaktiere ihn und konfrontiere ihn mit einem Problem – nämlich der Tatsache, dass es uns Menschen im Zweifelsfall eher um das eigene Wohl beziehungsweise das Wohl unserer Nächsten geht, Maschinen aber, ganz utilitaristisch, das größtmögliche Glück der größtmöglichen Zahl im Visier haben. Konkret: Wenn Google morgen ein Fahrzeug auf den Markt bringen würde, das darauf programmiert ist, in bestimmten Situ-

ationen gegen eine Mauer zu fahren, würde ich es nur höchst widerwillig nutzen und niemals meine Kinder hineinsetzen. Wird die Bereitschaft, auf selbstfahrende Autos umzusteigen, nicht davon abhängen, dass sie garantiert immer ihre Insassen retten, selbst wenn es unmoralisch ist? „Sie fahren offenbar lieber selbst“, antwortet Bonnefon. „Aber angenommen, durch ein selbstfahrendes Auto sinkt das Unfallrisiko um den Faktor zehn, fünf oder auch nur zwei, hätte es dann nicht etwas Irrationales, auf diesen Vorteil zu verzichten, nur weil Sie eine extrem seltene Situation fürchten? Hätten Sie nicht im Gegenteil die moralische Pflicht, Ihre Kinder vor den Gefahren zu schützen, die Ihr eigenes Fahren mit sich bringt?“ Bin ich also der Einzige, dem der Gedanke, in einem Vehikel zu sitzen, das mich töten kann, wenn es dafür zwei Menschenleben rettet, Angst bereitet? Diese Frage stelle ich Nicholas Evans, Philosophieprofessor an der Universität Lowell (Massachusetts); er hat mit einem Forscherteam gerade 556 000 Dollar von der National Science Foundation dafür erhalten, einen Algorithmus zu entwickeln, der das TrolleyDilemma lösen soll. Der Markterfolg >>> Philosophie Magazin Nr. 04 / 2018 / 27


Horizonte

Dialog

Welche Wahrheit birgt der Platz? In wenigen Wochen startet die Weltmeisterschaft in Russland, die von Abermillionen Menschen verfolgt werden wird. Doch was fesselt uns eigentlich an diesem Spiel? Christoph Biermann und Wolfram Eilenberger über die Feier des Unvermögens, kontrollierte Chaotisierung und ein alternatives Heimatministerium Das Gespräch führte Nils Markwardt / Fotos von Peter Rigaud

ist Publizist und Sportjour­na­­ list. Er gehört zur Chefre­dak­­ tion des Fußballmagazins 11 Freunde und ist Mitglied der Deutschen Akademie für Fußballkultur. In seinem neu­­en Buch „Matchplan. Die neue Fußball-Matrix“ (Kiwi, 2018) analysiert er, wie sich die Digitalisierung auf den Fuß­ ball auswirkt und wie wichtig der Zufall für das Spiel ist

Philosophie Magazin: Wenn jemand nichts mit Fußball am Hut hat, wie erklären Sie ihm die Faszination dieses Sports? Christoph Biermann: Es gibt eine unnötige Verkomplizierung: Man könnte den Ball ja besser mit der Hand bewegen, warum sollte man den Fuß nehmen? Und dieser Zug setzt sich fort, indem man das mit vielen anderen gegen viele andere auf einer großen Fläche macht. Aus etwas sehr Einfachem, den Ball vom einen Ende des Spielfelds zum anderen zu befördern, wird so etwas sehr Kompliziertes. 32 / Philosophie Magazin Juni / Juli 2018

die geleckte Durchtechnisierung des Fußballs. Mit skeptischer Aufgeschlossenheit hingegen steht der 11-Freunde-Journalist Christoph Biermann der Digitalisierung gegenüber: Klug eingesetzt könne die Technik den Sport bereichern, so der Buchautor. Trotz dieser unterschiedlichen Ausgangspunkte wird im Zuge des Gesprächs aber vor allem eines deutlich: Wer den Fußball versteht, versteht mehr als nur ein Spiel. Er blickt tief in die innersten Funktionsmechanismen unserer Gesellschaft.

Wolfram Eilenberger: Es geht um die Zelebrierung des Unvermögens: Man bringt Menschen in Situationen, die sie nicht lösen können. Und das wird auch noch durch jenes Element verstärkt, das ja in Ihrem Buch eine große Rolle spielt: der Zufall. Der Mensch wird als ein dem Zufall ausgesetztes Wesen inszeniert. Er wird als Geworfener sichtbar. Biermann: Es ist ein Kampf gegen das Chaos, trotzdem spielt der Zufall bei der Interpretation der Ereignisse selten eine Rolle. Spieler und Trainer sprechen ungern über etwas, das sie nicht beherrschen können. Beim Publikum wird

Wolfram Eilenberger ist promovierter Philosoph, Bestsellerautor und Journalist. Kürzlich erschien von ihm „Zeit der Zauberer. Das große Jahrzehnt der Philosophie 1919–1929“ (Klett-Cotta, 2018). Zudem besitzt er einen DFBTrainerschein, spielt in der Autorennationalmannschaft und schreibt auf ZEIT Online die Fußball-Kolumne „Kabinenpredigt“

ebenfalls oft übersehen, welche Rolle Glück und Pech spielen. Mit dem Psychologen Daniel Kahneman gesprochen, gibt es deshalb auch so oft einen Confirmation Bias im Fußball. Der krasseste besteht darin, die Spiele immer vom Ergebnis her zu betrachten. Wir haben ein 1:0, ein 0:0 oder ein 1:1 und fangen von diesem Punkt an, rückwirkend zu interpretieren, was auf dem Platz passiert ist. Doch die zufälligen Elemente werden in den wenigsten Fällen mitthematisiert. PM: Gleichzeitig wird mit einer immer stärkeren Big-Data-Offensive versucht, den Zufall zu beherrschen. >>>

Foto: Lara Zankoul

Christoph Biermann

D

ie Sonne überstrahlt den grünen Rasen des SV Blau Weiß Berolina. In das Vereinslokal des Fußballclubs aus BerlinMitte hingegen dringt kaum Licht, zu voll ist der Raum mit Pokalen, Wimpeln und Postern. Wolfram Eilenberger, der auf dem Gelände mit der Autorennationalmannschaft trainiert, liebt diesen Ort. Das mag auch daran liegen, dass hier noch das Rohe, Unberechenbare zu Hause ist: Wenig bringt den Philosophen mehr in Rage als




DOSSIER

Männer und Frauen:

Foto: Rudolf Bonvie, Dialog 2, 1973, Fotografie, copyright Rudolf Bonvie, courtesy PRISKA PASQUER, Köln

Wollen wir

dasselbe? M

anche Fragen sind nicht dazu da, ausgesprochen zu werden. Sie stehen im Raum, bestimmen die Atmosphäre zwischen zwei Menschen, die nach einer Antwort suchen. Und selbst wenn die Zeichen richtig gedeutet werden, wer sagt, dass beide wirklich und wahrhaftig dasselbe wollen? Wie wäre dieses Selbe zu bestimmen aus der Perspektive verschiedener Geschlechter? So zeigt sich in der gegenwärtigen Debatte um #metoo eindrücklich, wie immens das Maß der Verkennung, der Missdeutungen und Machtgefälle ist – bis hin zu handfester Gewalt. Oder haben wir nur noch nicht begriffen, wie Differenz in ein wechselseitiges Wollen zu verwandeln wäre? Das folgende Dossier zeigt drei Möglichkeiten für ein geglücktes Geschlechterverhältnis auf. I: Regeln. II: Ermächtigen. III: Verstehen. Geben wir Mann und Frau noch eine Chance!

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DOSSIER

Wollen wir dasselbe?

Der kleine Unterschied Welche Folgen haben die geschlechtlichen Differenzen zwischen Mann und Frau? Und wie veränderbar sind sie? Drei Problemdiagnosen aus Sicht der Verhaltensbiologie, der Sexualtherapie und der Gender Studies Aufgezeichnet von Dominik Erhard, Svenja Flaßpöhler und David Döll

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Verhaltensbiologie

„Die wechselseitige Wahrnehmung stimmt nicht überein“ Markus C. Schulte von Drach

Fotos: „Grand Yellow“ © Akatre; Autorenfoto: Hicsum – Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0

D

Der promovierte Verhaltensbiologe Markus C. Schulte von Drach erläutert, warum wir unsere natürlichen Veranlagungen nicht verleugnen sollten

ie Ursachen, die zu sexuellem Fehlverhalten führen, wurzeln tiefer als in den derzeitigen Gesellschaftsstruktu„ ren. Wollen wir Sexismus überwinden, müssen wir berücksichtigen, dass auch natürliche Unterschiede zwischen Männern und Frauen existieren. Wir kommen nicht als unbeschriebenes Blatt auf die Welt. Bei Säugetieren, also auch bei uns Menschen, müssen sich zur Fortpf lanzung stets zwei Geschlechter mit unterschiedlichen Aufgaben treffen. Das Säugetierweibchen kann nur relativ wenig Nachwuchs zur Welt bringen, ganz egal mit wie vielen Männchen es Kontakt hat. Es braucht nur den richtigen Partner zur richtigen Zeit. Das führt bei Weibchen zu wählerischem Verhalten. Das Männchen steuert erst einmal nur Spermien bei und kann theoretisch versuchen, mit möglichst vielen Weibchen seinen Fortpf lanzungserfolg zu erhöhen. Aus Sicht der Weibchen gibt es also männliche Tiere im Überf luss. Aus Sicht der Männchen sind die Weibchen dagegen eine begrenzte ‚Ressource‘, um die sie permanent in Konkurrenz stehen. Dazu kommt, dass die Fortpf lanzung für Weibchen ein erhebliches Risiko und einen viel größeren Ressourcenaufwand darstellt als für Männchen: Sie müssen eine Schwangerschaft und eine gefährliche Geburt überstehen und nur sie können die Kinder mit eigener Milch versorgen. Vor diesem Hintergrund lassen sich auch Unterschiede im Verhalten der Geschlechter beim Menschen erklären. So sind Männer im Durchschnitt häufiger

gewalttätig, risikobereiter und lassen sich öfter auf Konkurrenzsituationen ein. Stellt man sich nun die Frage, warum die Kommunikation zwischen Mann und Frau so oft scheitert, liegt das wahrscheinlich an grundsätzlichen Missverständnissen zwischen den Geschlechtern. Aus einer verhaltensbiologischen Perspektive kann man sagen, dass die Signale der Frauen oft bedeuten: ‚Das habe ich zu bieten – aber nur für den Richtigen.‘ Hier besteht nun das Risiko, dass Männer diese Signale falsch interpretieren. Und zwar so: ‚Ich habe Interesse an Sex – versuch es mal bei mir.‘ Je deutlicher und direkter diese Signale sind, desto eher neigen Männer dazu, sie als Aufforderung zu interpretieren, einer Frau sexuelle Avancen zu machen oder aufdringlich zu werden. (Wobei ganz wichtig ist: Das entschuldigt keine Übergriffe. Und wir sprechen hier nicht von Vergewaltigungen. Das ist ein anderes Thema.) Das fundamentale Problem ist: Männer versetzen sich als Mann in die Frau und berücksichtigen nicht, dass das Sexualverhalten der Frau nicht mit ihrem identisch ist. Und umgekehrt ist es genauso. Es lässt sich dann zu einem gemeinsamen Wollen finden, wenn wir die ganz offensichtlich existenten Unterschiede zwischen Mann und Frau nicht negieren, sondern versuchen, sie zu verstehen. Ein wichtiger Schritt, um sexistische Missverständnisse zu verhindern, ist sich bewusst zu machen, dass die eigene Wahrnehmung häufig nicht mit der Wahrnehmung des >>> Gegenübers übereinstimmt.“

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DOSSIER

Wollen wir dasselbe?

„Männer verstehen ihre eigene Sexualität nicht“ Virginie Despentes, eine der bekanntesten und radikalsten Feministinnen Frankreichs, lebt seit Jahren in einer lesbischen Beziehung. Welche Vorteile das hat, erklärt sie im Gespräch Das Gespräch führte Michael Hesse Frau Despentes, der amerikanische Philosoph Thomas Nagel hat einen Aufsatz geschrieben mit dem Titel: „Wie ist es, eine Fledermaus zu sein?“ Seine Antwort: Wir können nie die Erlebnisperspektive dieses Wesens erschließen. Ist das bei Männern und Frauen genauso, dass wir nie die Perspektive des jeweils anderen einnehmen können? Virginie Despentes: Der Unterschied zwischen Frauen und Männern ist wirklich nicht so groß wie der zwischen Menschen und Fledermäusen. Wir bewegen uns gleich, wir haben eine gemeinsame Sprache. Wenn Männer sich mitteilen, verstehen Frauen, was sie sagen und meinen und umgekehrt. Fledermäuse hingegen können weder schreiben noch sagen sie, wie sie sich fühlen.

arbeitet, viele von ihnen waren wirklich klug. Aber im Gegensatz zu mir würden sie niemals in der Öffentlichkeit darüber sprechen, was sie tun.

Was ist dann das Hauptproblem zwischen Männern und Frauen? Es ist so wie bei allen Gruppen, in denen die eine mehr Macht besitzt als die andere. Der einen Gruppe wurde die Macht übertragen und die vereinnahmt sie nun völlig. Dabei handelt es sich um eine Machtübertragung aus den Händen der Frauen. Es ist eines der großen Anliegen des Feminismus, diesen Prozess zu verstehen. Den Frauen wird untersagt, ihre Macht zu gebrauchen, sie werden ständig eingeschränkt. Der Feminismus versucht Wege zu finden, wie diese Machtgrenzen durchlässiger werden, wie ein Zusammenleben möglich ist. Ein komplexer Vorgang.

Im Jahr 2000 kam Ihr Film „Baise-moi“, zu Deutsch „Fick mich“ in die Kinos. Zwei vergewaltigte Frauen ziehen durchs Land, schlafen mit Männern – und bringen sie hinterher um. Ein sehr expliziter, pornografischer Film. Ja, der Film wurde zensiert.

Sie haben als Prostituierte gearbeitet, wie war das für Sie? Es ist schon lange her und ich musste das nicht lange machen. Es war eine interessante Erfahrung. Ich konnte auf diese Weise viel Geld verdienen. Ich habe Anfang der 1990er-Jahre mit anderen Frauen zusammenge46 / Philosophie Magazin Juni / Juli 2018

Sie haben einmal gesagt, dass es für Sie bedeutend gewesen sei, als Prostituierte zu arbeiten, nachdem Sie und Ihre Freundin von drei Männern vergewaltigt worden sind. Eine Vergewaltigung sitzt tief. Deshalb war es wie eine Chance, etwas zu reparieren. Ich habe so wieder Selbstvertrauen gewonnen. Der Katholizismus geht davon aus, dass jeder sexuelle Akt der Frau etwas von ihrer Würde nimmt. Wenn du aber für Sex bezahlt wirst, verlierst du nichts. Nicht mehr als in jedem anderen Job. Die Arbeit stiehlt dir höchstens Zeit.

Wie stehen Sie als Porno-Regisseurin zum Vorwurf von Catherine Deneuve, die Initiative #metoo führe uns in einen neuen Puritanismus? Ich sehe überhaupt keine Beziehung zwischen Puritanismus und Feminismus. Für die Zensur von „Baisemoi“ haben ja nicht Feministinnen gesorgt, sondern extrem rechte Katholiken. Bei der Zensur ging es allein um religiöse Prinzipien und männliche Macht. Gegen diese Macht wendet sich #metoo. #metoo bedeutet, dass ich den Bus nehmen will, ohne begrapscht zu werden, dass ich arbeiten möchte, ohne von meinem Boss befummelt zu werden.

Virginie Despentes Virginie Despentes ist französische Bestsellerautorin, Regisseurin und Feministin. Sie arbeitete als Prostituierte. Ihr Skandalfilm „Fick mich“ (2000) wurde zensiert. Auf Deutsch erschien zuletzt der zweite Band ihres Bestsellerromans „Vernon Subutex“ (Kiepenheuer & Witsch, 2018), für den ersten Band erhielt sie den Prix Anaïs Nin


Ein tröstendes Wesen, das starke Empathie auslöst. King Kong ist weitaus befreiender und liebenswerter als all die hungernden Models, die uns Frauen ständig als Vorbild präsentiert werden.

In „King Kong Theorie“ haben Sie auch erklärt, dass Porno-Darstellerinnen eine maskuline Form der Sexualität verkörpern. Die Frauen im Porno haben tatsächlich eine eher männliche Form der Herangehensweise an Sex. Sie sind fordernd, bejahen den Akt. Sonst ist der Mann der Aggressor, der die Macht hat. Ist allein schon die Penetration ein Ausdruck männlicher Macht? Nein, das Rein- oder Rausgehen spielt an sich keine Rolle. Es gibt viele Männer, die selbst penetriert werden wollen. Das eigentliche Problem der heterosexuellen Sexualität ist, dass der Mann der Boss ist, der sich seinen Sex nimmt.

Fotos: Daniel Hofer/laif;Autorenfoto: JF Paga

Trotz dieser Machtstrukturen sind Sie, anders als viele Feministinnen, keine Gegnerin der Pornografie. Im Gegenteil, sie birgt für Sie emanzipatorisches Potenzial. Mädchen und Jungen schauen heute mehr Pornos als jemals zuvor. Man sollte sie aber zu guten Pornos führen. Ein guter Pornofilm hat eine Geschichte, eine gewisse Komplexität, viel Sex und eine gute Ästhetik. Es ist nicht nachvollziehbar, dass wir uns heute ganz selbstverständlich Filme mit extremer Gewalt und Blut im Kino anschauen, aber keinen Sex. Sex an sich führt nicht zur Destruktion einer Gesellschaft. 2007 erschien Ihr Buch „King Kong Theorie“. Ich habe „King Kong“ gesehen, der Film hat mich sehr berührt. Ich habe so intensiv mit diesem Wesen gefühlt, mich ein Stück weit in ihm wiedererkannt. Das war damals die Zeit, in der ich lesbisch wurde. Um was für eine Theorie handelt es sich? „King Kong Theorie“ ist der Versuch, sich aus alten, festgezurrten Kategorien zu befreien. King Kong ist eine spannende Grenzfigur. Auch wenn King Kong männlich konzipiert ist, überschreitet dieses Wesen die Geschlechtergrenze: Man sieht niemals seine Genitalien. Auch überschreitet es die Grenze zwischen Mensch und Tier. Gut und Böse. Primitiv und zivilisiert. Schwarz und weiß. King Kong ist etwas Drittes.

Warum ist das so? Die Männer verstehen ihre eigene Sexualität nicht. Es ist wie etwas Magisches, das sie überfällt. Ihre Sexualität ist wie die aufgehende Sonne, die man nicht infrage stellt. In Frankreich gab es viele Debatten über Vergewaltigung. Die Männer denken aber in keiner Weise über die Gewalt nach und woher sie kommt. Du fragst einen Mann: Du bist zwar kein Vergewaltiger, aber um dich herum vergewaltigen sie. Wie kommt das? Du kriegst keine Antwort. Männer haben Angst, darüber nachzudenken, warum sie wie sexuell reagieren. Das ist wie die reine Nacht für sie. Sie denken über alles nach, schreiben Bücher, aber sie denken nicht über die Gewalt in ihrer Sexualität nach. Sie leben seit 13 Jahren in einer lesbischen Beziehung. Kann man sich nur in einer homosexuellen Beziehung emanzipieren? Es ist sehr viel einfacher, eine Feministin in einer lesbischen Community zu sein. Offensichtlich gibt es viele Probleme, mit denen du nichts zu tun hast. Man muss sich nicht ständig mit einem Typen herumschlagen, der die Macht in der Gesellschaft hat. Eine heterosexuelle Feministin zu sein, macht dich letztlich verrückt. Eine Sache hat mich in dieser Beziehung übrigens wirklich überrascht. Nämlich welche? Vor zehn Jahren plante ich eine Dokumentation über all die Feministinnen in den USA, die mich beeinflusst haben. Am Ende stellte sich heraus, dass alle Frauen, die ich treffen wollte, lesbisch waren. Alle! Rund 30 Frauen hatte ich kontaktiert und alle befanden sich in lesbischen Beziehungen. Denken Sie etwa an die Philosophin Judith Butler, die in einer lesbischen Beziehung lebt und die ich sehr verehre. Also ja: Es ist viel einfacher, eine lesbische Feministin zu sein! Philosophie Magazin Nr. 04 / 2018 / 47


DOSSIER

Wollen wir dasselbe?

I REGELN

Kontrakt und Koitus Ausdrückliche Zustimmung beim Sex gehört zu den Kernforderungen der #metoo-Bewegung. Kritiker befürchten deshalb einen neuen Puritanismus. Dabei trifft das Gegenteil zu. Ein Plädoyer

G

laubt man den Kritikerinnen und Kritikern der #metoo-Bewegung, erleben wir gerade eine Dialektik der feministischen Aufklärung. Hat der Feminismus einst die sexuelle Revolution befeuert, für Freizügigkeit und Libertinage gestritten, ist er mittlerweile zum Vorreiter eines „neuen Puritanismus“ geworden und spielt „Moralaposteln oder religiösen Extremisten in die Hände“: So lautete etwa der Vorwurf von Catherine Deneuve und weiteren 99 französischen Frauen in einem offenen Brief Anfang dieses Jahres. Und auch in Deutschland wird immer wieder polemisch davor gewarnt, man(n) könne zukünftig wohl keine Komplimente mehr verteilen, ohne als potenzieller Vergewaltiger zu gelten. Befeuert wird dieser Vorwurf durch das neue deutsche Sexualstrafrecht, das Ende 2016 eingeführt wurde. Die entscheidende Neuerung, ähnlich wie bei vergleichbaren Gesetzesverschärfungen in Kalifornien oder Schweden, besteht darin, dass sich nicht erst strafbar macht, wer einem anderen Gewalt zufügt, sondern wer gegen dessen Willen sexuelle

48 / Philosophie Magazin Juni / Juli 2018

Handlungen an ihm vornimmt. In Zweifelsfällen muss deshalb nun das explizite Einverständnis des Gegenübers eingeholt werden (vgl. hierzu das Interview mit Sabine Müller-Mall auf Seite 51). Erzeugt die #metoo-Kampagne also eine neue Verklemmtheit? Führt die Forderung nach expliziter Einvernehmlichkeit, die durch das neue Recht jetzt auch gesetzlich verbürgt ist, zu einer Bürokratisierung des Sexes und befördert damit das Verschwinden von Verführung und ambivalenter Erotik? Die Antwort lautet: nein. Das genaue Gegenteil ist der Fall: Richtig verstanden besitzt die Kultivierung des expliziten Konsenses eine doppelt emanzipatorische Funktion. Ein solch sexueller Kontraktualismus wäre nicht nur ein weiterer Schritt zur Gleichberechtigung der Geschlechter, sondern auch ein Hebel zur finalen Befreiung des Begehrens. Und zwar für Frauen und Männer. Gewiss, dass ein Wille missachtet wurde, wird in der konkreten Rechtspraxis ungleich schwerer zu beweisen sein als ein Gewaltakt, der erkennbare Spuren am Opfer hinterlässt. Ob das neue Gesetz mithin zu mehr Verurteilungen führt, bleibt ebenfalls zweifel-

Foto: Olivia Bee/Trunk Archive

Von Nils Markwardt


Ein sexueller Gesellschaftsvertrag wäre der Hebel zur finalen Befreiung des Begehrens

haft. Und ja, es ist auch klar, dass der demokratische Rechtsstaat das so sensible wie intime Feld der Sexualität nicht lückenlos regeln kann. Doch Gesetze sind nicht nur zum Bestrafen und Regeln da, sie verändern auch gesellschaftliche Werte – und damit wären wir beim entscheidenden Punkt. Das Recht vermag hier als Katalysator eines Kulturwandels zu dienen, den wir, genau das zeigen die #metoo-Debatten, so dringend brauchen. Mit der verstärkten Betonung der expliziten Einvernehmlichkeit hebt das neue Gesetz

den Konnex von Kontrakt und Koitus ins gesellschaftliche Bewusstsein und gibt so den überfälligen Anstoß für einen kollektiven Sexualvertrag. Ein solch kollektiver Kontrakt hat nichts mit einem Papier zu tun, das zwei Parteien unterschreiben müssen, ebenso braucht es kein öffentliches Bekenntnis. Vielmehr funktioniert der Kontrakt im Sinne des Gesellschaftsvertrags, wie ihn zum Beispiel Thomas Hobbes entwickelt hat. In seinem 1651 erschienenen Hauptwerk „Leviathan oder Wesen, Form und Gewalt >>> Philosophie Magazin Nr. 04 / 2018 / 49


DOSSIER

Wollen wir dasselbe?

I DENKSTATION: KRAFT VS. KOKETTERIE

DER ERSTE SCHRITT Da steht er wieder. Nur ein paar Meter vor Ihnen, am Kopierer. Er arbeitet in einer anderen Abteilung, weshalb Sie ihn eher selten sehen; bislang blieben Ihre zufälligen Begegnungen folgenlos. Papierstau – etwas hilflos steht er da. Sie nutzen entschlossen Ihre Chance und bieten in einer Stimmlage, die wenig Interpretationsspielraum lässt, Ihre Hilfe an? Dann bewegen Sie sich vor auf Feld 1. Sie zögern, weil Sie darauf warten, dass er Sie anspricht? Verweilen Sie noch in der Denkstation I, bevor Sie auf Feld 1 ziehen.

Start

Sie verhalten sich genau so, wie es Jean-Jacques Rousseau bereits im 18. Jahrhundert von der Frau erwartete: Die „Zurückhaltung“ und „Scham“ stehe der „Kraft“ des Mannes gegenüber. Er ist sexuell progressiv, gar aggressiv, sie „stößt ihn immer zurück und verteidigt sich“, um ihn durch Koketterie herauszufordern und zur Jagd zu animieren. Aber natürlich nur im rechten Augenblick, ergo: beim Richtigen. Eine Frau, die ihren sexuellen Appetit nicht zügelt, so Rousseau, und schamlos Männer verschlingt, untergräbt die Grundfesten der Gesellschaft, „löst die Familie auf und bricht alle Bande der Natur“. Die Fundamente der Gesellschaft sind aber stabiler, als Rousseau dachte – trauen Sie sich!

III

VERSTEHEN

Das Spiel der Verführung Gerade in den entscheidenden Momenten kommt es oft zu Missverständnissen zwischen den Geschlechtern. Lust, die hohe Kunst des Deutens zu erlernen und sich von überkommenen Bildern zu befreien? Los geht’s!

DIE REAKTION Sie fühlen den Blick deutlich, er trifft Sie am Rücken – oder doch etwas tiefer? Ist das wieder die Kollegin aus dem dritten Stock? Das Papier klemmt, Sie nesteln am Einzug und schielen bei der Gelegenheit unauffällig nach hinten. Tatsächlich. Sie denken: Das wird einfach, oder gar: Die macht’s doch mit jedem! Erst einmal zur Denkstation II, bevor Sie auf Feld 2 weiterziehen. Sie sind froh, dass Sie heute Ihre Lieblingshose angezogen haben, die den Po so schön betont? Direkt vor auf Feld 2.

54 / Philosophie Magazin Juni / Juli 2018

19 II DENKSTATION: DIE LEHRE DER MEDUSA Warum entwerten Sie eine Frau, die weiß, was sie will? Die Furcht, die Sie beseelt, reicht bis in die Antike zurück, man denke an Medusa, jene Gorgonentochter aus der griechischen Mythologie, die wegen ihrer Verführungskraft enthauptet wurde. In ihrem Buch „Das Lachen der Medusa“ verdeutlicht die Schriftstellerin Hélène Cixous die unmögliche weibliche Position: „Verlangen zu empfinden, kein Verlangen zu empfinden; frigid zu sein, zu ,heiß‘ zu sein; nicht beides gleichzeitig zu sein; zu sehr Mutter zu sein und nicht genug“: So gestaltet es sich, das weibliche Daseinsdilemma. Schluss damit!

Illustrationen : Birgit Lang

Start


DIE ABSACKER-PROBLEMATIK Die erste Verabredung. Sie gehen ins Kino, anschließend noch etwas trinken. Die Unterhaltung ist tief und gut, es wird spät, sehr spät. Sie fragen ihn mit klarer Absicht, ob er noch auf einen Absacker mit zu Ihnen kommt? Feld 3 wartet auf Sie. Er will unbedingt noch mit, Sie müssen aber morgen sehr früh zu einer Dienstreise aufbrechen, was Ihnen jetzt schon Kopfschmerzen bereitet? Bevor Sie auf Feld 3 rücken, nehmen Sie sich Zeit für Denkstation VII.

19 III DENKSTATION: DIE LOGIK DES VERFÜHRERS

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In Søren Kierkegaards „Tagebuch des Verführers“ reflektiert Johannes sein eigenes Begehren nach Cordelia. Am Ende der Affäre heißt es nüchtern: „Doch nun ist es vorbei, und ich möchte sie nie wieder sehen. Wenn ein Mädchen alles gegeben hat, dann ist sie schwach, dann hat sie alles verloren; denn die Unschuld ist beim Manne ein negatives Moment, bei dem Weib ist es der Inhalt ihres Wesens. Jetzt ist jeder Widerstand unmöglich, nur solang wie er da ist, ist es schön, sie zu lieben, hat er aufgehört, ist es Schwäche und Gewohnheit.“ Ist die Frau erst einmal erobert, hat sie ihre Unschuld verloren, ist sie für den Verführer uninteressant. Deshalb zögert er das Spiel so lange es geht hinaus. Kierkegaard veröffentlichte sein Hauptwerk „Entweder – oder“, worin sich das „Tagebuch“ befindet, 1843 – lang, lang ist’s her!

25 NACHTGEDANKEN Sie sind bei ihr in der Wohnung, auf dem Tisch zwei Gläser Rotwein, sie sitzt Ihnen gegenüber. Während Sie so tun, als hörten Sie ihr zu, fragen Sie sich, ob Sie schon heute mit ihr schlafen oder das Ganze doch noch etwas hinauszögern sollten? Zack, zack zur Denkstation III, erst dann auf Feld 4. Sie lauschen auf jedes Wort, sind sich aber unsicher, wie ihre Zeichen zu deuten sind? Machen Sie, bevor Sie zu Feld 4 vorrücken, zuerst einen Abstecher zu Denkstation IV.

IV 15 DENKSTATION: HERMENEUTIK MIT GADAMER In seiner Schrift „Wahrheit und Methode“ entfaltet Hans-Georg Gadamer die Kunst des Verstehens. Obschon sich der Philosoph auf Texte bezieht, lässt sich mit ihm auch das Verstehen von menschlichem Handeln erhellen. Zentral ist Gadamers Einsicht, dass, wer wahrhaft verstehen will, die eigenen Grundannahmen und Vorurteile mitreflektieren muss. Jeder Interpret bringt eigene Erfahrungen mit, die in den Verstehensprozess einfließen; überdies steht er in einem historischen Zusammenhang, der ihm eine bestimmte Sicht auf die Dinge vermittelt. Einen anderen Menschen zu verstehen, setzt damit voraus, sich selbst und die eigene Zeit zu begreifen. Inwiefern also ist die Deutung des anderen Geschlechts biografisch und kulturell codiert? Eine Frau, die sich spätnachts angeregt mit einem Mann unterhält, will nicht unbedingt mit ihm schlafen. Anders als die patriarchale Kulturgeschichte nahelegt, sind Frauen durchaus fähig zur Sublimation und haben mitunter ein rein geistiges Interesse am anderen Geschlecht. Philosophie Magazin Nr. 04 / 2018 / 55


DOSSIER

Wollen wir dasselbe?

Und jetzt? Die Zukunft des Geschlechterverhältnisses entscheidet sich an der Frage, was genau sich ändern muss: Die Verhältnisse – oder liegt der Schlüssel zur Freiheit in der Hand von jedem oder jeder Einzelnen? Harald Welzer und Eva von Redecker über Autonomie, gläserne Decken und die Bedingungen für wahren Wandel

st das eine #metoo-Falle?“, fragte Harald Welzer vor einigen Tagen per Mail, als er erfuhr, wo das Gespräch stattfinden soll. Tatsächlich klingt der Name des Studios nicht ganz unerotisch. „Chérie“ befindet sich im dritten Stock eines Kreuzberger Hinterhauses. Ein weitläufiger, lichtdurchf luteter Raum mit einer ausladenden, wie man heute sagt, „Wohnlandschaft“, auf der Harald Welzer es sich mit einer Tasse Kaffee bequem macht. In seinen Schriften verteidigt er die „ Autonomie des Einzelnen als Fundament einer funktionierenden Demokratie und fordert zu selbstbestimmtem Handeln auf. Dem Soziologen gegenüber sitzt Eva von Redecker. Die Philosophin sieht den Begriff der Autonomie kritisch und betont stattdessen die Kraft von Kollektiven: Nur vereint lassen sich die verdinglichten Strukturen des heterosexuellen Geschlechterverhältnisses aufbrechen. Wie also steht es um die Spielräume von Frauen im 21. Jahrhundert? Haben sie mehr Chancen, als sie faktisch nutzen – oder ist das kapitalistische Ideologie? Und was ist eigentlich mit den Männern? Sind sie am Ende gar das unfreiere Geschlecht – zumindest innerlich? 58 / Philosophie Magazin Juni / Juli 2018

Fotos: Daniel Hofer; Danke an das Studio Andree Weissert für die Bank „Wendy“ als Leihgabe

I

Das Gespräch führte Svenja Flaßpöhler / Fotos von Daniel Hofer


Philosophie Magazin: Frau von Redecker, Herr Welzer, wofür steht der #metoo: ein längst überfälliges Aufbegehren oder eine überzogene Reaktion auf die Gegenwart? Harald Welzer: Weder noch. Auf der einen Seite gibt es natürlich Macht­ ungleichgewichte, das wird an konkreten Fällen ja deutlich, und es ist gut, sie zu politisieren. Auf der anderen Seite hat die ganze Debatte aber nur deshalb eine solche Wucht gekriegt, weil die Gewalt insgesamt – und also auch die Gewalt gegen Frauen – rückläufig ist.

Eva von Redecker

Harald Welzer

Eva von Redecker ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für praktische Philosophie an der Humboldt-Universität Berlin. In ihrer Forschung beschäftigt sie sich mit feministischen Utopien und den Dynamiken der Revolution. Im August erscheint ihr Buch „Praxis und Revolution. Eine Sozialtheorie radikalen Wandels“ bei Campus

Harald Welzer ist Direktor von Futurzwei und Professor für Transformationsdesign an der Universität Flensburg. In seinem Buch „Autonomie“ (S. Fischer, 2015; zus. m. Michael Pauen) ruft er dazu auf, Handlungsspielräume zu nutzen. Zuletzt erschien von ihm „Wir sind die Mehrheit. Für eine offene Gesellschaft“ (S. Fischer, 2017)

So sind einzelne Extremfälle umso mehr skandalisierbar. Schon vor 40 Jahren haben wir über Machtverhältnisse zwischen Männern und Frauen diskutiert, was zum Beispiel dazu geführt hat, dass man Sprechstunden an der Universität nur bei offener Tür machte. Das war völlig normal. Eva von Redecker: Na ja, das mag für die Soziologie gelten. Die Philosophie hat die langsamste Veränderungsgeschwindigkeit in dieser Hinsicht, was sicher auch damit zu tun hat, dass der Frauenanteil nach wie vor niedrig ist.

Aber um Ihre Frage zu beantworten: Es handelt sich weder um ein übertriebenes noch überfälliges, sondern schlicht um ein fälliges Aufbegehren. Interessant ist ja, warum ein solcher Protest gerade jetzt möglich ist, und ich denke, das hat mit der tiefen Krise des possessiven Liberalismus zu tun. Der Krise also einer bestimmten politischen Ordnung, in der Gerechtigkeit über Rechtsgleichheit hergestellt wird, aber die Eigentumsverteilung unverändert bleibt. PM: Was genau meinen Sie hier mit >>> Eigentum? Philosophie Magazin Nr. 04 / 2018 / 59



Ideen

Nassim Nicholas Taleb

Das Gespräch

Der ehemalige Wallstreetbanker und Bestsellerautor verbindet Wahrscheinlichkeitsrechnung mit antiker Philosophie. In seinem neuen Buch klagt er all jene Politiker, Trader und Intellektuelle an, die für Entscheidungen kein Risiko eingehen – und fordert die Rückkehr zu alten Weisheiten Das Gespräch führte Catherine Portevin / Fotos von Edouard Caupeil / Aus dem Französischen von Till Bardoux

Nassim Nicholas

Taleb

»Moralisch ist, wer seine Haut aufs Spiel setzt«

N

assim Nicholas Taleb, geboren im Libanon, wird in den 1990er-Jahren zu einem der berühmtesten Trader der Wall Street. Er verdient ein Vermögen, doch eines Tages hängt er seine Karriere an den Nagel. 2007 erscheint sein Buch „Der Schwarze Schwan“, in dem er die Rolle unvorhersehbarer, extrem folgenreicher Ereignisse theoretisiert. Der Zusammenhang von Unvorhersehbarkeit, Risiko und Verantwortung bleibt Talebs zentrales Thema: Soeben ist sein Buch „Skin in the game“ (Random House) auf Englisch erschienen, zu Deutsch: „Seine Haut aufs Spiel setzen“. Nach Jahren an der Börse hasst es Taleb, seinen Terminkalender vollzustopfen, er antwortet nur auf fünf E-Mails täglich, isst und trinkt nur Lebensmittel mit griechischen oder althebräischen Namen (ausgenommen Kaffee), liest 60 Stunden pro Woche, mag weder Banker noch Intellektuelle noch Journalisten. „Wie alle, die das Risiko lieben, bin ich nicht besonders leicht im Umgang“, räumt er ein. Im folgenden Gespräch jedoch ist der Denker erstaunlich offen und zugänglich – und, wie es sich für einen geläuterten Trader gehört, ganz und gar präsent.

Philosophie Magazin: Als 1975 der Bürgerkrieg im Libanon begann, waren Sie ein Jugendlicher. Wie hat diese Erfahrung Ihr Denken über Ungewissheit und Risiko geformt? Nassim Nicholas Taleb: Diese Erfahrung ist nicht mit dem Denken verknüpft, sie bedeutet Erinnerungen der Angst, des Überlebens im Unvorhersehbaren. Der Krieg gehört zu jenen extremen Ereignissen, die dazu zwingen, sich ihnen gegenüber eine Haltung anzueignen. Doch für mich ist der Krieg nicht das Entscheidende gewesen. Ich bewahre vom Libanon ein tieferes Andenken, in dem meine Liebe zur westlichen Zivilisation verankert ist, die ja in jener Region entstand, in der ich selbst zur Welt kam. Vor Athen, Rom, Konstantinopel gab es Phönizien. Das natürliche und historische Europa ist der Mittelmeerraum. Sie wissen ja: Der Legende nach war Europa die Tochter des Königs von Tyros, die von Zeus bis nach Kreta entführt wurde. Ich fühle mich der antiken mediterranen Welt tief verbunden. Haben Sie schon Cicero, Sextus Empiricus und Seneca gelesen, bevor Sie in den Vereinigten Staaten mit Wertpapieren handelten?

>>>

Philosophie Magazin Nr. 04 / 2018 / 67


74 / Philosophie Magazin Juni / Juli 2018

Illustration: EloĂŻse Oddos; Bildvorlage: akg-images


Ideen

Der Klassiker

Marx und der

KLASSENKAMPF Nach dem Fall

des Eisernen Vorhangs galt Karl Marx als philosophisches Gespenst. Seine Schriften über Kapital, Klassenkampf und Kommunismus erschienen vielen als historisch überholte Theoriemärchen. Das hat sich fundamental geändert. Dieser Tage, da sich am 5.Mai sein 200. Geburtstag jährt, ist Marx aktueller denn je. Nachdem der globale Kapitalismus durch die Finanzkrise 2008 ins Wanken geriet und eine weltweit zunehmende Polarisierung neue Klassenkämpfe entfacht, gelten seine Bücher wieder als analytischer Schlüssel zur Gegenwart. Der Literatur- und Kulturwissenschaftler Patrick Eiden-Offe zeigt in seinem Essay, wie Karl Marx die vielschichtige Arbeiterschaft erst als einheitliche Klasse erfinden musste, und erklärt, inwiefern uns der Begriff heute wieder dienlich sein kann. Im Beiheft zeichnet der Philosoph Kurt Bayertz die historische und ideengeschichtliche Entstehung des „Manifests der Kommunistischen Partei“ nach, das wir in Auszügen abdrucken.

Philosophie Magazin Nr. 04 / 2018 / 75


Marx

und der Klassenkampf

Nr. 40 Sammelbeilage

Vorwort / Kurt Bayertz Überblick / David Döll

„Manifest der Kommunistischen Partei“ (Auszug) 1 / Marx und der Klassenkampf


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