Nr. 06/ 2018
Oktober/November
MAGAZIN
Brauchen wir
DIALOG: WAS BIN ICH MEINER FAMILIE SCHULDIG? ÜBERWINDE DEIN WOLLEN! MEDITATION IN INDIEN
0 6 4 192451 806907
Simone Weil und die Verwurzelung, mit 16-seitigem Booklet
D: 6,90 €; Ö: 7,- €; CH: 12,50 SF; Benelux: 7,40 €
Eliten?
150 Jahre Philosophische Bibliothek
Die Sonderedition zum 150jährigen Bestehen der Philosophischen Bibliothekzum Jubiläumspreis von je 15 Euro:
Denker in diesem Heft
S. 66
S. 50
S. 36
Nancy Fraser
Michael Hartmann
Barbara Bleisch
Die Professorin für Politikwissenschaften und Philosophie an der New School University in New York ist eine der wichtigsten Intellektuellen der USA. Im großen Werkgespräch fordert die linke Denkerin eine „Politik der Spaltung“, um den Rechtsruck zu bekämpfen. Ihr Buch „Capitalism. A conversation in critical theory“ (mit Rahel Jaeggi) ist soeben bei Polity erschienen.
„Die Abgehobenen. Wie die Eliten die Demokratie gefährden“, so heißt sein neues Buch (Campus). Bis 2014 war Michael Hartmann Professor für Soziologie an der TU Darmstadt. Im Dossier vertritt er die These, dass heutige Eliten ihren Nachwuchs per Ähnlichkeitsprinzip rekrutieren, und erklärt, was berechtigte Elitenkritik von populistischer Pauschalisierung unterscheidet.
Was wiegt schwerer: familiäre Pflichten oder der Wille zur Selbstverwirklichung? Darüber diskutiert Barbara Bleisch mit dem Medienwissenschaftler Norbert Bolz. Die promovierte Philosophin moderiert die „Sternstunde Philosophie“ im Schweizer Fernsehen und ist Kolumnistin dieses Magazins. Ihr Buch „Warum wir unseren Eltern nichts schulden“ erschien im Februar bei Hanser.
S. 55
S. 63
S. 22
Volker Weiß
Ulrike Guérot
Luc Boltanski
Der Historiker und Publizist ist Spezialist für Geschichte und Gegenwart der extremen Rechten in Deutschland. Im Interview analysiert er das elitäre Selbstverständnis von Carl Schmitt bis Thilo Sarrazin. Zuletzt erschien bei Hanser sein Buch „Die autoritäre Revolte. Die neue Rechte und der Untergang des Abendlandes“ (2017), das für den Leipziger Buchpreis nominiert war.
„Wir brauchen Geisteseliten im kantschen Sinne!“ So lautet das Plädoyer von Ulrike Guérot im Dossier, in dem elf führende Intellektuelle zu unserer Titelfrage Stellung nehmen. Ulrike Guérot ist Professorin für Europapolitik und Demokratieforschung an der Donau-Universität Krems. Ihr jüngstes Buch „Europa jetzt! Eine Ermutigung“ (mit Oskar Negt u. a.) erschien bei Steidl.
Der berühmte Soziologe hat gemeinsam mit Arnaud Esquerre das Werk „Bereicherung. Eine Kritik der Ware“ (Suhrkamp) verfasst. Im Zeitgeist sprechen die beiden französischen Denker über eine neue Form der Wertschöpfung, die sich auf die Verwertung des Vergangenen konzentriert – und damit den Riss zwischen Arm und Reich noch vergrößert.
aristoteles
Über die Seele. De anima platon
Symposion thomas von aquin
Über das Glück. De beatitudine rené descartes
Passionen der Seele
baruch de spinoza
Ethik in geometrischer Ordnung dargestellt immanuel kant
Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft georg wilhelm friedrich hegel
Grundlinien der Philosophie des Rechts edmund husserl
Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie ernst cassirer
Versuch über den Menschen
Besuchen Sie uns an unserem Stand auf der Frankfurter Buchmesse: Halle 3.1 G132
Die nächste Ausgabe erscheint am 15. November 2018
meiner.de
Fotos: Malte Jäger; Campus Verlag; Albrecht Fuchs; Christian Charisius/picture alliance/dpa; Susanne Ullrich; Léa Crespi
thomas hobbes
Vom Bürger. Vom Menschen
Intro
Horizonte
Dossier
Ideen
S. 3 Editorial S. 6 Ihre Frage S. 7 Kinder fragen Tomi Ungerer S. 8 Leserbriefe
S. 30 Reportage Meditation: Überwinde dein Wollen Von Jack Fereday S. 36 Dialog Was schulde ich meiner Familie? Barbara Bleisch streitet mit Norbert Bolz
Brauchen wir
S. 66 Das Gespräch Nancy Fraser: „Wir brauchen eine Politik der Spaltung“ S. 72 Werkzeugkasten Lösungswege / Das Ding an sich / Die Kunst, recht zu behalten S. 74 Der Klassiker Simone Weil und die Verwurzelung + Sammelbeilage „Die Verwurzelung“
Zeitgeist S. 10 Sinnbild S. 12 Denkanstöße S. 14 Resonanzen Buchmesse: Bühne für Rechte? / Gaming: Lust am Überschuss / Armut: Scham mit System / Zeitumstellung: Gemeinsame Gegenwart? S. 20 Hübls Aufklärung Diesmal: Die sensibilisierte Gesellschaft S. 22 Analyse Die verwertete Vergangenheit L. Boltanski & A. Esquerre S. 26 Erzählende Zahlen
S. 42
Eliten? S. 44 Schräglage mit Sprengkraft Von Svenja Flaßpöhler S. 46 Die da oben Historische Positionen S. 50 „Wer zu den Entscheidern gehören will, muss sein wie sie“ Mit Michael Hartmann S. 52 Die Retro-Rechte Von Nils Markwardt S. 55 „Die Ähnlichkeit zur Semantik der 20er-Jahre ist kein Zufall“ Mit Volker Weiß S. 56 Asozial, autonom, autark! Plädoyer für die Elite Von Wolfram Eilenberger S. 58 Was wir brauchen Elf Intellektuelle über Wege aus der Krise
Bücher S. 82 Buch des Monats Tristian Garcia: „Wir“ S. 84 Thema Philosophie des Bauens und des Wohnens S. 86 Scobel.Mag S. 88 Kolumne Das philosophische Kinderbuch S. 90 Porträt Aleida und Jan Assmann
Fotos: Anna Parini; John Rawlings/Condé Nast/Getty Images; Neil Kirk/Trunk Archive; Ilka Kramer
Finale
S. 46
S. 22
S. 92 Agenda S. 94 Comic Catherine Meurisse: Menschliches, Allzumenschliches S. 96 Lebenszeichen Von Tieren lernen: Der Bombardierkäfer / Spiele / Impressum S. 98 Sokrates fragt Sebastian Fitzek
S. 84
Philosophie Magazin Nr. 06 / 2018 / 5
Zeitgeist
Analyse
Luc Boltanski & Arnaud Esquerre
„Die Ausschlachtung des Alten macht Reiche noch reicher“ Die Soziologen Luc Boltanski und Arnaud Esquerre diagnostizieren in ihrem jüngsten Buch eine neue Form des Kapitalismus. Dieser konzentriert sich auf die Verwertung des Vergangenen – und verschärft damit die sozialen Ungleichheiten Das Gespräch führte Nils Markwardt
Philosophie Magazin: Herr Boltanski, Herr Esquerre, in Deutschland gibt es eine Reihe populärer TV-Shows – „Bares für Rares“, „Lieb & teuer“, „echt antik?!“ –, die nach demselben Prinzip funktionieren: Angereichert mit nostalgischen Geschichten präsentieren Menschen private Antiquitäten, um diese dann von Experten auf ihren Verkaufswert schätzen zu lassen. Nach der Lektüre Ihres Buches hat man den Eindruck, dass es sich hier nicht nur um einen TV-Trend handelt … Luc Boltanski: Tatsächlich kann man innerhalb der westlichen Gesellschaften eine Verschiebung des Kapitalismus beobachten. Ist die Produktion industrieller Güter heute weitestgehend in Niedriglohnländer ausgelagert, basiert ein wesentlicher Teil der Wertschöpfung in Europa nicht mehr auf der Herstellung neuer Produkte, sondern auf der Bewirtschaftung von Gütern und Waren, die schon da sind oder in Bezug zur Vergangenheit stehen: touristische Landschaften, Antiquitäten, Denkmäler, Kulturerbe, Kunst, antike Möbel, hochpreisige Nahrungsmittel oder Luxusartikel, die auf „althergebrachte Art“ hergestellt werden oder eine bestimmte „Lebensart“ widerspiegeln sollen. Diese ökonomische Neuausrichtung, in der Profite weniger durch den Massenkonsum als durch die Abweichung von den Standardartikeln erzeugt werden, nennen wir l’économie de l’enrichissement, Bereicherungsökonomie. Wobei enrichissement im Französischen sowohl Bereicherung als auch Anreicherung bedeutet. Denn in der Bereicherungsökonomie erfolgt die Bewirtschaftung der Vergangenheit durch deren Aufwertung. 22 / Philosophie Magazin Oktober / November 2018
PM: Güter und Dienstleistungen innerhalb der Bereicherungsökonomie – Qualitätstourismus, Luxushandtaschen oder Vintage-Möbel – müssen also über ein Maß an Originalität und Authentizität verfügen. Um reicher zu werden, müssen sie mit einem Narrativ der Vergangenheit angereichert werden. Aber wie geschieht das? Arnaud Esquerre: Waren werden auf bestimmte Weisen präsentiert. Bei standardisierten Gütern geschieht das über eine analytische Präsentation. Wenn Sie etwa eine Flasche Wasser nehmen, wie sie hier vor uns steht, dann ist in der standardisierten Variante darauf zu lesen, dass sie einen Liter Wasser enthält, und vielleicht noch aus welcher Quelle es stammt. Wollen Sie eine Flasche Wasser jedoch in der hochpreisigen Sammlerform verkaufen, muss es mit einer narrativen Präsentation versehen werden. Sie müssen etwa erklären, dass diese Quelle eine besonders lange Tradition hat oder dieses Wasser bereits von berühmten Philosophen getrunken wurde. Wobei ein Narrativ der Vergangenheit allein nicht reicht, denn es gibt ja noch weitere Hersteller, die sich so präsentieren. Um einen höheren Preis zu rechtfertigen, muss man zusätzlich immer den Unterschied zu anderen Wassern deutlich machen. PM: Und wer bürgt für diese historische Anreicherung? Boltanski: Viele Menschen, die für die Bereicherungs ökonomie von Bedeutung sind, verfügen über ein
Luc Boltanski & Arnaud Esquerre Luc Boltanski (re.) ist einer der einflussreichsten Soziologen Frankreichs. Er studierte bei Pierre Bourdieu und ist heute Forschungsdirektor an der École des hautes études en sciences sociales in Paris. Arnaud Esquerre ist Soziologe und Forscher am Centre national de la recherche scientifique (CNRS) in Paris. Zusammen veröffentlichten die beiden gerade das Buch „Bereicherung. Eine Kritik der Ware“ (Suhrkamp, 2018)
Profite werden heute weniger durch den Massenkonsum als durch die Abweichung von Standardartikeln erzeugt
Foto: John Rawlings/Condé Nast/Getty Images; Autorenfoto: Léa Crespi
Luc Boltanski
bestimmtes Expertenwissen. Oft sind sie dabei auch mit legitimationsstiftenden Institutionen verbunden: Museen, Universitäten, Akademien oder Instituten. Nehmen wir das Beispiel der Kunst. Wenn Sie zwei Werke haben, die absolut identisch aussehen, ergibt sich eine enorme Preisdifferenz, wenn eines von beiden durch einen Kunstexperten als authentisch eingestuft wurde. PM: Welche Rolle spielt der Staat in der Bereicherungsökonomie? Esquerre: Viele Theoretiker konzentrieren sich darauf, dass der Staat im Neoliberalismus gegenüber dem Markt geschwächt wurde. Die Sache ist jedoch komplexer. Tatsächlich braucht die Wirtschaft den Staat nach wie vor – und dieser ist hier auch relativ stark engagiert. Die Art der staatlichen Präsenz hat sich jedoch verändert. In der Bereicherungsökonomie geht es weniger um Sozialpolitik, sondern der Staat stellt vor allem eine Infrastruktur der Sicherheit und Beglaubigung bereit. Will man etwa Touristen mit berühmten Kunstwerken anlocken, braucht
es dafür Museen. Zudem gewährleistet der Staat auch bestimmte Kennzeichnungen, etwa für die Herkunft von Luxuslebensmitteln. PM: Bei der Bereicherungsökonomie geht es jedoch nicht nur um die bloße Aufwertung von Vergangenheit, sondern auch um das, was der Historiker Eric Hobsbawm „erfundene Traditionen“ nannte. Mit dem Dorf Laguiole geben Sie in Ihrem Buch ein Beispiel: Heute werden in dem Ort im Aubrac vermeintlich traditionelle „Laguiole“-Messer verkauft. Nur gab es diese Tradition eigentlich gar nicht, sie wurde vielmehr als eine Art Marketingtrick erfunden. Boltanski: Das stimmt, wobei die Erfindung von Traditionen an sich seit der Französischen Revolution existiert. Dort wurden sie aber vor allem von Nationen und Regionen zur Herstellung politischer Einheit benutzt. Erfundene Traditionen, man denke an die von den Revolutionären gestifteten Monumente und Feiertage, hatten das Ziel, Nationen oder Regionen eine „Seele“ zu geben. >>> Philosophie Magazin Nr. 06 / 2018 / 23
Horizonte
Reportage
Von Jack Fereday
Jack Fereday studierte politische Philosophie an der Sorbonne und arbeitet als freier Journalist in Paris. Zuvor war er als Reporter in Indien tätig und schrieb von dort für verschiedene französische Magazine und Zeitungen
Überwinde dein Wollen Im nordindischen Bodhgaya soll Buddha zur Erleuchtung gelangt sein. Heute strömen zahllose Menschen aus dem Westen hierher, um durch die Vipassana-Meditation ihren inneren Frieden zu finden. Unser Reporter machte sich mit dieser asketischen Technik vertraut, die Entspannung und Kasteiung gleichermaßen verspricht Von Von Jack Fereday / Aus dem Französischen von Danilo Scholz / Illustrationen von Michael Kirkham 30 / Philosophie Magazin Oktober / November 2018
Illustration: Michael Kirkham/Heart Agency; Autorenfoto: privat
D
er Schmerz strömt durch meinen Körper wie durch einen geschlossenen Kreislauf. Mal ist es der gekrümmte Rücken, mal der wund gesessene Hintern, dann wieder sind es die aberwitzig angewinkelten Beine. Nach fünf Stunden Meditation fühle ich mich, als hätte mich ein LKW überrollt. Dabei ist es erst 11 Uhr morgens, am ersten Tag meines Aufenthalts. Diese Quälerei habe ich Andrew zu verdanken, einem jungen Engländer, der Indien auf einem Motorrad durchquerte und mir als Erster die Vorzüge der Vipassana-Seminare anpries. „Dort hast du die Möglichkeit, dich vom Chaos des Le-
bens zu lösen“, redete er mir ins Gewissen. Der Nietzscheaner in mir konnte damit jedoch nur wenig anfangen. Jeden Tag in einer menschenleeren Gegend zu meditieren, schien mir wie der Inbegriff von Weltflucht. Die Aussicht auf zehn Tage im Zeichen einer selbstverliebten Nabelschau behagte mir nicht. Aber dann kam ich mit Leuten ins Gespräch, die wie Andrew am Seminar teilgenommen hatten, und wurde neugierig. Woher kommt die Begeisterung für eine solch asketische Praxis? Und welche Auswirkungen würde sie auf meinen Körper haben? Schließlich überzeugte mich eine Inderin, die für ein großes internationales Unternehmen arbeitet, es zumindest mal zu versuchen.
„Mach es“, redete sie mir zu. „Du wirst nach dieser Erfahrung eine ganz andere Person sein.“ Mit dem Zug erreiche ich die im Nordwesten Indiens gelegene Stadt Bodhgaya. Es ist ein heiliger Ort, in dem laut Überlieferung Buddha unter einem Pappelfeigenbaum vor 2500 Jahren die Erleuchtung fand. Seinem Beispiel folgend begebe ich mich in das DhammaBodhi-Meditationszentrum, das eine große Mauer von der Außenwelt trennt. Im Aschram hat die Ruhe fast etwas Surreales. Die Seminarteilnehmer erlegen sich eine „edle Stille“ auf. Das Redeverbot gilt ohne Ausnahme, ebenso sind Alkohol, Drogen, Smartphones, Schrei- >>> Philosophie Magazin Nr. 06 / 2018 / 31
Horizonte
Dialog
Was schulde ich meiner Familie? Das Konzept Familie fordert das moderne Individuum permanent heraus. Lässt sich der eigene Freiheitsdrang mit familiären Pflichten vereinen? Wie schwer wiegt der eigene Wille nach Selbstverwirklichung? Ist es legitim, im Zweifesfall eigene Wege zu gehen – und gilt dieses Recht für Mütter und Väter gleichermaßen? Barbara Bleisch streitet mit Norbert Bolz Das Gespräch führte Svenja Flaßpöhler
E
in Abend in Köln während der phil.co logne. Die weitläufigen Balloni-Hallen füllen sich mit Publikum. Das heutige Thema stößt offenkundig auf Interesse – was nicht nur mit den hohen Scheidungsraten, sondern auch mit dem Erfolg von Barbara Bleischs jüngstem Buch zu tun haben mag: „Warum wir unseren Eltern nichts schulden“, so der Titel. Während die Philosophin das Individuum stärkt, es von falschen
Barbara Bleisch
Foto: Viktoria Sorochinski Fotoillustration: Kyle Bean & Sam Hofman
ist promovierte Philosophin und Kolumnistin des Philosophie Magazins. Zudem moderiert sie die Sendung „Sternstunde Philosophie“ im Schweizer Radio und Fernsehen SRF. Ihr jüngstes Buch „Warum wir unseren Eltern nichts schulden“ erschien im Februar bei Hanser
Schuldgefühlen befreien will, ist der Medienwissenschaftler Norbert Bolz überzeugt: Der moderne Mensch nimmt sich viel zu wichtig, und zwar auf Kosten weitaus höherer Werte. In seinem Buch „Helden der Familie“ kritisiert er das moderne Konzept der Selbstverwirklichung scharf und hat dabei vor allem karriereorientierte Frauen im Blick. Wie also sieht es aus, das richtige Leben in der Familie? Eine bekennende Feministin und ein bekennender Konservativer ringen um Antworten.
Philosophie Magazin: Skizzieren wir zunächst, aus welchen biografischen Positionen heraus Sie sprechen. Frau Bleisch, Sie haben zwei Kinder, sind verheiratet, zudem sind Sie eine sehr erfolgreiche, viel beschäftigte Philosophin. Gibt es Momente, in denen Sie an der Vereinbarkeit beider Sphären zweifeln?
kein überzogener Anspruch. Männern haben wir den ja immer schon zugestanden. Dass es da zuweilen zu Spannungen kommt, will ich gar nicht leugnen. Ich erachte es aber auf jeden Fall als Privileg, dass ich mich überhaupt frei entscheiden kann, beides zu leben. Anders als die meisten Frauen auf der Welt.
Barbara Bleisch: Natürlich. Eine Existenz, die beides miteinander zu vereinen versucht, ist ein permanenter Balanceakt. Aber mich irritiert, wenn behauptet wird, dass Frauen heute „alles“ wollen. Alles zu wollen, ist natürlich Unsinn. Sinnvoll zu leben heißt immer, Entscheidungen zu treffen – auch gegen gewisse Optionen. Aber beides verwirklichen zu wollen, Elternschaft und Berufsleben, scheint mir
PM: Herr Bolz, Sie schreiben gleich zu Beginn Ihres Buches „Helden der Familie“, dass Sie vier Kinder haben und Ihre Frau Hausfrau ist.
Norbert Bolz ist Professor für Medienwissenschaft an der TU Berlin. 2006 erschien sein Buch „Helden der Familie“ bei Wilhelm Fink. Darin verteidigt der Philosoph traditionelle Familien- und Rollenmodelle, namentlich die weibliche Existenz als Hausfrau
Norbert Bolz: Der Anlass für das Buch, das für einen Medienwissenschaftler ja eher untypisch ist, war ganz einfach der: Wenn ich mit meiner Frau in irgendwelche Gesellschaften gegangen bin, haben Leute sich dort über sie >>> Philosophie Magazin Nr. 06 / 2018 / 37
DOSSIER
Brauchen
wir
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Eliten?
Illustration: Anna Parini±
lite. Das klingt überheblich. Nach Privilegien, Ungerechtigkeit, Bevormundung. In Krisenzeiten spitzt sich dieser Argwohn oft zu. Im Moment erleben wir eine solche Zeit. Globale Migration, soziale Ungleichheit, die Folgen der Digitalisierung: Der Druck aufs Establishment wächst. Populisten sind auf dem Vormarsch. Die Demokratie ist in Gefahr. Was also tun? Müssen Eliten sich neu erfinden, um den Spalt zwischen „uns“ und „denen da oben“ zu überwinden? Wenn ja, wie? Oder liegt das Problem viel tiefer – nämlich im Konzept der Elite selbst, das Menschen Führung verordnet? Trauen wir uns, bis an die Basis dessen zu gehen, was für uns lange selbstverständlich war.
Philosophie Magazin Nr. 06 / 2018 / 43
DOSSIER
Brauchen wir Eliten?
Die da oben
Eliten zu befürworten bedeutet, das Geschick der vielen in die Hände einiger weniger zu legen. Was aber zeichnet sie aus, diese wenigen? Und ist das Konzept überhaupt eine gute Idee? Hier die wichtigsten Positionen aus 2500 Jahren Von Dominik Erhard und Eva Schmidt
Kann jeder Elite? Sokrates
Platon
> 469‒399 v. Chr.
> 427‒347 v. Chr.
Werk zum Thema: Platon: „Menon“ (Reclam, 1994)
Fotos: Neil Kirk/Trunk Archive; akg-images/De Agostini Picture Lib./G. Dagli Orti; akg-images
Ja,
man braucht nur einen guten Lehrer. Umringt von Jünglingen der angesehensten Familien Athens sitzt ein Mann auf der Agora und stellt Fragen, hört zu, hakt nach. So ungefähr darf man sich laut Überlieferungen die philosophische Praxis des Sokrates vorstellen. Der um 470 v. Chr. als Sohn einer Hebamme geborene Denker suchte den Dialog mit seinen Mitbürgern, da er davon ausging, dass jeder Mensch zu wahrer Einsicht und richtigem Handeln fähig ist. Auch wenn Sokrates als gewählter Ratsherr über die Gesetze Athens wachte, verneinte er die Existenz einer Elite, die aufgrund besonderer Fähigkeiten tiefere Erkenntnis erlangen oder besser handeln könne. Diese Grundannahme drückt sich auch in seiner Methode der Mäeutik (griech. „Hebammenkunst“) aus, die Sokrates im Dialog „Menon“ erläutert. Der Philosoph tritt hier nicht als Mentor auf, der dem thessalischen Truppenkommandeur Menon fertige Wahrheiten übermittelt, sondern er bringt diesen durch Fragen auf den Weg des eigenen Erkennens. Denn: Der Lernende trägt bereits alles Wissen in sich. Die Aufgabe eines jeden Lehrers liegt lediglich darin, es, ähnlich der Tätigkeit einer Hebamme, zur Welt zu bringen. Sokrates war mithin ein Lehrer, wie man ihn sich noch heute nur wünschen kann: Zugewandt, offen, bescheiden – und vom Können seiner Schüler tief überzeugt. Allerdings sahen ihn seine Zeitgenossen keineswegs durchweg so positiv. 399 v. Chr. wurde er der asebie, der Verachtung der Götter und der Verführung der Jugend, schuldig gesprochen. Das Urteil fällten mehrere Hundert Bürger, die durch ein Losverfahren zu Richtern ernannt wurden. Obwohl die Möglichkeit zur Flucht bestand, trank Sokrates den Schierlingsbecher.
Werk zum Thema: Platon: „Der Staat. Über das Gerechte“ (Meiner, 1989)
Nein,
nur wenige Menschen sind erkenntnisfähig. Platon, der wohl bedeutendste Schüler des Sokrates, war vom Tod seines Lehrers und der Dumpfheit der Athener Richter so tief bestürzt, dass er in der Elitenfrage eine radikal andere Position entwickelte. Der 427 v. Chr. geborene Denker, der aus einer der vornehmsten Familien Athens stammte, vertrat in seinem Werk „Der Staat“ die These, dass nicht alle Menschen gleichermaßen zu Erkenntnis und also auch nicht zu politischer Mitbestimmung fähig seien. So folgert er: „Eine Polis kann nur gut sein, wenn entweder die Könige Philosophen sind oder Philosophen Könige.“ Buchstäblich vernünftige Politik wird also von jenen ausgeübt, die Einsicht in die Wahrheit haben. Und: Die platonische Elite ist nicht an ihren eigenen Interessen orientiert. Der Philosoph offenbart sich vielmehr deshalb als guter Herrscher, weil ihm nur an Erkenntnis gelegen ist und nicht an Macht, Anerkennung oder gar Reichtum. Ja, gerade sein Widerwille zu herrschen macht den Philosophen zu einem guten König, während der Wille zu wahrer Erkenntnis den guten König zum Philosophen macht. All jene, die zu wahrer Erkenntnis nicht fähig sind, sollten laut Platon deshalb einsehen, dass es besser sei, ihr Schicksal den Fähigeren anzuvertrauen. Womit wir eine Lösung für die gegenwärtige Krise hätten: Für Philosophen in Bundestag und Chefetagen!
Philosophie Magazin Nr. 06 / 2018 / 47
Elitenkritik kommt heute nicht mehr vorrangig von links, sondern von rechts. Dabei gehören die Wortführer der Rechtspopulisten oft selbst zu den Privilegiertesten. Was wie ein Widerspruch wirkt, führt in Wahrheit zum Kern reaktionären Denkens Von Nils Markwardt
52 / Philosophie Magazin Oktober / November 2018
Foto: Javier Zarracina/Vox Media, Inc.
Die RetroRechte
DOSSIER
Brauchen wir Eliten?
Reaktionäres Denken war immer schon mit der Idee einer starken Anführerschaft verbunden
A
ls Donald Trump Ende Juni vor Anhängern in Fargo, North Dakota, eine Rede hielt, kam er mal wieder auf eines seiner Lieblingsthemen zu sprechen: die Kritik an den Eliten. Seiner gewohnten Tirade gegenüber „diesen Leuten“, die „Elite genannt werden“, gab er an diesem Tag jedoch eine erstaunlich dialektische Pointe. „Warum sind sie die Elite?“, fragte er mit Blick auf linksliberale Führungsriegen rhetorisch und setzte gleich nach: „Ich habe ein viel besseres Apartment als sie. Ich bin klüger als sie. Ich bin reicher als sie. Ich wurde Präsident und sie nicht.“ Doch damit nicht genug: Der US-Präsident bezog direkt noch seine Anhänger mit ein: „Ihr arbeitet härter und ihr seid klüger als sie. Bezeichnen wir uns also von jetzt an als Superelite.“ So verwirrend diese Einlassungen Trumps zunächst klingen mögen, sind sie dennoch symptomatisch für den politischen Gegenwartsdiskurs. Und zwar in zweifacher Hinsicht. Zum einen, weil hier exemplarisch deutlich wird, dass Elitenkritik heute nicht mehr nur von links, sondern ebenso von rechts kommt. Ja, man könnte sogar von einem politischen Paradigmenwechsel sprechen: Während das Verdammen von „denen da oben“ zunehmend zum Kerngeschäft rechter Populisten avanciert, verteidigen viele Linke heute jene Institutionen und Personen, die bis vor nicht allzu langer Zeit noch zu ihren bevorzugten Gegnern gehörten. Sei es das internationale Freihandelssystem oder die „bürgerliche Presse“, Bundeskanzlerin Angela Merkel oder Ex-FBI-Chef James Comey. Zum Zweiten offenbart die Rede des US-Präsidenten ein Paradox, das sich auch bei vielen anderen Rechtspopulisten zeigt: Die Eliten werden nicht aus antielitärer, sondern eben aus „superelitärer“ Perspektive kritisiert. Ob Multimillionär Trump, Schlossbesitzerin Marine Le
Pen oder die Ex-Investment-Banker Alice Weidel und Nigel Farage: Die Führungsfiguren von US-Republikanern, Front National, AfD oder UKIP gehören biografisch und ökonomisch zu den Privilegiertesten. Historisch gesehen unterscheidet sie das zwar nicht grundsätzlich von linken Elitenkritikern, kamen diese doch ebenfalls eher selten aus dem dritten Stand oder dem Proletariat. Robespierre, Danton, Bakunin, Marx, Lenin, Che Guevara oder Gudrun Ensslin: alles Adels- oder Bürgerkinder. Dennoch lässt sich ein zentraler Unterschied ausmachen. Während linke Elitenkritiker ihre eigene Privilegiertheit entweder verschwiegen, kritisch hinterfragten oder in Arbeiter- und Guerillero-Kostümen versteckten, wird der eigene Elitismus bei reaktionären Populisten geradezu ausgestellt: Trump protzt mit seinem Vermögen, Nigel Farage kleidet sich wie das Klischee eines britischen Landlords, Marine Le Pen wuchs auf einem 5000-Quadratmeter-Anwesen auf und auch die AfDFührungsriege um Beatrix von Storch, Jörg Meuthen, Alexander Gauland und Alice Weidel könnte mit ihrem großbürgerlichen Habitus kaum privilegierter wirken.
Wirkmächtige Fantasien Haben die rechten Elitenkritiker also ein Glaubwürdigkeitsproblem? In der Binnenperspektive zumindest nicht. Denn rechte Elitenkritik folgt einer anderen Logik als linke. Erstere richtet sich nämlich gar nicht gegen Eliten an sich. Im Gegenteil: Reaktionäres Denken war immer schon mit der Idee einer starken Anführerschaft verbunden (siehe dazu: Interview mit Volker Weiß auf S. 55). Ausgangspunkt einer rechten Elitenkritik ist weniger das Herrschaftsdenken selbst als vielmehr die Behauptung einer verloren gegangenen Harmonie zwischen Herrschenden und Beherrschten. Demnach gab es in einer vormaligen Zeit eine durch Religion, Tradition und Staat eingehegte Ordnung, in der soziale Rollen >>> Philosophie Magazin Nr. 06 / 2018 / 53
DOSSIER
Brauchen wir Eliten?
Was wir brauchen Wie dem Legitimationsproblem heutiger Eliten zu begegnen, die tiefe Spaltung der Gesellschaft zu beheben wäre, das sind die zentralen Fragen der Zeit. Elf führende Intellektuelle geben Antwort
Hartmut Rosa
„Setzt euch aufs Spiel“ Der Soziologe (Universität Jena) fordert Intellektuelle auf, auch sich selbst in die Waagschale zu werfen
I
mmer lauter wird der Vorwurf, die intellektuelle Elite – die deutsche zumal – sei abgetaucht, nichts sei von ihr zu hören zu den drängenden Fragen der Gegenwart. Doch das stimmt nicht: Sie publizieren in gewaltigen Mengen, allein zu Pegida gibt es mehr als zehn Bände. Die Frage muss also lauten: Warum finden die Intellektuellen keine Resonanz im politischen Diskurs? Wer Resonanz finden will, muss seine Stimme hörbar machen. Dies gelingt aber nicht schon durch nüchterne Analysen und reflektiertes Abwägen. Hörbar wird eine Stimme, wenn sie Position bezieht, wenn sie den dahinterstehenden Menschen erkennbar werden lässt – und das bedeutet: wenn sie eine Geschichte erzählt, mit der sie sich selbst aufs Spiel setzt. Wer sich in diesem Sinne hörbar macht, wird angreifbar und verwundbar. Der akademische Nachwuchs lernt indessen, genau das nicht zu tun. Wer eine politisch oder menschlich relevante Frage stellt, kriegt fast immer eine ausweichende Antwort, die darauf hinweist, dass der Sachverhalt
komplex ist. Es gebe nun einmal, so das Argument, nicht „die Männer“ oder „die Frauen“, nicht „die Deutschen“ oder „die Europäer“, nicht einmal die Moderne oder den Kapitalismus, sondern multiple, heterogene Geschlechter, Modernen, Kapitalismen und so weiter. Das aber führt allenfalls dazu, jede Stimme hinter einem anonymen diskursiven Gemurmel zu ersticken – und dann das politische Feld den Vereinfachern zu überlassen, für die es „den Deutschen“ und „die Frau“ gibt. Französische Intellektuelle haben einen Weg gefunden, ihre Stimmen hörbar zu machen: Didier Eribon („Rückkehr nach Reims“), Annie Ernaux („Die Jahre“) und Édouard Louis („Im Herzen der Gewalt“) sind zu veritablen Stars geworden, weil sie ihre höchst individuellen, autobiografischen Geschichten als Vehikel für ihre gesellschaftlichen Analysen nutzten. Sie sind Musterbeispiele dafür, dass es des Mutes bedarf, sich selbst aufs Spiel zu setzen, um Resonanz zu finden.
Gunter Gebauer
„Gestaltet! Interpretiert! Entwerft!“ Eliten brauchen klare Vorstellungen und einen engen Kontakt zu den Bürgern, meint der Philosoph (FU Berlin)
W
as kann eine wirkliche Elite heute leisten? Politische Verlässlichkeit und moralische Integrität gehören zu ihren selbstverständlichen Eigenschaften. Nötig ist eine Gestaltungselite, die vorausdenkt: die Wege aus den Krisen erkennt, die vorhandene Kräfte bündelt, das Land nach einleuchtenden Grundsätzen verwaltet, einen sicheren Rechtsraum aufspannt und die Probleme sozialer Ungerechtigkeit angeht. Diese Aufgaben erfordern eine klare Vorstellung davon, wie sie gemeinsam bewältigt werden können. Die zweite Aufgabe ist das Begreifen von aktuellen Veränderungen der Welt. Es kommt darauf an, den historischen Wandel zu interpretieren und der zukünftigen Stellung des eigenen Gemeinwesens
in der Welt Sinn zu geben: Was macht unser Land aus und wie soll dieses erhalten werden? Welche Rolle soll Deutschland in Europa spielen? Wie können beide zusammen ihre Vorstellungen gegenüber anderen politischen Regimes zur Geltung bringen? Von diesen Problemen unterschieden, wenn auch eng mit ihnen verbunden, ist die dritte Aufgabe der Elite, symbolische Entwürfe zu entwickeln: In welche Richtung sollen die Strukturen unseres Staates weiterentwickelt werden? Wie können möglichst viele Bürger an den Aufgaben unseres Landes beteiligt werden? Wie können individuelle Freiheit, menschenwürdiges Leben und die Errungenschaften unserer Kultur bewahrt werden? Die drei Aufgaben – Gestaltung, Interpretation und Entwurf – erfordern klare Antworten. Die Mitglieder der Elite müssen sie arbeitsteilig angehen, aber in Kooperation miteinander und in engem Kontakt zu den Bürgern.
Rahel Jaeggi
„Wir brauchen keine anderen Herren, sondern keine“
D
ie Schüler, die wir hier ausbilden, werden die Elite von morgen sein“, verspricht der Rektor eines beliebten Gymnasiums in ei„ nem von Geld- und Bildungsbürgertum bewohnten Stadtteil. Ein Programm, das unter den Anwesenden auf verblüffend klare Zustimmung stößt. Man ist da heute nicht mehr so verschämt. Es ist nun seltsamerweise gerade nicht die Selbstreproduktion der Eliten, die zurzeit die größte Empörung auf sich zieht. Nicht diejenigen, die unsere Lebensverhältnisse tatsächlich beeinflussen, sondern diejenigen, die symbolisch für die als Bedrohung erfahrenen Veränderungen stehen, werden angegriffen. Es ist eine Kritik, die die Ärmsten gegen die Armen ausspielt – eine Kritik aus Ressentiment. Ressentiment aber ist nicht Machtkritik, sondern ihr Gegenteil. Die hier aufgerufene
Konstellation provoziert einen regressiven Realitätsverlust, ein Scheingefecht, das uns daran hindert, die wirklichen Krisen der Welt und eine Reihe von immer unlösbarer werdenden Problemen zu vergegenwärtigen. Helfen werden hier weder „bessere“ Eliten noch populistische Elitenkritik. Sondern nur die Rückbesinnung auf die alte Kampfparole demokratischer Emanzipationsbewegungen: „Dass wir keine anderen Herren brauchen, sondern keine.“ Dazu braucht es aber nicht nur Entschlossenheit oder guten Willen, sondern auch Ressourcen: Ressourcen für Bildung auf jeder denkbaren Stufe, Ressourcen für nichtpaternalistische Integrationsangebote und Partizipationsmöglichkeiten, die grundsätzlich inklusive Politik einer emanzipativen und nichtidentitären Solidarität bedürfen.
Illustration: Getty Images; Fotos: Jörg Gläschen; Horst Galuschka/picture alliance/dpa; Gene Glover
Die Philosophin (HU Berlin) fordert mehr Ressourcen − vor allem für bessere Bildung
Philosophie Magazin Nr. 06 / 2018 / 59
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Ideen
Das Gespräch
Nancy Fraser
Nancy Fraser zählt zu den bedeutendsten Philosophinnen der Gegenwart. Theorie und Engagement gehören für sie zusammen. Als Antwort auf den weltweiten Rechtsruck plädiert sie für einen progressiven Populismus Das Gespräch führten Nils Markwardt und Dominik Erhard / Aus dem Englischen von David Döll und Nils Markwardt / Fotos von Malte Jäger
Nancy
Fraser
»Wir brauchen eine Politik der Spaltung«
A
ls kürzlich an der TU Berlin die internationale Konferenz „Emanzipation“ stattfand, durfte Nancy Fraser nicht fehlen. Die Professorin für Philosophie an der New Yorker New School University ist eine der weltweit profiliertesten Vertreterinnen der Kritischen Theorie, die sich bereits als Studentin in der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung zu engagieren begann. Dem politischen Aktivismus ist sie bis heute treu geblieben, zuletzt als Mitinitiatorin des International Women Strike, bei dem Frauen weltweit für einen „Feminismus der 99 Prozent“ demonstrierten. Und auch ihr theoretisches Werk kreist um brennende politische Probleme: Wie lässt sich der Kampf um soziale Gerechtigkeit mit dem identitätspolitischen Verlangen nach Anerkennung verbinden? Inwiefern untergräbt der Kapitalismus seine eigenen Existenzbedingungen? Und wie kann man dem Rechtsruck wirksam entgegentreten? Ihre dichten philosophischen Analysen verbindet sie dabei mit einer klaren Forderung: Als Reaktion auf Trump, AfD & Co. brauche es einen linken Populismus. Ob die Denkerin dessen Verwirklichung in der neuen linken Sammelbewegung „Aufstehen“ sieht, ist eine von vielen Fragen, denen sich die Denkerin im Gespräch offen und geduldig stellt.
66 / Philosophie Magazin Oktober / November 2018
Philosophie Magazin: Frau Fraser, Sie haben einmal gesagt, man könne Sie zwar als Philosophin bezeichnen, Sie selbst würden sich aber eher als Gegenwartskritikerin verstehen. Warum? Nancy Fraser: Ich habe Philosophie studiert und immer an der philosophischen Fakultät unterrichtet. Aber mich hat auch der linke Aktivismus tief geprägt. Als 68erin fühlte ich mich natürlich zur Frankfurter Schule hingezogen. Mich faszinierte die Idee einer interdisziplinären Kritischen Theorie, die die grundlegenden Ursachen sozialer Ungleichheit klären und überwinden will. Diese Idee bestimmt mein ganzes Werk. Ich bin also mitnichten eine Salonphilosophin. Nichtsdestotrotz spiegelt sich in meinen Schriften unweigerlich meine philosophische Ausbildung wider. Wie entdeckten Sie die Frankfurter Schule? Zum ersten Mal stieß ich im College auf sie, als wir in einem Seminar Herbert Marcuses „Der eindimensionale Mensch“ lasen. Das Buch haute mich um: Seine Darstellung der konformistischen Tendenzen der „spätkapitalistischen Gesellschaft“ charakterisierte jene intellektuelle und politische Kultur in den USA, die ich so hasste! Allerdings war mir schon damals klar, dass sich Marcuses Argumentation selbst widersprach. >>>
Philosophie Magazin Nr. 06 / 2018 / 67
Illustration: Emmanuel Polanco
74 / Philosophie Magazin Oktober / November 2018
Ideen
Der Klassiker
Simone Weilund die
VERWURZELUNG Hat nicht nur der Körper,
sondern auch die Seele Bedürfnisse? Für die französische Philosophin Simone Weil, die bereits im Alter von 34 Jahren verstarb, stand dies außer Zweifel. Am Ende ihres kurzen Lebens, 1943, entfaltete sie die „Verwurzelung“ als Fundamentalbedürfnis der Seele: Wurzeln sind existenziell für den Menschen. Nur als verwurzelter kann er seine Identität innerhalb gesellschaftlicher, kultureller oder beruf licher Milieus ausbilden. Der Weil-Experte Jacques Julliard zeigt, dass „Verwurzelung“ keineswegs konservativ ist oder gar mit einem Blut-und-Boden-Denken verbunden wäre, sondern die Individuen verankert und von äußerer Herrschaft emanzipiert. Im Beiheft stellt uns Britta MüllerSchauenburg Weils unvollendetes Buch „Die Verwurzelung“ vor: ein Werk, das die Beziehung zwischen Mensch, Welt und Göttlichem von Grund auf erneuern will.
Philosophie Magazin Nr. 06 / 2018 / 75