Nr. 4 / 2019

Page 1

Nr. 04/ 2019

Juni/Juli

MAGAZIN Was ist eine

gerechte

Gespräch mit Hartmut Rosa

Habermas und Europa

0 4

Reportage über einen Hof mit Anspruch

„Wir brauchen Unverfügbares“

4 192451 806907

Kann Schlachten human sein?

D: 6,90 €; Ö: 7,- €; CH: 12,50 SF; Benelux: 7,40 €

Gesellschaft?


PPA / SFCP / GSP Philosophisch-Politische Akademie

Denker in diesem Heft

GRENZEN Bürgerkonferenz für philosophisch und politisch Interessierte

2.-7. 8. 2019 in Springe bei Hannover

S. 68

S. 60

S. 22

Hartmut Rosa

Oliver Nachtwey

Jana C. Glaese

„Ich will den Modus unseres Inder-Welt-Seins ändern.“ So Hartmut Rosa im großen Werkgespräch, in dem er für die Ak­­zep­tanz des Unverfügbaren plädiert. Nach seinem preisgekrönten Werk „Resonanz“ (Suhrkamp, 2016) erschien 2018 sein aktuelles Buch „Unverfügbarkeit“ (Residenz Verlag). Hartmut Rosa ist Professor für Soziologie in Jena und Direktor des Max-WeberKollegs in Erfurt.

2016 veröffentliche der Soziologe und Professor für Sozialstrukturanalyse an der Universität Basel seine Studie „Abstiegsgesellschaft“ (Suhrkamp). Im Dossier diskutiert Nachtwey mit Ulrike Ackermann, wie viel Gleichheit die Freiheit braucht, und plädiert für einen demokratischen Sozialismus. Jüngste Veröffentlichung (als Herausgeber, zus. m. Florian Butollo): „Karl Marx. Kritik des Kapitalismus“ (Suhrkamp, 2018).

Kann Schlachten human sein? Dieser Frage geht Jana C. Glaese in ihrer Reportage über einen Schlacht­hof in Vermont nach und sucht nach Antworten in Gesprächen mit dem Utilitaristen Peter Singer, der Tieraktivistin Hilal Sezgin und der Moralphilosophin Ursula Wolf. Jana C. Glaese ist Soziologin und promoviert derzeit an der New York University zu Kategorien nationaler und religiöser Identität.

S. 14

S. 60

S. 54

Srećko Horvat

Ulrike Ackermann

Joseph Vogl

Der Philosoph gründete 2016 mit dem ehemaligen griechischen Finanzminister Yanis Varoufakis die transnationale Bewegung Democracy in Europe Movement 2025 (DiEM25). Im Interview spricht er unter anderem über seine Beweggründe, sich als kroatischer Denker in Deutschland für Europa zu engagieren. Zuletzt erschien von ihm „What Does Europe Want?“ (Columbia University Press, 2014).

Die Politikwissenschaftlerin, bis 2014 als Professorin an der SRH Hochschule Heidelberg, gründete 2009 das John Stuart Mill Institut, dessen Direktorin sie ist. Im Dos­ sier diskutiert Ulrike Ackermann mit Oliver Nachtwey über die Umwälzung der Arbeitsgesellschaft und appelliert an die Kraft des selbstbestimmten Individuums. Zuletzt gab sie den Sammelband „Genuss – Askese – Moral“ (Humanities Online, 2016) heraus.

Der Professor für Literatur- und Kulturwissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin forscht derzeit als Visiting Professor in Princeton. 2010 legte er mit „Das Gespenst des Kapitals“ (diaphanes) eine Analyse des Finanzkapitalismus vor. Im Interview erklärt er, wieso der freie Markt heute keine Gerechtigkeitsversprechen mehr birgt. Zuletzt erschien von ihm „Der Souveränitätseffekt“ (diaphanes, 2015).

Im Teil A der Konferenz (2.-4.8.) können sich philosophisch Interessierte in Sokratischen Gesprächen auf der Grundlage eigener Erfahrungen miteinander verständigen. Der Hauptteil der Konferenz (4.-7. 8.) widmet sich der Grenzproblematik unter vielfältigen Perspektiven und in unterschiedlichen Kommunikationsformen. Mineke Schipper Breasts, Bellies, Borders: Male Fear of Female Power Dieter Birnbacher Grenzen der Medizin

Gunnar Skirbekk Ohne Abgrenzungen keine Modernität Mykola Bunyk Der Grenzkonflikt zwischen der Ukraine und Russland Alle Interessierten sind herzlich eingeladen! Detaillierte Informationen zur Teilnahme: www.philosophisch-politische-akademie.de/conference-2019.html

Die nächste Ausgabe erscheint am 04. Juli 2019

Fotos: Maria Sturm; Meine Fischer (2); privat; Neal McQueen; diaphanes

Ger Groot Are Borders necessary?


Intro

Horizonte

Dossier

Ideen

S. 3 Editorial S. 6 Leserbriefe S. 7 Ihre Frage

S. 22 Reportage Kann Schlachten human sein? Von Jana C. Glaese S. 30 Porträt Zukunftsträume eines Geistersehers Von Marianna Lieder S. 35 Interview Mit dem Parapsycho­logen Walter von Lucadou

Was ist eine gerechte Gesellschaft?

S. 68 Das Gespräch Hartmut Rosa: „Ich will den Modus unseres In-der-WeltSeins ändern“ S. 74 Werkzeugkasten Lösungswege / Das Ding an sich / Die Kunst, recht zu behalten S. 76 Der Klassiker Jürgen Habermas und Europa + Sammelbeilage „Zur Verfassung Europas“

Fotos: Jonas Wresch/Agentur Focus; Ullsteinbild – Heinz Perckhammer (die Bildvorlage wurde digital bearbeitet); Jenny Brandt Grönberg; Jon Tonks

Zeitgeist S. 8 Sinnbild S. 10 Denkanstöße S. 12 Resonanzen Rechtsextremismus in der Polizei: Struktur oder Einzelfall? / Suizidassistenz: Warum wir ein neues Gesetz brauchen / Europawahl: Gespräch mit dem Philosophen Srećko Horvat S. 16 Hübls Aufklärung Kolumne von Philipp Hübl Diesmal: Verzerrte Antworten S. 18 Erzählende Zahlen Kolumne von Sven Ortoli Diesmal: Ich hier, du da

S. 30

S. 38 Richtig unterscheiden Von Nils Markwardt S. 42 Welcher Gerechtigkeitstyp sind Sie? Persönlichkeitstest von Michel Eltchaninoff S. 46 Was ist fair? John Rawls und seine Widersacher Essay von Martin Legros S. 54 „Als gerecht gilt, wenn andere noch weniger haben“ Interview mit Joseph Vogl S. 58 Brauchen wir eine CareRevolution? Essay von Svenja Flaßpöhler S. 60 „Wie viel Gerechtigkeit verträgt die Freiheit?“ Ulrike Ackermann und Oliver Nachtwey im Dialog

Bücher S. 84 Buch des Monats Paul Mason S. 86 Thema Philosophie und Psychoanalyse S. 88 Scobel.Mag S. 90 Kolumne Das philosophische Kinderbuch

Finale

S. 67

S.54

S. 92 Agenda S. 94 Comic Catherine Meurisse: Menschliches, Allzumenschliches S. 96 Lebenszeichen Von Tieren lernen: Die Libelle S. 97 Spiele / Impressum S. 98 Sokrates fragt Milan Peschel

S. 21

Philosophie Magazin Nr. 04 / 2019 / 5


Horizonte

Reportage

Kann

Schlachten

human sein?

Diese Frage steht nicht nur im Mittelpunkt des viel diskutierten Tierwohl-Labels. Sie betrifft alle, die Tiere lieben, aber trotzdem nicht auf ihren Verzehr verzichten wollen. Ein Besuch auf einem Schlachthof in Vermont

B

evor ich sie sehe, höre ich sie. Hufe klackern auf Beton, dann auf Metall. Jetzt betritt die Kuh die Betäubungsbox. Die Edelstahlwände ragen hoch über ihren Körper. Gewehrt hat sich die Kuh nicht, als sie aus dem angrenzenden Stall geholt wurde. Aufgrund der besonderen Architektur des Gebäudes hat sie, so scheint es, keine Gefahr gewittert. Durch ein großes Fenster sehe ich zu, wie das Tier nun folgsam seinen Kopf durch eine rechteckige Öffnung am vorderen Ende der Box schiebt. Sein Fell schimmert schwarz, genauso seine großen Augen. Gleich wird die Mitarbeiterin seinen Hals mithilfe eines Metallstücks herunterdrücken, dann Kinn und Kiefer durch ein zweites Stück anheben. Als wäre es beim Zahnarzt, wird das Tier seinen Kopf in den Nacken legen. Es wird ihn nicht bewegen können, wenn die Bolzenpistole gegen seine Stirn presst. Es ist ein kühler Freitagmorgen in Springfield, Vermont, fast 400 Kilometer nördlich von New York. Am Rande der Kleinstadt, in einer ehemaligen Ben & Jerry’s Fabrik, befindet sich der Schlacht-

22 / Philosophie Magazin Juni / Juli 2019

Jana C. Glaese

Jana C. Glaese, Jahrgang 1988, ist Soziologin. Sie studierte in Maastricht und Cambridge und promoviert derzeit an der New York University zu Kategorien nationaler und religiöser Identität

hof Vermont Packinghouse. Mit dem Betreiber, Arion Thiboumery, gehe ich über das Gelände. „Beim Wort Schlachthof haben die Leute einen Albtraum im Kopf“, sagt er. „Den sehen sie hier nicht.“ Fast wöchentlich führt Thiboumery Besucher, oftmals Schüler- oder Studentengruppen, durch den Betrieb. Sechs Fenster geben dabei den Blick auf die Innenräume frei, in denen die Tiere geschlachtet, zerlegt und verarbeitet werden. Das Prinzip: totale Transparenz. Nur Verbrechen ereignen sich im Dunk-

len, hinter hohen Mauern. Wer nichts zu verbergen hat, kann also auch nichts Falsches tun? Natürlich, sagt Thiboumery, würden hier Tiere getötet. „Aber wir machen es auf eine Weise, die ihnen gegenüber respektvoll ist.“ Die Entscheidung, einen Schlachthof zu eröffnen, traf er zum Ende seines Studiums in Agrarsoziologie und nachhaltiger Landwirtschaft. Der 37-Jährige mit blondem Schnurrbart, Daunenweste, leicht in einem hippen Wanderladen vorstellbar, spricht bestimmt. Worum es ihm gehe, sei eine alternative Landwirtschaft, in der jede Region ihre Nahrungsmittel eigenständig und nachhaltig produziere. Bisher sei aber nicht nur der Anteil an Biohöfen minimal. Es fehle auch an Orten, wo diese ihre oft wenigen Tiere schlachten können. Stattdessen stammt das meiste Fleisch aus der Massentierhaltung und -schlachtung. Ebenso wie in Deutschland gibt es in den USA einige wenige Unternehmen, die den Markt dominieren. „Für die bist zu klein, wenn du 100 oder 200 Schweine hast“, sagt Thiboumery. „Deren Prozesse sind gemacht für 1000 Schweine.“ In den USA schlachtet >>>

Autorinnenporträt: Shehrezad Maher

Von Jana Glaese / Fotos von Erika Larsen


Arion Thiboumery, der Betreiber des Schlachthofs Vermont Packinghouse in Springfield, Vermont, den er in einer ehemaligen Ben & Jerry’s Fabrik erÜffnet hat


Horizonte

Reportage Porträt

Zukunftsträume eines

Geistersehers

E

Ende des 19. Jahrhunderts wollte der Philosoph Carl du Prel den Spiritismus mit dem Geist der modernen Wissenschaft in Einklang bringen. Ein aufschlussreiches Unterfangen, bei dem er sich auf Größen wie Immanuel Kant und Arthur Schopenhauer berief und das selbst Sigmund Freud inspirierte. Noch heute sind Medientheoretiker beflügelt von du Prel – höchste Zeit, den Spiritisten und sein Denken genauer zu betrachten

in Gespenst geht um in Euro„ pa“, verkündeten Karl Marx und Friedrich Engels im ersten Satz des „Manifests der Kommunistischen Partei“. Als die weltverändernde Schrift im Jahr 1848 erschien, begann es seltsamerweise auch in den USA zu spuken, und zwar auf ganz und gar unmetaphorische Weise: Maggie und Kate Fox, zwei halbwüchsige, schneewittchenbleiche Farmerstöchter aus dem Ostküstendorf Hydesville, vernahmen eines Abends im elterlichen Haus merkwürdige Klopfgeräusche. Kaum hatten sie den ersten Schrecken verdaut, begannen sie zurückzuklopfen und fanden heraus, dass sie es mit niemand Geringerem als dem unerlösten Geist eines Hausierers zu tun hatten, der vor Jahren

30 / Philosophie Magazin Juni / Juli 2019

Von Marianna Lieder

im Fox-Haus ausgeraubt, ermordet und im Keller verscharrt worden war. Bald schon tourten Maggie und Kate unter Aufsicht ihrer geschäftstüchtigen älteren Schwester Leah durchs Land: Gefeierte Auftritte vor einem zahlungswilligen Publikum wechselten sich mit eher unangenehmen Sitzungen vor professionell skeptischen Expertenkommissionen ab. Es dauerte nicht lange, da tauchten überall auf dem nordamerikanischen Kontinent Nachahmer auf, die öffentlichkeitswirksam mit dem Jenseits in Kontakt traten. Innerhalb kürzester Zeit schwappte die spirit-rapping mania über den Atlantik nach Großbritannien und Frankreich. Ab den 1870er-Jahren klopfte man auch hierzulande, was das Zeug hielt, ließ


Foto: Ullstein Bild – Heinz Perckhammer (Die Bildvorlage wurde digital bearbeitet.)

Tische durch die Luft schweben oder sprach mit tranceartig verdrehten Augen in fremden Zungen. Das Massenphänomen des modernen Spiritismus war geboren. Der 31. März 1848 – jener Tag, an dem die Fox-Mädchen zum ersten Mal Klopfzeichen mit dem hauseigenen Poltergeist austauschten – gilt bis heute als offizielle Geburtsstunde. Es scheint einleuchtend, die damals rasant um sich greifenden esoterischen Trends als eine Art Abwehrmechanismus und Trotzreaktion gegen die Zumutungen der Moderne zu deuten: Industrialisierung, Naturwissenschaft und Revolutionen trieben die Entzauberung der Welt im 19. Jahrhundert stürmisch voran. Was lag da für den vom Rationa-

litäts- und Fortschrittskult erschöpften Nordamerikaner oder Europäer also näher, als Zuf lucht im Irrationalen und Vormodernen zu suchen? – Allerdings wird man mit diesem prominenten Deutungsansatz dem Phänomen nur teilweise gerecht. So wurden gerade im weitgefächerten intellektuellen Leben des Wilhelminischen Kaiserreichs immer wieder Stimmen laut, die den Geisterglauben mit dem alles beherrschenden Vernunftparadigma in Einklang bringen wollten. Allen voran wurde der Philosoph und Lebenskünstler Carl du Prel von diesem Anliegen umgetrieben. In seinen zahlreichen, lange Zeit fast vollständig vergessenen Schriften versuchte er nicht nur Spukphänomene und Wis- >>> Philosophie Magazin Nr. 04 / 2019 / 31


DOSSIER

Was

ist eine

gerechte Gesellschaft?

36 / Philosophie Magazin Juni / Juli 2019

Illustration: Guy Billout/www.margarethe-illustration.com

G

elbwesten, Fridays for Future, Streiks für höhere Löhne: Der Ruf nach Gerechtigkeit wird wieder lauter. Die sozialen Spannungen nehmen zu. Wie also wäre es zu ermitteln, das innerste Gesetz der Verteilungsgerechtigkeit? Wie viel Ungleichheit ist vertretbar? Braucht es einen stärkeren Staat — oder ist der Einzelne in der Pflicht? Auf diese drängenden Fragen der Gegenwart haben Philosophen seit jeher Antworten gesucht: von Aristoteles über John Locke und Thomas Hobbes bis hin zu John Rawls. Im folgenden Dossier nehmen wir ihre wegweisenden Impulse auf — und denken sie weiter. Mit Beiträgen unter anderem von Joseph Vogl, Ulrike Ackermann und Oliver Nachtwey.



persönlichkeitstest

Welcher Gerechtigkeitstyp sind Sie? Wir haben nicht alle dasselbe Verständnis von Gerechtigkeit.Welche Prinzipien bestimmen darüber, was Sie als gerecht und ungerecht empfinden? Finden Sie es heraus Von Michel Eltchaninoff / Aus dem Französischen von Felix Kurz


DOSSIER

Die gerechte Gesellschaft

TEIL

01

Kreuzen Sie je eine Antwort an

1. Sollte man eine Obergrenze für Gehälter einführen? ❑ Das wäre ein gravierender Eingriff in die unternehmerische Freiheit. ❑ Eine solche Maßnahme ist unumgänglich, um eine Spaltung der Gesellschaft zu verhindern. ❊❑ Man sollte eher den Mindestlohn angemessen erhöhen und die Steuerflucht der Reichen bekämpfen. 2. Wie stehen Sie zu Leihmutterschaft? ❑ Die Eltern werden ihre Gründe für dieses Modell haben, ihr Kinderwunsch sollte respektiert werden. ❑ Es steht zu befürchten, dass der Körper der Leihmutter dadurch zu einer Ware wird und eine Gesellschaft entsteht, in der Kinder wie im Supermarkt erhältlich sind. ❊❑ Ich bin eher dafür, vertraue dabei allerdings darauf, dass der Gesetzgeber noch für angemessene Regeln sorgt. 3. Wie teilen Sie einen Geburtstagskuchen auf? ❊❑ Für die Großen etwas mehr, für die Kleinen etwas weniger: Jedem das, was ihm gebührt. ❑ Jeder bedient sich selbst. ❑ Natürlich bekommen alle ein gleich großes Stück.

Illustration: Craig Frazier

4. Wer sollte darüber entscheiden, wohin es im Familienurlaub geht? ❑ Die Eltern. Die finanzieren ihn schließlich auch. ❊❑ Die Kinder sollten gefragt werden und ein Vetorecht haben. ❑ Kinder wie Eltern haben dasselbe Recht, Vorschläge zu machen, dann wird diskutiert und abgestimmt. 5. Wie stehen Sie zur Erhöhung der Tabaksteuer? ❑ Krebs und andere Folgen des Rauchens kosten die Allgemeinheit eine Menge. Steuern sind erwiesenermaßen ein wirksames Instrument. Man sollte es anwenden. ❊❑ Präventionskampagnen wären sinnvoller, zumal sie einkommensschwache Raucher nicht bestrafen. ❑ Warum sollte man Menschen, die ein Bedürfnis nach stil- und genussvoller Selbstzerstörung haben, davon abhalten?

6. Sollte man Prostitution verbieten? ❊❑ Die Zulassung von Bordellen, in denen hygienische Anforderungen und die Gesetze eingehalten werden, ist eine sehr viel bessere Lösung. ❑ Warum sollten Menschen nicht ihren Körper verkaufen dürfen, obwohl doch jeder Leistungsträger seine Haut zu Markte trägt? ❑ Selbstverständlich. Nicht nur Zwangsprostitution, sondern jede Form von Prostitution bedeutet einen Verlust der Würde. 7. Wie sollte man mit deutschen Dschihadisten verfahren, die in Syrien oder dem Irak aufgegriffen werden? ❑ Die Terroristen führen Krieg gegen uns. Das bürgerliche Recht gilt da nicht mehr. Man muss sie unschädlich machen. ❑ Man sollte sie wie jeden anderen Bürger vor Gericht stellen. ❊❑ Wenn sie bewaffnet sind, sollte man sie ohne zu zögern töten. Stellt man sie lebend, dann sollte man sie nach Deutschland bringen und anklagen. 8. Was halten Sie davon, Schülerinnen und Schülern aus einkommens­ schwachen Milieus durch Sonder­rege­ lungen die Aufnahme in zugangs­be­ schränkte Studiengänge zu erleichtern? ❊❑ Das ist ein gutes Modell, um soziale Ungleichheiten im Bildungsbereich abzubauen. Es sollte die Regel sein. ❑ Ein solches Modell verstößt gegen das Gleichheitsprinzip. Man sollte stattdessen für mehr Chancengleichheit sorgen. ❑ Man sollte mit der Sonderförderung von Schülerinnen und Schülern aufhören. Freie Bahn für die Begabtesten! Gleichzeitig sollte unsere Wertschätzung auch anderen Dingen gelten als nur den extrem kodifizierten schulischen Leistungen. 9. Was halten Sie von der Idee eines allgemeinen Grundeinkommens? ❑ Der eine wird es investieren, der andere einfach einstecken. Viele Leute werden aufhören zu arbeiten. ❊❑ Man sollte zeitlich begrenzt damit experimentieren und es dann gegebenenfalls ausweiten. ❑ Eine einfache, klare und für alle gleiche Regelung. Jeder kann dann selbst entscheiden, wie er das Geld nutzt.

10. Der argentinische Fußballer Lionel Messi hat 2017/2018 rund 126 Millionen Euro verdient. Wie finden Sie das? ❊❑ Der Teamgeist sollte nicht unter einer Konkurrenz um Spieler leiden, die mit finanziellen Mitteln ausgetragen wird. Letztlich schaden solche hohen Gehälter dem Fußball nur. ❑ Messi ist sagenhaft, geradezu ein Gott in seinem Metier. Ein Genie ist unbezahlbar. ❑ So etwas ist ein Skandal. Das Fernsehspektakel darf nicht zu solchen schwindel­ erregenden Gehaltsunterschieden führen. 11. Sollte Studierenden, die nicht aus Europa kommen, der Zugang zu unseren Universitäten erleichtert werden? ❊❑ Dass Europäer bevorzugt werden, ist normal, die ganze Welt auszuschließen, dagegen ein Fehler. Die Gebühren sollten für sie geringfügig höher sein. ❑ Angesichts der internationalen Konkurrenz und begrenzter öffentlicher Mittel wäre es falsch, allen nahezu kostenlos dieselbe Bildung anzubieten. ❑ Wissen ist ein universeller Wert und sollte allen Menschen zu denselben Bedingungen offenstehen, gerade wenn sie aus armen Ländern kommen und ihr Studium als ein Sprungbrett begreifen. 12. Wie können wir den Klimawandel aufhalten? ❑ Es ist ganz normal, dass jeder Staat sein eigenes Tempo bei der Reduzierung von CO2-Emissionen hat. Genauso muss jeder Einzelne im Rahmen seiner jeweiligen Möglichkeiten handeln. Dass sich alle denselben Normen unterwerfen, ist illusorisch. ❊❑ Ohne genaue internationale Abstimmung werden wir unsere Verpflichtungen nicht einhalten können. Aber jeder muss in seinem eigenen Tempo vorgehen. ❑ Man muss China und andere Entwicklungsländer dazu verpflichten, die globalen Normen einzuhalten und ihre Emissionen unverzüglich drastisch zu reduzieren. 13. Die Mathelehrerin hat Ihre Tochter bestraft, obwohl sie nichts getan hat. ❊❑ Ich lege der Lehrerin die Situation in einer Mail kurz dar, mische mich aber nicht in ihre Entscheidungen ein. ❑ Ich suche sie auf und protestiere aufs Schärfste. >>> Philosophie Magazin Nr. 04 / 2019 / 43


DOSSIER

Die gerechte Gesellschaft

46 / Philosophie Magazin Februar / März 2019


Was ist

FAIR?

John Rawls hat die wirkmächtigste Theorie der Gerechtigkeit des 20. Jahrhunderts entworfen. Der „Schleier des Nichtwissens“ bildete für ihn den Kern einer gerechten Gesellschaft. Mit seinem „Differenzprinzip“ legitimierte der Philosoph soziale Ungleichheiten unter bestimmten Bedingungen. Was können wir heute von Rawls lernen? Und was waren die Argumente seiner Kritiker? Ein Überblick mit Tiefenschärfe Von Martin Legros

Foto: Jerome Sessini/Magnum Photos/Agentur Focus

D

as ist nicht gerecht!“ Haben Sie als Kind auch hin und wieder diesen Satz ausgerufen, in der tiefen Überzeugung, nicht fair behandelt worden zu sein – von Freunden, Eltern, „ dem Schicksal? John Jack Bordley Rawls (1921–2002) kannte das mit diesem Satz verbundene Gefühl offensichtlich – zumindest wusste er sehr genau, was es heißt, vom Schicksal getroffen zu werden. John Rawls: Das ist jener Philosoph, dessen 1971 erschienene berühmte „Theorie der Gerechtigkeit“ die Frage nach sozialer Gerechtigkeit revolutionierte. 400 000 Mal wurde das Buch verkauft und avancierte schnell zum weltweit meistkommentierten philosophischen Werk – 1989 schwenkten es sogar chinesische Studenten auf dem Platz des Himmlischen Friedens. Auch wenn wir nur wenig über die Biografie des zurückgezogen und bescheiden lebenden Denkers wissen: Zweifellos waren traumatische Erlebnisse in seiner Kindheit Auslöser für das Entstehen des Werkes. Rawls wird in Baltimore in eine wohlhabende Familie mit fünf Kindern geboren, sein Vater ist Steuerfachanwalt, seine Mutter kämpft für Frauenrechte. Mit sieben Jahren erkrankt er an Diphterie, steckt seinen jüngeren Bruder Bobby an – der an der Krankheit stirbt. Der einzige autobiografische Text, der nach Rawls’ Tod in einem Karton gefunden wurde, ist mit

„Just Jack“ überschrieben, was zugleich „nur Jack“ und „Jack, der Gerechte“ heißen kann. In diesem Text spricht er auch vom Tod seines Bruders: „Ich erinnere mich noch lebhaft an den Tag, an dem er beerdigt wurde … Ich fing an, untröstlich zu weinen, umso mehr als Nannie (Rawls’ Großmutter, d. Red.) mir sagte, dass Bobby es jetzt besser habe als ich. Es ist schrecklich, das zu einem Kind zu sagen.“ Unter dem Eindruck dieses Schocks beginnt Rawls zu stottern, was ihn sein ganzes Leben lang begleiten wird. Obwohl er Gespräche sehr schätzt und in der Debatte das Wesen der Philosophie sieht, fällt es ihm deshalb schwer, in der Öffentlichkeit das Wort zu ergreifen. Knapp ein Jahr später fängt er sich eine Lungenentzündung ein, die er an Tommy, seinen anderen kleinen Bruder weitergibt. Auch Tommy erliegt der Krankheit. „Erneut war einer meiner jüngeren Brüder an einer Krankheit gestorben, mit der ich ihn angesteckt hatte. Ich habe lange daran gedacht, mich dabei schuldig gefühlt und folglich auch verantwortlich für meine eigene Isolation und meine Einsamkeit.“ Weitere Erfahrungen haben Rawls geprägt: die Rassentrennung in Baltimore, seine Aufenthalte in den Sommerferien bei armen Fischern in Brooklyn, seine Schulzeit in der Kent School, einer strengen bischöflichen Schule. Außerdem war da noch der Krieg und – nach der Studentenzeit in Princeton – seine Erfahrung >>> Philosophie Magazin Nr. 04 / 2019 / 47


I

Das Gespräch führte Nils Markwardt / Fotos von Meike Fischer

m Café Oosten, das nur einen Steinwurf von der Europäischen Zentralbank entfernt liegt, verfließen Vergangenheit und Zukunft. Erinnert der alte Verladekran auf dem Dach an jene Zeit, als hier noch Arbeiter am Frankfurter Osthafen malochten, verrät die modern-minimalistische Innenarchitektur, dass das Viertel mittlerweile eher von Bankern, Selbstständigen oder Kreativen bevölkert wird. Unweigerlich stellt also schon der Ort dieses Dialogs die Frage, welche sozialen Chancen und Verwerfungen der gegenwärtige Wandel der Arbeitsgesellschaft mit sich bringt. Der linke Soziologe Oliver Nachtwey, der kürzlich eine Auswahl der Schriften von Karl Marx herausgab, sieht Deutschland heute als „Abstiegsgesellschaft“ und plädiert für einen demokratischen Sozialismus. Die liberale Politologin Ulrike Ackermann, Herausgeberin der gesammelten Schriften John Stuart Mills, setzt hingegen auf die Freiheit der individuellen Selbstermächtigung. Stoff genug für eine kontroverse Diskussion, zu deren Beginn sich pünktlich die Sonne zwischen den Wolken über der Frankfurter Skyline zeigt.

60 / Philosophie Magazin Juni / Juli 2019


DOSSIER

Die gerechte Gesellschaft

Wie viel

Gleichheit

verträgt die Freiheit? Die Fortschrittserzählung, dass alle vom Wohlstand profitieren, wird zunehmend porös. Ist also mehr Staat gefragt? Oder steht der Einzelne in der Pflicht? Die Politologin Ulrike Ackermann und der Soziologe Oliver Nachtwey über das richtige Verhältnis von Umverteilung und Selbstbestimmung

Philosophie Magazin: Frau Ackermann, Herr Nachtwey, geht es in Deutschland gerecht zu? Ulrike Ackermann: Das kommt immer auf den Vergleich an. In Relation zu vielen anderen Ländern, auch den europäischen Nachbarstaaten, steht Deutschland mit seinem gut ausgebauten sozialen Netz ziemlich positiv da. Oliver Nachtwey: Schaut man jedoch in die skandinavischen Länder, sieht es noch mal anders aus. Vor allem aber finde ich es falsch nach 30 Jahren

Ulrike Ackermann­

Oliver Nachtwey

Ulrike Ackermann ist Politik­­wissen­ schaftlerin und lehrte bis 2014 als Professorin an der SRH Hochschule Heidelberg. 2009 gründete sie das John Stuart Mill Institut, dessen Direktorin sie bis heute ist. Zuletzt gab sie den Sammelband „Genuss – Askese – Moral. Über die Pater­ nalisierung des guten Lebens“ (Humanities Online, 2016) heraus

Oliver Nachtwey lehrt als Professor für Sozialstrukturanalyse an der Universität Basel. 2016 veröffentlichte er die viel diskutierte Studie „Die Abstiegsgesellschaft“ (Suhrkamp). Zuletzt erschien von ihm als Mitherausgeber: „Karl Marx. Kritik des Kapitalismus. Schriften zu Philosophie, Ökonomie, Politik und Soziologie“ (Suhrkamp, 2018)

Neoliberalismus zu sagen: Uns geht es weniger schlecht als den anderen. Ich würde lieber fragen, was in unserer Gesellschaft eigentlich möglich wäre. Denn wir verzeichnen zwar einen starken Zuwachs an Wohlstand, dessen Verteilung zeigt jedoch klare Gerechtigkeitsdefizite, besonders bei den unteren 40 Prozent der Bevölkerung. Die haben zwischen 1994 und 2014 reale Verluste bei den Haushaltseinkommen erlitten. Das finde ich weder gerecht noch hinnehmbar. Ackermann: Man muss sich hier den Begriff Gerechtigkeit genauer ansehen.

Dieser ist ja zunächst eng mit der Entstehung des Staatsbürgers im Zuge der Französischen Revolution verbunden. Und da meinte er zunächst einmal die Gleichheit vor dem Recht. Mit dem Aufkommen der sozialen Frage im Laufe des 19. Jahrhunderts wurde er dann noch einmal anders konnotiert. Es gibt also eigentlich zwei unterschiedliche Begriffe von Gerechtigkeit. Zum einen den klassischen, der unterstellt, dass alle Bürger vor dem Recht gleich sind und ihr Leben in die eigene Hand nehmen können. Zum anderen den der sozialen Gerechtigkeit, wo es um Ergebnisgleichheit >>> Philosophie Magazin Nr. 04 / 2019 / 61



Ideen

Hartmut Rosa

Das Gespräch

Hartmut Rosa ist ein Meister in der Analyse moderner Entfremdungsdynamiken. Der Jenaer Soziologe bringt kollektive Gefühle und Sehnsüchte so präzise wie eigenwillig auf den Begriff. Gespräch mit einem Denker, für den sein Schreiben immer auch Selbstergründung ist Das Gespräch führte Svenja Flaßpöhler / Fotos von Maria Sturm

Hartmut

Rosa

»Ich will den Modus unseres In-der-Welt-Seins ändern«

H

artmut Rosa in einem Café auf der Leipziger Buchmesse. Langsam leeren sich die Hallen, der Lärm ebbt ab. Nein, zum abendlichen Verlagsempfang werde er es nicht mehr schaffen, zu viel sei er gereist in der letzten Zeit, jüngst erst nach Indien, er sehne sich nach Ruhe und fahre nachher noch zurück nach Jena, wo er lehrt. Kommunikation hat für den Soziologen ganz offensichtlich Grenzen, was sich auch daran zeigt, dass er eher selten auf E-Mails reagiert – womit wir uns bereits im Herzen des rosaschen Denkens befinden, das seinen

Ausgang nimmt in unserem ganz konkreten, hochtourigen Alltag. Bekannt wurde Rosa mit seinem Buch „Beschleunigung“, in dem er unser modernes In-die-Welt-gestellt-Sein vor dem Hintergrund ökonomischer Steigerungszwänge beleuchtet. In seinem zweiten großen Werk „Resonanz“ zeigt er die Voraussetzungen für eine gelungene Weltbeziehung auf, von denen eine die bewusste Akzeptanz des Unverfügbaren ist. „Das Unverfügbare“: So lautet der Titel von Rosas jüngstem Buch, das er im nun folgenden Gespräch gegen den Vorwurf des Konservatismus so entschieden wie erhellend verteidigt.

>>>

Philosophie Magazin Nr. 04 / 2019 / 69


76 / Philosophie Magazin Juni / Juli 2019

Illustration: SĂŠverin Scaglia, Bildvorlage: Isolde Ohlbaum/laif


Ideen

Der Klassiker

Jürgen

Habermas und

EUROPA Jürgen Habermas

, der am 18. Juni seinen 90. Geburtstag feiert, gilt heute als der wirkmächtigste lebende Philosoph deutscher Sprache. Zu intellektuellem Weltruhm gelangte er spätestens mit seiner 1981 erschienenen „Theorie des kommunikativen Handelns“. In diesem monumentalen Hauptwerk machte er sich daran, die vielfach blamierte und diffamierte Vernunft zu retten, indem er sie als „kommunikative Rationalität“ neu dachte und ihr ihren genuinen Ort innerhalb der sprachlichen Verständigung zuwies. Als unverbesserlicher, debattenfreudiger Aufklärer verteidigt Habermas seit Jahrzehnten die Idee des geeinten Europas. Im Jahr 2011, der Kontinent wurde gerade wieder durch Schuldenkrise und Europaskepsis geplagt, formulierte er unter dem Titel „Zur Verfassung Europas“ einen nach wie vor bedenkenswerten Rettungsplan. In Auszügen liegt der Essay dieser Ausgabe im Mittelheft bei. Auf den folgenden Seiten erläutert Peter Neumann die habermassche Idee von Europa und zeigt, auf welch fundamentale Weise sich die Diskurstheorie des kommunikativen Handelns mit dem politischen Denken des großen Sozialphilosophen verbindet.

Philosophie Magazin Nr. 04 / 2019 / 77


Jürgen

Habermas und Europa

Nr. 46

Sammelbeilage

Überblick / Marianna Lieder

„Zur ng r e V fassu a Europ s. “ Ein Essay e g (Auszü )

1 / Habermas und Europa


Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.