Nr. 06 / 2019 – Oktober / November
Magazin
Mit
JUDITH BU TLER im Interview
Das sensible
Selbst
4 192451 806907
0 6
D 7,90 € Ö 8,50 € CH 14,50 SFr Benelux 8,50 €
Sind wir zu empfindlich?
Giorgio Agamben:
„Der Ausnahmezustand ist zur Struktur des Regierens geworden“
Im falschen Körper?
Reportage über Transsexualität
Sokrates und der Eros Sammelbeilage: Auszüge aus dem „Gastmahl“
Mit Beiträgen von
S. 16
S. 24
Giorgio Agamben
Thea Dorn
Sein Buch „Homo sacer“ (1995) machte ihn weltweit bekannt. In der Rubrik Arena kritisiert Giorgio Agamben die Terrorbekämpfung als ökonomisch motivierten, permanenten Ausnahmezustand, der die Individuen nicht schützt, sondern entrechtlicht. Das neue Buch des italienischen Philosophen „Was ist Wirklichkeit? Das Verschwinden des Ettore Majorana“ erscheint im September bei Matthes & Seitz.
Die Philosophin und vielfach ausgezeichnete Schriftstellerin gehört zu den führenden Intellektuellen des Landes. Für die Rubrik Arena schreibt sie ab jetzt die Kolumne „Dorn denkt“. In dieser Ausgabe kritisiert sie die neue Hörigkeit von Erwachsenen gegenüber klimabewussten Kindern. Thea Dorn ist festes Mitglied im „Literarischen Quartett“, ihr jüngstes Buch „deutsch, nicht dumpf“ erschien 2018 bei Knaus. S. 62
S. 56
S. 44
Andreas Reckwitz
Wolfram Eilenberger
Mit seinem Buch „Gesellschaft der Singularitäten“ (2017) hat der Soziologe einen zentralen Schlüssel für die Deutung unserer Zeit gefunden. Im Titeldossier beleuchtet Andreas Reckwitz die Sensibilisierung der Gesellschaft und kritisiert die moderne Eliminierung negativer Gefühle. Sein neues Buch „Das Ende der Illusionen. Politik, Ökonomie und Kultur in der Spätmoderne“ erscheint Ende Oktober (beide Suhrkamp).
Der Philosoph und ehemalige Chefredakteur des Philosophie Magazins hat mit seinem jüngsten Buch „Zeit der Zauberer“ einen internationalen Bestseller erzielt. 2018 wurde das Werk mit dem Bayerischen Buchpreis ausgezeichnet. Ab diesem Heft lesen Sie in der Rubrik Leben Eilenbergers Alltagskolumne „Unter uns“. Dieses Mal: Warum das Kochen von Spaghetti uns zu wahren Humanisten macht.
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Philosophie Magazin Nr. 06 / 2019
„Wir dürfen nicht zulassen, dass moralische Vorwürfe in alle Richtungen die politische Reflexion ersetzen“ Dossier – Das sensible Selbst: Judith Butler, die wirk
mächtigste Philosophin der Gegenwart, spricht im Interview über linke wie rechte Empfindlichkeiten und kritisiert den „Absolutismus“ der Redefreiheit.
Fotos: Leonardo Cendamo/Getty Images; Maria Sturm; DFG; Annette Hauschild/OSTKREUZ; Brian L. Frank
Judith Butler
Oktober / November
Dossier: Das sensible Selbst
Nr. 06 / 2019
48 Resilienz versus Verletzlichkeit Von Svenja Flaßpöhler 52 Die Grenze des Zumutbaren Pro & Contra zu aktuellen Streitfragen 56 Dialektik der Sensibilität Essay von Andreas Reckwitz 62 Interview mit Judith Butler: „Verletzungen bilden gesellschaftliche Strukturen ab“
Intro
03 Editorial 04 Beitragende 05 Inhalt
Arena
08 Denkanstöße 10 Einwurf 30 Jahre Mauerfall / Brexit / Das Ende des sozialen Netzwerks / Erlass gegen Abtreibungsgegner 14 Sinnbild 16 Perspektive Giorgio Agamben: „Der Ausnahmezustand ist zur Struktur des Regierens geworden“ 20 Fundstück Friedrich Engels: „Zur Wohnungsfrage“ 22 Hausstreit Staat oder Individuum: Wer muss beim Klimaschutz vorangehen? 24 Dorn denkt Die neue Hörigkeit Kolumne von Thea Dorn
Fotos: Lukasz Wierzbowski; Sarah Pabst; Illustration: Ariel Davis
Leben
28 Weltbeziehungen Lässt sich Liebe regeln? / Fokus für Fluchttiere / Ikigai 30 Der Wille zur Weisheit Erwin Huber im Porträt von Dominik Erhard 34 Lösungswege Haben wir einen freien Willen? 36 Im falschen Körper? Reportage über Transsexualität von Sandra Schmidt und Gloria Dell’Eva 44 Unter uns Die Sache mit den Spaghetti Kolumne von Wolfram Eilenberger
S. 46
Ab wann ist eine Berührung eine Belästigung? Titelthema Sensibilität
Klassiker
68 Sokrates und der Eros Essay von Kerstin Decker 74 Übersicht
Was ist Kritische Theorie?
76 Zum Mitnehmen Kierkegaards „Schwindel
der Freiheit“ / Klassiker weltweit: Averroes 78 Menschliches, Allzumenschliches Comic von Catherine Meurisse
Bücher
82 Kurz und bündig
S. 16
„Waffenhersteller sind zu Sicherheitsausrüstern geworden“ Giorgio Agamben
Kolumne von Jutta Person 83 Buch des Monats „Grand Hotel Abgrund“ von Stuart Jeffries 84 Jubiläum Herman Melville 86 Scobel.mag Kolumne von Gert Scobel
Finale
90 Ästhetische Erfahrung Musik: „STUMM433“ /
S. 36
Aufklärung statt Vorurteil: Reportage über Transsexualität
92 95 97 98
Kino: „Gelobt sei Gott“ von François Ozon / Ausstellung: Edvard Munch Agenda Spiel / Impressum Leserpost Phil.Kids Philosophie Magazin Nr. 06 / 2019
05
Hongkong im Juni 2019: Demonstranten schßtzen sich mit Schirmen gegen Tränengas und Gesichtserkennung
Arena Raum für Streit und Diskurs
08
Denkanstöße
10
Einwurf
30 Jahre Mauerfall / Brexit / Social Media am Ende / Erlass gegen Abtreibungsgegner
14
Sinnbild
16
Perspektive
20
22
24
Fundstück
Friedrich Engels: „Zur Wohnungsfrage“
Hausstreit
Staat oder Individuum: Wer muss beim Klimaschutz vorangehen?
Dorn denkt
Die neue Hörigkeit Kolumne von Thea Dorn
Foto: ISAAC LAWRENCE/AFP/Getty Images
Giorgio Agamben: „Der Ausnahmezustand ist zur Struktur des Regierens geworden“
Philosophie Magazin Nr. 06 / 2019
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Arena / Perspektive Sicherheitspolitik
Überwachung
„Der Ausnahmezustand ist zur Struktur des Regierens geworden“ Zu Weimarer Zeiten begünstigte der Ausnahmezustand die nationalsozialistische Herrschaft. Im Namen von Terrorbekämpfung und Überwachungsstaat kehre er heute wieder und stelle die Entrechtlichung auf Dauer: ein Gespräch mit dem italienischen Philosophen Giorgio Agamben
Giorgio Agamben lehrt an der Universität Venedig und am Collège international de philosophie in Paris und zählt zu den bedeutendsten, meistdiskutierten Philosophen der Gegenwart. Berühmt wurde der italienische Denker mit seinem
international wirkmächtigen Buch „Homo sacer“ (Suhrkamp, 2002), das aufzeigt, wie totalitäre, biopolitische Mechanismen den Menschen auf sein nacktes Leben reduzieren
Philosophie Magazin: Herr Agamben, in Ihrem Werk verbinden sich politische Philosophie und Metaphysik aufs Engste. Das ist ungewöhnlich. Giorgio Agamben: Ich glaube nicht daran, dass sich Politik und Metaphysik voneinander trennen lassen. Jedes metaphysische Denken hat politische Inhalte, und jedes politische Denken metaphysische. Natürlich sind Philosophen wie Martin Heidegger und Hannah Arendt in vielerlei Hinsicht sehr verschieden. 16
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Aber nicht, weil der eine ein metaphysischer Denker und die andere eine poli tische Denkerin ist. An Universitäten unterrichtet man Moralphilosophie, theoretische Philosophie, Sprachphilosophie. Das sind falsche Unterscheidungen. Es gibt nur ein Denken. Dass Sie Arendt und Heidegger erwähnen, ist kein Zufall. Beide haben Sie stark beeinflusst. Ja, bei Heidegger war es anfangs allerdings vor allem die persönliche Begegnung, die mich faszinierte. Das war 1966, ich war 24 Jahre alt. Ich war damals gut mit einem Schüler des Dichters René Char befreundet, den Heidegger in der Provence besuchen wollte. Der Freund sagte zu mir: „Heidegger hält ein Seminar in der Provence. Möchtest du kommen?“ Das Seminar werde ich nie vergessen. Es fand in einem Garten statt. Manchmal spazierten wir durch die Felder in dieser herrlichen Provence der
1960er-Jahre. Wir aßen alle gemeinsam, Frühstück, Mittag- und Abendessen. Wir verbrachten die ganze Zeit zusammen. Das war für mich eine unglaubliche Erfahrung. Mit Hannah Arendt, die ja zeitweise mit Heidegger liiert war, standen Sie in Briefkontakt, richtig? Ja, ich hatte seinerzeit einen Essay über die Grenzen der Gewalt geschrieben, das war 1968. Ich fragte Heidegger nach der Adresse von Arendt, er gab sie mir, und ich schrieb ihr einen Brief, dem ich meinen Essay beifügte. Dass sie mich später zitierte, hat mich natürlich sehr gefreut. Wie eng Politik und Metaphysik für Sie zusammenhängen, offenbart der Titel jenes Werkes, das Sie berühmt gemacht hat: „Homo sacer“. Ich war schon viele Jahre zuvor in einem lateinischen Text des Sextus Pompeius
Autorenfoto: Leonardo Cendamo/Getty Images; Foto: Louvre, Paris, France/Bridgeman Art Libary
Das Gespräch führten Svenja Flaßpöhler und Dominik Erhard / Aus dem Italienischen von Michael Hack / Illustrationen von Ariel Davis
Festus auf die mysteriöse Figur des Homo sacer gestoßen. Der Homo sacer ist ein Mensch, der von jedem beliebigen anderen getötet werden durfte, ohne dass dies einem Mord gleichkam. Doch zugleich durfte er nicht in den religiös vorgegebenen Weisen geopfert werden, weil er einer Gottheit gehörte. Das ist die Vieldeutigkeit im Wort sacer, die zugleich die Weihung an die himmlischen Götter wie an die der Unterwelt bezeichnet. Sacer heißt also: heilig und
verdammt. Diese Doppelung hat mich tief beeindruckt, und irgendwann habe ich erkannt, dass sie der Schlüssel ist für einen neuen Zugang zur Geschichte des politischen Denkens. Was genau an unserer modernen, konkreten Lebenswelt erschließt sich über den Begriff des Homo sacer? Wie Michel Foucault bin ich davon überzeugt, dass moderne Politik immer auch Biopolitik ist. Biopolitik bedeutet,
„Der Homo sacer steht für das nackte Leben, das ausgeschlossen wird, weil es nicht geopfert werden kann“
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Leben / Porträt
Der Wille zur Weisheit Über 50 Jahre war Erwin Huber in den höchsten Ämtern der CSU tätig. Schaffte es von ganz unten nach ganz oben und fiel tief. Heute studiert der 72-Jährige Philosophie und stellt sich mit Martin Heidegger die Sinnfrage
Fotos: Lorem epudke st
Von Dominik Erhard / Fotos von Matthias Ziegler
Auf den Dächern der Einfamilienhäuser flimmert die Hitze eines Rekordsommers. In der Ferne brummt die übermotorisierte Jugend dem Wochenende entgegen. Ansonsten ist an diesem Tag alles ruhig im ersten Stock des CSU-Abgeordnetenbüros in Landau. Bis im Treppenhaus Schritte zu hören sind und im Flur eine gedrungene Gestalt erscheint, die zielstrebig näher kommt. Erwin Huber. Der Mann, der die bayerische Politik über Jahrzehnte maßgeblich prägte und der sich 2018 nach über 50 Jahren in den höchsten Ämtern der CSU aus dem aktiven Betrieb zurückzog. Der heute 73-Jährige, aus dessen Gesicht eine verschmitzte Herausforderung blitzt, hat noch immer den Händedruck eines Spitzenpolitikers. Etwas zu fest und
re seines Lebens verbrachte das scheue Kind in der sogenannten Einöde, einem einzeln stehenden Hof in Bayern bei seiner alleinerziehenden Mutter, die sich und ihren Sohn mit Gelegenheitsarbeiten als Näherin und Landarbeiterin über Wasser hielt und ihn streng religiös erzog. Seinen Vater hat Huber nie kennengelernt. Wenn er erzählt, wie er morgens um 5 Uhr mit aufs Feld ging und nahezu keinen Kontakt zu Gleichaltrigen schmitztheit aus seinen Zügen. Der Stuhl mit der hohen Rückenlehne wirkt etwas größer. Oder Huber kleiner. Schwer zu sagen. Dass diese einsamen Kindertage wie auch der mit der Muttermilch aufgesogene Katholizismus bis heute nachwirken,
Er verschrieb seine gesamte Existenz der Politik. Aber hat es sich gelohnt? Oder ist das schon die falsche Frage? mit Zug zum eigenen Rumpf. Eine alte Gewohnheit? Macht er auch am Beginn dieses Gesprächs einen Führungsanspruch deutlich, in dem es nicht um Macht, sondern um die Liebe zur Weisheit gehen soll? Denn Erwin Huber ist jetzt Student. Eingeschrieben im zweiten Semester an der Hochschule für Philosophie in München. „Fragen rund um unsere Existenz als Dasein haben mich schon immer interessiert“, so Huber, die Hände fest auf seine Beine gestemmt wie ein Sportler vor einem wichtigen Match. Und in der Tat verbindet sich mit dem Wort „Dasein“ ein überaus ehrgeiziges Vorhaben – ist es doch unauflöslich mit dem Namen Martin Heidegger verknüpft, dessen Hauptwerk „Sein und Zeit“ lesen und verstehen zu können Hubers erklärtes Fernziel ist. Für jemanden, der sein Leben bis dato mit Konjunkturanalysen anstatt mit ontologischen Fachbegriffen zugebracht hat, ist das wahrhaft eine Mammutaufgabe. Zumal Heideggers Diktion, gelinde gesagt, ohnehin höchst eigenwillig ist. Politiker verwenden Sprache als Machtinstrument. Für Heidegger ist sie Ausdruck des Denkens selbst. Und so gebraucht der Philosoph auch das Wort „Dasein“ höchst absichtsvoll, um anzuzeigen, dass es dem Menschen als einzigem Wesen „in seinem Sein um dieses Sein selbst geht“ und damit nur er die Frage nach dem „Sinn von Sein“ stellen kann. Die Sinnfrage also. Für jemanden wie Huber muss sie sich unweigerlich auftun. Jetzt, nach seiner alles andere als bruchlosen Karriere. Hat er doch nahezu seine gesamte Existenz einer einzigen Sache verschrieben: der Politik. Aber hat es sich am Ende auch gelohnt? Oder ist das schon die falsche Frage? Als Huber 1946 in einfachsten Verhältnissen zur Welt kam, deutete nichts darauf hin, dass er einmal zu einem der einflussreichsten Politiker des Freistaats werden würde. Die ersten Jah-
spiegelt sich auch in Hubers philosophischen Interessengebieten wider. In den ersten beiden Semestern seines Studiums setzte er sich intensiv mit Religionsphilosophie auseinander, belegte erst die Vorlesung „Philosophische Gotteslehre“ und arbeitet aktuell an seiner ersten Hausarbeit im Proseminar Religionsphilosophie. Ob ihn als überzeugten Christen die Lektüre von Philosophen wie Ludwig Feuerbach ins Zweifeln bringt? Immerhin stellt Feuerbach Gott als bloße in den Himmel projizierte Moralvorstellung des Menschen dar. „Ins Nachdenken, ja. Aber ins Zweifeln sicher nicht“, antwortet Huber mit einer Handbewegung, die aussieht, als würde er etwas von der Tischplatte wischen. Auch dass ihm in karriererelevanten Entscheidungen immer wieder der letztnötige Biss gefehlt habe, führt Huber heute in Teilen auf seine religiöse Erziehung zurück. Denn Christ könne man nur in einer Gemeinschaft sein, was den eigenen Egoismus zügle. In seiner Selbstwahrnehmung hat Huber stets mit harten Bandagen und offenem Visier für andere gekämpft, sich jedoch in Angelegenheiten zurückgenommen, die seine Person betrafen. Hubers Blick schweift aus dem Fenster und ruht kurz, ganz kurz auf den Auen seines geliebten Niederbayerns, für das er sich seit jeher ins Zeug gelegt hat. Dass aus der ehemals ärmlichen Region, in der lange Zeit an befestigte Straßen und flächendeckende Elektrizität nicht zu denken war, eine „Aufsteigerregion“ wurde, ist in den Augen vieler auch dem „Huber Erwin“ zu verdanken, wie ihn hier viele nennen. Weniger rigoros sei er bei der eigenen Karriereplanung vorgegangen. Angela Merkels Angebot, Kanzleramtschef zu werden, hätte er 2005 annehmen sollen. Ebenso bereut er seine Entscheidung, 2007 nicht als Parteichef ins Bundeskabinett gewechselt zu haben, weil er Wirtschaftsminister Michael Glos nicht abschießen wollte. Philosophie Magazin Nr. 06 / 2019
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Leben / Reportage
Im falschen Körper? Transsexuelle hadern mit ihrem angeborenen Geschlecht. In Teilen der Gesellschaft werden sie daher diskriminiert. Unsere Autorinnen haben vier Transmenschen getroffen. Ihre Geschichten werfen ein neues Licht auf ein uns allen wohlvertrautes Konzept: Identität
Gloria Dell’Eva
Sandra Schmidt
promovierte über Kierkegaard an der Freien Universität Berlin und an der Universität Padua und ist als Freie Autorin und Übersetzerin tätig. Ihre Arbeitsbereiche umfassen Philosophie der Religion und Körperlichkeit als Metapher
befasste sich in ihrer Dissertation mit Körperbewegungen in der Frühen Neuzeit. Sie arbeitet als Freie Journalistin (u. a. für das ARD-Magazin „MONITOR“) und Übersetzerin aus dem argentinischen Spanisch und Italienisch
Wer ist eigentlich so ganz mit sich im Reinen? Manch einer wäre gern größer, andere gern dünner, der eine leidet an Falten im Gesicht, die andere an Fett auf den Hüften. Hadern wir nicht alle mit unserem Körper? Bilder eines idealen Körpers gibt es seit der Antike, als das Schöne im Ideal der Kalokagathia zudem direkt mit dem Guten verknüpft war. Wenn es darum geht, in welchem Maße wir mit unserem Körper im Reinen oder anders gesagt: ohne inneren Widerspruch sind, geht es immer auch darum, wie wir die Diskrepanz zwischen einer gesellschaftlichen Norm und der eigenen Körperlichkeit ertragen. Nun gab und gibt es auch Menschen, die grundsätzlich 36
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nicht mit ihrem Körper im Reinen sind, und zwar mit dem biologischen Geschlecht, mit dem sie geboren sind: die Transsexuellen. Diese Menschen, so eine geläufige Formulierung, „fühlen sich im falschen Körper gefangen“. Der daraus resultierende innere Widerspruch ist keine Frage von Falten oder Fett, sondern ein existenzieller. Unstrittig ist, dass dieses Phänomen einen teilweise extremen Leidensdruck bei den Betroffenen hervorruft, der mit psychischen Problemen bis hin zu Suiziden einhergehen kann. Strittig hingegen ist, wie die Gesellschaft mit dem Phänomen umgeht, denn sogenannte Geschlechtsanpassungs-Operationen stoßen auch auf großes Unverständnis. Ist Transsexualität eine Krankheit? Oder gar eine Mode? Ist, wie es nicht nur rechte Parteien formulieren, die „natürliche Ordnung“ in Gefahr? Als sicher darf gelten, dass die Unterscheidung in Mann oder Frau im Alltag als das Normalste der Welt erscheint: Wir alle treffen sie in Sekundenbruchteilen, automatisch, wann immer wir einen anderen Menschen sehen. Eine „soziale Unterscheidung von zentraler Bedeutung“, wie der Soziologe Stefan Hirschauer sagt. Aber auch eine, deren Relevanz in der westlichen Gesellschaft des 21. Jahrhunderts „permanent außer Kraft gesetzt“ wird, überall dort nämlich, wo institutionell gesichert ist, dass Entscheidungen, seien es Gerichtsurteile oder Schulnoten, ohne Ansehung des Geschlechts zu fällen sind. Trotzdem gilt: Dort, wo diese Unterscheidung nicht gelingt, wird es für die einen interessant, für die anderen irritierend. Und auf Irritation folgt mal Neugierde, mal Ablehnung. Wir haben entschieden, vier Menschen zu treffen, die ihr „Dazwischen“ unterschiedlich begreifen und realisieren.
Foto: Melody Melamed; Autorinnenfotos: privat
Von Gloria Dell’Eva und Sandra Schmidt
Leben im Dazwischen: In ihren Arbeiten setzt sich die Fotografin Melody Melamed mit der Konstruktion von Geschlechtsidentitäten auseinander
Foto: Javier Castรกn
Dossier
Das sensible Selbst Sind wir zu empfindlich?
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Intro
Resilienz versus Verletzlichkeit Von Svenja Flaßpöhler
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Pro & Contra
Safe Spaces, Komplimente, Michael Jackson: drei aktuelle Streifragen
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Essay
Warum die positive Kraft der Empfindsamkeit den sozialen Raum bedroht Von Andreas Reckwitz
Interview
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Judith Butler: „Verletzungen bilden gesellschaftliche Strukturen ab“
Die Sensibilisierung der Gesellschaft ist ein Zeichen von Fortschritt. Die Unantastbarkeit der Würde ist ihr Verdienst. Doch wie weit reicht das Recht, vor Verletzungen geschützt zu werden? Was können und müssen wir uns in einer liberalen Demokratie wechselseitig zumuten – und was nicht?
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Dossier
Das sensible Selbst
Dialektik der Sensibilität Die Sensibilisierung des Selbst ist der Motor des Fortschritts. Inzwischen aber schlägt die positive Kraft moderner Empfindsamkeit ins gerade Gegenteil um: Die Kultur der Sensibilität droht den sozialen Raum zu zerstören. Der Soziologe Andreas Reckwitz erläutert in seinem Essay die Gründe Von Andreas Reckwitz
Als sensibel zu gelten, ist im Alltag nicht unbedingt ein Kompliment. Sensibel – heißt das nicht schwach, verletzlich und wenig belastbar zu sein? Der Begriff der „Empfindsamkeit“ – dem des Sensiblen eng verwandt – war bereits um 1800 nicht selten abwertend gemeint: Die Empfindsamen – sind dies nicht die Rührseligen und Gefühlsduseligen, denen es an Klarheit und Vernunft fehlt? Aber diese kritischen Kommentare können leicht darüber hinwegtäuschen, wie wirkungsmächtig in der Kultur der Moderne das ist, was man die Sensibilisierung des Subjekts nennen kann. Sie hat in unserer Gesellschaft, das heißt der Spätmoderne seit den 1980er-Jahren, einen Höhepunkt erreicht. Mittlerweile muss man sich fragen, ob sie sich bereits gegen sich selbst kehrt. Dies ist meine These: Die Sensibilisierung des Subjekts war und ist zunächst ein fortschrittlicher Prozess – mittlerweile droht er aber destruktiv zu wirken. Ähnlich wie Adorno und Horkheimer von einer „Dialektik der Aufklärung“ sprachen, kann man eine Dialektik der Sensibilisierung beobachten: Die Sensibilisierung hat in der Gegenwartsgesellschaft einen Punkt erreicht, an dem sie riskiert, den Subjekten und dem Raum des Sozialen zu schaden – und dies nicht durch eine bloße „Übersensibilisierung“, sondern durch eine widersprüchliche Kultur der Sensibilität, die versucht, Negativität und Ambivalenz auszuschließen. 56
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Um die Sensibilisierung des Subjekts zu begreifen, muss man jedoch kulturhistorisch einen Schritt zurücktreten und den großen Rahmen der gesellschaftlichen Wandlungsprozesse erkennen. Die moderne Gesellschaft, wie sie im 18. Jahrhundert mit der Industrialisierung, Urbanisierung und Kapitalisierung ihren Siegeszug in den westlichen Gesellschaften begann, bedeutete – mit Max Weber gesprochen – zunächst eine tief greifende „Entzauberung“ der Welt. Das Leitprinzip der Moderne war und ist hier Rationalität und Rationalisierung, ein Triumph des Verstandesmäßigen und Geregelten in Wirtschaft, Wissenschaft, Staat und Recht. Effizienz und Optimierung sind die Fluchtlinien dieses Rationalisierungsprozesses, der spätestens im 20. Jahrhundert die gesamte Gesellschaft erfasste. In diesem Prozess der Ent zauberung wird auch das Subjekt entsprechend „ra tional“: berechenbar, seinen Interessen und den Funktionsrollen der Gesellschaft folgend, in seinen Emotionen versachlicht und in seinen Wahrnehmungen auf die Funktion der Information beschränkt. Aber die Moderne war nie derart eindimensional. Es hat von Anfang an auch eine gegenläufige Bewegung gegeben. Hier kommt die Sensibilisierung ins Spiel. Bereits in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts entstand im Zusammenhang mit der Aufklärungsphilosophie und ihrer Literatur eine Kultur der
Andreas Reckwitz ist Professor für Kultursoziologie an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/ Oder. Nach seinem Buch „Die Gesellschaft der Singularitäten“ (Suhrkamp, 2017) erscheint im Oktober von ihm: „Das Ende der Illusionen. Politik, Ökonomie und Kultur in der Spätmoderne“ (Suhrkamp)
Foto: Emma Hardy; Autorenfoto: DFG
Empfindsamkeit. Man denke an den tief greifenden Einfluss der Schriften Rousseaus zur modernen Subjektivität, etwa „Julie oder Die neue Héloïse“ oder „Die Träumereien des einsamen Spaziergängers“. Man denke zuvor an die einflussreiche britische Romanliteratur, so an Samuel Richardsons „Pamela“. Die gesellschaftlichen Sensibilisierungsprozesse gehen aber noch über die Empfindsamkeit hinaus. Tatsächlich kann man feststellen, dass die Kultur der Moderne von Anfang an das Subjekt nicht nur rationalisieren wollte, sondern auch zu sensibilisieren versuchte. Sensibilität – darin steckt der lateinische sensus, das heißt die Sinne. Die
sinnliche Wahrnehmung ist dabei immer mit den Gefühlen und Affekten verbunden. Sensibilität bezieht sich somit auf eine psychische, aber auch eine körperlich-leibliche Wahrnehmungs- und Empfindungsfähigkeit. Sensibilisierung heißt dann: Das Subjekt wird systematisch darin trainiert, seine Wahrnehmungsund seine Empfindungsfähigkeit immer mehr zu differenzieren, sie immer komplexer werden zu lassen. Ende des 18. Jahrhunderts sind es vor allem zwei Bereiche, in denen dieser Komplexitätsgewinn von Wahrnehmung und Emotionen kultiviert wird: dieÄsthetik und die Ethik. Die moderne Ästhetik setzt Philosophie Magazin Nr. 06 / 2019
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Dossier
Das sensible Selbst
Judith Butler
„Verletzungen bilden gesellschaftliche Strukturen ab“ Verwundbarkeiten sind eitel, zerstören die Debattenkultur? Die Philosophin Judith Butler widerspricht energisch – und plädiert dennoch dafür, an die Stelle des moralischen Vorwurfs wieder die Reflexion zu setzen Das Gespräch führten Svenja Flaßpöhler und Nils Markwardt
Philosophie Magazin: Forderungen nach „Safe Spaces“, Trigger-Warnungen und gendergerechter Sprache wurden in den letzten Jahren viel diskutiert. Werden die westlichen Gesellschaften feinfühliger – oder überempfindlich? Judith Butler: Zunächst: Ich bin nicht sicher, was „westliche Gesellschaften“ sind. Ich weiß nicht, wo der Westen endet und der Osten anfängt. Hat heute nicht der Unterschied zwischen Norden und Süden größere Bedeutung? Ihre Frage zielt aber wohl darauf ab, ob Gesellschaften, die die Freiheit der Rede anerkennen, heute eher willens sind als früher, dem Sprechen Grenzen zu setzen, um Verletzungen zu lindern. Natürlich wird anstößige und verletzende Sprache heute anders definiert als früher. Und es besteht ein Dissens darüber, wo die Grenze zu ziehen sei. Hinzu kommt die Frage, ob Sprache traumatisieren oder Traumata wachrufen kann. Dieses Argument kann auf gesellschaftlicher Ebene vorgebracht werden – rassistische Äußerungen reaktivieren in den USA oft das Trauma der Sklaverei. Doch auch auf persönlicher Ebene spielt es eine Rolle, wenn Bilder oder Worte bei jemandem traumatische Erlebnisse aufrufen. Ein gängiger Vorwurf lautet: Wenn sich der politische Diskurs auf indivi62
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duelle Verletzlichkeiten konzentriert, gefährdet er die liberale Demokratie, denn er bringt die Leute davon ab, für eine gemeinsame Sache zu kämpfen. Es wird über persönliche Erfahrungen debattiert anstatt über strukturelle Probleme. Wie stehen Sie zu dieser Kritik? Das ist ein guter Anlass, um über den Zusammenhang von individuellem Sprachgebrauch und gesellschaftlichen Strukturen mit potenziell tödlichen Mechanismen nachzudenken. Wird jemand durch eine rassistische oder homophobe Äußerung oder Handlung verletzt, ist das eine persönliche Erfahrung. Doch der Akt und seine Wirkung aktivieren eine soziale Struktur. Das Gleiche gilt für sexuelle Belästigung, die endlich im Blickpunkt der öffentlichen Debatte steht und der erfreulich viele Menschen heute Einhalt gebieten wollen. Belästigung besitzt stets eine individuelle Form, und doch bildet die Form der Handlung oder Handlungsweise eine gesellschaftliche Struktur ab und reproduziert diese. Manche sehen hier bloß eine individuelle Verantwortung, und natürlich sollten die Handelnden zur Verantwortung gezogen werden. Wenn aber das Individuum der einzige Bezugspunkt für die Analyse bleibt, entgeht uns das größere soziopolitische Bild. Wir müssen herausfinden, was es Individuen, zumeist
Männern (aber nicht immer!), „erlaubt“, andere Menschen zu bedrängen, als sei das ihr Recht. Ich glaube nicht, dass zwischen der individuellen und der gesellschaftlichen Perspektive ein EntwederOder besteht. Doch eine soziale Bewegung braucht ein Verständnis, wie sich die gesellschaftliche Struktur in und mittels Handlungen auswirkt, die durch Formen von Macht und Privileg begünstigt werden. Um die Gesellschaft zu verändern, müssen wir begreifen, wie die sozialen Bedingungen der Unterwerfung durch die diversen Fälle von Schädigung repro duziert werden – und durch die Modi der Komplizenschaft, welche den Missstand festigen, indem sie vorgeben, solche Schädigungen seien etwas, das im Leben halt mal passiere. In Ihrem Buch „Gefährdetes Leben“ kritisieren Sie, dass die Grenzen des Sagbaren sehr eng gezogen würden: etwa in den Debatten über den 11. September oder über die Politik der israelischen Regierung. Sie stellen in öffentlichen Diskursen eine Tendenz zum Antiintellektualismus fest. Heißt das umgekehrt, dass intellektuell zu sein voraussetzt, sich jeder Art von Debatte zu stellen? Als ich jung war, konnte ich es nicht ertragen, wenn jemand den Staat Israel
Judith Butler ist die Vordenkerin des Postfeminismus und ver teidigt in Büchern wie „Gefährdetes Leben“ (Suhrkamp, 2005) eine Ethik der Gewaltlosigkeit. In diesen Tagen erscheint ihr Buch „Rücksichtslose Kritik. Körper, Rede, Aufstand“ (Konstanz University Press). Judith Butler ist Professorin für Rhetorik und Komparatistik an der University of California in Berkeley
„Der Absolutismus der freien Rede verkennt den Schaden, den Worte anrichten können“
Foto: Cody Pickens
kritisierte, denn mir war beigebracht worden, dass er ein Fanal der Hoffnung sei, ein notwendiger Schutzraum und der einzige Weg, die Wiederkehr des national sozialistischen Genozids zu verhindern. Deshalb hatte ich große Schwierigkeiten damit, mir anzuhören, welches Unrecht dieser Staat an der palästinensischen Bevölkerung verübt. Wäre es mir gelungen, das mich Verstörende zu zensieren, dann hätte sich mein Begriff von Gerechtigkeit nicht gewandelt – dies konnte nur aus dem Widerspruch heraus geschehen. Wenn es Grenzen des Sagbaren gibt, wo liegen die für Sie? Das ist nicht einfach zu beantworten, aber ich meine schon, dass Sprache Diskriminierung und Gewalt verstärken kann. Wir müssen zu zeigen imstande
sein, wo und wie sie das tut und unter welchen Umständen es notwendig ist, rassistische und faschistische Rede zu unterbinden. Das ist schwierig, denn wir müssen mit den Konservativen im Dialog bleiben, aber auch eine klare Grenze zum Faschismus ziehen, um zu verhindern, dass er durch den Dialog legitimiert wirkt. Was bedeutet für Sie Redefreiheit? Versteht man je nach politischem Lager etwas ganz anderes darunter? Es besteht ein Unterschied zwischen der libertären Verteidigung der Redefreiheit gerade dort, wo Anstößiges, Diskriminierendes geäußert wird, und einer Gesellschaftskritik, die gängige Vorstellungen von Normalität irritieren will. Etwa solche, die LGBTQI-Menschen das Leben
schwer machen oder sie pathologisieren. Besorgniserregend ist, wie heute die Rechte das Argument der uneingeschränkten Meinungsfreiheit dafür nutzt, ihren eigenen Drang nach Zensur auszuleben, während sie zugleich beklagt, sie werde von links zensiert. Der Absolutismus der freien Rede verkennt den Schaden, den Worte anrichten können, und beruht auf einer Vorstellung von persönlicher Freiheit, die dem Ideal der sozialen Gleichberechtigung meist feindselig gegenübersteht. Was „Schaden“ genannt wird, ist allerdings je nach Position im politischen Spektrum sehr verschieden, und wir müssen bereit sein zu bewerten, welche Aussagen wir akzeptieren und welche nicht. Können Sie vielleicht ein Beispiel nennen für einen solchen Philosophie Magazin Nr. 06 / 2019
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Klassiker / Dossier
Sokrates und der Eros Zum Stichwort Liebe hat jeder etwas zu sagen. Das war schon im antiken Griechenland so. In Platons „Gastmahl“, dem legendärsten Trinkgelage aller Zeiten, versuchen Athens Meisterredner das Wesen der Liebe, des Eros, zu fassen. Handelt es sich um eine Gottheit? Ist wahre Liebe körperlich oder geistig – oder beides? Und was hat es mit der Liebe zur Weisheit, dem Eros der Philosophen auf sich? Sokrates, Stargast des Gastmahls, klärte seine Zechkumpane vor 2400 Jahren auf. Sein Denken macht ihn bis heute zum unwiderstehlichsten unter allen Erotikern
Das berühmteste Gastmahl der europäischen Kulturgeschichte steht unter keinem guten Vorzeichen: Alle Teilnehmer haben bereits am Vorabend zu viel getrunken. Da sind der Arzt Eryximachos, der Komödiendichter Aristophanes, der Politiker Alkibiades und natürlich Sokrates, Platons Lehrer, alle historisch verbürgt. Gastgeber an diesem Februarabend des Jahres 416 v. u. Z. ist der Tragödiendichter Agathon. Es ist ein Tag, an dem man sagt: Alles, bloß kein Gastmahl! Griechisch: symposion. Dabei ist schon „Gastmahl“ ein Euphemismus, „Trinkgelage“ wäre präziser. Aber warum reden die mit ihren schweren Köpfen ausgerechnet über den Eros? An einem der erosfernsten Tage überhaupt? Vielleicht, weil jeder meint, etwas davon zu verstehen. Das ist heute nicht anders: Eros, Erotik, sinnliche Liebe. Beate Uhse. YouPorn. Heimwerkermärkte der Lust. Vom Eros ist es nicht weit bis zur Pornografie. Porne ist auch griechisch und bedeutet Hure. Erotik wäre demnach als Sammelbegriff für meist werkzeugverstärkte Praktiken zur Erlangung größtmöglicher sexueller 68
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Kerstin Decker lebt als Journalistin und Schriftstellerin in Berlin. Die promovierte Philosophin ist Verfasserin zahlreicher Biografien, u. a. von Heinrich Heine und Lou Andreas- Salomé. 2018 erschien ihre Lebensbeschreibung über „Franziska zu Reventlow“ (Berlin Verlag)
Befriedigung zu verstehen. Eine tadellose Definition, sie hat bloß einen Fehler: Sie klingt kein bisschen erotisch. Unsere Sprache weiß, was fehlt: die Sehnsucht. Sokrates und Platon würden ihren Erosbegriff nicht wiedererkennen. Den beiden Urvätern der europäischen Philosophie ist die enge Verbindung von Eros und Sehnsucht Ausgangspunkt ihres Denkens. Denn in der Freundesliebe fehlt das Begehren, darum heißt sie philia. Und dann gibt es noch die agape, eine völlig temperamentgebremste Form der Liebe, die später im Christentum Karriere machen sollte. Wir sagen „Liebe“ zur philia, zur agape und zum eros, die Griechen waren da viel genauer. Im „Gastmahl“ geht es um die platonische Liebe, das ist vollkommen klar. Der Autor Platon nimmt zwar nicht teil, aber für ihn spricht Sokrates, das ist in allen platonischen Dialogen so. Aber ist die platonische Liebe denn nicht „platonisch“, also gerade – nach unserem heutigen Verständnis – sinnlichkeitsfremd, sehnsuchtsfern, begehrensbereinigt?
Autorinnenfoto: picture alliance/Frank May; Fotos: Louvre, Paris, France/Bridgeman Images
Von Kerstin Decker
Steckbrief: Sokrates Leben 470/469 v. Chr. Geburt in Alopeke, nahe Athen
Hauptberuf
Freunde
Platon: Philosoph und Meisterschüler des Sokrates, dessen Bild für die Nachwelt er maßgeblich prägte.
Xenophon: Politiker und Schriftsteller, schrieb
Obwohl Sokrates keine Zeile hinterlassen hat, ist seine Bedeutung als intellektuelle Gründerfigur kaum zu überschätzen. Der Rhetoriker Cicero sagte über ihn, er sei der Erste gewesen, der die Philosophie vom Himmel auf die Erde geholt habe. Genau genommen hat Sokrates die Philosophie auf den Marktplatz gebracht, wo er die Athener einfach ansprach. Insbesondere für junge Menschen muss etwas unerhört Aufrüttelndes von ihm ausgegangen sein.
Nebentätigkeit Von seinem Vater, einem Steinmetz, hatte Sokrates die Werkstatt übernommen, vernachlässigte diese Tätigkeit allerdings. Auch als Ehemann und Familienvater schien er zu enttäuschen. Zumindest lässt sich das aus den Berichten über die legendären Wutausbrüche seiner Frau Xanthippe schließen. Es gab vermutlich noch eine zweite Ehefrau, Myrto, und insgesamt drei Söhne. Seine Tapferkeit stellte er als Hoplit (schwerbewaffneter Soldat) in mehreren Schlachten ebenso unter Beweis wie während der „Herrschaft der Dreißig“, gegen die er Widerstand leistete.
„Ich weiß, dAss ich Nicht weiß!“
431 Soldat in der Schlacht von Potidea
423 Der Dichter Aristophanes verspottet Sokrates in „Die Wolken“
416 Legendäres Gastmahl im Haus des Dichters Agathon
403 Sokrates leistet Widerstand gegen das Tyrannenregime
399 Gerichtsprozess und Tod in Athen
ebenfalls über Sokrates. Sein Werk gilt als kritische Ergänzung zu Platons Darstellung. Alkibiades: Staatsmann, Feldherr und Partylöwe, unfassbar verliebt in Sokrates. Diotima: Philosophin, Seherin, Lehrerin des Sokrates, einzige Frau, die in einem Werk Platons als Hauptfigur auftritt.
„Mich interessieren nicht Bäume und Felder, sondern die Menschen in der Stadt“ – Phaidros
Feinde Zu seinen Lebzeiten waren viele Athener Polisbürger nicht gut auf Sokrates zu sprechen. Sie verdächtigten ihn der Gottlosigkeit und warfen ihm Verführung der Jugend vor. 399 v. Chr. ließen sie ihn schließlich hinrichten. Dafür hatte er unter den Nachgeborenen kaum Feinde. Selbst Friedrich Nietzsche, der Sokrates für den Niedergang der griechischen Tragödie verantwortlich machte und ihn als ersten Rationalisten an den Pranger stellte, kam manchmal nicht umhin, von ihm zu schwärmen.
– Apologie
Philosophie Magazin Nr. 06 / 2019
69
Sammelbeilage Nr. 48
Magazin
E S T T S RA RA o K K S o So ES S T R E A T KR SoK E o T S S TE RA R A K K R So So T S S A E TE KR A o R S K Sokrates und der Eros
Platon, „Gastmahl“ Auszüge