Winterausgabe Nr. 01 / 2013
Neu
Gott
Eine gute Idee ? Die Klasse von 1990
Was wurde aus den letzten DDR-Philosophen?
Worauf müssen wir verzichten?
Harald Welzer streitet mit Cem Özdemir
„Heterosexualität ist ein Fantasiebild” Judith Butler im Gespräch
iges 16-seit et l k o Bo Nr. 07
eilage von
Sammelb
Rousseau der Die Natur
Kultur
n der Grundlage ng und die (Auszüge) 55) den Urspru schen“ (17 ng über „Abhandlu it unter den Men Ungleichhe
Rousseau Sei wild, sei frei!
Deutschland 6,90 € Österreich: 7 €; Schweiz: 12,50 SF; Luxemburg: 7,40 €. Italien & Spanien: Auf Nachfrage.
Denker in diesem Heft Seite 64 >
Die Vordenkerin der Geschlechterforschung ist eine der bedeutendsten Philosophinnen der Gegenwart. Die Professorin aus Berkeley und frisch gekürte Adorno-Preisträgerin erklärt im Gespräch, warum die Einteilung der Geschlechter in „männlich und weiblich“ der Beginn diskriminierender Praktiken ist
ZweimOnatlich Nr. 01 — Dezember / Januar 2012/13
Chefredakteur : Dr. Wolfram Eilenberger (V.i.S.d.P.) Stv. Chefredakteurin : Dr. Svenja Flaßpöhler Berater: Alexandre Lacroix Art-Direktion: Ralf Schwanen Layout: Nicole Skala Bildredaktion: Michael Biedowicz Verantwortliche Redakteure: Dr. Jutta Person (Büchersektion), Marianna Lieder (Autorendossier) Schlussredaktion: Sandra Schnädelbach Lektorat: Christiane Braun Internet: Cyril Druesne Autoren in diesem Heft: Blaise Bachofen, Dr. Ronald Düker, Martin Duru, Michel Eltchaninoff, Pia Frey, Jana Glaese, Jean-Claude Guillebaud, Florian Henckel von Donnersmarck, Eva Marlene Hausteiner, Dr. Anja Hirsch, Jul, Frederike Kaltheuner, Prof. Dr. Markus Krajewski, Martin Legros, Prof. Dr. Avishai Margalit, Prof. Dr. Hélène Malard, Yves Michaud, Prof. Dr. Robert Pfaller, Gert Scobel, Dr. Tomáš Sedlácˇek, Georg Seeßlen, Nicolas Tenaillon, Katharina Teutsch, Tomi Ungerer, Prof. Dr. Wilhelm Vossenkuhl, Dr. Eva Weber-Guskar
Seite 07 >
Der preisgekrönte Autor ist neuer Kolumnist des Philosophie Magazins. In seiner Kolumne antwortet der Schöpfer von Kinderbuch-Klassikern wie „Die drei Räuber“ auf Kinderfragen. Dieses Mal: „Kommen Kopfläuse nach ihrem Tod auf den Friedhof?“ Die Antwort kann nur ein Ungerer wissen
Seite 58>
Seite 55>
Seite 22 >
Gesine Schwan Die SPD-Politikerin und Präsidentin der Humboldt-Viadrina School of Governance in Frankfurt (Oder) schreibt im Autorendossier über die Bedeutung Jean-Jacques Rousseaus für die heutige Politik. Jüngste Veröffentlichung von Gesine Schwan: „Allein ist nicht genug“ (Herder, 2007)
Seite 32 >
Gerd Irrlitz In der Reportage „Die Klasse von 1990“ spricht der Philosoph und ErnstBloch-Schüler über die Abwicklung der sogenannten „DDR-Philosophie“. Gerd Irrlitz war von 1983 bis 2000 Professor an der Humboldt-Universität Berlin. Nach der Wende verhalf er seinen Diplomanden zu einer beruflichen Zukunft
Litho: tiff.any GmbH, Berlin Druck: NEEF + STUMME premium printing GmbH & Co. KG, Wittingen
Seite 14 >
Harald Welzer Im Zeitgeist streitet der Autor von „Klimakriege“ (S. Fischer, 2008) mit Cem Özdemir über Wege aus der ökologischen Krise. Der Sozialwissenschaftler ist Direktor des Center for Interdisciplinary Memory Research in Essen und Gründer der gemeinnützigen Stiftung Futurzwei
Nielsen IV: Markus Piendl – MAV GmbH Tel: +49 (0)89 / 74 50 83 13 E-Mail: piendl@mav-muenchen.com Anzeigen Buchverlage / Kultur / Seminare: Thomas Laschinski – PremiumContentMedia Tel: +49 (0)30 / 60 98 59 30 E-Mail: advertisebooks@laschinski.com Presse- und Öffentlichkeitsarbeit: Sabine Schaub Tel: +49 (0)30 / 31 99 83 40 E-Mail: s.schaub@schwindkommunikation.de www.schwindkommunikation.de Abo-Service: Philosophie Magazin Leserservice PressUp GmbH Postfach 70 13 11, 22013 Hamburg Tel.: +49 (0)40 / 41 44 84 63 Fax: +49 (0)40 / 41 44 84 99 E-Mail: philomag@pressup.de Online-Bestellungen: www.philomag.de/abo
>
Enrique Dussel Der argentinische Philosoph zählt zu den größten Denkern Lateinamerikas. Er lehrt als Professor für Ethik und politische Philosophie in Mexiko-Stadt. Im Zeitgeist spricht Dussel über die desaströse Lage Mexikos, die Notwendigkeit einer partizipativen Demokratie und seine Philosophie der Befreiung
Geschäftsführer und Herausgeber: Fabrice Gerschel Stv. Herausgeberin: Anne-Sophie Moreau
Anzeigen: MedienQuartier Hamburg Tel: +49 (0)40 / 85 41 09 13 E-Mail: info@mqhh.de
Tomáš Sedlácˇek Der tschechische Ökonom ist Mitglied des Nationalen Wirtschaftsrats in Prag und lehrt an der Karls-Universität. Im Dossier legt er dar, dass es in der Wirtschaft religiöser zugeht als gemeinhin angenommen. Tomáš Sedlácˇek ist Autor des Bestsellers „Die Ökonomie von Gut und Böse“ (Hanser, 2012)
Seite 81 >
Vertrieb: Axel Springer Vertriebsservice GmbH Süderstraße 77, 20097 Hamburg, Deutschland www.as-vertriebsservice.de
Margot Käßmann Die Pfarrerin, Theologin und Botschafterin der EKD ist Autorin zahlreicher Bücher, unter anderem des Bestsellers „Sehnsucht nach Leben“ (Adeo, 2011). Im Dossier diskutiert sie mit dem Philosophen und Religionskritiker Herbert Schnädelbach über die Frage, ob es Moral ohne Gott geben kann
Titelbild : © Phillip Schumacher Verlag: Philomagazin Verlag GmbH Brunnenstraße 143 10115 Berlin, Deutschland Tel.: +49 (0)30 / 60 98 58 219 E-Mail: info@philomag.de
Tomi Ungerer
4
Seite 70 >
Pia Frey Ihr Studium absolvierte sie bei den Jesuiten an der Münchener Hochschule für Philosophie. Für den „Denkort“ hat sich die Praktikantin des Philosophie Magazins in Berlin auf Spurensuche von Johann Gottlieb Fichte gemacht, der in den Räumen der Sing-Akademie seine „Reden an die deutsche Nation“ hielt
Seite 44 >
Richard Swinburne In seinen Schriften versucht der Religionsphilosoph die Wahrscheinlichkeit der Existenz Gottes wissenschaftlich zu stützen – besonders einflussreich in „Die Existenz Gottes“ (Reclam, 1987). Im Dossier spricht der emeritierte Professor aus Oxford über Gottes Allwissenheit und das Rätsel des Bösen
Die nächste Ausgabe erscheint am 10. Januar 2012 — Philosophie Magazin
Fotos: Urban Zintel, Gaetan Bally/Ullsteinbild, Dirk-Michael Schulz, Markus Kirchgessner/laif, Steffens/dapd, Zeitzeugen TV, Steffen Roth
Redaktion : Brunnenstraße 143, 10115 Berlin, Deutschland Tel: +49 (0)30 / 60 98 58 215 E-Mail: redaktion@philomag.de
Judith Butler
inhalt
Zeitgeist 06 07 08 10 12 14
> > > > > >
Leserbriefe Kinder fragen, Tomi Ungerer antwortet – die neue Kolumne Sinnbild Presseschau Radar Dialog Worauf müssen wir verzichten? Der Sozialwissenschaftler Harald Welzer streitet mit dem Grünen-Bundesvorsitzenden Cem Özdemir
20 > Pro & Contra Soll die NPD verboten werden? 22 > Perspektive Mexikos Schreie werden nicht gehört Enrique
Dussel über die katastrophale Lage in Mexiko und die Philosophie der Befreiung
24 > Lockerungen Freier denken mit Robert Pfaller: Das Prinzip „Mad Men“ 28 > Lebensläufe Die Klasse von 1990 Die ostdeutsche Philosophie wurde nach der Wende abgewickelt. Fünf der letzten Philosophie-Diplomanden der DDR erzählen ihre Geschichte
36 > Brauchen wir Google-Cars? Markus Krajewski testet ein neues Produkt
Dossier 38 >
Gott, eine gute Idee ? Der moderne Mensch will sich nicht von der Religion bevormunden lassen. Gleichzeitig sehnt er sich nach Orientierung und festen Werten. Vor allem in Zeiten der Krise. Welche Rolle sollte Gott in unserem Leben spielen? Mit Beiträgen u. a. von Jon Elster, Eva Weber-Guskar, Richard Swinburne,
Avishai Margalit, Tomáš Sedlácˇek, Herbert Schnädelbach, Margot Käßmann
die philosophen
Fotos: Steffen Roth, Lars Borges, Li Wei, Urban Zintel, Hélène Builly/Costume 3 Pièces /Josée/Leemage, Ragnar Schmuck
64 > Das Gespräch Judith Butler: „Heterosexualität ist ein Fantasiebild“
Die Adorno-Preisträgerin über Geschlecht, Begehren und die fundamentale Fragilität des Lebens Denkort Wo Johann Gottlieb Fichte die deutsche Nation idealisierte
70 > 71 > Die Kunst, immer recht zu behalten 72 > Rousseau Der französische Zivilisationskritiker, Reformpädagoge, Dichter und Aufklärer feiert in diesem Jahr seinen 300. Geburtstag. Sein Denken ist lebendiger denn je. Mit Beiträgen von Tzvetan Todorov, Martin Duru, Philippe Lejeune, Gesine Schwan und Gerald Hüther
Bücher 84 > Über das Haben Harald Weinrichs Buch über ein Wort, das es in sich hat 86 > Es war einmal: der utopische Überschuss Drei Rückblicke auf das Leben im Deutschland der fünfziger Jahre
89 > Scobel.mag Die Kolumne mit Durchblick 91 > Im Verhör Jürgen Wiebicke lauscht Pier Paolo Pasolini 92 > Es ist angeleuchtet! Vier Weihnachtsempfehlungen der Redaktion
Dieses Heft enthält eine 16-seitige Sammelbeilage: Rousseaus „Abhandlung über die Ungerechtigkeit“
94 > Ereignis Die Insel der Ästheten Der Philosoph Yves Michaud über Ibiza, Insel der ewigen Lust
99 > Projektionen Die Filmkolumne von Florian Henckel von Donnersmarck 100 > Agenda Philosophische Termine 102 > Comic + Spiele 106 > Sokrates fragt Bibiana Beglau antwortet Nr. 01 — Januar/Dezember 2012/13
5
•
Fehlt es den Grünen an Utopie? Cem Özdemir und Harald Welzer trafen sich zum Streitgespräch in Berlin
>
14
— Philosophie Magazin
zeitgeist dialog
Worauf müssen wir verzichten? Die Ökonomie verlangt nach Wachstum und Globalisierung, Ökologen fordern Reduktion und lokale Lösungen. Wenn nicht zügig gehandelt wird, droht beiden Systemen der Kollaps. Radikale Einschnitte scheinen unvermeidlich. Der Sozialwissenschaftler Harald Welzer und der Bundesvorsitzende der Grünen, Cem Özdemir, streiten über Wege in eine lebenswerte Zukunft Das Gespräch moderierte Wolfram Eilenberger Fotos von Steffen Roth
Treffpunkt Zukunft. Futurzwei, so hat Harald Welzer seinen Thinktank im Zentrum Berlins genannt. Begleitet von einem wissenschaftlichen Team will er ökologische Erfolgsgeschichten wirksam in die Öffentlichkeit tragen. Der 54-jährige Sozialwissenschaftler gilt als Visionär. Cem Özdemir gehört dem Realo-Flügel seiner Partei an. Als wir auf den von wucherndem Farn bedeckten Innenhof des Bürogebäudes treten, sorgt sich Özdemir um seinen Anzug. Die ganz alltäglichen Probleme im Umgang mit der sogenannten Natur. Man plauscht über neue Trends, wie etwa das „Urban Gardening“, Hühnerhaltung in innerstädtischen Hinterhöfen oder Hobbyimker im Herzen Neuköllns. Es bewegt sich etwas in der Republik, da sind sich Visionär und Realo schnell einig. Nur was genau? Und bei wie vielen? Ist die Bevölkerung wirklich reif für den Weg in eine nachhaltige Gesellschaft?
zu spät“, sondern sie sagen „Wir haben nur noch dieses Zeitfenster“, was ich politisch für ebenso fatal halte. Was, wenn die Marke gerissen wird? Sollen wir dann nichts mehr machen? Soll man dann zu den Zeugen Jehovas oder den Scientologen gehen? Soziale Prozesse wie auch politische Prozesse haben eine Eigenlogik und eine Eigenzeit, die sich nicht mit solchen Verfallsszenarien in Verbindung bringen lassen.
Vor 40 Jahren wurde der einflussreiche Bericht des Club of Rome „Die Grenzen des Wachstums“ veröffentlicht. Zurückblickend kann man feststellen, dass diese Jahrzehnte von einer ökologischen Alarmrhetorik des „Es ist fünf vor 12“ geprägt waren. Wie spät ist es denn im Moment?
Deutschland als Öko-Vorbild für die Welt?
Welzer: Zu spät, wenn man naturwissenschaftlich argumentiert, so wie die Klimaforscher. Aber die sagen natürlich nicht „Es ist Nr. 01 — dezember/januar 2012/13
Özdemir: Wir müssen in Deutschland, in der viertgrößten Volkswirtschaft der Welt, beweisen, dass eine Umstellung auf ein nachhaltiges, grünes Modell flächendeckend möglich ist. Das ist alles andere, als über Verfallsdaten zu sprechen. Wenn wir das hier schaffen, und davon bin ich überzeugt, dann haben wir eine Vorreiterrolle und ein Modell, das anderen zur Nachahmung dienen kann.
Özdemir: Es geht nicht nur um eine Vorbildfunktion. Das hat auch mit knallharten ökonomischen Interessen zu tun. Wir nutzen den first-mover advantage. Wer früh präsent ist, erobert auch den Weltmarkt. In vielen Bereichen ist Deutschland bereits Weltmarktführer, gerade auch im Feld der erneuerbaren Energien. Die Energiewende ist gerade auch für unsere Wirtschaft eine riesige Chance. Es
wäre töricht, sie verstreichen zu lassen und den Innovationsvorsprung einzubüßen. Welzer: Meine Einschätzung der zukünftigen Entwicklung ist schlicht und ergreifend so, dass dieser Typ von Wachstumswirtschaft und daran gekoppelt auch dieser Typ von Gesellschaft ein Auslaufmodell ist. Geht nicht. Wir haben es mit einer radikalen Übernutzung von Überlebensressourcen zu tun, das ist vollkommen unstrittig. Mit Blick auf die Entwicklung in Asien und Südamerika steigt die Geschwindigkeit der Übernutzung sogar weiter an. Dieses Wirtschaftssystem ist komplett unökonomisch, weil es seine eigenen Voraussetzungen aufzehrt. Das, was wir gegenwärtig als Krise bezeichnen –, sei es beim Klima, sei es am Finanzmarkt, sei es bei der Übernutzung der Böden – ist ein Erosionsprozess, der das System als solches infrage stellt. Das kann noch 20 Jahre vor sich hin holpern – aber es kann auch relativ schnell zusammenbrechen. Natürlich global völlig ungleichzeitig. Özdemir: Ich teile diese Einschätzung. Bei manchen steht das Wasser schon bis zur Oberlippe. Welzer: Das wollte ich gerade sagen, da findet die Apokalypse bereits statt. Während wir hier ja wirklich noch die Füße in die warme Badewanne stellen. Die Frage ist also, ob der kom-
15
>
Zeitgeist Lebensläufe
1985 begannen Kathlen Korbmacher, Uta Kolano, Jörg Bunk, Kerstin Decker und Gunnar Decker ihr Philosophiestudium in Ostberlin. 1990 erhielten sie das letzte Philosophiediplom der DDR. Mit welchen Hoffnungen, mit welchen Plänen haben sie ihr Studium begonnen? Was ist aus ihnen geworden? Und: Was war für sie die sogenannte „DDR-Philosophie“? Reine Ideologie? Oder das Tor zur Welt? Von Svenja Flaßpöhler Foto von Lars Borges
Die
Klasse von 1990 >
28
— Philosophie Magazin
Uta Kolano
Nr. 01 — dezember/januar 2012/13
Gunnar Decker
Kerstin Decker
Kathlen Korbmacher
29
JĂśrg Bunk
>
© xxx
>
38
— Philosophie Magazin
dossier
Gott Eine gute Idee ?
Der aufgeklärte Mensch will sich seines eigenen Verstands bedienen. Ohne Leitung der Religion. Gleichzeitig sehnt er sich nach Rückhalt, Orientierung und unverrückbaren Werten. Vor allem in Zeiten der Krise. Brauchen wir Gott in der Politik, der Wirtschaft, der Moral? In unserem ganz alltäglichen Leben? Oder bedeutet wahre Selbstbestimmung, ihn zu überwinden?
Foto: Phillip Schumacher
Mit Beiträgen u. a. von Jon Elster /// Eva Weber-Guskar /// Richard Swinburne /// Avishai Margalit /// Tomáš Sedlacˇek /// Herbert Schnädelbach /// Margot Käßmann
Nr. 01 — dezember/januar 2012/13
39
>
dossier Gott, Eine gute Idee?
W
Von Wolfram Eilenberger
Kant sei Dank! Der Zeitpunkt, von dem an dieser pragmatische Zugang zum Glauben in der abendländischen Kultur bestimmend wurde, lässt sich recht exakt benennen. Er ist untrennbar mit dem Zeitalter der Aufklärung verbunden, insbesondere den Werken Immanuel Kants. Man darf es als das Hauptanliegen seiner 1781 erschienenen „Kritik der reinen Vernunft“ bezeichnen, der Rede von einem Wissen um die Existenz Gottes ein für alle Mal die argumentative Grundlage zu entziehen. Kant zeigt in seinem Werk auf, dass ein monotheistisch bestimmter Gott durch die menschliche Erfahrung nicht erfassbar sei. Seine größte philosophische Leistung aber besteht darin, den zentralen Baustein
Gott als nützliche Hypothese, die uns das Voranschreiten in schwierigen Phasen ermöglicht? sämtlicher voriger Gottesbeweise als sprachlichen Kniff zu entlarven: Die Eigenschaft der „Existenz“ (Gott existiert), so hatte die Tradition über Jahrhunderte unwidersprochen argumentiert, komme Gott notwendig zu. Sie liege im Wesen des Gottesbegriffes – ein Gott, der nicht existiere, ließe sich deswegen genauso wenig widerspruchsfrei denken wie ein Junggeselle, der nicht unverheiratet sei. Kant aber zeigt auf, dass „zu existieren“ in Wahrheit keine Eigenschaft ist – sondern die notwendige Voraussetzung dafür, überhaupt gewisse Eigenschaften besitzen zu können. Ob
>
40
ein jeweiliges Wesen existiert, ist nur durch die Erfahrung zu ermitteln, die in Sachen Gott aber keine eindeutigen Beweise liefert. Das saß – und sitzt philosophisch bis heute. Kants Kritik ordnete das Sprachspiel des religiösen Glaubens neu, indem sie es vom Schein des GottesWissens befreite. Wie nachhaltig, durchgreifend und vor allem befreiend dieser Kulturbruch wirkte, lässt sich an dem Privileg ermessen, die Frage nach der Güte Gottes öffentlich zu stellen und gegebenenfalls auch zu verneinen. Das Recht, Gottes Existenz infrage stellen zu dürfen, ist das höchste Gut der Meinungsfreiheit. Wie jüngste Vorgänge in Putins Russland oder jene nach Veröffentlichung des umstrittenen Mohammed-Films eindrücklich vor Augen führen, bildet der Umgang mit dem Tatbestand der Gotteslästerung die entscheidende Markierungslinie zwischen freien und sich totalitär verengenden Systemen. Kant selbst übrigens hielt Gott rein praktisch gesehen für eine ausgezeichnete Idee, ohne die ein Fortschritt in Wissenschaft, Moral und Politik für ihn schlechthin nicht zu denken war. (Siehe hierzu auch das Gespräch zwischen Margot Käßmann und Herbert Schnädelbach auf Seite 58.) Im Nebel Es blieb es einem Amerikaner vorbehalten, Kants Glaubenswende zu letzter lebensweltlicher Konsequenz zu führen. In dem extrem einflussreichen, 1907 veröffentlichten Essay „Der Wille zum Glauben“ veranschaulichte William James seine religionsphilosophische Position durch folgende Beschreibung: „Wir stehen auf einem Bergpass, inmitten eines Schneesturms bei dichtem Nebel. Hier und da können wir einen Blick auf Pfade erhaschen, von denen wir aber nicht wissen, wohin sie uns führen werden. Bleiben wir stehen, werden wir erfrieren. Nehmen wir den einen falschen Pfad, werden wir in den Abgrund stürzen. Wir wissen nicht mit Gewissheit, ob es überhaupt einen richtigen Pfad gibt. Was also sollen wir tun?“ James’ denkbar grundsätzlicher Rat lautet: Glauben fassen und losmarschieren! Wogegen sich der amerikanische Philosoph und Psychologe in seiner Schrift wandte, war die Doktrin, ein Mensch sei nur dann berechtigt, einen gewissen Sachverhalt als gegeben anzunehmen, sofern ihm für diesen Glauben ausreichend faktische Evidenz zur Verfü— Philosophie Magazin
© Li Wei
er ernsthaft die zentrale Bedeutung der Religion für unsere Gegenwart infrage stellen will, möge zuvor die Zeitung lesen: „Gott“ dominiert dort das Geschehen. In der Regel nicht zum Guten. Der Themenzugang wird von bedauerlichen Extrempositionen bestimmt: einem radikalen Glaubensfundamentalismus auf der einen und einem oft naiv wissenschaftsgläubigen Atheismus auf der anderen Seite. Die reflektierende Mehrheit aber verweilt in einer religiösen Zwischenzone und hält sich mit den Worten des Philosophen Hans Joas den „Glauben als Option“ offen. Die wesentliche Frage besteht dann nicht darin, ob es Gott gibt, sondern darin, ob er (für mich) eine gute Idee wäre.
gung stehe. James zufolge eine Position, die für den Alltag vollkommen untauglich sei – und sich insbesondere mit Blick auf die lebensprägende Frage nach Gott als unhaltbar erweise. Lieber tot als nützlich Damit diente Gott also vor allem als nützliche Hypothese, die uns das Voranschreiten in schwierigen Situationen ermöglicht, um gewisse Ziele zu erreichen (die wir ohne diesen Glauben nicht hätten erreichen können). Nicht wenige tief religiöse Menschen werden diese vollendete Pragmatisierung und Subjektivierung („es funktioniert für mich“) als Verkehrung, ja geradezu als Perversion ihres wahren Glaubens empfinden: als eine postmoderne Schwundstufe, die zu der Befürchtung Anlass gibt, die gesamte Sphäre des Religiösen und Spirituellen werde sich dereinst als bestens integrierter Teilbereich der Wellnessindustrie wiedererkennen – zuständig für „good vibrations“ und persönliche Leistungssteigerung. Bereits zu James’ Lebzeiten freilich gab es philosophische Stimmen – namentlich der religiös äußerst sensible Friedrich Nietzsche –, die es im Angesicht eines derart pragmatischen Umgangs mit der Gottesfrage für die moralisch sauberere Alternative hielten, lieber ganz ohne religiöse Entlastungsfiktion durchs Leben zu gehen. Nach dem Motto: Lieber einen toten Gott als so einen. Nächster Halt sollte nach Nietzsche stattdessen der Übermensch sein. Keine ungefährliche Option. Nr. 01 — dezember/januar 2012/13
Das neue Regulativ Liegt der seit Jahren ausgerufenen „Rückkehr der Religion“ in die aufgeklärten, postsäkularen Milieus der westlichen Welt also tatsächlich die Hoffnung auf eine Entlastung zugrunde – und zwar sowohl für konkret lebensweltliche als auch abstrakte, argumentative Zusammenhänge? Wer außer den Kirchen beispielsweise vermag der Idee eines arbeitsfreien Sonntags heute noch einen bleibenden Sinn zu geben? Wie wären in Fragen der Gentechnik, pränatalen Leibesoptimierung oder auch der Menschenrechte unbedingte Grenzen zu markieren, wenn nicht unter Zuhilfenahme religiös getränkter Begriffe wie etwa „Schöpfung“ oder „Gabe“? In Zeiten einer durchherrschenden Ökonomisierung und galoppierender technischer Innovationen gewinnt die Idee einer „sakralen Sperrung“ neue Attraktivität. Irgendwo, argumentierte bereits Aristoteles, muss schließlich einmal Schluss sein. Wer mit Gott das Wort führt, weiß zu sagen, wo das ist. Auch in dieser Haltung offenbart sich ein instrumenteller Zugang. Im Gegensatz aber zum Hoffnungsgott von Kant und James bestünde die Hauptfunktion dieses Gottes nicht darin, unser endliches Wissenkönnen und unendliches Machenwollen immer weiter anzutreiben, sondern darin, unserem unstillbaren Ermächtigungshunger absolute Grenzen zu setzen. Eine Art freiwillige Fremdkontrolle im Namen eines Gottes, von dessen Existenz wir im Sinne der Aufklärung nichts wissen können. Ist das wirklich eine gute Idee?
¬
41
•
dossier gott, eine gute idee?
Brauchen wir Gott in der Moral?
Wie Menschen ohne Rückgriff auf Gott zu moralischem Handeln zu bewegen sind, beschäftigt Philosophen nach wie vor. Taugt die Vernunft zur Begründung von Normen? Ein Streitgespräch zwischen dem Religionskritiker Herbert Schnädelbach und der Theologin Margot Käßmann über Autonomie und die Möglichkeit eines leeren, gottverlassenen Himmels Das Gespräch moderierte Svenja Flaßpöhler Fotos von Dirk-Michael Schulz
E
in Sitzungsraum im Gebäude der Evangelischen Kirche Deutschlands am Berliner Gendarmenmarkt. Es ist 11 Uhr vormittags, fahl fällt Sonnenlicht durch den weißen Sichtschutz. Margot Käßmann ist als Erste da, sie wirkt etwas angespannt – oder ist sie einfach nur ein wenig erschöpft? Während sich die Theologin mit Kaffee und Weintrauben versorgt, tritt Herbert Schnädelbach ein und entschuldigt sich sofort für die Verspätung, obwohl er auf die Minute pünktlich ist. Man nimmt am großen runden Tisch Platz, auf Wunsch des Fotografen direkt nebeneinander. Schon nach wenigen Minuten verwandelt sich der anfängliche Argwohn in interessierte Zugewandtheit. Alle Beteiligten sind jetzt hellwach.
>
58
Herr Schnädelbach, Sie behaupten, das Christentum als Ideologie, Tradition und Institution laste als Fluch auf unserer Zivilisation. Was meinen Sie damit? Schnädelbach: Wenn man sich mit der Philosophie der Neuzeit beschäftigt, sieht man, wie die Aufklärungsbewegung gegen bestimmte Traditionen kämpft, die auf dem Neuen Testament beruhen. Fluch ist vielleicht zu viel gesagt, aber die Erbsündenlehre in der augustinischlutherischen Fassung ist eine schwere Hypothek, die bis heute vor allem in der Pädagogik nachwirkt. Die Vorstellung, dass der Mensch als Wilder auf die Welt kommt und erst mal domestiziert werden muss, dass sein Wille gebro— Philosophie Magazin
chen werden muss – genau das ist eine der Erblasten, die auf einem ganz bestimmten Aspekt des christlichen Lehrbestands beruhen. Käßmann: Sie werden verstehen, dass ich das nicht als Fluch, sondern als Segen sehe. Ich bin ganz bestimmt kein Fan der Erbsündenlehre, nur kann ich nachvollziehen, was Augustinus meinte: Warum will der Mensch im Prinzip das Gute und tut es dann nicht? Es muss irgendetwas in ihm angelegt sein, was ihn immer wieder zum Bösen oder Schlechten verführt. Ein anderes Beispiel ist die Zuwendung zu den Kindern, die Jesus vorführt. Das zeigt, wie er sich auf ihre Ebene begibt, in die Knie geht, um die Kinder „zu herzen“, ja sie als Vorbild im Glauben benennt. Die Pädagogik ist sicher vom Christentum beeinflusst, nehmen wir jemanden wie Piaget: Als Reformpädagoge war er sehr fortschrittlich, aber auch er hatte die Idee, das Kind müsse erst „werden“. Eigentlich ist Jesus dem weit voraus. Schnädelbach: Diese andauernde Rede vom Segen des Christentums geht mir auf die Nerven. So harmlos ist das Christentum nicht! Sonst kommt das heraus, womit wir es heute zu tun haben – so ein kuscheliges Geborgenheitschristentum. Dass das Christentum auch Zähne und Krallen hat, dass es auch eine Provokation enthält und eine finstere Anthropologie transportiert – das sollten wir nicht verschweigen. Besonders die katholische Kirche täte gut daran, sich mal mit diesen Dingen zu befassen. Sie haben von der Erbsünde, der religiösen Schuld des Menschen gesprochen. Ist die Vorstellung vom Menschen als Mängelwesen nicht ein sehr philosophisches Bild? Ich denke da an den Kugelmenschenmythos von Platon, wo der Mensch in zwei Teile geteilt wird ... Schnädelbach: Dass wir schwach und sterblich, schuldfähig, gefährdet und abhängig sind von der Zuwendung anderer Menschen, ist doch völlig klar. Daran muss man die Philosophie nicht erinnern. Aber Mangel oder Schwäche sind noch keine Schuld! Das wird häufig miteinander verwechselt. Man muss auch differenzieren zwischen Schuld und Sünde. Die Bibel sieht die Sünde immer im Verhältnis zu Gott und nicht primär im Verhältnis der Menschen untereinander. Dass wir zum Beispiel so etwas wie eine Erbschuld haben, wie sie den Deutschen aus dem 20. Jahrhundert anhängt, und wir auch in Zukunft dafür weiter Verantwortung übernehmen müssen, ist gar keine Frage. Ich möchte aber gern wissen: Was ist daran Sünde? Käßmann: Aus theologischer Sicht ist Sünde, wenn der Mensch glaubt, ohne Gottesbezug leben zu können. Das höchste Gebot ist, Gott über alle Dinge zu lieben und deinen Nächsten wie dich selbst. Solange ich mich in diesem Dreieck bewege, in Verantwortung vor Gott, dem Nächsten und mit Respekt vor mir selbst agiere, lade ich keine Schuld auf mich. Aber der Mensch lädt Schuld auf sich, Nr. 01 — dezember/januar 2012/13
weil er immer wieder das Gute übertritt und das Böse tut. Da finde ich das Christentum sehr befreiend: Ich kann Schuld beichten und dann wieder freigesprochen werden. Wo ist das philosophisch oder säkular möglich? Schnädelbach: Das Vergeben ist sicher entscheidend, aber dafür brauchen wir doch den Gottesbezug nicht. Hannah Arendt hat das sehr schön beschrieben, als sie sagte: „Das, was uns als Menschen das Weiterleben möglich macht, ist die Vergebung.“ Vergebung und Verzeihung ist etwas, das man nicht erzwingen kann. Das können wir Menschen uns untereinander nur aus Freiheit gewähren, und das wiederum schafft Freiheit. Aber ich verstehe nicht, warum man dazu noch Gott braucht. Käßmann: Vergeben oder Verzeihen kann gerade von den Opfern ja nicht einfach so gefordert werden. An dieser Stelle zu sagen, man „brauche“ Gott, ist natürlich keine Margot Käßmann
„Der Glaube befreit: Ich kann Schuld beichten und wieder freigesprochen werden“ „Vergeben ist sicher entscheidend, aber dafür brauchen wir den Gottesbezug doch nicht“ Herbert Schnädelbach
Glaubenshaltung. Eine Glaubenshaltung sagt nicht: „Ich glaube an Gott, weil ich zu schwach bin, mit diesem Leben fertig zu werden.“ Jemand, der in Frömmigkeit lebt, hat eine eigene Glaubenshaltung, also eine Lebenshaltung, in der ich mich mit meinen Grundüberzeugungen bewege. Schnädelbach: Akzeptiert, aber ich habe diese Haltung eben nicht. Das muss kein Streitpunkt sein. Streitpunkt ist vielmehr der Hintergrund Ihrer Frage: Ob ein menschenwürdiges Leben und die Idee der Menschenwürde ohne Gottesbezug denkbar sind oder nicht. Käßmann: Natürlich ist das ohne Gott begründbar. Ich kann mich mit Humanisten zusammentun, die mit ihrer Ethik dieselben Standpunkte vertreten. Meine Überzeugung ist, dass der Mensch eigene Würde hat, weil jeder Mensch ein Ebenbild Gottes ist. Oder zumindest einen Schimmer dieses Ebenbildes mit sich trägt. Das andere wäre zu sagen: „Die Würde des Menschen ist unantastbar, weil ich als Humanist davon überzeugt bin.“ Ich aber tue es aus meiner Glaubensüberzeugung heraus.
59
>
Die Philosophen Judith Butler
„Heterosexualität ist ein Fantasiebild“ Judith Butler, Vordenkerin der Geschlechterforschung, ist eine der bedeutendsten Philosophinnen der Gegenwart. Im September 2012 wurde sie mit dem Adorno-Preis ausgezeichnet – als erste Frau in der Geschichte. Ein Gespräch über Geschlecht, Begehren und die fundamentale Fragilität des Lebens Das Gespräch führten Svenja Flaßpöhler und Millay Hyatt Fotos von Urban Zintel
I
n den Räumen des Philosophie Magazins ist es still. Alles wartet auf Judith Butler, die große Philosophin aus Berkeley. Mit ihrem Buch „Das Unbehagen der Geschlechter“ revolutionierte sie in den neunziger Jahren die feministische Theorie und wurde zur Leitfigur der Homosexuellenbewegung. Vermeintlich natürliche Unterschiede zwischen Mann und Frau, so ihre These, sind in Wahrheit kulturelle Setzungen – und damit Ausgangspunkt diskriminierender Praktiken. Zu Besuch in Deutschland ist Judith Butler anlässlich des Adorno-Preises, der ihr in Frankfurt verliehen wurde. Der Trubel um ihre Person war groß, nicht zuletzt, weil jüdische Organisationen den Vorwurf erhoben, die Philosophin sympathisiere mit der palästinensischen Hamas. Die Pazifistin, die selbst jüdische Wurzeln hat, bestritt dies im Vorfeld der Verleihung vehement. Zu einem Interview hat sie sich in Deutschland nur mit dem Philosophie Magazin bereit erklärt. Kaffee ist gekocht, Gebäck steht auf dem Tisch – und dann ist sie plötzlich da. Braun-grüne Augen, ein auffallend intensiver Blick. Butler gilt als eine der ganz wenigen Frauen, denen Charisma zugesprochen wird. Wer sie getroffen hat, weiß weshalb. Sie wuchsen in Ohio auf, Ihre Mutter war Wirtschaftswissenschaftlerin, Ihr Vater Zahnarzt. Wie kamen Sie zur Philosophie? Meine Eltern waren in ihren Familien die Ersten, die aufs College gingen. Sie belegten Philosophiekurse und kauften Bücher, die sie später im Keller aufbewahrten. Wenn es bei uns in der Familie Streit gab, schloss ich mich im Keller ein, hörte Musik, zeichnete ein bisschen und las ihre Philosophiebücher: Spinoza, Kierkegaard … Außerdem ging ich, wie viele amerikanische Juden, jede Woche in die Synagoge, wo man Hebräisch und jüdische Geschichte lernt, aber auch in Diskussionen über Ethik und Politik gerät.
>
64
Ihre Doktorarbeit schrieben Sie über den Begriff der Begierde in Hegels Philosophie. Was interessierte Sie daran? Mich interessierte die grundlegende Frage, warum Menschen lieben wollen, und wie wir unseren Wunsch, zu leben, beschreiben. Als ich zum ersten Mal Spinoza las, war ich sehr beeindruckt von seinem Begriff des Conatus: von der Idee, dass wir in unserem Sein zu verbleiben, dass wir zu leben begehren. Und bei Hegel fand ich einen Gedanken, der auf Spinozas Conatus-Begriff aufbaut: nämlich dass wir uns nach Anerkennung sehnen und dass wir ohne Anerkennung nicht leben können. Das interessierte mich sehr, aus diversen persönlichen Gründen. Ich war eine junge Lesbierin und wollte wissen, ob es Normen gab, die mein Begehren anerkannten. Damit berühren Sie das Thema Identität, das für Ihre weitere Arbeit sehr wichtig ist. Meine Identität ist vom sozialen Problem der Anerkennung nicht zu trennen. Wir sind abhängig von den bestehenden sozialen Kategorien, und die bestehen außerhalb von uns. Deshalb ist manchmal der einzige Weg, um Anerkennung zu erlangen, mich mit einer Identitätskategorie abzufinden – gleich, ob sie sich für mich richtig anfühlt oder nicht. Die Kategorie zirkuliert schon in der Welt, und sobald ich Anerkennung für meine Identität fordere, trete ich in diese Zirkulation ein. Ich muss also immer mit den bestehenden Normen arbeiten. Ihr Buch „Das Unbehagen der Geschlechter“ handelt von der Frage, wie sexuelles Begehren und geschlechtliche Identität entstehen – eine Frage, die für Sie fundamental für das Verstehen von Kultur ist. Können Sie das erklären? — Philosophie Magazin
Biografie
Judith Butler 1956: geboren in Cleveland, USA 1984: Nach Abschluss des Philosophiestudiums in Yale Dissertation zu Hegels Begriff der Begierde 1990: Butlers Werk „Das Unbehagen der Geschlechter“, bis heute Schlüsseltext der feministischen und kulturtheoretischen Forschung, erscheint unter dem englischen Originaltitel „Gender Trouble“ 1993: Nach einer Professur an der Johns-HopkinsUniversität Baltimore Wechsel zur University of California, Berkeley 2012: Judith Butler erhält in der Frankfurter Paulskirche den Theodor-Adorno-Preis
Nr. 01 — Dezember/Januar 2012/13
65
>
>
72
— Philosophie Magazin
Die Philosophen
Der Klassiker
Rousseau Vor 300 Jahren wurde Jean-Jacques Rousseau in Genf geboren. Die folgenden 66 Jahre seines Lebens sind ein Wechselspiel von Leiden und Leidenschaften, Erfolg und Verfolgung, von echtem und eingebildetem Unglück.
Illustration: Hélène Builly, Costume 3 Pièces/Foto: Josée/Leemage
Als einer der prominentesten Vertreter der Aufklärung ist Rousseau zugleich deren größter Skeptiker. Gegen den Fortschrittsoptimismus der Zeit formuliert er radikale Zivilisations kritik. Wo andere der Vernunft huldigen, verweist er auf die Stimme des Herzens und der Natur. Die eigene Person will er in seinen Schriften schonungslos entblößen und verfährt dabei stellvertretend für das moderne Ich, das sich selbst ein unlösbares Rätsel bleibt. Die Dichter der Romantik sahen in ihm ihren Stichwortgeber ebenso wie heutige Reformpädagogen und Umweltaktivisten. Revolutionäre von Robespierre bis Fidel Castro beriefen sich auf ihn. Vor allem seine politischen Ideen inspirieren und provozieren bis heute Illustrationen von Hélène Builly
Nr. 01 — Dezember/Januar 2012/13
73
>