Sonderausgabe: 1914 - 2014

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Deutschland 9,90 €; Österreich 9,90 €; Schweiz: 16,50 CHF; Benelux: 10,40 €. Italien & Spanien: auf Nachfrage

Sondebr e ausga

Das Jahrhundert im Spiegel seiner großen Denker

habermas über die Eurokrise

Freud

über den Völkerbund

arendt über Eichmann

heidegger über Hitler

camus

über die Stunde null

+++ Simmel über den 1. Weltkrieg +++ Beauvoir über die Frauenbewegung +++ Sloterdijk über Tschernobyl +++ Singer über NSA +++


inhalt

03 Editorial, 98 Bibliografie Sonderausgabe 01 Redaktion: Brunnenstraße 143, 10115 Berlin, Deutschland Tel.: +49 (0)30 / 60 98 58 215 E-Mail: redaktion@philomag.de

Verlag: Philomagazin Verlag GmbH Brunnenstraße 143, 10115 Berlin, Deutschland Tel.: +49 (0)30 / 60 98 58 219 E-Mail: info@philomag.de Geschäftsführer und Verleger: Fabrice Gerschel Herausgeberin: Anne-Sophie Moreau Vertrieb: AS-Vertriebsservice GmbH, Süderstraße 77, 20097 Hamburg, Deutschland www.as-vertriebsservice.de Litho: Martina Drignat Druck: pva, Druck und MedienDienstleistungen GmbH Industriestraße 15, D-76829 Landau in der Pfalz Anzeigen: Jörn SchmiedingDieck – MedienQuartier Hamburg Tel.: +49 (0)40 / 32 50 745 E-Mail: joern.schmieding-dieck@ mqhh.de www.medienquartierhamburg.de Nielsen IV: Markus Piendl – MAV GmbH Tel.: +49 (0)89 / 74 50 83 13 E-Mail: piendl@mav-muenchen.com Anzeigen Buchverlage/ Kultur/Seminare: Thomas Laschinski – PremiumContentMedia Tel.: +49 (0)30 / 60 98 59 30 E-Mail: advertisebooks@ laschinski.com Presse- und Öffentlichkeitsarbeit: Sabine Schaub Tel.: +49 (0)30 / 31 99 83 40 E-Mail: s.schaub@schwindkommunikation.de www.schwindkommunikation.de Abo-Service: Philosophie Magazin; Leserservice, PressUp GmbH Postfach 70 13 11, 22013 Hamburg Tel.: +49 (0)40 / 41 44 84 63 Fax: +49 (0)40 / 41 44 84 99 E-Mail: philomag@pressup.de Online-Bestellungen: www.philomag.de/abo

20 Hitlers Aufstieg Ernst Bloch

09 Einleitung: Eine Kultur in der Krise Oswald Schwemmer

21 Zynismus des Alltags Karl Kraus

10 Der Wille zum Krieg Fritz Mauthner – Henri Bergson

Seite 06 24 Wirtschaftskrise John Maynard Keynes – Bertrand Russell 26 Bedrohter Friede Albert Einstein – Sigmund Freud

22 Macht der Technik Walter Benjamin

12 Frühe Begeisterung Georg Simmel – Lenin – John Dewey

23 Macht der Bilder Béla Balázs

14 Das große Sterben Alain 16 Kraft der Revolution Nikolai Berdjajew – Rosa Luxemburg 18 Mehr Faschismus wagen? Giovanni Gentile – José Ortega y Gassett

1933–1945 38 Verkannte Fronten George Orwell

31 Einleitung: Im Sog des Hitlerismus Hans Jörg Sandkühler

39 Koloniale Ausbeutung Cyril L. R. James

32 Unmut der Straße Simone Weil 33 Der Weg in die Diktatur Siegfried Kracauer

Seite 28 40 Die Avantgarde: Ausdruck bürgerlicher Degeneration? Ernst Bloch – Georg Lukács 42 Widerstand gegen Hitler Jean Cavaillès – Mahatma Gandhi 44 Exilstimmen Paul Tillich – Thomas Mann – Georg Lukács

34 Den Führer denken Martin Heidegger 36 Blinder Gehorsam Carl Schmitt

46 Die Résistance Jean-Paul Sartre

37 Führersehnsucht Emil Cioran Das Philosophie Magazin ist erhältlich im Bahnhofsund Flughafenbuchhandel in Deutschland Die nächste reguläre Ausgabe des Philosophie Magazins erscheint am 16. Januar 2014

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Philosophie Magazin / Sonderausgabe 01

Fotos: Galerie Bilderwelt/Getty Images; Popperfoto/Getty Images; Volkswagen AG; Tom Stoddart/Getty Images

Chefredakteur: Dr. Wolfram Eilenberger (V.i.S.d.P.) Berater: Sven Ortoli Art-Direktion: Michaela Pernegger, Andreas Volleritsch, neubaudesign.com Bildredaktion: Frank Dietz Redaktion: Stefan Hochgesand, Luisa Schulz, Johannes Winter Schlussredaktion: Dr. Sylvia Zirden Lektorat: Christiane Braun Internet: Cyril Druesne Übersetzer: Michael Ebmeyer (Engl.)

1914–1932


1946–1988 51 Einleitung: Im Schatten der Angst Philipp Felsch 52 Stunde Null Karl Jaspers 53 Bleierne Zeit Albert Camus

Seite 48

64 Kritische Studenten Theodor W. Adorno

68 Poststalinismus Jan Patočka

65 Flower Power John Searle

69 Brennpunkt Nahost Edward W. Said

66 Der RAF-Komplex Herbert Marcuse –Jean-Paul Sartre

70 Die Katastrophe von Tschernobyl Peter Sloterdijk – Ulrich Beck

54 Emanzipation Simone de Beauvoir –Evelyn Reed

72 Freiheitskämpfe Douglas P. Lackey – Friedrich August von Hayek – Michael Walzer

56 Zeitalter der Bombe Günther Anders

74 Aids Susan Sontag

58 Eichmann in Jerusalem Hannah Arendt – Karl Jaspers – Gershom Scholem 62 Beginn der Raumfahrt Maurice Blanchot – Ayn Rand

1989–2014 79 Einleitung: Nach den Weltanschauungen Julian Nida-Rümelin 80 Deutsche Wiedervereinigung Francis Fukuyama – Rüdiger Bubner – Leszek Kołakowski

89 Tsunami Susan Neiman 90 Yes We Can Cornel West

Seite 76 92 Eurokrise Jürgen Habermas – Slavoj Žižek – Ralf Dahrendorf 94 Fukushima Ken’ichi Mishima 95 Arabischer Frühling Mezri Haddad

84 Massentierhaltung und Klontechnologie Claude Lévi-Strauss – Hilary Putnam

96 Wikileaks Peter Singer

86 Der 11. September Jacques Derrida – Jean Baudrillard – Richard Rorty – Giorgio Agamben – Stanley Cavell

97 Drohnenkrieg Byung-Chul Han

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Foto: picture alliance/akg-images

Vom Ersten Weltkrieg in die Wirtschaftskrise, von der Russischen Revolution zum Aufstieg Hitlers. Das erste Drittel des Jahrhunderts ist von nationaler Verfeindung und ideologischer Verhärtung geprägt. Zeitgleich mit tiefen zivilisatorischen Erschütterungen kommt es zu atemberaubenden künstlerischen und technischen Innovationen. Die westliche Philosophie eröffnet – mit Namen wie Heidegger, Wittgenstein und Benjamin – neue Denkwege. Die Krisenstimmung stimuliert das Denken. Und führt es nicht selten auf dunkle Pfade -6-

Philosophie Magazin / Sonderausgabe 01


1914–2014. Das Jahrhundert im Spiegel seiner groĂ&#x;en Denker

1914 1932 -7-


Frühe Begeisterung

Aufgefasert und ausgehöhlt sei seine Zeit, so Kulturphilosoph Georg Simmel. Vom Krieg verspricht er sich eine heilende Besinnung auf das Existenzielle

Georg Simmel

Georg Simmel

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(1858–1918) Kulturphilosoph, Soziologe, Denker der Moderne. In Philosophie des Geldes (1900) analysiert er den Einfluss des Geldes auf die sozialen Strukturen und das Geistesleben seiner Zeit. In einem Essay von 1911 prägt er den Begriff der „Tragödie der Kultur“ – Subjektivität wird durch ihr Erstarren zum Kulturgut sich selbst fremd. Zum Tagesgeschehen äußert er sich sonst kaum, mit Ausnahme seiner Kriegsbejahung.

Frankfurter Zeitung Gegründet 1856, war sie eine demokratische Stimme in kritischen Zeiten, besonders um die Jahrhundertwende und in der Weimarer Republik. Zu den regelmäßigen Mitarbeitern gehören Theodor W. Adorno, Siegfried Kracauer und Walter Benjamin. Im Mai 1943 wird die Zeitung von Hitler verboten. Während des Ersten Weltkrieges trat sie für den europäischen Frieden ein.

Hintergrund Neun Tage nach Erscheinen dieses Artikels beginnt die Schlacht von Verdun, mit der der Krieg bisher ungeahnte Ausmaße annimmt: Von den 1,5 Millionen Soldaten, die sich im Grabenkrieg gegenüberstehen, wird im Laufe der zehn Monate dauernden Schlacht knapp die Hälfte um geringsten Geländegewinns willen in der „Hölle von Verdun“ ihr Leben lassen.

Truppen marschieren an Kaiser Wilhelm II. vorbei

Kulturwandel im Schützengraben D

ie ganze Hast, äußere Begehrlichkeit und Genußsucht der Zeit sind nur Folge und Reaktionserscheinung, weil die personalen Werte in einer Ebene gesucht werden, in der sie überhaupt nicht liegen: daß technische Fortschritte ohne weiteres als Kulturfortschritte geschätzt werden, daß auf geistigen Gebieten die Methoden vielfach als etwas Heiliges und wichtiger als die inhaltlichen Resultate gelten, daß der Wille zum Gelde den zu den Dingen, - 12 -

deren Erwerbsmittel es ist, weit hinter sich läßt: dies alles beweist das allmähliche Verdrängtwerden der Zwecke und Ziele durch die Mittel und Wege. Wenn dies nun die Symptome einer erkrankten Kultur sind, bezeichnet der Krieg den Ausbruch der Krisis, an den die Genesung sich ansetzen kann? Daß die erste Erscheinungsgruppe in dieser Pathologie der Kultur: das Zurückbleiben der Vervollkommnung der Personen hinter der der Philosophie Magazin / Sonderausgabe 01


Foto: picture alliance/Keystone; Übersetzung Lenin: Luisa Schulz; Übersetzung Dewey: Stefan Hochgesand

Dinge, – eine Aussicht auf Heilung gibt, wage ich nicht vorbehaltlos zu behaupten. […] [G]erade das Geld ist für die Mehrzahl der Kulturmenschen das Ziel aller Ziele geworden, der Besitz, mit dem, so wenig die sachgemäße Vernunft es rechtfertigen mag, die Zweckbemühungen dieser Mehrzahl abzuschließen pflegen. Die Ausbildung der Wirtschaft macht freilich diese Wertverschiebung begreiflich. Denn da sie dafür gesorgt hat, daß alle Güter an jedem Ort und zu jeder Zeit zu beschaffen sind, so kommt es eben für die Befriedigung der meisten menschlichen Wünsche nur darauf an, daß man das erforderliche Geld besitze: Mangel bedeutet für das Bewußtsein des modernen Menschen nicht Mangel an Gegenständen, sondern nur Mangel an Geld, sie zu kaufen. Hier hat nun die Absperrung Deutschlands vom Weltmarkt, der es sonst mit jeder beliebig großen, die Verbrauchsfrage zur bloßen Geldfrage machenden Warenmenge versorgte, eine höchst revolutionierende

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Lenin Krieg und Sozialdemokratie

Der europäische Krieg, der über Jahrzehnte von den Regierungen und bürgerlichen Parteien aller Länder vorbereitet wurde, ist ausgebrochen. Die Zunahme der Bewaffnung, die äußerste Zuspitzung des Kampfes um die Märkte in der Zeit des letzten, imperialistischen Stadiums der kapitalistischen Entwicklung in den fortgeschrittenen Ländern, die dynastischen Interessen der rückständigeren osteuropäischen Monarchien mussten unausweichlich zu diesem Krieg führen und haben es getan. Die Aneignung von Territorium und die Unterwerfung anderer Nationen, die Zerstörung der gegnerischen Nation, die Plünderung ihrer Reichtümer, die Ablenkung der Arbeitermassen von den innenpolitischen Krisen in Russland, Deutschland, England und anderen Ländern, die Zersplitterung der Arbeitermassen und der Versuch, sie mit nationalistischem Gerede für dumm zu verkaufen sowie ihre Avantgarde auszumerzen, um die proletarische Revolutionsbewegung zu entkräften – das allein ist wirklich Inhalt, Bedeutung und Sinn des gegenwärtigen Krieges. „Vojna i russkaja social-demokratija“ („Der Krieg und die russische Sozialdemokratie“), Social-Demokrat, 1. November 1914

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1914–2014. Das Jahrhundert im Spiegel seiner großen Denker

Änderung erzeugt. Die Nahrungssubstanz, sonst ohne weiteres zugänglich, wenn man nur Geld hatte, ist knapp und fragwürdig geworden und tritt dadurch wieder in ihrem definitiven Wertcharakter hervor. Das Geld dagegen, von seiner bisherigen grenzenlosen Leistungsfähigkeit abgeschnitten, zeigt sich als an sich ganz ohnmächtiges Mittel. […] Aber noch einmal und nun im ganz absoluten Sinne stellt der Krieg das Verhältnis von Zweck und Mittel um. Die Selbsterhaltung pflegt das definitive Interesse des Menschen zu sein. Arbeit und Liebe, Denken und Wollen, religiöse Betätigung wie die Wendungen, die wir uns bemühen, unseren Schicksalen zu geben: alles geht im großen und ganzen darauf hinaus, das Ich in seinem Bestande und seiner Entwicklung zu erhalten, die dauernd von äußeren Gefahren und innerer Schwäche, von der Problematik unseres Verhältnisses zur Welt und der Unsicherheit unserer Lebensbedingungen bedroht sind. […] Darüber hat nun der Krieg für Millionen von Menschen das Ziel des Sieges und der Erhaltung der Nation gesetzt, ein Ziel, für das auf einmal das eigene Leben ein bloßes Mittel wurde und zwar sowohl seine Erhaltung wie seine Preisgabe. Das erstere erscheint noch bedeutungsvoller als das zweite. Daß der Soldat herausgehe, um sich zu opfern, ist ein ganz irreleitendes Pathos. Nicht der tote Soldat, sondern der lebende dient dem Vaterland. Daß dieser Dienst auch seine Opferung fordern kann, ist sozusagen ein Grenzfall, nur der deutlichste Beweis dafür, daß das Selbst seinen Endzweckcharakter verloren hat und sich, erhalten oder geopfert, zum Mittel eines höheren Zweckes erklärt hat. Gewiß, die Selbsterhaltung wird ihren alten Platz an der Spitze der teleologischen Reihen wieder erhalten. Eines aber scheint mir dennoch unabweislich. Die Übersteigerung all der Mittelstufen und Vorläufigkeiten zu Endwerten, an der unsere Kultur krankt, wird nicht mehr ganz so leicht an einer Generation vor sich gehen, die es an sich selbst erfahren hat, daß selbst der sonst autonomste Endzweck, die Selbsterhaltung, zum bloßen Mittel werden konnte. […] Es scheint sicher, daß der Soldat, mindestens solange er in lebhafterer Aktion ist, eben dieses Tun als ungeheure Steigerung sozusagen des Quantums von Leben, in unmittelbarerer Nähe zu seiner flutenden Dynamik empfände, als er es an seinen sonstigen Arbeitswirksamkeiten spüren kann. Die höchste Zusammenraffung der Energie, die das Leben einer ganzen Nation durch sich hindurchfließen fühlt, läßt kein Sich-Verfestigen und -Verselbständigen ihrer Inhalte zu, durch das die Friedenskultur Inhalt neben Inhalt, abgelöst und fremd - 13 -

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John Dewey Wofür Amerika kämpfen wird

Für die einst flammenden Schlagworte Ehre und Ruhm, Ansehen und Macht ist unser Ohr heute nicht mehr empfänglich. Ständig mit diesen Idealen gereizt zu werden und zugleich zu erkennen, dass Deutschlands Hingabe an diese Ideale für die Welttragödie verantwortlich ist – das ist keine angemessene oder natürliche Haltung. Mit „patriotischen“ Anreizen zum Krieg motivieren zu wollen, wenn eine Mehrheit davon überzeugt ist, dass nationalistischer Patriotismus hauptverantwortlich für den Ausbruch des Krieges ist, das bedeutet, gegen die Flut der Ereignisse zu agieren und ein Scheitern geradezu herbeizurufen. […] Fragt man nach einer alternativen Motivation, scheint eine Analyse derjenigen Motive, die bis heute Geltung haben, die Antwort zu geben: Es gibt ein Gespür für einen Auftrag, der geschäftsmäßig erledigt werden muss. Und es gibt eine vage, aber authentische Vision von einer Welt, die durch unsere Mitwirkung dauerhaft verändert wird – und zwar durch einen Einsatz, der für sich genommen strikt abgelehnt wird.

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„What America Will Fight For“, New Republic, 18. August 1918

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gegeneinander und nur dem Sachgesetz des einzelnen folgend, hinsetzt. Es ist ein geheimnisvolles Zusammentreffen, daß die ungeheuren Ereignisse der Zeit gewissermaßen zurechtkamen, um eben jene eingeschlagene Richtung des Geistes zu bestätigen, die die Einheit der auseinanderstrebenden Inhalte in der Tiefe des Lebensvorganges selbst suchte. Natürlich hat das Erleben dieser Ereignisse keine unmittelbar ersichtliche Wirkung auf jene Zerspaltungen und inneren Fremdheiten innerhalb unserer sittlichen und intellektuellen, religiösen und künstlerischen Kulturgebiete; und ebenso natürlich wird diese Wirkung, selbst wenn sie stattfindet, sich in jener tragischen Entwicklung, wie sie für hochausgebildete objektive Kulturen unvermeidlich scheint, allmählich wieder verlieren. Darüber aber, daß, innerhalb dieser Begrenzungen, der Krieg jene positive Bedeutung für die Kulturform hat, unabhängig von seiner Zerstörung von Kultursubstanz, ist mir kein Zweifel.

„Die Krisis der Kultur“, Frankfurter Zeitung, 13. Februar 1916

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Ist mit der Russischen Revolution ein neuer Mensch geschaffen worden? Haben die proletarischen Massen sich emanzipiert? Der Philosoph Nikolai Berdjajew bremst die Euphorie

Im Osten nichts Neues? Nikolai Berdjajew

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ie Machtergreifung der sogenannten „Bolschewiken“ erscheint vielen als eine furchtbare Katastrophe, als etwas absolut Neues im revolutionären Schicksal Russlands. […] Herr Lenin hat es gewagt zu erklären, dass es Ende Februar in Russland eine bürgerliche Revolution gab, also einen Prozess, der den Zarismus gestürzt hat, und dass Ende Oktober eine sozialistische Revolution stattfand, die die Bourgeoisie gestürzt hat, dass sich also ein Prozess, der bei den führenden europäischen Völkern Jahrhunderte in Anspruch nimmt, im zurückgebliebenen Russland in ein paar Monaten abgespielt hat. […] Ich für meinen Teil denke, dass alles, was in Russland vor sich geht, reine Gespenster und Halluzinationen sind […]. Was in der allerletzten Zeit passiert ist, ist äußerst schwerwiegend und schmerzhaft für das Leben der Menschen. Es ist Blut geflossen, es gab viele und wird viele unschuldige Opfer geben, das Leben der Menschen ist noch unsicherer und unerträglicher geworden. Eine Neukonfiguration der Atome, die sich in einem solchen trägen Zustand befinden, kann nichts verändern, in welchem Sinne auch immer. Eigentlich passiert in der russischen Revolution überhaupt nichts Neues […].

1 9 1 4 / 1 9 3 2 Übersetzung Berdjajew: Luisa Schulz; Foto: Olivier Martel/akg-images, Dietz Verlag Berlin

Nikolai Alexandrowitsch Berdjajew (1874–1948) Christlicher Existenzialist. Obwohl dem Adel zugehörig, früh Marxist. Im Jahr 1922 aufgrund seiner kritischen Haltung aus der Sowjetunion ausgewiesen. Er lebt fortan in Berlin und Paris. In Das Schicksal des Menschen in unserer Zeit (1931) legt er sein ethisches System dar. Seine Philosophie mit mystischem Einschlag betont die Vorrangstellung der geistigen Freiheit über das materielle Sein.

Narodopravstvo Die Wochenzeitung Narodopravstvo („Volkssouveränität“) erscheint zwischen August 1917 und Februar 1918. Herausgeber ist Georgij Tschulkow, Hauptautor Nikolai Berdjajew. Der Grundton ist geprägt von seinem religiös-liberalen Nationalismus. Konsequent versucht die Zeitschrift, die Gefahren der sowjetischen Ideologie aufzudecken.

Die Seelen sind Sklavenseelen geblieben In den Seelen der Menschen und in der Volksseele, an den Quellen der schöpferischen Energie hat sich nichts verändert, nichts Neues hat das Licht der Welt erblickt. Uns bestimmen genau dieselben alten Instinkte, genau dieselben altertümlichen Gefühle. Es ersteht kein neuer Mensch. […] Die Seelen der Menschen sind Sklavenseelen geblieben. Die neue Verkleidung sollte niemanden blenden. […] Wir begehen weiter unsere alten Sünden, leiden an unseren Erbkrankheiten. In Russland gab es überhaupt keine Revolution. […] Wo ist die neue Psyche des Proletariats, die durch die kollektive industrielle Arbeit entsteht, die die Marxisten immer für die unentbehrliche Voraussetzung des Sozialismus gehalten haben? Gibt es Anzeichen dieser neuen Psyche bei den ungeordneten Soldatenhorden, die Sonnenblumenkerne kauen, mit Zigaretten handeln und Gewalttaten gegen die Zivilbevölkerung begehen? […] Mit Illusionen aufräumen Die Moral, die uns die russische „Revolution“ lehrt, ist ziemlich einfach und elementar, wenn auch bitter für uns. Es ist notwendig, mit zahlreichen russischen Illusionen, slawophilen, volkstümlichen, tolstojanischen*, erhabenen anarchistischen revolutionär-messianischen und so weiter und so fort zu brechen. Es ist notwendig zu bereuen und Frieden zu schließen, demütig die elementare Wahrheit des Abendlandes anzuerkennen, die Wahrheit der Kultur, die harte Wahrheit des Gesetzes und der Norm. […] Wenn die russischen Menschen aus der Hypnose erwachen und geistig „Byla li v Rossij rewieder nüchtern sind, werden sie vervoljucija?“ („Gab es in stehen, dass jeder große Kampf in der Russland eine RevoluWelt ein geistiger Kampf, ein Konflikt tion?“), Narodopravstverschiedener Ideen ist. vo, 15. November 1917 - 16 -

Kraft der Revolution

Mit an die Die Russische Revolution soll nur der Anfang sein. Steht auch in Deutschland die Machtergreifung des Proletariats unmittelbar bevor?

Philosophie Magazin / Sonderausgabe 01


Für Rosa Luxemburg hat im Ersten Weltkrieg vor allem einer verloren – die kapitalistische Unterdrückungsgesellschaft

Nicht Weltkrieg, Weltrevolution! Rosa Luxemburg

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Bolschewikische Truppen stürmen im Herbst 1917 den Winterpalast in Petersburg

Marx Macht Am 2. März 1917 muss der russische Zar Nikolaus II. abdanken. Im Oktober des gleichen Jahres rufen die Bolschewiki unter Führung von Lenin und Trotzki die Machtübernahme der Sowjets aus. Das Land ist vom Krieg zerrüttet und von Hungersnöten stark geschwächt. Der Oktoberrevolution folgt ein langer und grausamer Bürgerkrieg, der bis 1921 andauert. Dennoch dient Russlands Beispiel auch westeuropäischen Kommunisten als Vorbild für einen erfolgreichen Putsch.

1914–2014. Das Jahrhundert im Spiegel seiner großen Denker

m 9. November haben Arbeiter und Soldaten das alte Regime in Deutschland zertrümmert. Auf den Schlachtfeldern Frankreichs war der blutige Wahn von der Weltherrschaft des preußischen Säbels zerronnen. Die Verbrecherbande, die den Weltbrand entzündet und Deutschland in das Blutmeer hineingetrieben hat, war am Ende ihres Lateins angelangt. […] Am 9. November erhob sich das deutsche Proletariat, um das schmachvolle Joch abzuwerfen. Die Hohenzollern wurden verjagt, Arbeiter- und Soldatenräte gewählt. Aber die Hohenzollern waren nie mehr als Geschäftsträger der imperialistischen Bourgeoisie und des Junkertums. Die bürgerliche Klassenherrschaft: das ist der wahre Schuldige des Weltkrieges in Deutschland wie in Frankreich, in Rußland wie in England, in Europa wie in Amerika. Die Kapitalisten aller Länder: das sind die wahren Anstifter zum Völkermord. […] Mit dem Ausgang des Weltkrieges hat die bürgerliche Klassenherrschaft ihr Daseinsrecht verwirkt. Sie ist nicht mehr imstande, die Gesellschaft aus dem furchtbaren wirtschaftlichen Zusammenbruch herauszuführen, den die imperialistische Orgie hinterlassen hat. Produktionsmittel sind in ungeheurem Maßstab vernichtet. Millionen Arbeitskräfte, der beste und tüchtigste Stamm der Arbeiterklasse hingeschlachtet. Der am Leben Gebliebenen harrt bei der Heimkehr das grinsende Elend der Arbeitslosigkeit. Hun- Rosa Luxemburg gersnot und Krankheiten drohen die Volkskraft an der Wurzel zu (1871–1919) Deutsche Marvernichten. Der finanzielle Staatsbankrott infolge der ungeheuren xistin polnischer Herkunft, Galionsfigur der europäiLast der Kriegsschulden ist unabwendbar. Aus all dieser blutigen Wirrsal und diesem gähnenden Ab- schen Arbeiterbewegung. Mit Karl Liebknecht Anfühgrund gibt es keine Hilfe, keinen Ausweg, keine Rettung als im rerin des Spartakusbunds, Sozialismus. Nur die Weltrevolution des Proletariats kann in die- der sich im Widerstand geses Chaos Ordnung bringen, kann allen Arbeit und Brot verschaf- gen die Kriegsunterstützung fen, kann der gegenseitigen Zerfleischung der Völker ein Ende der SPD formiert. Anfang machen, kann der geschundenen Menschheit Frieden, Freiheit, 1919 Mitgründerin der KPD. wahre Kultur bringen. Nieder mit dem Lohnsystem! Das ist die Einen Monat nach Verfassen Losung der Stunde. An Stelle der Lohnarbeit und der Klassenherr- dieses Artikels wird sie nach schaft soll die genossenschaftliche Arbeit treten. Die Arbeitsmittel der Zerschlagung des Spartakusaufstands zusammen mit müssen aufhören, das Monopol einer Klasse zu sein […]. Karl Liebknecht ermordet. An Stelle der Arbeitgeber und ihrer Lohnsklaven: freie Arbeitsgenossen! Die Arbeit Niemandes Qual, weil Jedermanns Pflicht! Ein menschenwürdiges Dasein Jedem, der seine Pflicht ge- Die Rote Fahne gen die Gesellschaft erfüllt. Der Hunger hierfür nicht mehr der Ins Leben gerufen am 9. November 1918 von Karl LiebArbeit Fluch, sondern des Müßiggängers Strafe! Erst in einer solchen Gesellschaft sind Völkerhaß, Knecht- knecht und Rosa Luxemburg. schaft entwurzelt. Erst wenn eine solche Gesellschaft verwirklicht Zunächst Stimme des Sparist, wird die Erde nicht mehr durch Menschenmord geschändet. takusbunds, ab 1919 Zentralorgan der Kommunistischen […] Partei Deutschlands. Von Sozialismus ist in dieser Stunden Nationalsozialisten ver„Was will der de der einzige Rettungsanker der boten, aber bis 1945 aus dem Spartakusbund?“, Menschheit. […] Sozialismus oder Untergrund weiter verteilt. Die Rote Fahne, Untergang in der Barbarei! 14. Dezember 1918 - 17 -

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Foto: Bettmann/CORBIS

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Dunkle Zeiten. Mit der Machtergreifung Hitlers verfällt Deutschland endgültig dem Führerwahn. Rassenhass und totalitäre Verengung regieren den Alltag, auch in Stalins Sowjetunion. Der Zweite Weltkrieg erfasst mit seinen Schrecken den gesamten Globus und scheint die Machtlosigkeit der Intellektuellen zu beweisen. Nicht wenige deutsche Philosophen haben sich auf die Seite der Nationalsozialisten geschlagen, allen voran Meisterdenker Martin Heidegger. Doch regt sich im Namen der Freiheit auch philosophischer Widerstand. Camus und Sartre schließen sich in Frankreich der Résistance an, Gandhis Pazifismus führt Indien in die Unabhängigkeit. Mit der Schoah sieht die Menschheit in einen neuen Abgrund

1914–2014. Das Jahrhundert im Spiegel seiner großen Denker

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Den Führer Denken

In keiner anderen Gestalt konzentriert sich das Versagen der deutschen Philosophie im Nationalsozialismus deutlicher als in Martin Heidegger. Mit seinem Buch Sein und Zeit aus dem Jahre 1927 über Nacht zu Weltruhm gelangt, übernimmt der Meisterdenker am 21. April 1933 das Rektorat der Universität Freiburg, von dem er 1934, enttäuscht von seinen Wirkmöglichkeiten, zurücktritt. Eine bis heute diskutierte Frage ist, inwieweit das Denken des NSDAPMitglieds Heidegger eine Verbindung zur Ideologie des Nationalsozialismus aufweist. In jedem Fall besteht eine sprachliche Affinität seiner kulturkritischen Philosophie zu der völkischen Diktion der neuen Machthaber, die ebenfalls den Gestus eines radikalen Neuanfangs pflegen. Drei Originaldokumente belegen dies

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Der Fall Heidegger Martin Heidegger

Aufruf an die deutschen Studenten Deutsche Studenten. Die nationalsozialistische Revolution bringt die notwendige Umwälzung unseres deutschen Daseins. An Euch ist es, in diesem Geschehen die immer Drängenden und Bereiten, die immer Zähen und Wachsenden zu bleiben. Euer Wissenwollen sucht das Wesentliche, Einfache und Große zu erfahren. Es verlangt, dem Nächstbedrängenden und Weitestverpflichtenden ausgesetzt zu werden. Seid hart und echt in Euerem Fordern. Bleibt klar und sicher in der Ablehnung. Verkehrt das errungene Wissen nicht zum eitlen Selbstbesitz. Verwahrt es als den notwendigen Urbesitz des führerischen Menschen in den völkischen Berufen des Staates. Ihr könnt nicht mehr die nur „Hörenden“ sein. Ihr seid verpflichtet zum Mitwissen und Mithandeln an der Schaffung der künftigen hohen Schule des deutschen Geistes. Jeder muss jede Begabung und Bevorzugung erst bewähren und ins Recht setzen. Das geschieht durch die Macht des kämpferischen Einsatzes im Ringen des ganzen Volkes um sich selbst. Täglich und stündlich festige sich die Treue des Gefolgschaftswissens. Unaufhörlich wachse Euch der Mut zum Opfer für die Rettung des Wesens und für die Erhöhung der innersten Kraft unseres Volkes in seinem Staat. Nicht Lehrsätze und „Ideen“ seien die Regeln Eures Seins. Der Führer selbst und allein ist die heutige und künftige deutsche Wirklichkeit und ihr Gesetz. Lernet immer tiefer zu wissen: Von nun an fordert jedwedes Ding Entscheidung und alles Tun Verantwortung. Heil Hitler! Martin Heidegger, Rektor „Aufruf an die deutschen Studenten“, Freiburger Studentenzeitung, 3. November 1933

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Die Selbstbehauptung der deutschen Universität

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nd die geistige Welt eines Volkes ist nicht der Überbau einer Kultur, sowenig wie das Zeughaus für verwendbare Kenntnisse und Werte, sondern sie ist die Macht der tiefsten Bewahrung seiner erd- und bluthaften Kräfte als Macht der innersten Erregung und weitesten Erschütterung seines Daseins. Eine geistige Welt allein verbürgt dem Volke die Größe. Denn sie zwingt dazu, daß die ständige Entscheidung zwischen dem Willen zur Größe und dem Gewährenlassen des Verfalls das Schrittgesetz wird für den Marsch, den unser Volk in seine künftige Geschichte angetreten hat. […] Die Kampfgemeinschaft der Lehrer und Schüler wird aber nur dann die deutsche Universität zur Stätte der geistigen Gesetzgebung umschaffen und in ihr die Mitte der straffsten Sammlung zum höchsten Dienst am Volke in seinem Staat erwirken, wenn Lehrerschaft und Schülerschaft einfacher, härter und bedürfnisloser als alle anderen Volksgenossen für Dasein einrichten. Alle Führung muß der Gefolgschaft die Eigenkraft zugestehen. Jedes Folgen aber trägt in sich den Widerstand. Dieser Wesensgegensatz im Führen und Folgen darf weder verwischt, noch gar ausgelöscht werden. […] Aber wir wollen, daß unser Volk seinen geschichtlichen Auftrag erfüllt. Wir wollen uns selbst. Denn die junge und jüngste Kraft des Volkes, die über uns schon hinweggreift, hat darüber bereits entschieden. Die Herrlichkeit aber und die Größe dieses Aufbruchs verstehen wir dann erst ganz, wenn wir in uns jene tiefe und weite Besonnenheit tragen, aus der die alte griechische Weisheit das Wort gesprochen: […] „Alles Große steht im Sturm …“ Aus Heideggers Antrittsrede für sein Freiburger Rektorat vom 27. Mai 1933, später mehrmals abgedruckt unter anderem unter dem leicht abgewandelten Titel „Die Selbsterhaltung der deutschen Universität“ in der Freiburger Zeitung, Jubiläumsausgabe, 6. Januar 1934

Brief an Herbert Marcuse Zu 1933: ich erwartete vom Nationalsozialismus eine geistige Erneuerung des ganzen Lebens, eine Aussöhnung sozialer Gegensätze und eine Rettung des abendländischen Daseins vor den Gefahren des Kommunismus. Diese Gedanken wurden ausgesprochen in meiner Rektoratsrede (haben Sie diese ganz gelesen?), in einem Vortrag über „Das Wesen der Wissenschaft“ und in zwei Ansprachen an die Dozenten und Studenten der hiesigen Universität. Dazu kam noch ein Wahlaufruf von ca. 25/30 Zeilen, veröffentlicht in der hiesigen Studentenzeitung. Einige Sätze darin sehe ich heute als Entgleisung an. Das ist alles. […] 1934 erkannte ich meinen politischen Irrtum, legte unter Protest gegenüber Staat u. Partei mein Rektorat nieder. […] Sie haben völlig recht, daß ein öffentliches, allen verständliches Gegenbekenntnis von mir fehlt; es hätte mich ans Messer geliefert und die Familie mit. Jaspers sagte dazu: Daß wir leben, ist unsere Schuld.

Martin Heidegger um 1933

[…] Ein Bekenntnis nach 1945 war mir unmöglich, weil die Nazianhänger in der widerlichsten Weise ihren Gesinnungswechsel bekundeten, ich aber mit ihnen nichts gemein hatte. Martin Heidegger: Brief an Herbert Marcuse vom 20. Januar 1948

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Avantgarde

Ausdruck bürgerlicher Degeneration? 1 9 3 3

Die avantgardistischen Strömungen Sur­realismus und Expressionismus werden politischen und völkischen Deutungen unterzogen

/ 1 9 4 5 In Zeiten der extremen ideologischen Spaltung gerät auch die moderne Kunst unter politischen Gesinnungsverdacht. Für Marxisten wie Faschisten stehen die avantgardistischen Kunstströmungen für die Degeneration des bürgerlichen, von wahrem Volksempfinden entfremdeten Subjekts – oder gar rassisch bedingte Entartung. Freiere Geister hingegen preisen sie als das Licht der Utopie in dunkler Zeit.

Das Gemälde Potsdamer Platz von Ernst Ludwig Kirchner aus dem Jahr 1914

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Kontra

Pro

„Pure Wildheit des Subjekts!“

„Fern wahrer Volkstümlichkeit!“

Ernst Bloch

György (Georg) Lukács

Abbildung: picture-alliance/akg-images

A

uch Marxisten (damit das nicht verschwiegen werde) wie Lukács haben dem Expressionismus in Bausch und Bogen ein wenig kenntnisreiches Etikett aufgeklebt. Sie denunzieren ihn als „Ausdruck kleinbürgerlicher Opposition“, ja sogar, völlig schematisch, als „imperialistischen Überbau“. Aber Marc, Klee, Chagall, Kandinsky kommen in dem Klischee „Kleinbürgertum“ kaum unter, und am wenigsten, wo dieses Klischee Spießertum, bestenfalls raunzendes, bezeichnen soll. Und selbst wenn hier nichts als kleinbürgerliche Opposition wäre (man wünscht sich, den Kleinbürger kennenzulernen, dem Marcs „Turm der blauen Pferde“ sein Ausdruck ist): was steht dem Kleinbürger Besseres zur Verfügung als bestenfalls – Opposition (und gar solche)? Daß aber der Nazi sich nachher, gelegentlich, in der Anfangszeit, expressionistische Literaturreste beibog (Benn) oder Thingspiel-Industrie daraus machte (Euringer), daran ist nicht Marcs „Imperialismus“ schuld, sondern des Goebbels Sinn für wirkungsvolle Falsifikate (fast gleich, woran sie geschehen). Und eben Hitlers letzte Attacke beweist, daß selbst die sogenannte „kleinbürgerliche Opposition“ Ernst Bloch nicht immer so verächtlich sein mag. Sie (1985–1977) Marxistisch beweist erst recht, daß die expressionistigeprägter Philosoph, der in sche Kunst – zuerst von Hausenstein, nun die Schweiz und später in die viel großartiger von Hitler erledigt – keiUSA emigrierte. In seinem ne Rechtfertigung des Feinds enthalten Werk Geist der Utopie (1918) kann, keine Ideologie seines Imperialisformuliert er erstmals den Begriff der Utopie als Denkmus und seiner Ordnung. Die „Übereinhaltung, den er in späteren stimmung“ einiger Moskauer IntellektuWerken auf Recht, Religion eller schematischen Schlags mit Hitler ist und Natur anwendet. In seifolglich nicht angenehm. […] nem Hauptwerk Das Prinzip Also ist wichtiger denn je, über die Hoffnung (1954–1949) entso blutig gehaßten Bilder sich klarzuwerwirft er eine Kulturgeschichden. Was wurde 1921–22 gewollt, warum te aus utopischer Sicht. geht uns das wieder etwas an […]? Eine Kunst, die weder mit den überlieferten Die neue Weltbühne Formen noch vor allem mit dem ringsum Im Jahr 1918 entsteht aus der Gegebenen einverstanden war, überzog Theaterzeitschrift Die Schaudamals die Welt mit Krieg. Dieser Krieg bühne die Tageszeitung Die hatte freilich keine anderen Waffen als Weltbühne. Unter der ChefPinsel und Tube, als direkten Schrei, und redaktion von Kurt Tucholssein Schlachtfeld war die Leinwand oder ky und Carl von Ossietsky das musisch bedruckte Papier. Und die wurde sie in der Weimarer kriegführende Macht bestand aus dem Republik zum Sprechrohr der radikaldemokratischen puren Subjekt, aus der emotionalen Not bürgerlichen Linken. Nach und Wildnis des Subjekts, das sich mit dem Verbot durch die Natiseiner Laterna magica in eine scheinbar onalsozialisten in der Folge gegenstandslose Welt projizierte. des Reichstagsbrands wurde sie im Exil bis 1939 als Neue Weltbühne fortgeführt.

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enn die Literatur tatsächlich eine besondere Form der Widerspiegelung der objektiven Wirklichkeit ist, so kommt es für sie darauf an, diese Wirklichkeit so zu erfassen, wie sie tatsächlich beschaffen ist, und sich nicht darauf zu beschränken, das wiederzugeben, was und wie es unmittelbar erscheint. […] Die literarische Praxis jedes wirklichen Realisten zeigt die Wichtigkeit des objektiven gesellschaftlichen Gesamtzusammenhangs und die zu seiner Bewältigung notwendige „Forderung der Allseitigkeit“. […] Diese Auffassung von der Beziehung des bedeutenden Schriftstellers zur Wirklichkeit schließt keineswegs – wie Bloch meint – die Erkenntnis aus, daß die Oberfläche der gesellschaftlichen Wirklichkeit „Zersetzungen“ zeigt und sich entsprechend im Bewußtsein der Menschen widerspiegelt. […] Die einander rasch ablösenden modernen literarischen Richtungen der imperialistischen Periode vom Naturalismus bis zum Surrealismus gleichen einander darin, daß sie die Wirklichkeit so nehmen, wie sie dem Schriftsteller und seinen Gestalten unmittelbar erscheint. Diese unmittelbare Erscheinungsform wechselt […] je nachdem […] wie Klas- György (Georg) senumschichtung und Klassenkampf Lukács verschiedene Widerspiegelungsformen (1885–1971) Marxistisch gedieser Oberfläche hervorbringen. Die- prägter Philosoph und Liteser Wechsel bedingt vor allem das rasche raturtheoretiker aus Ungarn. Sich-Ablösen und das erbitterte Sich-Be- 1916 erlangt er mit seiner Theorie des Romans große kämpfen der verschiedenen Richtungen. Aber sie bleiben alle, gedanklich wie Anerkennung und wird in gefühlsmäßig, bei dieser ihrer Unmittel- Stalins Sowjetunion zu einer führenden Stimme des „Sozibarkeit stehen […]. alistischen Realismus“. 1956, Ist unsere Diskussion eine rein li- wieder in Ungarn, ist er ein terarische? Ich glaube, nein. Ich glaube, Vordenker des Volksaufstander Kampf zwischen literarischen Rich- des und wird nach dessen tungen und ihrer theoretischen Begrün- Niederschlagung verhaftet. dung würde nicht so breite Wellen schlagen […], wenn die letzten Folgen dieser Das Wort Diskussion nicht für eine politische Frage […] als wichtig empfunden würde: für ist eine monatlich erscheinende Literaturzeitschrift die Volksfront. […] Volksfront bedeutet: vorwiegend deutscher EmiKampf um wirkliche Volkstümlichkeit, granten um Bertolt Brecht vielseitige Verbundenheit mit dem gan- und Lion Feuchtwanger. Sie zen, historisch gewordenen, historisch erscheint von 1936 bis zum eigenartig gewordenen Leben des eige- Hitler-Stalin-Pakt 1939 in nen Volkes, bedeutet Richtlinien und Lo- Moskau. Ihr Ziel ist es, linke sungen zu finden, die aus diesem Volks- Kräfte gegen den Nationalsozialismus zu vereinen. Sie ist leben die fortschrittlichen Tendenzen zu neben der Zeitschrift Interneuem, politisch wirksamem Leben er- nationale Literatur, die ebenwecken. falls in Moskau erscheint,

„Der Expressionismus, jetzt erblickt“, Die Neue Weltbühne, 1937

1914–2014. Das Jahrhundert im Spiegel seiner großen Denker

„Es geht um den Realismus“, Das Wort, Juni 1938 - 41 -

prägend für das Profil der Exilliteratur.

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Foto: NASA

Der Kalte Krieg spaltet die Welt politisch wie ideologisch. Bleiern liegt die Zeit auf den beiden deutschen Staaten. Anstatt Frieden herrscht bald atomare Bedrohung. Und doch gibt es Aufbrüche. Emanzipation, sexuelle Befreiung und Studentenrevolten verändern das Wertgerüst der westlichen Gesellschaft. Unter den Augen der Welt landet der erste Mensch auf dem Mond. Wo liegen die Grenzen des technologischen Fortschritts? Und wie hoch ist sein ökologischer Preis?

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Philosophie Magazin / Sonderausgabe 01


1914–2014. Das Jahrhundert im Spiegel seiner groĂ&#x;en Denker

1946 1988 - 49 -


1949 erscheint Simone de Beauvoirs Buch Das andere Geschlecht, das zu ergründen versucht, warum Frauen traditionell im Schatten der Männer stehen. Paris Match publiziert Auszüge

Man kommt nicht als Frau zur Welt Simone de Beauvoir

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Übersetzung Beauvoir: Uli Aumüller, Übersetzung Reed: Michael Ebmeyer

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on allen wird einmütig anerkannt, daß es innerhalb der menschlichen Spezies „Weibchen“ gibt. Sie stellen heute wie ehedem etwa die Hälfte der Menschheit. Und doch sagt man uns, die Weiblichkeit sei „in Gefahr“, man ermahnt uns: „Seid Frauen, bleibt Frauen, werdet Frauen.“ […] Was die gegenwärtige Lage der Frau bestimmt, ist das hartnäckige Überleben uralter Traditionen in der sich abzeichnenden neuen Zivilisation. […] Man öffnet den Frauen die Fabriken, Büros und Universitäten, betrachtet aber weiterhin die Ehe als eine höchst achtbare Laufbahn für sie, die sie von jeder anderen Mitwirkung am Leben der Gesellschaft entbindet. Wie in den primitiven Kulturen ist der Liebesakt für sie eine Dienstleistung, die sie sich mehr oder weniger direkt bezahlen lassen darf. Außer in der Sowjetunion – zumindest nach der offiziellen Doktrin – ist es der modernen Frau überall erlaubt, ihren Körper als ausbeutbares Kapital zu betrachten. Die Prostitution wird geduldet, zu Liebesabenteuern wird ermuntert. Und die verheiratete Frau hat das Recht, Unterhalt von ihrem Mann zu erwarten. Außerdem ist ihr soziales Ansehen sehr viel höher als das der Ledigen. Die Sitten gestehen dieser bei weitem nicht die gleichen sexuellen Möglichkeiten zu wie dem unverheirateten Mann. Vor allem die Mutterschaft ist für sie fast ausgeschlossen, da eine ledige Mutter noch immer Anstoß erregt. Wie sollte das Märchen vom Aschenputtel nicht seine ganze Gültigkeit behalten? Alles ermuntert das junge Mädchen noch dazu, Reichtum und Glück lieber von dem „Märchenprinzen“ zu erwarten, als allein den schwierigen, ungewissen Versuch zu unternehmen, sie zu erlangen. Vor allem kann sie hoffen, dank ihm Simone de Beauvoir in eine höhere Kaste als die ihre aufzusteigen – ein Wunder, das (1908–1986) Französische ihr die Arbeit eines ganzen Lebens nicht einbringen würde. […] Philosophin, Schriftstellerin Die Eltern erziehen ihre Tochter immer noch mehr im Hinblick und Feministin. Gehört zuauf die Ehe, als daß sie ihre persönliche Entwicklung fördern, und sammen mit ihrem Lebensdie Tochter sieht deshalb in der Ehe so viele Vorteile, daß sie sie gefährten Jean-Paul Sartre zu selbst wünscht. Das Ergebnis ist, daß sie oft weniger spezialisiert, den Gründungsfiguren des weniger gründlich ausgebildet ist als ihre Brüder und sich weniger Existenzialismus. In ihrem feministischen Hauptwerk vollständig in ihrem Beruf engagiert. Dadurch erreicht sie berufDas andere Geschlecht (1949) lich zwangsläufig weniger, und der Teufelskreis schließt sich: der findet sich der berühmte Satz mangelnde berufliche Erfolg verstärkt ihren Wunsch nach einem „Man kommt nicht als Frau Ehemann. […] zur Welt, man wird es“. Solange die Verlockungen des leichteren Weges fortbestehen – durch die wirtschaftliche Ungleichheit, die bestimmte PerParis Match sonen begünstigt, und durch das anerkannte Recht der Frau, sich einem dieser Privilegierten zu verkaufen –, wird für sie eine gröIn den zwanziger Jahren Sportzeitung, die zum Ende ßere moralische Anstrengung als für den Mann nötig sein, um den der dreißiger Jahre zur TaWeg der Unabhängigkeit zu wählen. […] Die heutige Zeit fordert geszeitung wird. Während die Frau zum Arbeiten auf, zwingt des Krieges Einstellung des sie sogar dazu. Aber gleichzeitig gauErscheinens. Der Heraus„Une femme appelle kelt sie ihr Paradiese des Müßiggangs geber Jean Prouvost lässt sie les femmes à la liberund der Wonnen vor und hebt die 1949 nach dem Beispiel des té“ („Eine Frau ruft dafür Erwählten hoch über die hinamerikanischen Magazins die Frauen zur Freiheit aus, die mit beiden Füßen auf der ErLife wieder aufleben. auf “), Paris Match, de bleiben müssen. 6. August 1949 - 54 -

Emanzipation

Die FrauenFrage Die Emanzipationsbewe­ gung fordert geschlecht­ liche Gleichberechtigung in allen Lebensbereichen Philosophie Magazin / Sonderausgabe 01


Als Mitglied der Socialist Workers Party ist Evelyn Reed eine der Ersten, die das Patriarchat als Mythos entlarvt … Es gehört für sie zu einer ausbeuterischen Klassengesellschaft

Die weibliche Unterlegenheit – ein Mythos Evelyn Reed

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Mobilisierungsplakat der USA. Im Zweiten Weltkrieg fanden die Frauen an der Heimatfront zu einem neuen Rollenverständnis

In sämtlichen Kriegsnationen sind die Frauen der eigentliche Motor des Wiederaufbaus. Die Forderung nach Gleichberechtigung hallt immer kräftiger durch Europa und Amerika. Doch der Weg zur Emanzipation ist weit. Es gilt, jahrtausendealte Unterdrückungsstrukturen zu brechen, auch im Bereich der Sexualität. Die Veröffentlichung der Kinsey-Reporte (1948 und 1953) sowie die Erfindung der Antibabypille 1960 markieren hierbei wichtige Zwischenschritte. Bis heute werden Frauen in sämtlichen Industrienationen bei gleicher Leistung schlechter bezahlt.

1914–2014. Das Jahrhundert im Spiegel seiner großen Denker

in Wesenszug des Kapitalismus und der Klassengesellschaft allgemein ist die Ungleichheit der Geschlechter. Männer haben das Sagen in Wirtschaft, Kultur, Politik und Geistesleben, während Frauen eine untergeordnete, sogar unterwürfige Rolle spielen. Erst seit wenigen Jahren wagen sich Frauen aus Küche und Kinderzimmer hervor, um das männliche Monopol infrage zu stellen. Doch die grundsätzliche Ungleichheit der Geschlechter bleibt bestehen. Sie prägt die Klassengesellschaft seit ihren Anfängen vor ein paar Tausend Jahren und durch ihre drei Hauptstadien: Sklaverei, Feudalismus und Kapitalismus. Darum ist die Klassengesellschaft als männerdominiert zu bezeichnen. Aufrechterhalten wurde diese Dominanz durch das System des Privateigentums, den Staat, die Kirche und die Form von Familie, die den männlichen Interessen angepasst war. Auf Basis dieser historischen Situation sind falsche Behauptungen zur sozialen Vormachtstellung des männlichen Geschlechts verbreitet worden. So gilt als unerschütterliches Axiom, die gesellschaftliche Überlegenheit der Männer gründe in einer natürlichen Überlegenheit. Diesem Mythos zufolge ist die männliche Vorherrschaft kein gesellschaftliches Phänomen in einem bestimmten historischen Stadium, sondern ein Naturgesetz. […] Um diese Behauptung zu stützen, wurde ein entsprechender Mythos auch über die Frauen verbreitet. Ebenfalls als unerschütterliches Axiom gilt demnach, dass die Frauen den Männern gesellschaftlich unterlegen sind, weil sie ihnen von Natur aus unterlegen seien. Und der Beweis? Sie sind die Mütter! Die Natur, so heißt es, habe das weibliche GeEvelyn Reed schlecht zur Unterordnung bestimmt. […] Nicht die Natur, sondern die Klassengesellschaft erniedrigt (1905–1979) Amerikanische die Frauen und erhebt die Männer. Die Männer gewannen ihre Frauenrechtlerin und Margesellschaftliche Überlegenheit im Kampf gegen die Frauen. Doch xistin. Nach einem Kunststudium wendet sie sich dem dieser Geschlechterkampf war Teil eines umfassenden sozialen Marxismus zu, trifft in MexiKampfes – dem Umsturz der primitiven Gesellschaft und der Eta- ko Leo Trotzki und wird Mitblierung der Klassengesellschaft. […] Dieser historische Prozess glied der Socialist Workers wird hinter dem Mythos von der weiblichen Unterlegenheit ver- Party. Wichtige Stimme der steckt. Nicht die Natur, sondern die Klassengesellschaft hat die Frauenbefreiungsbewegung Frauen des Rechts beraubt, höhere soziale Funktionen auszuüben, der Sechziger und Siebziger. und das Hauptaugenmerk auf den animalischen Aspekt der Mut- In Woman᾿s Evolution. From Matriarchal Clan to Patriarterschaft gelenkt. Der Raub wurde mittels eines zweifachen My- chal Family (1975) wendet thos verübt. Zum einen wird die Mutterschaft als biologisches Ge- sie sich gegen die anthropobrechen dargestellt, das aus den Fortpflanzungsorganen der Frau logischen Prämissen des Paentsteht. Und neben diesen Vulgärmaterialismus tritt eine gera- triarchats. dezu mystische Deutung der Mutterschaft. Um Frauen über ihren Status als Bürger zweiter Klasse hinwegzutrösten, werden Mütter mit einem Heiligenschein versehen und für besondere „Instinkte“, Fourth International Monatszeitschrift trotzkistiGefühle und Kenntnisse gepriesen, scher Weltanschauung, gedie sich auf ewig dem männlichen gründet im Mai 1940. Presse„The Myth of Verstand entziehen. Heiligspreorgan der Socialist Workers Women’s Inferiority“ chung und Entwürdigung sind hier Party. Im Jahr 1956 umbe(„Der Mythos der Undie zwei Seiten einer Medaille: des nannt in International Sociaterlegenheit der Frausozialen Raubs an den Frauen in der list Review. en“), Fourth InternatiKlassengesellschaft. onal, Frühjahr 1954 - 55 -

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E i c h m ann i n J e r u s a l e m

Adolf Eichmann 1961 vor dem Jerusalemer Bezirksgericht während der Verlesung der Anklage

Hannah Arendt

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(1906–1975) Deutsche Philosophin jüdischer Herkunft. Schülerin und enge Freundin von Martin Heidegger und Karl Jaspers. Seit 1933 in der Emigration. In ihrer kontroversen Studie Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft (1951) entdeckt sie strukturelle Ähnlichkeiten in der Entstehung von Faschismus und Stalinismus. In ihrem philosophischen Hauptwerk Vita activa oder Vom tätigen Leben (1958) ergründet sie die Bedingungen, Dimensionen und Möglichkeiten menschlichen Handelns in der modernen Gesellschaft.

The New Yorker Reportagen, Kurzgeschichten, Essays und Cartoons findet man auf den Seiten dieses amerikanischen Wochenmagazins, das 1925 als humoristisches Magazin gegründet wird und sich bald auch als seriöse Stimme etabliert. Zu den Autoren gehören Vladimir Nabokov, John Updike oder Roald Dahl, John Hersey mit seinen Essays über Hiroshima sowie die Cartoonisten Charles Addams und Saul Steinberg.

Hintergrund Der am 11. April 1961 eröffnete Jerusalemer Eichmann-Prozess ist neben den Nürnberger Prozessen der am meisten beachtete Nachkriegsprozess. Am 11. Dezember wird Eichmann zum Tode verurteilt, am 31. Mai 1962 wird das Urteil vollstreckt. Eichmann hatte als ehemaliger SS-Obersturmbannführer und Leiter des Judenreferats des Reichssicherheitshauptamts zentrale Verantwortung in Bezug auf die „Endlösung der Judenfrage“. Sie wurde 1941 von Reinhard Heydrich im Auftrag Hermann Görings ausgearbeitet, ihre Umsetzung auf der Wannseekonferenz geplant.

Hannah Arendt

Die Banalität des Bösen - 58 -

Philosophie Magazin / Sonderausgabe 01


Im Mai 1960 wird Adolf Eichmann in Argentinien von einem Geheimkommando gekidnappt und nach Israel gebracht, wo ihm der Prozess wegen seiner Vergangenheit als NS-Funktionär gemacht wird. Eichmann gilt als einer der Hauptverantwortlichen für die „Endlösung der Judenfrage“. Unter den Beobachtern in Jerusalem befindet sich auch Hannah Arendt als amerikanische Korrespondentin des New Yorker. Die Frage, wie es zu dem Grauen kommen konnte, in dessen Verlauf sechs Millionen Juden ermordet wurden, bietet ihr Anlass nicht nur zu einem Artikel, sondern zu fünf Essays, die nacheinander im New Yorker abgedruckt werden. Adolf Eichmann wird von ihr als subalterner Bürokrat dargestellt, die „Endlösung“ als technokratisch perfektioniertes Verfahren. Auch die Rolle der jüdischen Funktionäre wird kritisiert, was Arendt Vorwürfe anderer Intellektueller wie zum Beispiel Gershom Scholem einbringt

Foto: Gjon Mili/Time & Life Pictures/Getty Images

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as beunruhigende an der Person Eichmanns war doch gerade, daß er war wie viele und daß diese vielen weder pervers noch sadistisch, sondern schrecklich und erschreckend normal waren und sind. Vom Standpunkt unserer Rechtsinstitutionen und an unseren moralischen Urteilsmaßstäben gemessen, war diese Normalität viel erschreckender als all die Greuel zusammengenommen, denn sie implizierte – wie man zur Genüge aus den Aussagen der Nürnberger Angeklagten und ihrer Verteidiger wußte –, daß dieser neue Verbrechertypus, der nun wirklich hostis generis humani ist, unter Bedingungen handelt, die es ihm beinahe unmöglich machen, sich seiner Untaten bewußt zu werden. In dieser Hinsicht war das Beweismaterial im Fall Eichmann sogar noch überzeugender als in

1914–2014. Das Jahrhundert im Spiegel der Philosophen

den Prozessen gegen die Hauptkriegsverbrecher, deren Aussage, sie hätten ein reines Gewissen gehabt, leichter abgetan werden konnte, da sie es infolge ihres Ranges mit dem Argument des Gehorsams gegenüber „Befehlen von oben“ nicht bewenden ließen und sich auch noch rühmten, gelegentlich den Gehorsam verweigert zu haben. Eichmann gehörte nicht einer Verbrecherbande an, die sich außerhalb der bestehenden rechtsstaatlichen Ordnung gestellt hatte, sondern handelte im Auftrag eines Staates, dessen Ordnung verbrecherisch war, und er hatte sich nicht außerhalb des Gesetzes gestellt, sondern im Gegenteil die geltenden Gesetze des Landes buchstäblich erfüllt. Das juristische Problem aller dieser Prozesse besteht ja gerade darin, daß die in ihnen - 59 -

verhandelten Delikte unter Bedingungen begangen wurden, in denen das Verbrechen legal und jede menschliche Handlung illegal waren. Wie also stand es um das Gewissen in Deutschland zu jener Zeit, als Eichmann frei von allen Gewissensbissen seine Verbrechen beging? Es hat einzelne gegeben, die von vornherein und ohne je zu schwanken in einer nun wirklich ganz und gar lautlosen Opposition standen. Niemand kann wissen, wie viele es waren – vielleicht hunderttausend, vielleicht viel mehr, vielleicht viel weniger. Es gab sie überall, in allen Schichten des Volkes und in allen Parteien, vielleicht sogar in den Reihen der NSDAP. […] Sieht man sich aber die Dokumente und vorbereiteten Proklamationen derer an, die in

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Philosophie Magazin / Sonderausgabe 01

Foto: Raymond Depardon/Magnum Photos/Agentur Focus


Niemand hatte es vorausgesehen. Mit dem Fall der Berliner Mauer verliert die Welt quasi über Nacht ihre alte Ordnung. Die Sowjetunion zerfällt, der Warschauer Pakt löst sich auf. Durch die Globalisierung von Wirtschaft und Kommunikation verschwimmen letzte Grenzen. Das Zeitalter der Ideologien scheint zu Ende. Gibt es überhaupt noch glaubwürdige System­alternativen zur entregelten Marktwirtschaft? Wurde gar das Ende der Geschichte selbst erreicht? Ebenso unvermittelt wie der Freiheitsschub des 9.11.1989 brechen die Anschläge von 9/11 über die westliche Welt herein. Die Religion kehrt im Gewand des terroristischen Fundamentalismus auf die politische Bühne zurück. Das prägende Dilemma der Zeit lautet: Freiheit oder Sicherheit?

1914–2014. Das Jahrhundert im Spiegel seiner großen Denker

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Den Skandal um den Rinderwahn nimmt Lévi-Strauss zum Anlass, über die Verwandtschaft von Kannibalismus und Fleischverzehr sowie die Zukunft menschlicher Ernährung nachzudenken

Kannibalismus, Rinderwahn, Vegetarismus Claude Lévi-Strauss

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Übersetzung Lévi-Strauss: Luisa Schulz; Übersetzung Putnam: Stefan Hochgesand; Fotos: Ulf Andersen/Getty Images; Getty Images; Spangineer

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or etwa drei Jahren habe ich in Bezug auf die Epidemie, die allgemein „Rinderwahn“ genannt wird und die damals nicht so aktuell war wie heute, den Lesern der Repubblica erklärt, dass die ähnlichen Pathologien, denen der Mensch in der Vergangenheit manchmal zum Opfer gefallen ist – Kuru in Neuseeland, neue Fälle der Creutzfeldt-JakobKrankheit in Europa – […] mit Praktiken verbunden waren, die im eigentlichen Sinne zum Kannibalismus gehören, auch wenn man dessen Begriff erweitern musste, um sie dazuzählen zu können. […] Die Verbindung zwischen Fleischgenuss und Kannibalismus […] tritt mit der Seuche des Rinderwahns in den Vordergrund, da zu der Angst, sich eine tödliche Krankheit zuzuziehen, das Grauen hinzukommt, mit dem uns traditionell der Kannibalismus erfüllt, der jetzt auf die Gattung der Rinder erweitert ist. […] Wie viele von uns konnten schon lange vor diesen Ereignissen nicht mehr am Marktstand eines Metzgers vorbeigehen, ohne ein Unbehagen zu empfinden. […] Eines Tages wird die Idee, dass die Menschen in der Vergangenheit, um sich zu ernähren, Lebewesen Claude Lévi-Strauss aufzogen und massakrierten […], denselben Ekel hervorrufen wie (1908–2009) Philosoph und bei den Reisenden des 16. oder 17. Jahrhunderts die kannibaliEthnologe, Begründer der strukturalistischen Anthroschen Mahlzeiten der amerikanischen, ozeanischen oder afrikapologie. In seinen bahnbrenischen Wilden. […] chenden Werken wie etwa Schon jetzt atmen wir verschmutzte Luft. Das ebenfalls verDas wilde Denken (1962) schmutzte Wasser ist nicht mehr das Gut, das man für grenzenlos oder Traurige Tropen (1955) verfügbar halten konnte: Wir wissen, dass seine Ressourcen sogeht er in Form der teilwohl für die Landwirtschaft als auch für die häusliche Nutzung nehmenden Beobachtung begrenzt sind. Seit dem Aufkommen von Aids sind sexuelle BeGrundverboten und -unterscheidungen nach, die eine ziehungen mit einem tödlichen Risiko verbunden. Alle diese Phäbestimmte Kultur im Kern nomene verändern die Lebensbedingungen der Menschen stark organisieren, beispielsweise zum Negativen und werden dies weiter tun, da sie eine neue Ära das Inzesttabu oder auch das ankündigen, in der der Fleischkonsum als neue tödliche Gefahr Verbot eines nichtkultischen ihren Platz einnehmen wird. Kannibalismus. Das ist jedoch nicht der einzige Faktor, der den Menschen zwingen könnte, sich davon abzuwenden. In einer Welt, in der die globale Bevölkerung sich wahrscheinlich in weniger als einem Jahrhundert verdoppelt haben wird, werden die Rinder und andeLa Repubblica re Zuchttiere für den Menschen zu bedrohlichen Konkurrenten. Gegründet 1976. BedeutenIn den Vereinigten Staaten hat man berechnet, dass zwei Drittel de italienische Tageszeitung, des geernteten Getreides als Futtermittel dienen. […] erst radikal-sozialistisch, Es ist bemerkenswert, dass der Fleischkonsum in den westspäter gemäßigt links. Im lichen Gesellschaften tendenziell zurückgeht, als ob diese GesellJahr 1990 erwarb Silvio Belusconi die Mediengruppe, schaften anfingen, ihre Ernährungsgewohnheiten zu verändern. zu der die Repubblica gehört, In diesem Fall würde der Rinderwahn, wenn er die Konsumenmusste sie jedoch wenig späten vom Fleisch abbringt, nur eine beter an den links orientierten „La Mucca e’ pazza reits laufende Entwicklung beschleuCarlo de Benedetti abgeben. e un po’ cannibale“ nigen. Er würde ihr eine mystische Seit 2009 verfolgt die Repub(„Die Kuh ist wahnKomponente hinzufügen, die aus dem blica eine kritische Linie in sinnig und ein bissdiffusen Gefühl besteht, dass unsere Bezug auf Premierminister chen kannibalisch“), Gattung dafür bezahlt, die natürliche Berlusconi. La Repubblica, Ordnung verletzt zu haben. 24. November 1996 - 84 -

M a ss e n t i e r h a l t u n g u n d Klontechnologie

Das Tier und wir Im Zeitalter der Massentierhaltung und auch modernen Klontechnologien stellt sich die Frage nach unserem Verhältnis zum Tier ganz neu Philosophie Magazin / Sonderausgabe 01


1996 wird mit dem Schaf Dolly erstmals ein Säugetier geklont – ein Durchbruch in der Gentechnologie, der sowohl utopische als auch verheerende Handlungsmöglichkeiten eröffnet

Warum man Brüderlichkeit nicht klonen kann Hilary Putnam

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Klonschaf Dolly ist 1996 das weltweit erste geklonte Säugetier

Allein im Jahre 1992 erliegen mehr als 32 000 Zuchtrinder der Krankheit BSE, einer Seuche, die bei den betroffenen Tieren zum Ausfall wesentlicher Hirnfunktionen führt. Lange ist die Ursache unklar, bis sich herausstellt, dass die Tiere mit Reststoffen aus der Rinderverarbeitung gefüttert wurden. Ein mythisches Sakrileg mit tödlichen Folgen. Nur wenige Jahre später gelingt es britischen Wissenschaftlern erstmals, ein Säugetier erfolgreich zu klonen. Wird dieses Verfahren bald auch bei Menschen angewendet?

1914–2014. Das Jahrhundert im Spiegel seiner großen Denker

ie Meldung letztes Jahr, dass ein Schaf erfolgreich geklont wurde, rief spontan heftige Reaktionen hervor, eine Furcht, dass etwas Schreckliches zu geschehen drohe. Ich sage „zu geschehen drohe“, weil sich die Sorge nicht auf das Schaf Dolly bezog, sondern auf die Wahrscheinlichkeit, dass jemand dereinst einen Menschen klonen werde. […] Manche Anwendungen des Klonens würden gegen die kantische Maxime verstoßen, eine Person niemals nur als Mittel zum Zweck zu behandeln – beispielsweise einen Menschen nur deshalb zu klonen, um ihn zum Nierenspender zu machen. Aber das waren nicht die Fälle, die den Kommentatoren in den Sinn kamen. Das Szenario, das die Leute am meisten fürchten, ist, dass wir lernen, wie man Menschen klont […].Es gibt rein utilitaristische Gründe dafür, sich Sorgen über den Missbrauch des Klonens zu machen. […] Wenn Klonen in großem Stil praktiziert würde, könnte der Verlust genetischer Vielfalt sehr bedenklich sein. Ich glaube, dass die Diskussion einer Gesetzgebung zum Klonen von dem bestimmt sein muss, was ich „eine moralische Vorstellung der Welt“ nenne. […] Lassen Sie uns annehmen, dass es salonfähig wird […], seine Kinder „auszusuchen“ (indem man aussucht, wen man klont: Verwandte, Freunde oder, wenn man viel Geld hat, Leute, die sich gegen Bezahlung klonen lassen). […] Was uns an diesem Szenario erschreckt, ist, dass Kinder darin Waren werden wie Teppiche. Die Maxime, andere Personen nicht als Mittel zum Zweck zu verwenden, wäre damit offenkundig verletzt. Wenn die Vorstellung der idealen Familie eine moralische sein soll, müssen die Familienmitglieder einander als menschliche Wesen achten, deren Pläne und deren Glück Werte an sich sind und nicht bloß den Zielen der Eltern dienen. Zudem sollte sie von der moralischen Vorstellung, die ich Kant zuschrieb, in- Hilary Putnam spiriert sein, die unserer Fähigkeit, in moralischen Fragen selbst(geb. 1926) ist ein ameriständig zu denken, einen unschätzbaren Wert zuspricht; ebenso kanischer Philosoph und von der Einsicht, dass es die Aufgabe guter Eltern ist, Kinder zur seit 1965 Professor in HarEigenständigkeit zu erziehen. […] vard. Putnams InteressensAber noch ein anderer Wert muss dazukommen, die Bereit- schwerpunkte liegen in der schaft, Vielfalt zu akzeptieren. […] Das heißt, wir sollten es be- Erkenntnis- und Sprachphigrüßen, nicht missbilligen, dass unsere Kinder nicht wir sind und losophie sowie in der Geschichte des amerikanischen nicht von uns designt sind, sondern radikal „anders“. Pragmatismus. Besonders Behaupte ich, dass moralische Ideale einer physisch oder bekannt wurde sein antipsychisch gleichartigen Familie zu Abscheulichkeiten wie der Eu- skeptisches Gedankenexperigenik-Bewegung und sogar zum Nationalsozialismus führen kön- ment des „Gehirns im Tank“ nen? Die Antwort ist: Ja, das können sie sehr leicht. Aber meine („brain in a vat“). Gründe, die Idee eines prädesignten Nachwuchses abzulehnen, sind nicht konsequenzialistisch. Was ist behaupte, ist, dass die UnTimes Higher Eduvorhersehbarkeit und Vielfalt unserer cation Nachfahren ein intrinsischer Wert ist. Londoner Magazin, das The„Why fraternity canUnd dass eine moralische Vorstellung men rund um Forschung not be cloned“ („Wader Familie, die ihn widerspiegelt, eng und Lehre an Hochschulen rum Brüderlichkeit zusammenhängt mit den moralischen behandelt. Bekannt ist es vor nicht geklont werden Vorstellungen von Gesellschaft, die allem für sein jährliches Unikann“), Times Higher unserem demokratischen Bestreben versitätsranking. Education, 2. Februzugrunde liegen. ar 1998 - 85 -

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D e r 1 1 . S e p t e m be r

Nach dem 11. September 2001 bestimmt der „Kampf gegen den Terror“ das Handeln der USA. Kriegerische Invasionen in Afghanistan und im Irak folgen, zivile Freiheiten werden im Namen der Sicherheit eingeschränkt. Die Terroristen von Al-Qaida geben sich als islamistische Gotteskrieger zu erkennen, die Krieg gegen die westliche Welt führen. Bedrohungsszenarien, die Philosophen weltweit zu denken geben

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Jacques Derrida Jean Baudrillard

Der Einbruch des Unfassbaren Übersetzung Derrida: Ulrich Müller-Schöll, Baudrillard: Luisa Schulz; Fotos: Robert Giroux/Getty Images; Europeangraduateschool; Gunter Gluecklich/laif

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Denn der auf dieses Datum gerichtete Zeigefinger, der nackte Akt, das minimal Deiktische, die minimalistische Sicht dieser Datierung markiert auch etwas anderes. Was? Ja, dass man vielleicht gar keinen Begriff und gar keine Bedeutung hat, dieses „Etwas“, das gerade eingetreten ist, dieses unterstellte „Ereignis“, anders zu nennen […]: der 11. September eben; man wiederholt dies, und man muss es wiederholen, man muss es um so öfter wiederholen, als man nicht sehr gut weiß, was man damit benennt, so als wollte man zweierlei auf einmal exorzieren: Einerseits möchte man dieses „Etwas“ – die von ihm eingeflößte Furcht und den Schrecken – magisch beschwören (die Wiederholung hat immer die schützende Wirkung, ein Trauma zu neutralisieren, zu lindern, wegzuschieben, und das gilt auch für die Wiederholung der Fernsehbilder, von denen wir noch sprechen werden), andererseits bleibt man diesem Akt der Sprache und dieser Art des Sich-Ausdrückens so nahe wie möglich und leugnet genau dadurch die Unfähigkeit, das fragliche Etwas in angemessener Weise zu benennen, zu charakterisiseren, zu denken – über die einfache Deiktik des Datums hinauszukommen: Etwas Schreckliches hat am 11. September stattgefunden, so ist’s, und im Grunde weiß man nicht, was. […] Was also ist bedroht? Nicht nur eine große Zahl von Kräften, Mächten, von „etwas“, das selbst bei den entschiedensten Gegnern der USA abhängig ist von der Ordnung, die durch diese Supermacht mehr oder weniger gesichert wird; das sind auch (ein noch radikalerer Aspekt – und ich möchte diesen Punkt unterstreichen) das Interpretationssystem, die Axiomatik, die Logik, die Rhetorik und die Begriffe und Bewertungen, die erlauben sollen, dass man so etwas wie den „11. September“ gerade verstehen und erklären kann.

Die moralische Verurteilung, die heilige Allianz gegen den Terrorismus hält sich die Waage mit dem gewaltigen Jubel, der Zerstörung dieser globalen Supermacht zuzusehen, nein noch besser: sie sich selbst zerstören zu sehen, ihren Selbstmord in Schönheit. Denn sie hat durch ihre unerträgliche Macht diese genuine Gewalt vonseiten der Welt geschürt und damit auch diese (unbewusste) terroristische Fantasie, die uns allen innewohnt. […] Dass jeder ohne Ausnahme von diesem Ereignis geträumt hat, weil keiner nicht von der Zerstörung jeder Macht, die so hegemonial geworden ist, träumen könnte, ist für das abendländische Gewissen nicht akzeptabel, aber es ist eine Tatsache, die sich gerade an der pathetischen Inbrunst all jener Reden misst, die sie verdrängen wollen. Sie haben es allenfalls getan, aber wir haben es gewollt. […] Als die beiden Türme einstürzten, hatte man den Eindruck, dass sie auf den Selbstmord der Flugzeuge mit ihrem eigenen Selbstmord antworteten. Es wurde gesagt: „Gott kann sich nicht selbst den Krieg erklären.“ Nun, eben doch. Der Westen anstelle Gottes (im Sinne einer göttlichen Allmacht und absoluter moralischer Legitimität) begeht Selbstmord und erklärt sich selbst den Krieg. […] Es ist im Übrigen wahrscheinlich, dass die Terroristen (wie auch die Experten!) den Einsturz der Zwillingstürme nicht vorausgesehen hatten, der […] der stärkste symbolische Schock war. Der symbolische Einsturz eines gesamten Systems ist durch eine unvorhersehbare Komplizität zustande gekommen, als ob die Türme, indem sie von selbst zusammenstürzten, Selbstmord begingen, selbst ins Spiel eingetreten wären, um das Bild abzurunden.

Interviewausschnitt aus Philosophie in Zeiten des Terrors, Philo Verlag 2004

„L’esprit du terrorisme“ („Der Geist des Terrorismus“), Le Monde, 2. November 2001

Der Selbstmord des Abendlands

Jacques Derrida

Jean Baudrillard

(1930–2004) Französischer Philosoph und Gründungsvater der Dekonstruktion. In seinem Werk Grammatologie (1968) unterzieht er das abendländische Denken einer grundlegenden Kritik und löst dessen zentrale, wertbehaftete Unterscheidungen systematisch auf. Kurz nach den Anschlägen hält er sich in New York auf und wird zu dem Ereignis interviewt.

(1929–2007) Denker des Poststrukturalismus, Ikone der French Theory auf dem Campus amerikanischer Universitäten. In seinem gleichnamigen Werk untersucht er die Konsumgesellschaft (1970). In Amerika (1986) zeichnet er ein scharfsinniges Porträt der USA.

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Philosophie Magazin / Sonderausgabe 01


Richard Rorty Der unendliche Krieg Ein Jahr nach dem 11. September haben sich die USA immer noch nicht mit einigen der schwierigsten Fragen aus dieser Katastrophe auseinandergesetzt. Niemand etwa hat erläutert, wie die Regierung wirksame Sicherheitsmaßnahmen gegen das Einschmuggeln nuklearer oder biochemischer Waffen in Schiffscontainern treffen will. Man ahnt: Die Behörden wissen, dass es gar keine Vorsichtsmaßnahmen gibt, die neue terroristische Angriffe ausschließen oder auch nur wesentlich einschränken könnten. Aber die Behörden werden der Öffentlichkeit kaum sagen, dass der Regierung wenig Besseres eingefallen ist als die Verschärfung der Sicherheitsmaßnahmen auf den Flughäfen. Das mag zwar weitere Flugzeugentführungen verhindern, nur sollte man nicht annehmen, dass Terroristen nur Flugzeuge entführen. Doch Regierungen müssen ihren Bürgern gegenüber eben so tun, als unternähmen sie etwas – irgendetwas, um jene Sicherheit herzustellen, die der Steuerzahler glaubt, mit seinen Steuern erkaufen zu können. Zunächst hat der Einsatz militärischer Macht in Afghanistan den Wunsch der Öffentlichkeit befriedigt, die Regierung solle „etwas tun“. Aber das reichte nicht. Die Steuerzahler müssen glauben, dass die Regierung immer noch etwas tut. Es genügt nicht, eine neue Bürokratie einzurichten, das „Department of Homeland Security“. Also haben wir seit elf Monaten viele kryptische Äußerungen von Präsident Bush und seinen Kabinettsmitgliedern gehört, die allesamt suggerieren, man bereite irgendeine Art von Angriff auf den Irak vor. Allerdings hat die Regierung nie behauptet, der Sturz Saddam Husseins würde die Wahrscheinlichkeit terroristischer Akte wesentlich verringern. […] Es liegt im Interesse der Republikaner sicherzustellen, dass die Nation so lange wie möglich „im Krieg“ bleibt. […] Jede neue Terrorattacke wird die Wiederwahl Bushs 2004 wahrscheinlicher machen, denn sie wird es den Republikanern ermöglichen, alle Formen normaler politischer Opposition als Mangel an Patriotismus zu bezeichnen. In ihrem Interesse liegt die permanente Militarisierung des Staates, wie sie Orwell in 1984 beschrieben hat und wie sie der Titel von Gore Vidals jüngstem Buch andeutet: Ewiger Krieg für den ewigen Frieden. „Der unendliche Krieg“, Süddeutsche Zeitung, 7. September 2002

Richard Rorty (1931–2007) Anfangs Vertreter der sprachanalytischen Schule, wurde er bald zu einem ihrer führenden Kritiker. Politisch an John Dewey orientierter Linkspragmatismus. In seiner einflussreichen Studie Philosophie und der Spiegel der Natur (1979) unterzieht er die Fixierung der modernen Philosophie auf die Erkenntnistheorie einer systematischen Kritik.

1914–2014. Das Jahrhundert im Spiegel seiner großen Denker

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»Die Glücklichen sind neugierig«

WINTERAUSGABE NR. 01 / 2014

Woher kommt das

Böse? ist das radikal Fremde. Es erschüttert unsere Welt, verfallen, kann es dann Doch wenn andere ihm auch mich erfassen?

Pussy Riot < > Slavoj Žižek

Wie stabil ist das System ? Ein Briefwechsel aus

Ein Tag als perfekter

Friedrich Nietzsche

dem Gefängnis

Utilitarist

Auf zu Neuem! Lassen Sie sich vom Philosophie Magazin inspirieren und sammeln Sie Impulse für das ganze Jahr.

seine Peter Singer unterzieht Praxistest umstrittene Ethik dem

g „Selbstverwirklichun orden“ ist zur Zumutung gew i Gespräch mit Rahel Jaegg

TIGES 16-SEI LET BOOK Nr. 13

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