[Sonderausgabe] Das Böse

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MAGAZIN ERSONDA BE G S U A

DAS

BÖSE

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1 17 0

Können wir es verstehen? Warum fasziniert es uns? Wie lässt es sich überwinden?

IMMANUEL KANT „Der Mensch ist von Natur böse“ • HANNAH ARENDT „Schiere Gedankenlosigkeit“ • MARQUIS DE SADE „Gewalt erregt die Sinne“ • Gespräche mit SEBASTIAN FITZEK „Die Realität ist grausamer als die Fiktion“ • SUSAN NEIMAN „Die Anfangsfrage der Philosophie“


Impressum SONDERAUSGABE 11, OKTOBER 2018 Philomagazin Verlag GmbH Brunnenstraße 143, D-10115 Berlin Chefredakteurin Sonderausgabe: Dr. Catherine Newmark* (V.i.S.d.P.) Herausgeberin: Anne-Sophie Moreau Berater: Sven Ortoli Art-Direktorin: Henrike Noetzold* Layoutentwickler: Jean-Patrice Wattinne / L’Éclaireur Bildchefin: Tina Ahrens* Schlussredakteur: Sebastian Guggolz* Lektorin: Christiane Braun* Praktikant: Olaf Schaeffer Kontakt Redaktion: Tel.: +49 (0)30 / 54 90 89-10 E-Mail: redaktion@philomag.de

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Geschäftsführer und Verleger: Fabrice Gerschel Verlagsleiter: Thomas Laschinski (V.i.S.d.P. für Anzeigen) Verlagsassistentin: Maria Kapfer Kontakt Verlag: Tel.: +49 (0)30 / 54 90 89-10 E-Mail: info@philomag.de Vertrieb: DPV Vertriebsservice GmbH Am Sandtorkai 74, 20459 Hamburg www.dpv-vertriebsservice.de Litho: tiff.any GmbH, Berlin Druck: pva, Druck- und Mediendienstleistungen GmbH, Landau in der Pfalz Presse- und Öffentlichkeitsarbeit: Sabine Schaub Tel.: +49 (0)30 / 31 99 83 40 s.schaub@schwindkommunikation.de www.schwindkommunikation.de Anzeigen: • Kultur (Buch/Film etc.), Bil­dung/Seminare/Coaching: PremiumContentMedia Thomas Laschinski Tel.: +49 (0)30 / 60 98 59 30 E-Mail: advertisebooks@laschinski.com • Allgemeine Anzeigen, D/A/CH: MedienQuartier Hamburg Jörn Schmieding-Dieck Tel.: +49 (0)40 / 60 94 41 401 E-Mail: schmieding-dieck@mqhh.de www.medienquartierhamburg.de

In ihrer großen Studie „Das Böse denken“ beschäftigt sich die amerikanische Moralphilosophin mit dem Problem des Bösen in der Geschichte der Philosophie. Im einführenden Interview erklärt sie, warum das Böse die Anfangsfrage der Philosophie ist, wie sich unsere Vorstellungen vom Bösen im Lauf der Zeit verändert haben – und warum uns gegenwärtige Phänomene wie der Klimawandel oder auch Donald Trump vor neue Herausforderungen stellen. Seite 12

JULIAN BAGGINI Der britische Philosoph, Mitbegründer von The Philosopher‘s Magazine, ist Autor einer ganzen Reihe von Werken, die einem breiten Publikum philosophisches Denken nahebringen. Er produziert Beiträge für die BBC und setzt sich auf seiner Website microphilosophy.net wöchentlich mit philosophischen Themen des Alltags auseinander. In diesem Heft entwirft er eine Typologie von zehn unterschiedlichen Arten des Bösen, vom natürlichen bis zum sadistischen Bösen. Seite 34

JULIA SHAW Gerade ist ihr Buch „Böse. Die Psychologie unserer Abgründe“ erschienen. Im Gespräch betrachtet die deutsch-kanadische Rechtspsychologin und Bestsellerautorin das Böse aus psychologischer Perspektive. Was kann die Hirnforschung über das Böse lehren? Gibt es böse Menschen oder nur böse Taten? Hat jeder von uns die Anlage zum Bösen in sich, kann aggressiv, gar sadistisch werden? Und was haben grausame Straftaten mit „Entmenschlichung“ zu tun? Seite 49

SEBASTIAN FITZEK Er ist der erfolgreichste Thrillerautor im deutschsprachigen Raum, in seinen Bestsellern hat er zahllose Bösewichte und grausame Taten ersonnen. Was die Faszination des Bösen in der Fiktion ausmacht, warum so viele Menschen gerne Krimis lesen und was für ihn als Autor der Reiz an bösen Geschichten ist, erzählt er uns in diesem Heft – wenige Tage bevor sein neustes Buch „Der Insasse“ in die Buchhandlungen kommt. Seite 68

JÖRG NOLLER

Abo-/Leser-Service: Tel.: +49 (0)40 / 38 66 66 309 Philosophie Magazin Leserservice PressUp GmbH Postfach 70 13 11, D-22013 Hamburg Fax: +49 (0)40 / 38 66 66 299 E-Mail: philomag@pressup.de

Ob wir das Böse wirklich überwinden können? Der Münchner Philosoph ist skeptisch, denn die Möglichkeit, Gutes oder Böses zu tun, gehört für ihn notwendig zur menschlichen Freiheit dazu. Utopien von Gesellschaften ohne Böses endeten regelmäßig in Zwang und Unfreiheit. Trotzdem ist für ihn klar: Das Böse ist nicht eine selbständige Macht, es braucht immer zuerst eine gute Ordnung, die das Böse dann zu verdrehen sucht. Seite 78

Online-Bestellungen: www.philomag.de Philosophie Magazin am Kiosk finden: www.mykiosk.com

BETTINA STANGNETH

* = Freie Mitarbeit

Philosophie Magazin Sonderausgabe 11

SUSAN NEIMAN

Das Philosophie Magazin ist erhältlich im Bahnhofs- und Flug­hafen­­­buchhandel in Deutschland

Mit ihrer detaillierten Studie „Eichmann vor Jerusalem“, mit der sie nachwies, dass der Nazi-Massenmörder nicht nur ein gedankenloser Bürokrat war, sorgte die Historikerin und Philosophin für internationales Aufsehen. Auch in weiteren philosophischen Essays wie „Böses Denken“ hat sie sich dem Bösen gewidmet. Im Interview erläutert sie, warum die von vielen geteilte Hoffnung, dass Aufklärung und Bildung uns vor Bösem bewahrt, sich oft nicht erfüllt. Seite 95

Fotos: Daniel Hofer/laif; picture alliance / Photoshot; privat; Gene Glover; privat; Maartje Geels

DENKER IM HEFT

Denker


3 4 98

Geschichte des Bösen

„Die Anfangsfrage der Philosophie“ Gespräch mit Susan Neiman

WAS IST DAS BÖSE? ZITATE

Abkehr vom Guten Olaf Schaeffer

Nichts ist von Natur aus schlecht Thomas von Aquin

Fotos: Bence Bakonyi; „AirForce“ von Bara Prasilova; Frieke Janssens; Gabriel Isak

Nur relative Begriffe Baruch de Spinoza

12

16

DAS BÖSE VERSTEHEN 40

Ein natürlicher Hang zum Bösen Immanuel Kant Die furchtbare Banalität Martin Legros Das Auslöschen der Urteilskraft Wolfram Eilenberger Zehn Figuren des Bösen Julian Baggini

68

Faszinierende Bösewichte Dominik Erhard

70

ZITATE

42

Prüfung Gottes Hiob

44

Mittel zum Zweck Gottfried Wilhelm Leibniz

45

Gar nichts ist gut! Voltaire

46

ZITATE

Revolte und Unterwerfung Paul Ricœur

48

„Eine Schattenfalte unserer Freiheit“ Gespräch mit Jörg Noller 78

„In jedem von uns steckt Sadismus“ Gespräch mit Julia Shaw

49

Der Teufel hat wenig Zeit Hans Blumenberg

81

Ein primär feindseliges Wesen Sigmund Freud

53

Den Teufel austreiben Olaf Schaeffer

82

Erlösung durch Unmündigkeit Fjodor Dostojewskij

84

Das Glück der Unfreien Michel Eltchaninoff

85

18

DAS BÖSE ÜBERWINDEN 74 76

21 20

Das vermeintlich Gute, das Böses schafft Nils Markwardt 54 23

24

Eine Welt ohne Krieg? Albert Einstein / Sigmund Freud 86

Eine universelle Wirklichkeit Friedrich Wilhelm Joseph Schelling 25 Das menschliche Herz ist rein Jean-Jacques Rousseau

„Ein Ventil für Ängste“ Gespräch mit Sebastian Fitzek 6

Niemand will das Schlechte Platon 20 Der Reiz der Sünde Aurelius Augustinus

67

5

Chronologien

Perversion der Aufklärung Svenja Flaßpöhler

26

DAS BÖSE LIEBEN 56

27

ZITATE

28

„Töten ist nicht leicht“ Gespräch mit Françoise Sironi

33

Linderung der inneren Qual Arthur Schopenhauer

34

Gewalt erregt die Sinne Marquis de Sade

Das Gute ist dumm Friedrich Nietzsche

88

Wie verzeihen? Paul Ricœur

90

58 „Vergebung lässt sich nicht erzwingen“ Gespräch mit Michaël Fœssel 92 60

Verlust der Denkfähigkeit Hannah Arendt

94

„Denken ist das gefährlichste Werkzeug von allen“ Gespräch mit Bettina Stangneth

95

64

65

Philosophie Magazin Sonderausgabe 11

Editorial Impressum / Denker Literatur

INHALT

Inhalt


DAS BÖSE

IDEENGESCHICHTE 9. – 1. JH. v. CHR. Entstehung der hebräischen Bibel, die das Böse in heute einflussreichen Geschichten verhandelt: der Brudermord von Kain an Abel in

„Genesis“ etwa, oder das Buch „Hiob“, das die Frage der Theodizee, also nach der Gerechtigkeit, Güte und Macht Gottes angesichts des Leidens in der Welt, stellt

DAS BÖSE IN DER KULTUR UM 700 v. CHR.

431 v. CHR.

In seiner „Theogonie“ erzählt Hesiod den Mythos der Pandora, die er als „schönes Übel“ beschreibt

Euripides’ Tragödie „Medea“ erzählt die Geschichte einer Königstochter, die von ihrem Mann verstoßen wird und sich grausam rächt, indem sie unter anderem ihre eigenen Kinder tötet

753 v. CHR.

6

Einer von Titus Livius überlieferten Legende nach tötet Romulus seinen Bruder Remus vor der Gründung Roms

ZWISCHEN 400 UND 350 v. CHR.

216 – 276/277 n. CHR.

In seinem Dialog „Menon“ vertritt Platon, dass jeder Mensch nach seiner Vorstellung des Guten handle und niemand willentlich Schlechtes tue

Lebenszeit des persischen Religionsstifters Mani (Manichaios), des Begründers des Manichäismus, einer synkretistischen Religion, die sich in den folgenden

Jahrhunderten bis nach China ausbreiten sollte. Der Manichäismus versteht das Gute und das Böse als zwei eigenständige Prinzipien, die sich im ständigen Kampf miteinander befinden

383 Der spätere Kirchenvater Augustinus von Hippo, in seiner Jugend noch Anhänger des Manichäismus, trifft in Karthago auf den Manichäer Faustus von Mileve und ist von ihm dermaßen enttäuscht,

Geschichte des Bösen Kriege, Massaker, Völkermorde, aber auch Naturkatastrophen und entsetzliche Krankheitsepidemien – das Böse prägt die Geschichte der Menschheit. Philosophie und Kunst reagieren darauf, versuchen zu erklären und lassen sich davon ebenso abschrecken wie faszinieren – von den frühesten Mythen bis zum zeitgenössischen Film Eugène Delacroix, „Medea“ (1862), Palais des Beaux-Arts, Lille

Philosophie Magazin Sonderausgabe 11

v.  CHR.

1. JAHRHUNDERT

11. JAHRHUNDERT

12. JAHRHUNDERT

404/403 v. CHR.

37 – 41 n. CHR.

1095

In Athen regiert der Terror der „Herrschaft der Dreißig“, die ihre Gegner ohne vorhergehendes Urteil hinrichten lässt

In Rom regiert der für seinen Größenwahn und seine Grausamkeit berüchtigte Kaiser Caligula

Papst Urban II. ruft zum „Kreuzzug“ in den Nahen Osten auf, um das „Heilige Land“ zurückzuerobern. In den folgenden zwei Jahrhunderten fordern Kriegshandlungen und Plünderungen der Kreuzzügler zahl­ reiche Opfer, nicht nur in der muslimischen Bevölkerung im Heiligen Land, sondern auch in der christlichen auf dem Weg dahin

ENDE DES 12. JAHRHUNDERTS

JULI 64 n. CHR. Großer Brand Roms, der allgemein dem Kaiser Nero zuge­schrieben wird

Die katholische Kirche ruft die Inquisition zur Bekämpfung der Häresie ins Leben. Verdächtigte ­werden oftmals unter Folter zum Geständnis gezwungen. Die Institution überdauert bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts

Fotos: Heritage Images / Fine Art Images / akg-images; picture-alliance / The Holbarn Archive / Leemage

GESELLSCHAFTLICHE UND POLITISCHE EREIGNISSE


1274

1532

1651

Avicenna schreibt „Das Buch von der Genesung der Seele“, in dem er das Böse als „mit Nicht-Sein behaftet“ beschreibt

Thomas von Aquin vollendet seine „Summe der Theologie“. Darin argumentiert er, dass es kein höchstes Böses gibt, Gott nicht die Ursache des Bösen ist und das Böse als Mangel an Gutem aufzufassen ist

Niccolò Machiavellis „Der Fürst“ wird posthum veröffentlicht. Der italienische Staatsmann und Philosoph behauptet darin, dass derjenige, der Macht hat, Gewalt und Grau­samkeit anwenden muss

Im „Leviathan“ entwickelt Thomas Hobbes die Idee eines chaotischen Naturzustandes, in welchem sich die Menschen im ständigen Kampf miteinander befinden

1440

1476

1597

Der französische Heerführer Gilles de Rais wird für Häresie, Sodomie und die Ermordung von 140 Kindern verurteilt und in Nantes hingerichtet. Er gilt als Vorbild für das Märchen „Der Blaubart“

Tod des slawischen Herrschers Vlad III. Draculea, dem Pfähler, Prinz der Walachei und besonders grausamer Herrscher, der Bram Stoker zu seinem Roman „Dracula“ (1897) inspirierte

William Shakespeares „Richard III.“ erzählt von der Machtübernahme des körperlich entstellten Königs, der seinen Bruder und seine Neffen ermordet, um seine Ziele zu erreichen

1664 – 1665 Spinoza wehrt sich im Brief­wechsel mit dem Calvinisten Blyenbergh gegen den Vorwurf, dass er in seiner Metaphysik die Willensfreiheit, das Böse und die Moral abge­ schafft habe

DAS BÖSE

1014 – 1020

7

dass er sich endgültig vom Manichäismus abwendet. Wenig später beschreibt er in „Über den freien Willen“ das Böse nur noch als ein Versagen und eine Abkehr vom Guten

Der Franziskaner Bernard Délicieux (ca. 1260 – 1319) vor einem Inquisitionstribunal. Gemälde von Jean-Paul Laurens (um 1881), Ermitage, St. Petersburg

Festnahme einer vermeintlichen Hexe in Salem in Amerika im 17. Jahrhundert. Stich von J. Bernstrom, 1883

13. JAHRHUNDERT

14. JAHRHUNDERT

15. JAHRHUNDERT

16. JAHRHUNDERT

17. JAHRHUNDERT

1227

14. FEBRUAR 1349

1492

1572

1618

1692 – 1693

Christoph Kolumbus landet in Amerika, was in der Folge zum direkten und indirekten Massenmord an einem Großteil der amerikanischen Ureinwohner führt

Bartholomäusnacht, auch bekannt als „Pariser Bluthochzeit“: In der Nacht nach der Hochzeit des protestantischen Heinrich von Navarra (dem späteren Heinrich VIII.) mit der Prinzessin Margarete von Valois werden auf Betreiben von Mutter und Bruder der Braut – Katharina von Medici und Karl IX. – Tausende von Hugenotten in Paris ermordet

Beginn des Dreißigjährigen Krieges: Der „europäische Bürgerkrieg“ forderte mehr als vier Millionen Todesopfer – sowohl durch Kampfhandlungen als auch durch aus dem Konflikt resultierende Hungersnöte. Manche Gegenden Deutschlands verlieren bis zu 80 Prozent ihrer Bevölkerung

Hexenprozesse von Salem. Mehr als 200 Personen, meist Frauen, werden der Hexerei beschuldigt, viele werden gefoltert, 20 hin­ gerichtet

Tod des mongolischen Herrschers Dschingis Khan; er hinterlässt durch seine brutale militärische Expansion ein Reich, das sich von China bis nach Osteuropa erstreckt

Dem Judenpogrom in Straßburg fallen mehr als 2000 jüdische Bürger zum Opfer. Weitere Pogrome werden im gleichen Jahr unter anderem in Basel, Freiburg und Erfurt begangen

1347 Beginn der Pest­­­ epidemie in Europa; der „Schwarze Tod“ wird in den folgenden Jahr­ hunderten Millionen von Todesopfern fordern

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Fotos: akg-images / Fine Art Images; picture-alliance/Mary Evans Picture Library

1438, Entdeckung der Skelette von Opfern Gilles de Rais’


DAS BÖSE

„Die

Anfangsfrage der Philosophie“

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Viele sehen im Staunen und in der Frage, wie wir überhaupt etwas wissen können, den Anfang der Philosophie. Susan Neiman hält dagegen, dass über weite Teile der Philosophiegeschichte die Frage, warum es Leid, Unrecht und Böses auf der Welt gibt, weit elementarer war – und es auch bis heute bleibt

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GESPRÄCH MIT SUSAN NEIMAN Von Catherine Newmark

Welche Bedeutung kommt dem Bösen in der Philo­so­phie­zu? SUSAN NEIMAN › Ich bin der Meinung, dass das Problem des Bösen historisch gesehen im Zentrum der Philosophie steht. In den letzten hundert Jahren ist es ja üblich geworden, die Grund- und Leitfrage der Philosophie im Erkenntnisproblem zu sehen, also der Frage: „Woher wissen wir eigentlich überhaupt etwas?“, und folglich sieht man auch auf die Philosophiegeschichte durch diese Brille und interessiert sich vor allem für die Erkenntnistheorien. Aber historisch gesehen stand das Problem des Erkennens nicht immer im Zentrum der Philosophie. Ethik und Sinnfragen waren viel wichtiger. Und mindestens bis ins späte 19. Jahrhundert ist klar, dass hier wiederum das Problem des Bösen eigentlich das entscheidende ist. Die Frage, warum es Leiden, Unrecht, Böses auf der Welt gibt, wird schon in der Bibel, im Buch Hiob, gestellt, aber sie ist keine rein religiöse Frage, sondern eine ganz elementare der menschlichen Existenz. Und genau in diesem Sinn wird sie auch in der Philosophie traditionell verhandelt. Wie genau? › Solange man allgemein an einen Gott glaubt, wird das Problem des Bösen so formuliert: Wenn es einen Gott gibt, der allwissend, all-

mächtig und allgütig ist und die Welt regiert, wie kann es dann Böses geben? Das ist die klassische Formulierung des sogenannten Theodizee-Problems. Es ist klar, dass hier ein Widerspruch vorliegt. Man muss entweder eine der Prämissen aufgeben – etwa Gottes Allmacht –, oder man muss das Böse wegdefinieren aus der Welt. Beispielsweise indem man sagt, es trage zur Harmonie und Perfektion der Welt bei, stehe also letztlich im Dienst des Guten, womit es wiederum fast schon gar nicht mehr böse ist. Das ist der Weg, den Leibniz geht. Oder, interessanterweise, auch Hegel, der sagt, dass alles, was uns böse erscheint, notwendig für den Lauf der Geschichte ist. Wir sind zu klein und unwissend, um es direkt zu verstehen, aber letztlich dient es einem höheren Zweck, dem notwendigen Fortschreiten der Geschichte, die sich ja unaufhaltsam in Richtung Gutes bewegt. Bei Hegel ist das überhaupt nicht mehr an die Gottesfrage gebunden. Hegel hat aber selber gesagt, dass seine Philosophie eine moderne Form der leibnizschen Theodizee ist. Er zeigt jedenfalls sehr schön, dass die Frage nach der Rechtfertigung des Bösen in der Welt keine theologische ist. Es geht darum, ob wir Sinn finden können in einer Welt, die, so wie wir sie kennen, voller böser Tatsachen ist. Das ist wirklich eine Anfangsfrage der Philosophie – eine grundlegende Triebkraft philosophischen Fragens. Ich finde, Schopenhauer hat


DAS BÖSE Wie definiert die Philosophie denn das Böse? › Das Böse ist ausgesprochen schwer zu definieren. Jeder Versuch, den ich kenne, dem Bösen eine Definition zu geben, ist entweder so schwammig, dass er eigentlich nichts sagt, oder so spezifisch, dass er die Hälfte der Phänomene vergisst. Klassischerweise gibt es zwei alternative Tendenzen der Definition: Man kann das Böse zum einen als etwas Essenzielles, einen wesentlichen Gegenpol zum Guten fassen, wie es die Manichäer taten, die vom ewigen Kampf zwischen Gut und Böse beziehungsweise Gott und Teufel sprachen. Oder aber man sieht es nicht als eigenständige Kraft, sondern lediglich als Absenz des Guten, als Mangel oder „Privation“, wie es etwa Augustinus oder

SUSAN NEIMAN * 1955

Die US-amerikanische Philosophin ist nach Professuren in Yale und in Tel Aviv seit 2000 Direktorin des Einstein Forums in Potsdam. Zum Bösen hat sie „Das Böse denken: Eine andere Geschichte der Philosophie“ (Suhrkamp, 2004) verfasst; weitere Veröffentlichungen u. a. „Moralische Klarheit. Leitfaden für erwachsene Idealisten“ (Hamburger Edition, 2010), „Warum erwachsen werden? Eine philosophische Ermutigung“ (Hanser, 2015) und zuletzt „Widerstand der Vernunft. Ein Manifest in postfaktischen Zeiten“ (Ecowin, 2017)

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Foto: Daniel Hofer/laif

Aber in der Philosophie ist die Frage nicht immer gleichermaßen präsent, oder? › Ab Ende des 19. Jahrhunderts verschwindet sie langsam aus der Philosophie, und man versteht sie nur noch als religiöse, als theologische Frage. Zumindest bis 1945 … Nach dem Holocaust haben einige Philosophen wieder über das Böse nachgedacht. Hannah Arendt etwa, mit ihrer These von der „Banalität“ des Bösen. Aber auch die Theodizee-Frage wird wieder eindringlich gestellt: Wie konnte Gott das zulassen? Hans Jonas etwa hat in „Der Gottesbegriff nach ­Auschwitz“ geschrieben, dass Gott der Allmächtige seine Macht aus der Welt zurückgezogen hat.

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durchaus recht, wenn er sagt, dass wir nicht darauf kommen würden zu fragen, warum es eine Welt gibt oder was der Sinn der Welt ist, wenn alles in Ordnung wäre. Die Frage nach dem Bösen und dem Unrecht ist elementar, kleine Kinder stellen sie, wenn sie zum ersten Mal ein kleines Unrecht erleben – und es ist eine Frage, die uns unser Leben lang begleitet.


Das menschliche Herz ist rein 1762 veröffentlicht Rousseau seinen Bildungsroman „Émile“, in dem er sich gegen die christliche Religion wendet. Das Buch wird daraufhin durch das französische Parlament verboten. In seinem Brief an den Erzbischof von Paris, Christophe de Beaumont, verteidigt der Philosoph sein Anliegen. Er erklärt, der Mensch sei von Natur gut; erst wenn sein Selbsterhaltungsinstinkt durch die Zivilisation zur egoistischen Eigenliebe werde, entdecke er das Böse

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D

er Hauptgrundsatz aller Moral, den ich in meinen Schriften befolgt und besonders in diesem letzten Werke ganz auseinandergesetzt habe, lautet, daß der Mensch von Natur gut ist und die Gerechtigkeit und die Ordnung liebt, daß das menschliche Herz von Natur nicht verdorben ist und daß die ersten Regungen der Natur immer gut sind. Ich habe gezeigt, daß die einzige Leidenschaft, welche mit dem Menschen geboren wird, die Selbstliebe, an sich selbst in Rücksicht des Guten und Bösen gleichgültig ist, daß sie bloß durch Zufälle und die Umstände, in welchen sie sich entwickelt, gut oder böse wird. Ich habe gezeigt, daß alle Laster, welche man dem menschlichen Herzen zu­schreibt, ihm nicht natürlich sind, ich habe ihre Entstehungsart gezeigt und sozusagen ihre Genealogie geschrieben und endlich habe ich gezeigt, wie durch ihre allmähliche Veränderung seiner natürlichen Güte der Mensch das geworden ist, was er jetzt ist. Ich habe auch noch erklärt, was ich unter dieser ursprünglichen Güte verstehe, welche sich von der natürlichen Gleichgültigkeit gegen das Gute und Böse, die der Selbstliebe natürlich ist, nicht herleiten läßt. Der Mensch ist kein einfaches Wesen, er besteht aus zwei Substanzen. Wenn auch nicht jeder diesen Satz zugibt, so geben wir, Sie und ich, ihn doch zu, und ich habe mich bemüht, ihn den anderen zu beweisen. Dieses zugegeben, bleibt die Selbstliebe keine einfache Leidenschaft, sondern sie hat zwei Gründe, das verständige und das empfindsame Wesen, deren Wohlsein sehr verschieden ist. Der sinnliche Trieb strebt nach dem Wohlsein des Körpers, und die Liebe zur Ordnung nach dem Wohl der Seele. Letzterer Trieb, wenn er entwickelt ist und tätig wird, erhält den Namen Gewissen, allein das Gewissen entwickelt sich und wird nicht eher tätig als mit den Einsichten des Menschen. Nur durch diese Einsichten gelangt er zur Erkenntnis der Ordnung, und nur wenn er diese erkennt, bringt ihn sein Gewissen dahin, sie zu lieben. Der

„Der Haupt­ grundsatz aller Moral lautet, daß der Mensch von Natur gut ist und die Gerech­ tigkeit und die Ordnung liebt“ Mensch, der noch keinen Vergleich angestellt hat und keine Verhältnisse kennt, hat also noch kein Gewissen. In diesem Zustand kennt der Mensch niemanden als sich selbst, sieht sein Wohlsein dem Wohlsein irgendeines anderen weder entgegengesetzt, noch damit übereinstimmend, er haßt und liebt nichts, und auf den bloßen physischen Trieb eingeschränkt ist er nichts, ist er ein Tier. Dies habe ich in meiner „Abhandlung über die Ungleichheit“ bewiesen. Sobald vermöge einer Entwicklung, deren Fortschreiten ich gezeigt habe, die Menschen anfangen, ihre Augen auf ihresgleichen zu werfen, so fangen sie auch an, ihre Verhältnisse und die der Dinge zu sehen und erhalten Begriffe von Schicklichkeit, Gerechtigkeit und Ordnung, sie fangen an, das moralisch Gute

zu empfinden, und alsdann wirkt das Gewissen. Dann besitzen sie Tugenden, und wenn sie auch Laster haben, so geschieht es, weil ihre Interessen sich kreuzen und ihr Ehrgeiz in dem Maße erwacht, in dem ihre Einsichten sich ausbreiten. Solange es aber weniger entgegengesetzte Interessen als übereinstimmende Einsichten gibt, sind die Menschen wesentlich gut. Dies ist der zweite Zustand. Wenn endlich alle besonderen Interessen sich aneinander stoßen, wenn die zur Gärung gebrachte Selbstliebe zur Eigenliebe wird, wenn die allgemeine Meinung die Welt jedem nötig macht und jeder ein geborener Feind des anderen wird und sein Wohl nur in dem Schaden des anderen findet, dann wird das Gewissen von den überspannten Leidenschaften erstickt und bleibt im Munde der Menschen ein bloßes Wort, um sich gegenseitig zu hintergehen. Jeder stellt sich dann, als ob er sein Interesse dem allgemeinen aufopfern wollte, und alle lügen. Keiner will das allgemeine Beste, außer, wenn es mit dem seinigen übereinstimmt, und diese Übereinstimmung ist auch das Ziel des wahren Politikers, welcher das Volk gut und glücklich zu machen sucht. (…) Dies, Monseigneur, ist der dritte und letzte Zustand, über den hinaus weiter nichts zu tun übrig bleibt, und so werden die Menschen böse, während der Mensch gut war.

Jean-Jacques Rousseau: „Brief an Christophe de Beaumont“, in: „Schriften. Band 1“, a. d. Frz. u. hrsg. v. Henning Ritter, Frankfurt a. M.: Fischer TB, 1978, S. 508 – 510

JEAN-JACQUES ROUSSEAU 1712 – 1778

Er ist einer der einflussreichsten Denker der französischen Aufklärung, dessen Ideen als wegbereitend für die Französische Revolution gelten und auch auf Immanuel Kant starken Einfluss ausübten. Seine Vorstellung von einem unverdorbenen „Naturzustand“ des Menschen entwickelt er vor allem in seiner Schrift „Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen“ (1755)

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WAS IST DAS BÖSE?

JEAN-JACQUES ROUSSEAU


Foto: akg-images / Science Source

D

er Satz: der Mensch ist böse, kann nach dem Obigen nichts anders sagen wollen, als: er ist sich des moralischen Gesetzes bewußt, und hat doch die (gelegenheitliche) Abweichung von demselben in seine Maxime aufgenommen. Er ist von Natur böse, heißt so viel, als: dieses gilt von ihm in seiner Gattung betrachtet; nicht als ob solche Qualität aus seinem Gattungsbegriffe (dem eines Menschen überhaupt) könne gefolgert werden (denn alsdann wäre sie notwendig), sondern er kann nach dem, wie man ihn durch Erfahrung kennt, nicht anders beurteilt werden, oder man kann es, als subjektiv notwendig, in jedem, auch dem besten, Menschen voraussetzen. Da dieser Hang nun selbst als moralisch böse, mithin nicht als Naturanlage, sondern als etwas, was dem Menschen zugerechnet werden kann, betrachtet werden, folglich in gesetzwidrigen Maximen der Willkür bestehen muß; diese aber, der Freiheit wegen, für sich als zufällig angesehen werden müssen, welches mit der Allgemeinheit dieses Bösen sich wiederum nicht zusammen reimen will, wenn nicht der subjektive oberste Grund aller Maximen mit der Mensch­heit selbst, es sei, wo durch es wolle, verwebt und darin gleichsam gewurzelt ist: so werden wir diesen einen natürlichen Hang zum Bösen, und, da er doch immer selbstverschuldet sein muß, ihn selbst ein radikales, angebornes (nichts destoweniger aber uns von uns selbst zugezogenes) Böse in der menschlichen Natur nennen können. (…) Der Mensch (selbst der ärgste) tut, in welchen Maximen es auch sei, auf das moralische Gesetz nicht gleichsam rebellischerweise (mit Aufkündigung des Gehorsams) Verzicht. Dieses dringt sich ihm vielmehr, kraft seiner moralischen Anlage, unwiderstehlich auf; und wenn keine andere Triebfeder dagegen

wirkte, so würde er es auch als hinreichenden Bestimmungsgrund der Willkür in seine oberste Maxime aufnehmen, d. i. er würde moralisch gut sein. Er hängt aber doch auch, vermöge seiner gleichfalls schuldlosen Naturanlage, an den Triebfedern der Sinnlichkeit, und nimmt sie (nach dem subjektiven Prinzip der Selbstliebe) auch in seine Maxime auf. Wenn er diese aber, als für sich allein hinreichend zur Bestimmung der Willkür, in seine Maxime aufnähme, ohne sich ans moralische Gesetz (welches er doch in sich hat) zu kehren: so würde er moralisch böse sein. (…) Wenn nun ein Hang dazu in der menschlichen Natur liegt, so ist im Menschen ein natürlicher Hang zum Bösen; und dieser Hang selber, weil er am Ende doch in einer freien Willkür gesucht werden muß, mithin zugerechnet werden kann, ist moralisch böse. Dieses Böse ist radikal, weil es den Grund aller Maximen verdirbt; zugleich auch, als natürlicher Hang, durch menschliche Kräfte nicht zu vertilgen, weil dieses nur durch gute Maximen geschehen könnte, welches, wenn der oberste subjektive Grund aller Maximen als verderbt vorausgesetzt

IMMANUEL KANT 1724 – 1804

Der preußische Spät­ aufklärer veröffentlicht 1781 die „Kritik der reinen Vernunft“, ein Werk, das mit seiner Neubestimmung der Grenzen unserer Erkenntnismöglichkeiten und seiner Absage an die Metaphysik einen Umbruch in der Philosophiegeschichte markiert. In „Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ (1793) beschäftigt sich Kant ausführlich mit der Frage nach dem Bösen

wird, nicht statt finden kann; gleichwohl aber muß er zu überwiegen möglich sein, weil er in dem Menschen als frei handelndem Wesen angetroffen wird. Die Bösartigkeit der menschlichen Natur ist also nicht sowohl Bosheit, wenn man dieses Wort in strenger Bedeutung nimmt, nämlich als eine Gesinnung (subjektives Prinzip der Maximen), das Böse als Böses zur Triebfeder in seine Maxime aufzunehmen (denn die ist teuflisch); sondern vielmehr Verkehrtheit des Herzens, welches nun, der Folge wegen, auch ein böses Herz heißt, zu nennen. Dieses kann mit einem, im allgemeinen guten Willen zusammen bestehen; und entspringt aus der Gebrechlichkeit der menschlichen Natur, zu Befolgung seiner genommenen Grundsätze nicht stark genug zu sein, mit der Unlauterkeit verbunden, die Triebfedern (selbst gut beabsichtigter Handlungen) nicht nach moralischer Richtschnur von einander abzusondern, und daher zuletzt, wenn es hoch kömmt, nur auf die Gemäßheit derselben mit dem Gesetz, und nicht auf die Ableitung von demselben, d. i. auf dieses, als die alleinige Triebfeder zu sehen. Wenn hieraus nun gleich nicht eben immer eine gesetzwidrige Handlung und ein Hang dazu, d. i. das Laster, entspringt: so ist die Denkungsart, sich die Abwesenheit desselben schon für Angemessenheit der Gesinnung zum Gesetze der Pflicht (für Tugend) auszulegen (da hiebei auf die Triebfeder in der Maxime gar nicht, sondern nur auf die Befolgung des Gesetzes dem Buchstaben nach, gesehen wird), selbst schon eine radikale Verkehrtheit im menschlichen Herzen zu nennen.

Immanuel Kant: „Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“, in: „Werkausgabe VIII. Die Metaphysik der Sitten“, hrsg. v. Wilhelm Weischedel, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2009, S. 680, 684 – 686

WAS IST DAS BÖSE?

Kant nennt den Menschen von Natur oder „radikal“ böse. Damit meint der große Spätaufklärer freilich keine grundlegende Verderbtheit des Menschengeschlechts, sondern schlicht die Tatsache, dass tief in der menschlichen Natur die Möglichkeit zum Bösen verwurzelt ist – eine Möglichkeit, die dem moralischen Gesetz zuwiderläuft und mit ihm in Konflikt geraten kann

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Ein natürlicher Hang zum Bösen

Philosophie Magazin Sonderausgabe 11

IMMANUEL KANT


WAS IST DAS BÖSE?

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Die

furchtbare Banalität Bezeichnete Hannah Arendt die Schoah zunächst als „das radikal Böse“, so zog sie unter dem Eindruck des Eichmann-Prozesses später die Rede von der „Banalität des Bösen“ vor – eine bis heute umstrittene Formel. Doch ob radikal oder banal, das Böse hängt mit Oberflächlichkeit zusammen, und das einzige Gegenmittel, das uns zur Verfügung steht, ist das reflexive Denken

Foto: akg-images / Heritage-Images / Jewish Chronicle Archive

Philosophie Magazin Sonderausgabe 11

MARTIN LEGROS


WAS IST DAS BÖSE?

Hannah Arendt, 1969

beutung in Unternehmen bis zu Konflikten in der Familie. Versuchen wir aber, statt solchen Banalisierungen zu folgen, Arendts Gedanken nachzuvollziehen und zu sehen, ob sie nicht vielleicht ein allgemeineres Phänomen getroffen hat – eines, das erklären könnte, warum ihr Denken trotz aller Kritik ein solches Echo gefunden hat.

Was Arendt anfänglich dazu bewegt, von einem „radikal Bösen“ zu sprechen, sind die Vorgänge in den Konzentrations- und Vernichtungslagern. Die Lager sind für Arendt „die konsequenteste Institution totaler Herrschaft“ („Elemente und Ursprünge“, S. 912). Eben hier wird der für die totalitäre Ideologie zentrale Glaube, dass „alles möglich ist“, zum Gegenstand eines Experiments im strengen Sinne: Die Installierung einer totalen Herrschaft soll demonstrieren, dass man den Menschen in einen „lebenden Leichnam“ verwandeln und seine Selbstbestimmung vollständig vernichten kann. Außerhalb der Lager, in der „normalen“ Gesellschaft, stößt die totale Herrschaft zwangsläufig auf vielfältige Widerstände. Doch hier, in diesen Freiluftlaboren, in denen die Natur des Menschen traktiert wird, kann sie ihr Wesen voll entfalten. Arendt zeichnet Schritt für Schritt den Prozess nach, durch den die Opfer zunächst als Rechtspersonen ausgelöscht werden, indem man ihnen jeglichen juristischen Status entzieht, sodann als moralische Personen, indem man jede Spur ihrer Existenz verwischt, und schließlich als Individuen: Man macht sie zu „unheimlichen, weil mit wirklichen, menschlichen Gesichtern ausgestatteten Marionetten, die sich alle benehmen wie der pawlowsche Hund, die alle bis in den Tod vollkommen verlässig reagieren und nur reagieren“ (S. 935). Zweck des Unternehmens ist somit die „Ertötung der Spontaneität, der Fähigkeit des Menschen, von sich aus etwas Neues zu beginnen“ (ebd.), es geht darum, die „Überflüssigkeit des Menschen“ (S. 938) zu demonstrieren. Das gesamte Unternehmen folgt einem „Suprasinn“ (S. 939), nämlich dem der Ideologie, deren Wahrheitsgehalt, das heißt: Realität, die totale Herrschaft zu beweisen trachtet: Für sie ist „nichts ‚logischer‘ (…), als dass man ‚absterbende‘ Klassen oder parasitäre Rassen oder dekadente Völker eben auch wirklich zum Absterben bringt“ (S. 938). Arendt zufolge treibt die Vollstrecker dieses beispiellosen Verbrechens gleichwohl keinerlei persönlicher Hass auf ihre Opfer an. Sie weist wiederholt darauf hin, wie die Vernichtung systematische Züge

»Das unverzeihliche radikal Böse kann man weder verstehen noch erklären durch die bösen Motive von Eigennutz, Habgier, Neid, Machtgier, Ressentiment, Feigheit«

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DIE FRAGE DER URSPRÜNGE

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as Problem des Bösen wird die grundlegende Frage des Geisteslebens in Nachkriegseuropa sein“, schrieb Hannah Arendt 1945. Zur Emigration aus Nazideutschland gezwungen, hatte sie Zuflucht in den Vereinigten Staaten gefunden, wo sie an ihrem Hauptwerk „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ arbeitete, um zu verstehen, was geschehen war. Gegen Ende des 1951 veröffentlichten Buches heißt es: „in ihrem Bestreben, unter Beweis zu stellen, dass alles möglich ist, hat die totale Herrschaft, ohne es eigentlich zu wollen, entdeckt, dass es ein radikal Böses wirklich gibt und dass es in dem besteht, was Menschen weder bestrafen noch vergeben können. Als das Unmögliche möglich wurde, stellte sich heraus, dass es identisch ist mit dem unbestrafbaren, unverzeihlichen radikal Bösen, das man weder verstehen noch erklären kann durch die bösen Motive von Eigennutz, Habgier, Neid, Machtgier, Ressentiment, Feigheit (…); dies konnte kein Zorn rächen, keine Liebe ertragen, keine Freundschaft verzeihen“ (S. 941). Dieses „absolute“, sowohl unbestrafbare wie unverzeihliche und nicht auf gewöhnliche Kategorien wie Boshaftigkeit oder Machtgier zurückzuführende Böse nennt Arendt in den 1950er-Jahren – unter Rückgriff auf Immanuel Kant – ein „radikal Böses“. Warum „radikal“? Weil es darauf zielt, die Wurzel selbst der menschlichen Freiheit auszulöschen. Im Zuge ihrer Reflexionen und unter dem Eindruck des Eichmann-Prozesses, den sie 1961 beobachtet, geht sie jedoch zu einer neuen Bezeichnung über, um das zu erfassen, was sich an dem Cheflogistiker des Holocaust allen uns bekannten Normen entzieht. Henker wie Eichmann haben grauenvolle Verbrechen begangen, aber für Arendt sind sie keine teuflischen, von sadistischen Neigungen getriebenen Monster, sondern Menschen ohne jede Tiefe, oberflächlich und gehorsam: „Die Taten waren ungeheuerlich, doch der Täter – zumindest jene einst höchst aktive Person, die jetzt vor Gericht stand – war ganz gewöhnlich und durchschnittlich“ („Vom Leben des Geistes“, S. 14). Damit löst sie eine bis heute nicht endende polemische Kontroverse aus. Arendt ist eine der Ersten, die die Ausmaße des Genozids ernst nimmt, aber trotzdem wird ihr vorgeworfen, eben diesen Genozid banalisiert und dabei einem neuen Klischee den Weg gebahnt zu haben: dem des beflissenen Bürokraten, der bereit ist, Böses zu tun, um seinen Gehorsam gegenüber der Autorität unter Beweis zu stellen – ein Klischee, das seitdem dazu gedient hat, alle möglichen Formen von Unterdrückung anzuprangern, von der Aus-


WAS IST DAS BÖSE?

JULIAN BAGGINI

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Figuren des Bösen

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Vom natürlichen bis zum perversen Bösen – das Übel tritt in vielfältigen Formen auf. Und wir tun gut daran, den seltensten Fall, den Sadismus, nicht zum Inbegriff des Bösen zu machen

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er Begriff des Bösen“, schrieb Robert Wright in „The Moral Animal“, „passt nicht so recht in ein modernes wissenschaftliches Weltbild.“ Und der norwegische Philosoph Lars Svendsen merkt an, das Böse gelte heute weithin als „Restbestand einer mythischen, christlichen Weltsicht, deren Zeit eigentlich vorbei ist“. Doch nicht nur wissenschaftlich, auch moralisch ist das Böse eine problematische Kategorie. Die Neurowissenschaftlerin Kathleen Taylor, die umfangreiche Studien zur menschlichen Grausamkeit angestellt hat, argumentiert, Menschen als „böse“ zu bezeichnen, sei eine Form des Othering, bei der wir Aspekte von uns selbst, die uns missfallen, auf andere Menschen oder Gruppen übertragen, um uns einbilden zu können, dass wir davon frei seien. Wenn wir das Böse für das Andere halten, folgt daraus, dass wir selbst gut sein müssen – und so werden wir blind für unsere eigenen moralischen Mängel. Darin hallt Nietzsches These wider, der Begriff des Bösen sei erfunden worden, damit die Jämmerlichen, die ein schlechtes, erbärmliches Leben führen, sich selbst für die Guten und im Gegenzug die Begünstigten, Gesunden und Vitalen für „ungesegnet, verflucht, verdammt“ halten könnten. Dennoch ist es weder realistisch noch erstrebenswert, den Begriff des Bösen abzuschaffen. Die Menschheit hat immer eine besondere Kategorie gebraucht für die Dinge, die mehr als nur schlecht sind, und dieses Bedürfnis wird nicht verschwinden. Es mag falsch sein,

andere zu dämonisieren, aber es ist gewiss nötig, das Dämonische im Menschen anzuerkennen. Svendsen hat recht, wenn er dazu aufruft, den Begriff des Bösen zu revidieren, jedoch nicht auf ihn zu verzichten. Anstatt das Böse als etwas Fremdartiges und Außergewöhnliches zu betrachten, sollten wir einsehen, „dass nicht nur ,andere‘ böse sind. Die Bösen sind wir“. Wir sollten das Böse als Teil der gewöhnlichen Menschennatur auffassen, nicht als von ihr abgetrennt. Ebenso wichtig ist es, dass wir das Böse nicht essenzialisieren, dass wir ihm kein irreduktibles, einzigartiges Wesen zusprechen. Das Böse hat nur eine einzige allgemeine Eigenschaft: Es ist extrem schlecht, durch und durch. Darin unterscheidet es sich von all den Dingen im Leben, die wir zwar schlecht finden, die aber mit etwas Gutem verbunden sind: Kummer ist der Preis, den wir für die Liebe zahlen, Schmerz oft der Preis für eine heilende Behandlung, Stress die Kehrseite davon, dass wir etwas schaffen. Viele schlechte Dinge haben jedoch keine solche Kehrseite. Wenn sie nicht viel bedeuten, wie etwa, dass wir uns den Zeh verstauchen oder einen Zehn-Euro-Schein verlieren, können wir sie abhaken. Ist das aber unmöglich, wie etwa bei Folter oder schmerzhaften Krankheiten, haben wir es mit dem Bösen zu tun: erhebliches oder anhaltendes Leiden, Terror oder seelische Qualen ohne Sinn oder Nutzen. Denken wir in dieser Weise über das Böse, so können wir es in verschiedene Erscheinungsformen einteilen. Die folgende Typologie ist heuristisch, nicht endgültig; indem wir das Böse in zehn


WAS IST DAS BÖSE?

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1. DAS NATÜRLICHE BÖSE Das Böse lässt sich anhand von zwei Dimensionen der Absichtlichkeit darstellen. Bei der einen geht es darum, ob die Absicht gut, schlecht oder neutral ist. Die andere betrifft die Frage, wie bewusst die Absicht überhaupt ist. Im Schnittpunkt dieser beiden Achsen treffen wir das natürliche Böse an: entsetzliche Ereignisse, hinter denen kein Plan steht, wie Erdbeben, schwere Krankheiten oder tödliche Unfälle. Die Theologie debattiert seit Jahrhunderten diese Kategorie des Bösen, und besonders die Frage, wie ein guter, allmächtiger Gott existieren kann, wenn die Welt so viel von diesem Bösen enthält. Allerdings ist das nicht die Art, wie die meisten von uns heute über das Böse denken: Wir nehmen vielmehr an, das Böse sei das Erzeugnis eines bösen Willens. Die Kategorie des natürlichen Bösen ist hilfreich, weil sie diese irreführende Annahme infrage stellt. Wie wir sehen werden, entsprechen nämlich die meisten Spielarten dessen, was wir böse nennen, weit eher dem völlig absichtslosen Bösen als den böswilligen Varianten.

2. DAS SYSTEMISCHE BÖSE Historisch gesehen ist viel von dem Bösen, das in die Welt gekommen ist, systemisch. Beispiele dafür sind die Kulturen, die Sklaverei, weibliche Genitalverstümmelung oder Füßebinden praktizieren. Die meisten Menschen in solchen Gesellschaften halten diese Praktiken für selbstverständlich. Weit davon entfernt, in ihnen das Böse zu erkennen, bewerten sie sie entweder als moralisch neutral oder sogar als gut. Abermals also haben wir es mit einer Form des Bösen zu tun, hinter der keine böse Absicht steht. Das systemische Böse ist eine der gefährlichsten Formen des Bösen, denn es wird nicht einmal als falsch oder schlecht wahrgenommen. Im Gegenteil, die meisten halten es für normales, akzeptables Verhalten. Das bedeutet, dass Menschen, die in jeder anderen Hinsicht gut, anständig, sogar vorbildhaft sind, dennoch Böses billigen oder tun. Unter den Gründervätern der USA etwa waren Nationalhelden wie Benjamin Franklin, Thomas Jefferson und George Washington allesamt Sklavenhalter. Für uns heute lautet die Frage nicht, ob unsere Gesellschaft diese Art des Bösen weiter betreibt. Es ist undenkbar, dass wir die erste Generation in der Menschheitsgeschichte wären, die keine moralischen blinden Flecken hat. Nein, die Frage ist: Wo liegt dieses Böse in unserer Gesellschaft? Zwei mögliche Antworten lauten: in der Massentierhaltung und darin, wie die reiche Welt sich von Menschen, die in Armut und unter fürchterlichen Bedingungen arbeiten, die Güter herstellen lässt, die ihr das Leben angenehm machen. Ange-

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seiner Formen gliedern, können wir besser erkennen, wie selten es die Gestalten annimmt, mit denen wir am ehesten rechnen. Und dann können wir neu überdenken, was wir unter dem Bösen verstehen.


DAS BÖSE VERSTEHEN

„Die Art und Weise, wie sich das Übel unter der Herrschaft eines allerhöchsten Wesens eingeschlichen hat, das unendlich gut, unendlich heilig, unendlich mächtig ist, ist nicht nur unerklärbar, sondern ganz unbegreiflich“ Pierre Bayle: „Paulicianer“, S. 192

„Unsere Betrachtung ist insofern eine Theodizee, eine Rechtfertigung Gottes, welche Leibniz metaphysisch auf seine Weise in noch unbestimmten, abstrakten Kategorien versucht hat, so daß das Übel in der Welt begriffen, der denkende Geist mit dem Bösen versöhnt werden sollte. In der Tat liegt nirgend eine größere Aufforderung zu solcher versöhnenden Erkenntnis als in der Weltgeschichte.“

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Georg Wilhelm Friedrich Hegel: „Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte“, S. 28

„Es würde deswegen vieles Gute verschwinden, wenn Gott keinem Übel dazusein verstattete.“

„Die Frage nach dem Ursprunge und Zweck des Guten und des Bösen bleibt ein unentwirrbares Chaos für Jeden, der in gutem Glauben danach forscht. Sie ist eine Übung des Scharfsinns für Leute, die gern disputiren; Sie kommen mir wie Galeerensklaven vor, die mit ihren Ketten spielen.“ Voltaire: „Über den Satz: ,Alles ist gut‘“, S. 35

Illustration: Vignesh Raja, thenounproject.com

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Thomas von Aquin: „Summe der Theologie. Erster Band. Gott und Schöpfung“, S. 215


Hans Jonas: „Der Gottesbegriff nach Auschwitz. Eine jüdische Stimme“, S. 39 – 40

„Denn die lieben Kindlein, sie hören es nicht gerne, wenn die angeborene Neigung des Menschen zum ,Bösen‘ zur Aggression, Destruktion und damit auch zur Grausamkeit erwähnt wird.“

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„Wenn aber Gott auf gewisse Weise und in gewissem Grade verstehbar sein soll (und hieran müssen wir festhalten), dann muß sein Gutsein vereinbar sein mit der Existenz des Übels, und das ist es nur, wenn er nicht all-mächtig ist. Nur dann können wir aufrechterhalten, daß er verstehbar und gut ist und es dennoch Übel in der Welt gibt.“

Laktanz: „Vom Zorne Gottes“, S. 102

„Gut gegen Böse ist nicht Geist gegen Natur: Das ursprünglich Böse ist der Geist selbst, der die Natur gewaltsam aus den Fugen zwingt. Aus all dem muss man den Schluss ziehen, dass das echte menschlich Gute, das Gute, das sich über das natürlich Gute erhoben hat, letzten Endes die Maske des Bösen ist.“ Slavoj Žižek: „Gewalt. Sechs Abseitige Reflexionen“, S. 63

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„Gott will entweder die Übel aufheben und kann nicht; oder Gott kann und will nicht; oder Gott will nicht und kann nicht; oder Gott will und kann. Wenn Gott will und nicht kann, so ist er ohnmächtig; und das widerstreitet dem Begriffe Gottes. Wenn Gott kann und nicht will, so ist er mißgünstig, und das ist gleichfalls mit Gott unvereinbar. Wenn Gott nicht will und nicht kann, so ist er mißgünstig und ohnmächtig zugleich, und darum auch nicht Gott. Wenn Gott will und kann, was sich allein für die Gottheit geziemt, woher sind dann die Übel, und warum nimmt er sie nicht hinweg?“

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Sigmund Freud: „Das Unbehagen in der Kultur“, S. 247 – 248


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PAUL RICŒUR

Revolte und ­Unterwerfung

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onnte der Mythos den Erwartungen der handelnden und leidenden Menschen ganz genügen? Teilweise und insofern er auf das Fragen einging, das in den unaufhörlichen Klagerufen laut wurde: „Bis wann? Warum?“ Als Antwort bot der Mythos allerdings nur den Trost der Ordnung an, indem er die Klage des Flehenden in den Rahmen eines riesigen Universums stellte. Der Mythos liess aber jenen wichtigen Teil der Frage unbeantwortet, der nicht nur fragt: Warum?, sondern: Warum gerade ich? Hier wird die Klage zur Anklage und verlangt von der Gottheit Rechenschaft. In der Bibel zum Beispiel ist es ein wichtiger Aspekt des Bundes, dass zur partnerschaftlichen Rollenteilung auch der Prozess gehört. Wenn aber der Herr seinem Volk den Prozess macht, so macht auch das Volk seinem Gott den Prozess. An diesem Punkt muss der Mythos den Ton ändern. Er kann nicht mehr nur von den Ursprüngen erzählen, um zu erklären, wie ganz allgemein das menschliche Dasein das geworden ist, was es ist, er muss jetzt argumentieren und erklären, warum es für jeden Einzelnen so ist. Damit sind wir im Stadium der Weisheit angekommen. Die erste und nachhaltigste Erklärung, welche die Weisheit anbietet, ist diejenige der Vergeltung: Alles Leiden ist verdient, weil es die Strafe für eine individuelle oder kollektive, bewusste oder unbewusste Verfehlung ist.

Diese Erklärung hat zumindest den Vorteil, dass sie das Leiden als solches ernst nimmt, als einen vom moralisch Bösen zu unterscheidenden Pol. Aber sie bemüht sich sogleich, diesen Unterschied wieder aufzuheben, indem sie aus der Gesamtordnung der Dinge eine moralische Ordnung macht. In diesem Sinn ist die Theorie der Vergeltung die erste moralische Weltanschauung, um einen Ausdruck zu brauchen, den Hegel auf Kant angewandt hat. Nun hat sich aber die Weisheit, weil sie argumentiert, zu einer immensen Auseinandersetzung mit sich selbst ausgewachsen, ja zu einer dramatischen Debatte im Innern der Weisen selbst. Denn die Idee der Vergeltung konnte nicht mehr befriedigen, sobald eine gewisse Rechtsordnung entstanden war, die die Guten von den Bösen unterschied und die Strafe nach dem Mass der Schuld jedes Einzelnen zu bemessen suchte. Einem auch nur ansatzweise entwickelten Gerechtigkeitssinn muss die existierende Verteilung der Übel nur als willkürlich, rücksichtslos, unverhältnismässig erscheinen: Warum stirbt dieser Mensch an Krebs und jener nicht? Warum sterben Kinder? Warum so viel Leiden, weit über das hinaus, was einfache sterbliche Menschen normalerweise ertragen können? Wenn das Buch Hiob in der Weltliteratur einen so wichtigen Platz einnimmt, dann wohl vor allem deswegen, weil es sich der

PAUL RICŒUR 1913 – 2005

Der französische Philosoph war stark beeinflusst von der phänomenologischen Schule Edmund Husserls. Als Autor von „Das Willentliche und das Unwillentliche“ (1951), „Die Interpretation. Ein Versuch über Freud“ (1965) und „Zeit und Erzählung“ (1983) beschäftigte er sich mit einer Vielzahl von Themengebieten von der Metaphysik bis hin zur Psychoanalyse. Ricœurs Philosophie des Willens setzte sich insbesondere mit den Begriffen der Schuld und des Bösen in unterschiedlichen Kulturbereichen auseinander

Klage, die zur Anklage wird, annimmt, und diese Anklage zum Protest erhebt. Angenommen, es geht in der Erzählung um das Schicksal eines leidenden Gerechten, eines untadeligen Gerechten, der den schwersten Prüfungen unterworfen wird, dann erkennen wir in den kraftvollen Argumenten im Dialog Hiobs mit seinen Freunden die interne Auseinandersetzung der Weisheit, die sich an der Unverhältnismässigkeit von moralisch Bösem und erlittenem Bösen entzündet. Aber das Buch Hiob berührt uns vielleicht noch viel mehr durch seinen rätselhaften und vielleicht absichtlich doppeldeutigen Schluss: die Theophanie am Ende des Buches gibt keine direkte Antwort auf das persönliche Leiden Hiobs. Deshalb ist der Raum für spekulative Deutungen in verschiedene Richtungen offen. Das Bild eines Schöpfers mit unergründlichen Plänen, eines Architekten, dessen Masseinheiten unvereinbar sind mit den Widerwärtigkeiten des menschlichen Lebens, provoziert verschiedene Gedanken: Der Trost ist eschatologisch hinausgeschoben; die Klage ist nicht angebracht, fehl am Platz angesichts eines Gottes, der Herr über Gut und Böse ist (gemäss Jesaja 45,7: „Ich bin der HERR, der das Licht bildet und die Finsternis schafft, der Heil vollbringt und Unheil schafft“), oder: Die Klage selbst muss durch eine der läuternden Prüfungen hindurchgehen, wie wir es im dritten Teil ausführen werden. Lautet nicht Hiobs letztes Wort: „Darum widerrufe ich und bereu im Staub und in der Asche“? Welche Reue könnte gemeint sein, wenn nicht das Bereuen der Klage selbst? Und bewirkt nicht diese Reue, dass Hiob Gott ohne Grund lieben kann – entgegen der Wette Satans zu Beginn der Rahmenerzählung?

Paul Ricœur: „Das Böse. Eine Herausforderung für Philosophie und Theologie“, a. d. Frz. v. Laurent Karels, Zürich: Theologischer Verlag, 2006, S. 24 – 27

Foto: picture alliance / Effigie / Leemage

Die biblische Hiobsgeschichte überschreitet mit ihrer Darstellung des sinnlosen Leidens die alte Logik der Belohnung des Guten und der Vergeltung des Bösen, wie sie in früheren biblischen Texten zu finden ist. Sie stellt nicht nur die Frage nach dem Sinn des Leidens, sie erhebt diese Frage auch zur Klage, zur Anklage, ja zum Protest


DAS BÖSE VERSTEHEN

„In jedem

von uns steckt

Sadismus“ 49

Wie erklärt die moderne Psychologie das Böse? Die Rechtspsychologin Julia Shaw erklärt die Grenzen der naturwissenschaftlichen Methoden und warum Schwarz-WeißDenken die Gesellschaft nicht weiterbringt. Denn das Böse steckt in jedem von uns – und wir tun gut daran, uns dessen bewusst zu sein

GESPRÄCH MIT JULIA SHAW Von Catherine Newmark

Liegt das Böse denn nur in den Taten? Oder gibt es auch genuin böse Menschen? › Die meisten heutigen Psychologen würden argumentieren, dass es keine bösen Menschen gibt. Sehr wohl aber allgemeinmenschliche Triebe, die destruktiv sind – und dann soziale Kontexte, kulturelle Konstellationen, Sozialisierungsmuster und individuelle Persönlich-

keitszüge, die bestimmte Personen in bestimmten Situationen anfällig machen für böses Tun. Aber es gibt keine Gehirnscans – beispielsweise –, die eindeutig das Böse oder die Neigung dazu feststellen können? › Natürlich kann die Neuropsychologie gewisse Dinge messen oder mindestens einen Zusammenhang zwischen Gehirnarealen und moralisch relevanten Gefühlen herstellen. Ein Mangel an Empathie zum Beispiel, den man bei vielen Gewaltverbrechern oder zumindest den psychopathischen unter ihnen feststellt und der es natürlich wesentlich einfacher macht, andere zu verletzen, lässt sich durchaus mit einem bestimmten Gehirnareal in Verbindung bringen. Wem die Barriere der Empathie fehlt, der hat es in gewisser Weise leichter, anderen Böses zu tun. Aber er ist dazu noch lange nicht gezwungen, es gibt keinen notwendigen Zusammenhang! Selbst eine feststellbare Veränderung im Gehirn kann eine Tat nicht vollständig erklä-

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Wie erklärt die moderne Psychologie das Böse? JULIA SHAW › Die Psychologie ist natürlich heute empirisch orientiert und versucht wissenschaftlich gewisse Mechanismen erst mal zu verstehen; anders als in der Philosophie geht es nicht um eine moralische Beurteilung. Für mich als Rechtspsychologin geht es darüber hinaus auch ganz stark darum, das Thema praktisch anzugehen. Also nicht nur die Frage zu stellen: Wie kann ich diese Tat verstehen, was hat sie für einen Menschen bedeutet? Sondern auch danach, wie man diese und ähnliche Taten verhindern kann.


Das Böse lieben

Foto: Frieke Janssens

Dass sich Menschen ganz bewusst und sogar mit Freude für das Böse entscheiden können, ist eine Tatsache, die irritiert und verunsichert. Wie bewusste Grausamkeit entsteht und herbeigeführt wird – und was unsere Vernunft und unsere Gefühle damit zu tun haben. Und warum wir davon nicht nur abgeschreckt, sondern auch fasziniert sind – mindestens dann, wenn sie uns auf Bildschirmen oder zwischen Buchdeckeln begegnet


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DAS BÖSE LIEBEN


Verlust der Denkfähigkeit In einer 1965 gehaltenen Vorlesung kommt Arendt auf einen Gedanken zurück, den sie schon in ihrer Beschäftigung mit dem Eichmann-Prozess immer wieder formuliert hatte: nämlich dass das Böse mit Gedankenlosigkeit, einem Fehler im Denken, zu tun habe – und dass umgekehrt die Fähigkeit, zu denken und zu erinnern, wesentlich für Moral und die Vermeidung des Bösen sei

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enken als Tätigkeit kann aus jedem Ereignis entstehen; es ist da, wenn ich einen Vorfall auf der Straße beobachtet habe oder in ein Geschehen hineingezogen wurde und danach beginne, das, was geschah, zu betrachten, es mir selbst als eine Art Ge­schichte erzähle, es auf diese Weise für die anschließende Kommunikation mit Anderen aufbereite usw. Das gleiche ist natürlich noch wahrer, wenn es sich so ergibt, daß Thema meiner stummen Betrachtung etwas ist, was ich selbst getan habe. Böses tun heißt, diese Fähigkeit beeinträchtigen; der sicherste Weg für den Verbrecher, niemals entdeckt zu werden und der Strafe zu entkommen, ist, das, was er tat, zu vergessen und nicht weiter darüber nachzudenken. Gleichermaßen können wir sagen, daß Reue zuerst darin besteht, nicht zu vergessen, was man getan hat, indem man dahin „zurückkehrt“, wie das hebräische Verb „shav“ andeutet. Diese Verbindung von Denken und Erinnern ist in unserem Zusammenhang besonders bedeutsam. Niemand kann sich an das erinnern, was er nicht durchdachte, indem er darüber mit sich selbst gesprochen hat. (…) Diese Frage nach der Erinnerung bringt uns mindestens einen kleinen Schritt der quälenden Frage nach der Natur des Bösen näher. Die Philosophie (und auch, wie ich zuvor bemerkte, die große Literatur) kennt den Schurken nur als jemanden, der verzweifelt ist und dessen Verzweiflung ihn mit einem gewissen Adel umgibt. Ich will nicht leugnen, daß dieser Typ des Übeltäters existiert, bin

aber sicher, daß die größten Übel, die wir kennen, nicht ihm zuzuschreiben sind, der sich wieder in die Augen sehen muß und dessen Fluch es ist, daß er nicht vergessen kann. Die größten Übeltäter sind jene, die sich nicht erinnern, weil sie auf das Getane niemals Gedanken verschwendet haben, und ohne Erinnerung kann nichts sie zurückhalten. Das Denken an vergangene Angelegenheiten bedeutet für menschliche Wesen, sich in die Dimension der Tiefe zu begeben, Wurzeln zu schlagen und so sich selbst zu stabilisieren, so daß man nicht bei allem Möglichen – dem Zeitgeist, der Geschichte oder einfach der Versuchung – hinweggeschwemmt wird. Das große Böse ist nicht radikal, es hat keine Wurzeln, und weil es keine Wurzeln hat, hat es keine Grenzen, kann sich ins unvorstellbar Extreme entwickeln und über die ganze Welt ausbreiten. (…) Lassen Sie mich abschließend an jene Mörder im Dritten Reich erinnern, die nicht nur ein mustergültiges Familienleben führten, sondern auch ihre Freizeit gerne damit verbrachten, Hölderlin zu lesen und Bach zu hören, und damit bewiesen (als ob Beweise hierfür zuvor gefehlt hätten), daß Intellektuelle ebenso einfach in Verbrechen hineingezogen werden können wie jeder Andere auch. Aber sind nicht die Sensibilität und ein Gefühl für die sogenannten höheren Dinge im Leben geistige Fähigkeiten? Ganz bestimmt, doch diese Fähigkeit, aufgeschlossen zu sein, hat ganz und gar nicht mit dem Denken zu tun, das, wie wir uns erinnern sollten, eine Tätigkeit ist und nicht der passive Genuß von

HANNAH ARENDT 1906 – 1975

Die politische Philosophin musste 1933 aus Deutschland nach Frankreich fliehen, ab 1941 baute sie sich eine neue Existenz in den USA auf. In ihren Hauptwerken „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ (1951) und „Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen“ (1963) beschäftigte sie sich intensiv mit dem Bösen, das ihr vor dem Hintergrund der Vernichtungsmaschinerie des NS mit den althergebrachten philosophischen Kategorien nicht mehr fassbar schien

„Der ­sicherste Weg für den ­Verbrecher, nie­ mals entdeckt zu werden, ist, das, was er tat, zu vergessen“ etwas. Insofern als Denken eine Tätigkeit ist, kann es in Produkte übertragen werden, in solche Dinge wie Gedichte, Musikstücke oder Gemälde. Alle Dinge dieser Art sind tatsächlich Gedankendinge, genauso wie Möbel und Gegenstände unseres täglichen Gebrauchs mit Recht als Gebrauchsgegenstände bezeichnet werden: Die einen sind durch Denken, die anderen durch Gebrauch, durch bestimmte menschliche Bedürfnisse und Wünsche zustande gekommen. Die Sache bei diesen hochkultivierten Mördern ist die, daß nicht ein einziger von ihnen ein Gedicht schrieb, das es wert wäre, daß man sich daran erinnerte, oder ein anhörenswertes Musikstück komponierte oder ein Bild malte, bei dem irgendjemand daran gelegen wäre, es an seine Wand zu hängen. Man braucht mehr als Nachdenklichkeit, um ein gutes Gedicht oder Musikstück zu schreiben oder ein Bild zu malen – Sie brauchen dazu besondere Talente. Aber kein Talent wird dem Verlust der Integrität standhalten – der Integrität, die Sie verlieren, wenn Sie diese ganz allgemeine Denk- und Erinnerungsfähigkeit verloren haben.

Hannah Arendt: „Über das Böse. Eine Vorlesung zu Fragen der Ethik“, hrsg. v. Jerome Kohn, a. d. Engl. v. Ursula Ludz, München: Piper, 2003, S. 75 – 77 und 79 – 80

Foto: Heritage-Images / Jewish Chronicle Archive / akg-images

DAS BÖSE ÜBERWINDEN

94 Philosophie Magazin Sonderausgabe 11

HANNAH ARENDT


DAS BÖSE ÜBERWINDEN

„Denken ist das gefährlichste Werkzeug von allen“

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Was, wenn Denken gar nicht gegen das Böse hilft, wie viele Idealisten seit der Aufklärung glauben, sondern auch der selbstständige Gebrauch des Verstands und der Vernunft böse sein kann? Die Philosophin und Historikerin Bettina Stangneth hat in ihrem Buch über Adolf Eichmann nachgewiesen, dass dieser keinesfalls der gedankenlose Bürokrat war, den Arendt zu sehen meinte. Im Interview spricht Stangneth über heute relevante Formen bösen Denkens

Hannah Arendt hat das Böse gedankenlos genannt. Sie haben gezeigt, dass das zumindest auf ihr zentrales Beispiel – den Holocaust-Organisator Adolf Eichmann – nicht zutrifft. Lehnen Sie Arendts These, dass das Böse mit einem Mangel an Denken zusammenhängt, rundweg ab, oder sehen Sie Fälle, wo sie zutrifft? BETTINA STANGNETH › Ich glaube sofort, dass man sich ein T-Shirt für einen Euro bei einem Billig-Discounter kaufen kann und nicht darüber nachdenkt, dass dafür jemand in Bangladesch unter unwürdigsten Umständen arbeitet. Ich glaube auch, dass nicht jede, die einen Menschen auf der Straße mit abschätzigem Blick mustert, sich immer so genau bewusst macht, dass sie nicht vor dem Fernseher sitzt, sondern einen echten Menschen despektierlich behandelt. Aber wer Massenmord plant und sich anschaut, ob der Plan auch gut funktioniert, redet sich schlicht heraus, wenn er behauptet, sich nie vorgestellt zu haben, was er da tut. Wir müssen bei Hannah Arendt aber unterscheiden: auf der einen Seite den Versuch einer Täterdiagnose – da ist ein Mensch, der gedankenlos ist, weil er zwar alle menschlichen Erkenntnisvermögen hat, sie aber einfach nicht einsetzt; auf der anderen Seite die Frage nach den Rahmenbedingungen, unter denen jemand zum

Täter werden kann. Der Common Sense, das sagt Arendt, kann seinen Verstand verlieren, nämlich dann, wenn die angeblich so guten alten Werte plötzlich nicht mehr für alle gelten sollen, sondern ganze Bevölkerungsgruppen als Außenstehende markiert werden, die man dann folgenlos jagen, quälen, ermorden kann. Darum forderte Hannah Arendt dazu auf, die Verantwortung für die Gesellschaft ernst zu nehmen, weil nur sie gedankenlose Menschen daran hindert, Schaden anzurichten. Arendt ist ja nicht die Einzige, die meint, dass Denken gegen das Böse hilft. Der Idealismus der Vernunft, das berühmte aufklärerische Selberdenken – die Philosophie konnotiert das weitgehend mit dem Guten. Stimmt das denn gar nicht? › Hier muss ich aber bitte einmal sagen dürfen, dass Aufklärung und Idealismus zwei sehr verschiedene Denkungsarten sind. Immanuel Kant beispielsweise schreibt eine „Kritik der Vernunft“, weil er vor der Idealisierung der Vernunft warnen will. Selberdenken ist natürlich eine gute Sache, mal abgesehen davon, dass wir ohne Denken ja nichts von Moral wüssten. Aber es ist doch etwas komplizierter. Hannah Arendt hat der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts einen gefährlichen Mangel an trainierter Urteilskraft attestiert, aber nicht

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GESPRÄCH MIT BETTINA STANGNETH Von Catherine Newmark


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