Sonderausgabe: Die Philosophen und der Nationalsozialismus

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Weimar 1934: Hitler vor einer Büste Friedrich Nietzsches

die philosophen und der

Nationalsozialismus Denker in der Nach Ausch­witz: Diktatur: Original- Starb Gott in den texte der Zeit Lagern?

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Die geistigen Quellen der NS-Ideologie

Hannah Arendt und die Banalität des Bösen • Der Fall Heidegger • Originaltexte von Theodor W. Adorno • Giorgio Agamben • Walter Benjamin • Ernst Cassirer • Karl Jaspers • hans jonas …  Beiträge von Aleida Assmann • Volker Gerhardt • Per Leo …


denker

impressum

Sonderausgabe 03 Redaktion: Brunnenstraße 143, 10115 Berlin, Deutschland Tel.: +49 (0)30 / 60 98 58 215 E-Mail: redaktion@philomag.de

per leo In seiner Dissertation hat sich der Historiker mit Judenfeindschaft in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert befasst. Sein hoch­­gelobter Roman Flut und Boden setzt sich mit der Geschichte der Familie seines Großvaters aus­einander, der SS-Sturmbannführer war. Für dieses Heft zeichnet Leo die spezifische Ideengeschichte des deutschen Antisemitismus nach.  Seite 14

Chefredakteurin der Sonderausgabe: Dr. Catherine Newmark (V.i.S.d.P.) Berater: Dr. Wolfram Eilenberger, Sven Ortoli Layoutentwicklung: Jean-Patrice Wattinne / L’Éclaireur Art-Direktion: Henrike Noetzold Bildredaktion: Tina Ahrens Schlussredaktion: Dr. Sylvia Zirden Lektorat: Christiane Braun Internet: Cyril Druesne Übersetzer: Till Bardoux (Franz.), Michael Ebmeyer (Engl.) Praktikanten: Alexander Vajda, Victoria Paul

Volker Gerhardt Seit seiner Habilitation im Jahr 1984 über den „Willen zur Macht“ beschäftigt sich Volker Gerhardt immer wieder mit dem wider­sprüch­lichen und vieldeutigen Friedrich Nietzsche. Der emeritierte Professor der Humboldt-Universität zu Berlin beschreibt im Interview die frühe Nietzsche-Rezeption und die Vereinnahmung des Denkers durch national­ sozialistische Ideologen.  Seite 18

Verlag: Philomagazin Verlag GmbH, Brunnenstraße 143, 10115 Berlin, Deutschland Tel.: +49 (0)30 / 60 98 58 215 E-Mail: info@philomag.de Geschäftsführer und Verleger: Fabrice Gerschel Herausgeberin: Anne-Sophie Moreau

Barbara Zehnpfennig

Vertrieb: AS-Vertriebsservice GmbH, Süderstraße 77, 20097 Hamburg, Deutschland, www.as-vertriebsservice.de Litho: tiff.any GmbH, Paul-Lincke-Ufer 7, Aufgang 7c, 10999 Berlin Druck: pva, Druck und MedienDienstleistungen GmbH, Industriestraße 15, 76829 Landau in der Pfalz

hans jörg sandkühler Als Schüler des Philosophiehistorikers Joachim Ritter, der im NS-Staat Karriere gemacht hat, befasst sich Hans Jörg Sandkühler seit Jahren mit den Verstrickungen der deutschen Philosophen im Nationalsozialis­mus. Im Gespräch schildert er, wie sich die Philoso­phen in Deutschland mit dem NS gemein gemacht haben und trotzdem nach dem Krieg wieder auf Lehrstühle kamen.  Seite 57

Anzeigen / Nielsen I, V, VI, VII: Jörn Schmieding-Dieck – MedienQuartier Hamburg, Tel.: +49 (0)40 / 60 94 41 401 E-Mail: schmieding-dieck@mqhh.de Anzeigen / Nielsen II, IIIa, A, CH: Andreas Hey – Verlagsbüro Andreas Hey Tel.: +49 (0)67  85 /  94  100 E-Mail: hey@verlagsbuero-hey.de Anzeigen / Nielsen IIIb, IV: Markus Piendl – MAV GmbH Tel.: +49 (0)89 / 74 50 83 13 E-Mail: piendl@mav-muenchen.com Anzeigen Buchverlage/Kultur/Seminare: Thomas Laschinski – PremiumContentMedia Tel.: +49 (0)30 / 60 98 59 30 E-Mail: advertisebooks@laschinski.com

sidonie kellerer Die Philosophin hat sich in mehreren Untersuchungen mit Heideggers Verhältnis zum Nationalsozialismus auseinandergesetzt. In ihrem Text zeigt sie, wie wenig sich Heidegger auch später von seinen nationalsozialistischen Überzeugungen der 1930er-Jahre gelöst hat, und diskutiert die neuen Erkenntnisse aus den jüngst publizierten Schwarzen Heften des umstrittenen Denkers.  Seite 70

Presse- und Öffentlichkeitsarbeit: Sabine Schaub Tel.: +49 (0)30 / 31 99 83 40 E-Mail: s.schaub@schwindkommunikation.de www.schwindkommunikation.de

aleida Assmann Die Kulturwissenschaftlerin forscht seit vielen Jahren über Erinnerungs­ kultur und das „kulturelle Gedächtnis“ in Deutschland. Im Interview erläutert sie die Etappen der deutschen Aufarbeitung des Nationalsozialismus und erinnert daran, dass die Werte der Zivilgesellschaft nie als ein sicheres Gut anzusehen sind, sondern immer aufs Neue im Gedenken wachgehalten werden müssen.  Seite 95

Abo-Service: Philosophie Magazin, Leserservice, PressUp GmbH, Postfach 70 13 11, 22013 Hamburg Tel.: +49 (0)40 / 41 44 84 63 Fax: +49 (0)40 / 41 44 84 99 E-Mail: philomag@pressup.de Online-Bestellungen: www.philomag.de

PHILOSOPHIE MAGAZIN

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SONDERAUSGABE 03

Fotos: Isadora Tast; Thomas Schweigert; Florian Weichselbaumer; Isadora Tast; Privat; Humboldt Foundation/Axel Griesch

Die Professorin für politische Theorie und Ideengeschichte an der Uni­versität Passau ist eine der wenigen, die sich intensiv mit Hitlers Mein Kampf auseinandergesetzt haben. Im Gespräch erklärt sie, warum Hitlers Kampfschrift in Deutschland noch immer nicht gedruckt werden darf, und erläutert die ideologische Struktur und die ideengeschichtlichen Motive von Hitlers Judenhass.  Seite 22


inhalt Editorial Impressum

3 4

6 Wege in den National­ sozialis­mus Grundbegriffe national­ sozialis­tischen Denkens

8

„Die Idee der Volks­ gemeinschaft war das geistige Zentrum der Bewegung“ Interview mit Heinz Wismann 10 Die Kultivierung des Hasses von Per Leo 14 Der Wille zur Macht: Nietzsche im National­ sozialismus Interview mit Volker Gerhardt 18 Hitlers Weltanschauung Interview mit Barbara Zehnpfennig

22

Vergiftete Atmosphäre: die Davoser Disputation zwischen Ernst Cassirer und Martin Heidegger von Catherine Newmark 32 Ist dieser Fanatismus deutsch? Thomas Mann 34 Verführte Jugend Jean Cavaillès

Blinde Pflichterfüllung

John Dewey

53

Der Mythus als Waffe

Ernst Cassirer

54

Unheimliche Passivität Simone Weil

Der Terror der Einheits­sprache Victor Klemperer 55

36

Machtergreifung 1933–1938

37

Unheimliche Kontinuität: NS-Philosophen in der 56 BRD

Dilettantische Rassentheorie Leo Trotzki 38 Gleichschaltung ohne Widerstand Albert Einstein

Hitlerismus als Seuche Emmanuel Lévinas

Aufstieg der NSDAP 1920–1932

28

Die Kriegsjahre 1939–1945

Gemeinschaft ist alles Ernst Krieck

29

65

Dem Prinzip nach ein Nationalsozialist Karl Löwith

68

„Der Führer schützt das Recht“ 44

Heideggers verbogene Wahrheiten und die „Schwarzen Hefte“ von Sidonie Kellerer

46

47

30

Krieg der Werte Leo Strauss

48

31

Die Gesetze des Teufels Hannah Arendt

49

5

Ein metaphysisches Verbrechen Vladimir Jankélévitch

81

Den Abgrund denken

82

Erschüttertes Weltvertrauen Jean Améry 83 84

Rettung des Unaus­sprech­ lichen. Jüdische Theologie nach der Schoah von Noémie Issan-Benchimol 85 Todesfuge

70

Paul Celan

88

Nach Auschwitz Gedichte schreiben Theodor W. Adorno

89

Auschwitz als Metapher? 90 Das Lager ist die Matrix der Moderne Giorgio Agamben 91 Tiere – Opfer ohne Stimme

45

Das Gedächtnis der Unterlegenen Walter Benjamin

Philosophie und NATIONALSOZIALISMUS

57

„Heidegger war ein autoritärer Denker“ Interview mit Jacques Taminiaux

42

„Radikal ist immer nur das Gute“ Hannah Arendt und Gershom Scholem 80

Warum Gott schwieg

40 41

Eichmann und die Banalität des Bösen Hannah Arendt 78

Hans Jonas

der fall Heidegger 63

Carl Schmitt

Die „verspätete Nation“ Helmuth Plessner

„Kaum einer, der sich nicht angepasst hätte“ Interview mit Hans Jörg Sandkühler

39

Treuhänder des Wahns

Karl Kraus

Unterwegs zur Rassenaristokratie Erich Rothacker

Metaphysik für Helden Othmar Spann

52

35

26 Denken in verbreche­ rischer Zeit

Der Sozialismus der dummen Kerle Ernst Bloch

Gegen die Verknechtung Europas Kurt Huber

74 Nach der Katas­trophe Die Schuldfrage – Ein Volk von Tätern? 76 Unser Mitläufertum Karl Jaspers

77

Élisabeth de Fontenay

92

Erinnerungskultur

94

„Erinnerung lässt sich nicht verordnen“ – Warum die Arbeit an der eigenen Geschichte eine notwendige Aufgabe bleibt Interview mit Aleida Assmann 95 Literatur

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wege in den nationalsozialismus Volk

»Die Idee der Volksgemeinschaft war das geistige Zentrum der Bewegung«

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SONDERAUSGABE 03


wege in den nationalsozialismus Volk

Rassebiologismus, Antisemitismus, Antikapitalismus und Nationalismus – all diese Ideen und Ideologien fließen in den Nationalsozialismus ein, sind aber keine deutsche Ausnahmeerscheinung, sondern im 19. und 20. Jahrhundert in Europa weitverbreitet. Erst mit der Radikalisierung des deutschen Nationalismus nach dem Ersten Weltkrieg und auf Grundlage einer besonderen Idee der deutschen Nation als Volksgemeinschaft vermischen sie sich zu einem unheilvollen Ganzen Interview mit Heinz Wismann Von Catherine Newmark und Wolfram Eilenberger

PM: Herr Wismann, wie erklären Sie sich die Entstehung und den Aufstieg des Nationalsozialismus in Deutschland? Gibt es ideengeschichtliche Faktoren oder Begriffe, die ihn besonders begünstigen oder gar nahelegen? Heinz Wismann ❱ Wenn Sie fragen, ob sich die Entstehung des Nati‑ onalsozialismus mit kausaler Notwendigkeit aus der deutschen Tradition oder Ideengeschichte ableiten lässt, so würde ich dies mit großer Bestimmt‑ heit verneinen. Gleichwohl war der Aufstieg auch nicht rein zufällig, und neben konkret historischen Konstellationen und Druckverhältnissen, die sich als Folge des Ersten Weltkriegs ergaben, spielten gewiss auch bestimmte philosophische wie religiöse Eigenheiten der deutschen Geschichte eine entscheidende Rolle.

Welche Besonderheiten erscheinen Ihnen in diesem Zusammenhang besonders wichtig?

Foto: Pulse/Corbis

❱ Zunächst einmal lassen sich mit Blick auf das Gründungsdokument der NSDAP, also das 25‑Punkte‑Programm von 1920, sowie natürlich mit Blick auf die weitere Entwicklung der Bewegung vier tragende ideologische Säulen unterscheiden: Rassebiologismus, Antisemitismus, Antikapitalis‑ mus und Nationalismus. Keine dieser vier für den Nationalsozialismus prägenden ideologischen Ausrichtungen sind aus ideengeschichtlicher Sicht als spezifisch deutsch zu bezeichnen – es gab sie so gut wie überall in Europa. Allerdings liegen diese vier Aspekte, soweit es die Entstehung, den Aufstieg und auch die politische Integrationskraft des Nationalsozia‑ lismus betrifft, nicht auf einer Ebene. Vielmehr spielt der Nationalismus darin die entscheidende Rolle. Erst mit ihm und durch ihn lassen sich die anderen Elemente überhaupt zu einer programmatischen Synthese zusam‑ menführen. Punkt 1 des NSDAP-Programms von 1920 ist deshalb auch die Forderung des „Zusammenschlusses aller Deutschen zu einem Groß‑ deutschland“. Mit der Frage aber, wer als Deutscher zu gelten hat und wo die Grenzen Deutschlands gezogen werden könnten, berühren wir sowohl aus ideengeschichtlicher wie realhistorischer Sicht eine spezifisch deutsche Problematik und auch einen spezifisch deutschen Zweifel.

Warum konnten sich die Deutschen ihrer eigenen Nationalität nicht sicher sein? Worin bestand das Problem?  ❱ Für den Zeitraum um 1920 gesprochen, war der Versailler Vertrag sicher das entscheidende Moment in der Radikalisierung eines deutschen Nationalismus. Die Gebietsabtretungen, die Reparationszahlungen, dann noch einmal verschärft durch die Weltwirtschaftskrise, wurden von einer

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breiten Mehrheit der Deutschen nicht nur als demütigend und ungerecht empfunden, sondern auch als konkret überlebensbedrohend. So lautet auch Punkt 2 des NSDAP-Programms: „Wir fordern die Aufhebung der Friedensverträge von Versailles und St. Germain“. Aber natürlich geht das Problem tiefer in die Geschichte zurück. Schließlich handelt sich es bei Deutschland, mit den Worten Helmuth Plessners, um eine „verspätete Nation“, das heißt um eine Nation, die erst 1871 und damit viel später als ihre mächtigen Nachbarn wie Frankreich, England oder Russland über eine territoriale Einheit im Sinne eines Nationalstaats verfügte. Diese Situ‑ ation hatte unmittelbar auch kulturphilosophische Folgen. Denn der Man‑ gel eines einheitlichen Staatsgebietes wurde denkend durch die Idee der deutschen Nation als Kulturnation kompensiert, und zwar durch roman‑ tische Konzeptionen des „deutschen Volkes“, insbesondere das Konzept eines „Volksgeistes“, wie es von Johann Gottfried Herder vertreten wurde. Jedem Volk eignet demnach ein besonderer Geist, eine besondere Welt‑ sicht, die von der jedes anderen Volks wesensgemäß unterschieden ist. Ein besonders mächtiger Träger dieses Geistes ist dabei die jeweilige Mutter‑ sprache. In der Sprachwissenschaft Wilhelm von Humboldts werden dann Sprachen ja auch jeweils ganz eigenen Weltsichten gleichgesetzt. Dieser romantische Volksbegriff war also nicht von universalistischen, sondern von regionalistischen Leitwerten bestimmt. Er war nicht – wie etwa der französische – der Anlage nach inkludierend, sondern kulturell exkludie‑ rend. Das gesamte deutsche Denken des 19. Jahrhunderts ist von dieser Frage überlagert und bestimmt.

Und das biologische Problem der Rasse spielte in dieser kulturell dominierten Vorstellung vom deutschen Volk noch keine entscheidende Bedeutung?  ❱ Doch, das tat es durchaus, und es wird in Deutschland bereits zum Ende des 18. Jahrhunderts exakt im Sinne des Kontrastes von kantischem Universalismus und Herder’schem Regionalismus diskutiert: Kant besteht in seiner „Rassentheorie“ darauf, dass alle Menschen sozusagen aus einem Keim entstanden sind und dass die sichtbaren rassischen Unterschiede (Hautfarbe etc.) die Folge von Anpassungsergebnissen auf der Basis eines ursprünglich gemeinsamen Erbguts sind. Herder vertritt die Gegenposi‑ tion. Für ihn sind die Rassen gewissermaßen ontologisch verschieden, also naturgegeben und von Anfang an unterschieden. Nun muss man sagen, ganz ähnliche Diskussionen finden damals etwa auch in Frankreich statt, aber dennoch ist es aufschlussreich, sich mit diesem Wissen im Hinter‑ grund Punkt 4 des NSDAP-Gründungsprogramms anzusehen. Darin heißt

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wege in den nationalsozialismus macht

Der Wille zur Macht: Nietzsche im Nationalsozialismus Kein Denker wurde von den Nationalsozialisten so verehrt und vereinnahmt wie Friedrich Nietzsche. Ganz unschuldig war der polemische und widerspr체chliche Denker an dieser Vereinnahmung nicht, sein Werk l채sst aber auch ganz andere Interpretationen zu

interview mit Volker Gerhardt von Catherine Newmark

Weimar 1934: Hitler vor einer B체ste Friedrich Nietzsches

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SONDERAUSGABE 03


wege in den nationalsozialismus macht

PM: Nietzsche starb 1900 nach mehr als 10 Jahren geistiger Umnachtung. Er selber hat sich zeitlebens verkannt gefühlt – in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entstand dann aber ein veritabler Kult um Nietzsche, ganz besonders bei den Nationalsozialisten. Wie kam es dazu? Volker Gerhardt ❱ Zu Nietzsches Lebzeiten gab es nur einen vergleichsweise kleinen Kreis von Kennern, die sein Genie erahnten. Doch einer seiner ersten begeisterten Leser, der dänische Schriftsteller Georg Brandes, hat noch vor Nietzsches Zusammenbruch einen Programmpunkt der späteren Rezeption exponiert. Er hat Nietzsche als Wortführer eines „aristokratischen Radikalismus“ gefeiert, der die bequem gewordene bürgerliche Gesellschaft in eine neue Zukunft führen werde. Als sich nach 1890 herumsprach, dass der Philosoph, der wenig zuvor noch so beglückt gewesen war, mit dem „Dynamit“ für den Schweizer Tunnelbau verglichen zu werden, dem Wahnsinn verfallen sei, erregte dessen Radikalität das Interesse der Zeitgenossen. Der Wahn gilt seit Platon als verlässlicher Begleiter des Genies, und so entstand der Nimbus übermenschlicher Größe. Nietzsches Schriften, so glaubte ein rasch wachsender Leserkreis, könnten Unerhörtes in Gang setzen. Die Aufmerksamkeit wurde insbesondere durch Künstler befördert, war aber weder auf die gebildeten Schichten noch auf eine bestimmte soziale Klasse, noch auf eine bestimmte politische Ausrichtung beschränkt. Der erste Zarathustra-Kommentar etwa wurde zum Zweck eines leichteren Verständnisses für den Gebrauch in Arbeiterbildungsvereinen verfasst.

Foto: Klassik Stiftung Weimar/GSA

Wie kommt es dann zu der rechtsnationalistischen Vereinnahmung von Nietzsche? ❱ Das lässt sich am Beispiel Mussolinis nachvollziehen, der sich als Chefredakteur der sozialistischen Parteizeitung Avanti! schon Anfang des Jahrhunderts als Sozialist und Nietzsche-Anhänger begriffen hat. Bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges hat er versucht, aus Nietzsche, den er in Teilen offenbar selbst gelesen hat, einen Vordenker für den national denkenden Sozialismus zu machen. Mit Ausbruch des Ersten Weltkriegs hat sich Mussolini dann gleich jenes Kriegspathos zugelegt, das sich in Nietzsches Frühschriften findet, aber auch noch in Also sprach Zarathustra. Mussolinis Pathos überdauert die Niederlage von 1918, nur nimmt der sozialistische Anteil in seiner Botschaft ab. Zwar empfiehlt er sich immer noch als Vertreter der breiten Masse des Volkes. Aber die Abgrenzung gegenüber dem Kommunismus treibt ihn nach rechts. Also hebt er die elitistisch-aristokratischen Momente bei Nietzsche heraus. Wenn Nietzsche in der zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung die seltenen Heroen des Geistes wie Alpengipfel über den tiefen Tälern, in denen die Masse des Volkes ihr ahnungsloses Leben führt, thronen lässt, dann ist das wie geschaffen, um dem Rechtskonservatismus als absolute Metapher zu dienen.

Und wie ist es in Deutschland? Wann und wie wird da Nietzsche von den Nationalsozialisten vereinnahmt? ❱ Es gibt in Deutschland zunächst eine höchst ambivalente, vornehmlich kritische Einschätzung Nietzsches. Die Neukantianer sind mit guten Gründen reserviert, vielen Professoren ist er zu schrill; sie misstrauen der Ver-

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mischung von Philosophie und Literatur und warnen vor seinem von Schopenhauer ererbten „Irrationalismus“. Gleichwohl wirkt Nietzsche insbesondere in der sich nach der Jahrhundertwende allmählich von der Philosophie lösenden Pädagogik. Dann mehren sich die Spuren gründlicher und keineswegs nur kritischer Auseinandersetzung. Ich erwähne Karl Joël und Raoul Richter, Georg Simmel und Max Weber sowie Heinrich Rickert, der vermutlich der Erste ist, der Heidegger auf Nietzsche aufmerksam macht. Noch bevor der Weltkrieg ausbricht, ist Nietzsches Einfluss groß. Die Künstler kennen und verehren ihn, und die Wissenschaftler können sich ihm nicht länger entziehen. In der Ambivalenz ihres Urteils spiegelt sich die Ambivalenz dieses Denkers. Mit guten Gründen, so meine ich, überwiegen die kritischen Töne gegenüber einem in vielem allzu pauschal verfahrenden Kritiker, der dann im Laufe der 1920er-Jahre in Deutschland zu wachsendem politischen Einfluss kommt. Da konnte es nicht ausbleiben, dass auch Anhänger Hitlers, der Nietzsche freilich selber in Mein Kampf nicht erwähnt, das Wort ergreifen.

Wer waren denn die wichtigsten nationalsozialistischen Nietzsche-Interpreten? ❱ Hier ist vor allem Alfred Baeumler zu erwähnen, der nach 1933 zu einem führenden nationalsozialistischen Philosophen aufstieg. Er hatte bereits in den zwanziger Jahren Nietzsche herausgegeben und ist bis heute mit seiner umstrittenen Kröner-Ausgabe präsent. Sein Buch Nietzsche der Philosoph und Politiker von 1931 interpretiert Nietzsche ganz im Sinne der Nazi-Ideologie, indem es aus den alles andere als eindeutigen Aussagen Nietzsches die Stellen herausgreift, die sich für die Ausschlachtung durch den Nationalsozialismus eignen. Da ist vor allem das Konzept des „Willens zur Macht“. Für Nietzsche signalisiert der Begriff eine pluralistische Alternative zum monistischen Mechanismus. Baeumler macht daraus eine Parteiparole in der von Nietzsche nie parteilich verstandenen „großen Politik“. Damit wird dem experimentellen Denken Nietzsches die Form einer ideologischen Keule gegeben, die von den jeweils Mächtigen ganz nach Belieben eingesetzt werden kann. Baeumler ist denn auch erst nach der Veröffentlichung seines NietzscheBuches und nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 als nationalsozialistischer Denker an die Friedrich-Wilhelms-Universität (die heutige Humboldt-Universität) auf einen Lehrstuhl für pädagogische Philosophie berufen worden. Seine Karriere hing eng mit seiner nationalsozialistischen Nietzsche-Interpretation zusammen. Er wurde zum Abteilungsleiter im Amt Rosenberg und war somit Teil der NS-Administration. In seinem Aufsatz „Nietzsche und der Nationalsozialismus“ von 1934 kann man alles finden, was an Verheerendem über die Verbindung gesagt werden kann, bis hin zu der Formulierung: „Und wenn wir dieser Jugend zurufen: Heil Hitler! – so grüßen wir mit diesem Rufe zugleich Friedrich Nietzsche.“

Wie hat Baeumler den ambivalenten Denker Nietzsche denn auf den Nationalsozialismus zugeschnitten? ❱ Durch Übersehen, durch Weglassen und durch maßloses Betonen. Vor allen Dingen wurde das für Nietzsche wichtige Moment der Vielfalt gerade

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Bund deutscher M채dchen (BdM) und Hitlerjugend (HJ) bei einem Aufmarsch in Berlin 1935


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Denken in verbrecherischer Zeit Aufstieg der NSDAP

Simone Weil

Unheimliche Passivität

W

Simone Weil (1909–1943) Französische Philosophin, vom christ­ lichen Mystizismus beeinflusste Jüdin, Sozialaktivistin. 1934 entschließt sie sich zu mehrmonatiger Fabrikarbeit, die sie als Sklaverei beschreibt. 1942 schließt sie sich in London der Widerstandsorganisation France libre an. 1943 stirbt sie an Tuberkulose.

er in dieser Zeit, aus Frankreich kommend, in Deutschland eintrifft, hat das Gefühl, als habe der Zug ihn aus einer Welt in eine andere gebracht oder besser aus einem von der Welt isolierten Ruhesitz in die wirkliche Welt. Nicht daß Berlin weniger ruhig wäre als Paris, aber die dort herrschende Ruhe hat etwas Tragisches. Alles ist in Erwartung. Die Probleme der Struktur der menschlichen Gesellschaft sind gestellt. Nicht wie in Frankreich, wo sie einem besonderen Bereich angehören, dem Bereich der Politik, wie man sagt, der Zeitungen, Wahlen, Versammlungen, Cafégespräche, indes die wirklichen Probleme jedes einzelnen woanders sind. In Deutschland dagegen berührt das politische Problem den einzelnen am meisten. Um es besser auszudrücken: jedes Problem, auch das über das Intimste im Leben eines Menschen, kann nur unter dem Gesichtspunkt der gesellschaftlichen Struktur formuliert werden. Seit langer Zeit lehren die Revolutionäre, daß das Individuum eng und allseitig von der Gesellschaft abhänge, die ihrerseits wesentlich von den ökonomischen Beziehungen konstituiert werde. Aber in einer normalen Periode ist das nur Theorie. In Deutschland ist diese Abhängigkeit ein Fakt, gegen den fast jeder unaufhörlich, mehr oder weniger stark, aber immer schmerzhaft, stößt. Die Krise hat fast alles zerbrochen, was den Menschen hindert, sich uneingeschränkt das Problem

seines eigenen Schicksals zu stellen, d. h. Gewohnheiten, Traditionen, feste gesellschaftliche Bezüge, Sicherheit. Vor allem hat die Krise, sofern man sie nicht als eine vorübergehende Unterbrechung in der ökonomischen Entwicklung ansieht, die Zukunftsperspektive jedes einzelnen verriegelt. […] Kurzum, nicht ein Winkel des Privatlebens des jungen Deutschen, sei er nun Arbeiter oder Kleinbürger, befindet sich außerhalb der Kriseneinwirkung. Die guten oder schlechten Perspektiven sogar der intimsten Aspekte seiner Existenz werden unmittelbar Perspektiven der Gesellschaftsstruktur. Er kann noch nicht einmal träumen von einem Versuch, sein eigenes Schicksal in die Hand zu nehmen, der nicht die Form einer politischen Aktion hätte. Jene Energiesumme, die gewöhnlich überwiegend der Verteidigung von Privatinteressen dient, ist im gegenwärtigen Deutschland uneingeschränkt auf die ökonomischen und politischen Beziehungen ausgerichtet, die den eigentlichen Knochenbau der Gesellschaft darstellen. Diese Energie bleibt verborgen. In einer Konstellation, die der Definition einer revolutionären Lage zu entsprechen scheint, ist alles passiv. ➔

„Deutschland in Erwartung (August- und September­ eindrücke)“, in: Simone Weil: Unterdrückung und Freiheit. Politische Schriften, übers. v. Heinz Abosch, München: Rogner & Bernhard, 1975, S. 33–35.

1932 19. Januar 1932

24. Februar 1932

31. Juli 1932

1. Oktober 1932

Nationalsozialistische Studenten hindern in Berlin jüdische Kommilito­ nen am Betreten der Hörsäle.

Als Wahlpropaganda verteilt die NSDAP 50 000 Schallplatten mit Reden Hitlers.

Reichstagswahl: Die NSDAP erhält 37,4 Prozent der Stimmen und ist damit stärkste Fraktion vor der SPD. Keine regierungsfähigen Mehrheiten

Reichsjugendtag der NSDAP in Potsdam mit mehr als 100 000 Teil­ nehmern

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SONDERAUSGABE 03

Fotos: Public domain; Picture alliance/Imagno/Thomas Sessler Verlag

Im Juli 1932 geht die NSDAP als stärkste Kraft aus der Reichstagswahl hervor. Notverordnungen und Angst vor einem rechten Putsch bestimmen das politische Geschehen. Simone Weil bereist im Sommer Deutschland und beobachtet dort eine resignierte Passivität


M er ac 19 g h 33 r te –1 if 93 un 8 g

Brand des Berliner Reichstags 1933


denken in verbrecherischer zeit die Kriegsjahre

Krieg der Werte Am 26. Februar 1941, während die Luftschlacht um England tobt, hält Leo Strauss in New York einen Vortrag mit dem Titel „Über den deutschen Nihilismus“. Darin analysiert er den Weltkrieg als einen Krieg der Werte, in dem allein die Engländer dem Nihilismus der Nazis die Stirn bieten

S

o tief die Differenz zwischen der deutschen Philosophie und der Phi­ losophie der westlichen Länder sein mag: Die deutsche Philosophie begriff sich grundsätzlich als Synthese zwischen dem vormodernen Ideal und dem Ideal der Moderne. Diese Synthese funktionierte jedoch nicht. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde sie vom westlichen Positivismus überrannt, dem natürlichen Kind der Aufklärung. Deutsch­ land war von seinen Denkern in Verachtung der westlichen Philosophie erzogen worden (Je méprise Locke, sagte Schelling); und nun, da es feststellte, dass die von seinen Philosophen her­ beigeführte Synthese zwischen dem vormoder­

Leo Strauss (1889–1973) Deutsch-jüdischer Philosoph, emigriert 1938 in die Vereinigten Staaten. Ab 1939 an der New School for Social Research in New York, ab 1949 Lehrstuhl für Politische Philosophie an der University of Chicago. Veröffentlicht Werke zur Philosophie des mittelalterlichen Judentums und wichtige Beiträge zur politischen Philosophie, unter anderem The City and Man und On Tyranny.

nen und dem modernen Ideal nicht funktionierte, sah es als einzigen Ausweg, das deutsche Denken vollständig von den Ideen der modernen Zivilisa­ tion zu lösen und zum vormodernen Ideal zurück­ zukehren. Der Nationalsozialismus ist das bekann­ teste, weil vulgärste Beispiel für eine solche Rück­ kehr zum vormodernen Ideal. Auf seiner höchsten Ebene war er eine Rückkehr zur sozusagen vor­ literarischen Stufe der Philosophie, zur vorsokra­ tischen Philosophie. Auf allen Ebenen war dieses vormoderne Ideal aber kein echtes vormodernes Ideal, sondern ein vormodernes Ideal, wie die deutschen Idealisten es sich zurechtdeuteten – verzerrt durch ihre polemische Haltung gegen die Philosophie des 17. und 18. Jahrhunderts. Von allen deutschen Philosophen – und über­ haupt von allen Philosophen – übte niemand auf das Deutschland nach dem Weltkrieg größeren Einfluss aus und trug mehr Verantwortung für das Aufkommen des deutschen Nihilismus als Nietzsche. Die Verbindung zwischen Nietzsche und der Naziherrschaft in Deutschland ist ver­ gleichbar mit der Verbindung zwischen Rous­ seau und der Französischen Revolution. Das heißt: Wenn man Nietzsche im Licht des Natio­ nalsozialismus interpretiert, tut man ihm sehr unrecht – aber nicht absolut unrecht. Es dürfte nicht verkehrt sein, zu unserem Thema die eine oder andere Passage aus Jenseits von Gut und Böse zu zitieren: „Das ist keine philosophische Rasse – diese Engländer: Bacon bedeutet einen Angriff auf den philosophischen Geist überhaupt, Hob­ bes, Hume und Locke eine Erniedrigung und Wert-Minderung des Begriffs ‚Philosoph‘ für mehr als ein Jahrhundert. Gegen Hume erhob

und hob sich Kant; Locke war es, von dem Schel­ ling sagen durfte: ‚je méprise Locke‘; im Kampfe mit der englisch-mechanistischen Welt-Vertölpe­ lung waren Hegel und Schopenhauer (mit Goe­ the) einmütig“. „Das, was man ‚die modernen Ideen‘ oder ‚die Ideen des achtzehnten Jahrhun­ derts‘ oder auch ‚die französischen Ideen‘ nennt – das also, wogegen sich der deutsche Geist mit tiefem Ekel erhoben hat –, war englischen Ursprungs, daran ist nicht zu zweifeln. […]“ Ich glaube, Nietzsche liegt im Wesentlichen rich­ tig, wenn er behauptet, die deutsche Tradition stehe den Idealen der modernen Zivilisation sehr kritisch gegenüber und diese Ideale seien engli­ scher Herkunft. Jedoch vergisst er zu ergänzen, dass die Engländer fast immer die ganz undeut­ sche Klugheit und Mäßigung besaßen, das Kind nicht mit dem Bade auszuschütten. Das heißt, sie betrachteten die modernen Ideale als eine vernünftige Übertragung des alten und ewigen Ideals der Anständigkeit, der Rechtstreue und einer nie verantwortungslosen Freiheit in verän­ derte Umstände. […] Die Engländer hielten sich nie mit jenen gewaltsamen Traditionsbrüchen auf, die auf dem Kontinent so eine wichtige Rolle spielten. Was immer am modernen Ideal falsch sein mag: Dieselben Engländer, die es hervor­ brachten, waren zugleich bewandert in der klas­ sischen Tradition und hatten immer eine hinrei­ chende Dosis Gegengift zur Hand. […] Der gegenwärtige englisch-deutsche Krieg hat somit eine symbolische Bedeutung. Indem sie die moderne Zivilisation gegen den deutschen Nihi­ lismus verteidigen, verteidigen die Engländer die ewigen Prinzipien der Zivilisation. Niemand kann sagen, wie dieser Krieg enden wird. Doch so viel ist ohne jeden Zweifel klar: Indem sie im entscheidenden Moment Hitler zu ihrem Führer erwählt haben, haben die Deutschen jeden berechtigten Anspruch darauf verloren, mehr zu sein als eine provinzielle Nation. ➔

„German Nihilism“, in: Interpretation 26 (1999) 3, S. 371–373.

1941 Sommer 1940 – Anfang 1941 Luftschlacht um England

1. September 1941 Polizeiverordnung über die Kennzeichnung der Juden: Das Tragen des Judensterns wird Pflicht.

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September 1941 Erste Vergasungen in Auschwitz

7. Dezember 1941 Japanischer Angriff auf die US-Pazifikflotte in Pearl Harbour 8. Dezember 1941 Kriegseintritt der USA

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SONDERAUSGABE 03

Übersetzung: Michael Ebmeyer; Fotos: Public domain; Picture alliance/AP Photo

Leo Strauss


denken in verbrecherischer zeit die Kriegsjahre

Hannah Arendt

Die Gesetze des Teufels Im Januar 1942 treffen sich auf der Wannseekonferenz fünfzehn hochrangige Funktionäre des Dritten Reiches, um die administrative, wirtschaftliche und technische Planung der „Endlösung“ zu beschließen. Hannah Arendt, seit 1941 als Flüchtling in den USA, veröffentlicht 1942 in der Wochenzeitschrift Aufbau der deutsch-jüdischen Gemeinde in New York einen Artikel über die Vernichtung der Juden, in dem sie zum aktiven Widerstand von jüdischer Seite aufruft

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n der nationalsozialistischen Wochen­ schrift „Das Reich“ hat Goebbels erklärt, daß mit der Ausrottung der Juden Euro­ pas „und vielleicht außerhalb Europas“ nun begonnen werden würde. Die Ermordung von je 5000 Juden in Berlin, Wien und Prag wird den Auftakt zu dem Massenschlachten bilden, die erste Antwort auf die ungeheuerliche Tatsa­ che, daß alle Völker innerhalb und außerhalb Europas sich entschlossen zeigen, der Nazi-Herr­ schaft um jeden Preis ein Ende zu bereiten. Der Ankündigung ist die Tat bereits vorangegangen: Am 28. Mai, unmittelbar nach dem Attentat auf Heydrich, sind 300 Juden auf den Straßen Ber­ lins aufgegriffen und erschossen worden; ihre Frauen und Kinder wurden in Konzentrations­ lager überführt. Die Gesetze des Teufels sind leider verläßlicher als die der Statistik. […] Seit der Teufel die Macht ergriff, seit er die Ter­ rormaschine erfand, um mit diesem wirksamsten

Propaganda-Instrument der Neuzeit seine Dok­ trin: Recht ist, was nützt, zu verwirklichen, hat er für alle praktischen Demonstrationen sich der Juden bedient. Seit jenen unvordenklichen Zei­ ten, die noch keine zehn Jahre zurückliegen, hat das Schicksal der Juden immer klar angezeigt, wohin die Reise ging. Nur die Zeiträume zwi­ schen dem Experiment und der vollkommenen Durchführung sind inzwischen immer kleiner geworden. Es hat Jahre gebraucht, bevor nicht nur Juden überfallen wurden, sondern auch Tschechen, Norweger, Holländer und Franzosen. Monate verstrichen, bevor in den besetzten Län­ dern nicht nur Juden Freiwild waren. Wochen­ lang hörte man nur von Juden-Deportationen; Franzosen und Polen sind gefolgt, und man erwägt bereits den Plan der Massenvertreibung von 3 Millionen Holländern. […] Wäre ich kein Jude, sondern gehörte irgendeinem anderen europäischen Volke zu, mir würden sich vor

Angst die Haare auf dem Kopf sträuben, sobald einem Juden ein Haar gekrümmt wird. Es war einmal eine glückliche Zeit, als Menschen frei wählen konnten: Lieber tot als Sklav’, lieber stehend sterben, als auf den Knien leben. Und es war einmal eine verruchte Zeit, als schwachsin­ nig gewordene Intellektuelle erklärten, das Leben sei der Güter höchstes. Gekommen ist heute die furchtbare Zeit, in der jeden Tag bewie­ sen wird, daß der Tod seine Schreckensherr­ schaft genau dann beginnt, wenn das Leben das höchste Gut geworden ist; daß der, der es vor­ zieht, auf den Knien zu leben, auf den Knien stirbt; daß niemand leichter zu morden ist als ein Sklave. […] „Keine Messe wird man singen, keinen Kaddisch wird man sagen.“ Diese Toten hinterlassen keine geschriebenen Testamente und kaum einen Namen; wir können ihnen nicht die letzte Ehre erweisen, wir können ihre Witwen und Waisen nicht trösten. Sie sind Opfer, wie es Opfer nicht mehr gegeben hat, seitdem Carthago und der Moloch zerstört wurden. Wir können nur ihre Träume zu Ende träumen. Die Erbschaft dieser Toten werden die antreten, die traurig genug sind, um entschlossen zu sein, die erschüttert genug sind, um fest zu stehen, die phantastisch genug sind, um mit ihrer Einbil­ dungskraft die Ferne zu überwinden, die menschlich genug sind, um mit ihnen die Toten aller Völker zu beweinen und die erschreckt genug sind, um aus Utopien, aus jenem ungast­ lichen Lande, das wir Juden so gerne bewohnen, auszuwandern. Die Sache der jüdischen Armee ist nur zu einem kleinen Teil die Angelegenheit von Diplomaten. Sie ist die Sache dieser Erben, die sie fordern werden im Namen der Lebenden und im Namen der Toten. ➔

Hannah Arendt (1906–1975) Jüdisch-amerikanische Philosophin deutscher Herkunft. Schülerin von Husserl, Jaspers und Heidegger, 1933 zur Emigration gezwungen, geht sie zunächst nach Frankreich, 1941 Flucht in die USA. Ab 1963 Professorin in Chicago, ab 1967 an der New School of Social Research in New York. Bedeutende politische Philosophin und Politikwissenschaftlerin.

„‚Keinen Kaddisch wird man sagen‘ (This means you) (19. Juni 1942)“, in: Hannah Arendt: Vor Antisemitismus ist man nur noch auf dem Monde sicher. Beiträge für die deutsch-jüdische Emigrantenzeitung „Aufbau“ 1941–1945, hrsg. v. Marie Luise Knott, München: Piper, 2000, S. 66–68.

1942  –1943 1. Januar 1942 Unterzeichnung der Gründungs­ erklärung der Vereinten Nationen in Washington, D. C.

20. Januar 1942 Auf der Wannseekonferenz wird die „Endlösung“ der Judenfrage beschlossen.

Philosophie und NATIONALSOZIALISMUS

Juli 1942 In München formt sich die Widerstandsgruppe Weiße Rose.

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September 1942 – Januar 1943 Schlacht von Stalingrad – Kapitulation der deutschen Armee am 31. Januar 1943


Vorlesung von Alfred Baeumler zum Auftakt der Bücherverbrennung am 10. Mai 1933

e ch Sli N en m t: h RD ei tä ­p B h i so r u Un ­n o e ti il d n h in P Ko


Unheimliche kontinuität NS-Philoso­phen in der BRD

»Kaum einer, der sich nicht angepasst hätte« Die Gleichschaltung der deutschen Universitäten machte auch vor der Philosophie nicht halt. Unter den Philosophen, die nicht in die Emigration gingen, gab es kaum einen, der sich nicht dem nationalsozialistischen System angepasst hätte. Über Jahrzehnte verdrängte man nach dem Krieg die Tatsache, dass dieselben Personen, die sich in den 1930erJahren noch zum Nationalsozialismus bekannt hatten, den Wiederaufbau der philosophischen Institute in der Bundesrepublik übernahmen Interview mit Hans Jörg Sandkühler von Catherine Newmark

Foto: ÖNB

PM: Als die Universitäten 1933 gleichgeschaltet wurden – war da die Philosophie als Geschäft der Vernunft widerständiger als andere Fachbereiche? Und hat es in der Zeit von 1933 bis 1945 aus der Philosophie mehr Kritik, mehr kritisches Denken gegen­ über dem Nationalsozialismus gegeben als aus anderen gesell­ schaftlichen oder akademischen Kreisen? Hans Jörg Sandkühler ❱ Nein, man kann nicht sagen, dass die Philosophie widerständiger war. Die Gleichschaltung ging sehr schnell vonstatten. 1933 gab es in Deutschland 56 Professoren für Philosophie. Davon haben bis 1935 aufgrund der Rassengesetzgebung 22 ihren Lehrstuhl verloren, insgesamt 30 wurden ins Exil gezwungen. Unter ihnen Theodor W. Adorno, Ernst von Aster, Ernst Cassirer, Jonas Cohn, Hans Ehrenberg, Moritz Geiger, Fritz Heinemann, Dietrich von Hildebrand, Richard Hönigswald, Max Horkheimer, Richard Kroner, Helmut Kuhn, Arthur Liebert, Karl Löwith, Georg Misch, Helmuth Plessner, Hans Reichenbach, Paul Tillich und Edgar Wind, in Österreich Otto Neurath und Rudolf Carnap. Vielen von ihnen bleibt auch nach 1945 ihr Bürgerrecht in Deutschland versagt; ein großer Teil ist noch heute aus der Erinnerung verdrängt. Das zu erwähnen, ist auch ein Stück Erinnerungsarbeit.

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Was ich nach wie vor erstaunlich finde, ist, wie schnell das alles ging. 1932 haben drei Philosophen den Aufruf zugunsten der NSDAP unterschrieben. Zur Reichstagswahl 1933 waren es erst acht. Dem „Bekenntnis der Professoren an den deutschen Universitäten und Hochschulen zu Adolf Hitler und dem nationalsozialistischen Staat“ haben sich im November 1933 bereits 22 Philosophen angeschlossen, darunter Hans Freyer, HansGeorg Gadamer, Arnold Gehlen, Joachim Ritter. Nach 1933 wurden 22 der Philosophen Mitglieder der NSDAP. Dann kam ein Aufnahmestopp, und 1937 traten weitere 18 der Partei bei. Und das bedeutet: Fast alle, die im Land geblieben waren, die nicht in die Emigration gezwungen worden waren, wurden 1933, spätestens 1937 Mitglied der NSDAP.

Also waren es nicht einige wenige, die sich dem National­ sozialismus angepasst haben, sondern fast alle? ❱ Es gibt nur ganz wenige Ausnahmen. Einige katholische Naturrechtsphilosophen und Karl Jaspers, der mit einer jüdischen Frau verheiratet war – einer der wenigen Fälle, in denen ein deutscher Philosoph in so etwas wie ein „inneres Exil“ gegangen ist. Und wenn man sich die Biografien anschaut, ist das alles noch erstaunlicher: Joachim Ritter war ursprünglich Marxist, und Ernst Cassirer musste

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Die Schuldfrage – ein Volk von Tätern?

Menashe Kadishman: Fallen Leaves, Jüdisches Museum Berlin

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SONDERAUSGABE 03


Nach der Katastrophe Die schuldfrage

KARL JASPERS

Unser Mitläufertum Nach dem Zusammenbruch des Naziregimes erwachen die deutsche Philosophie und das Universitätswesen wieder zum Leben, ohne dass die Frage nach ihrer Verstrickung wirklich gestellt wird. Als einer der wenigen stellt Karl Jaspers die Schuldfrage und bekennt sich zu einer kollektiven Schuld der Deutschen während des Dritten Reiches

Fotos: Pierre Adenis/laif; Picture alliance/Leemage

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n der Tat sind wir Deutschen ohne Ausnahme verpflichtet, in der Frage unserer Schuld klar zu sehen und die Folgerungen zu ziehen. Unsere Menschenwürde verpflichtet uns. Schon was die Welt über uns denkt, kann uns nicht gleichgültig sein; denn wir wissen uns zur Menschheit gehörig, sind zuerst Menschen und dann Deutsche. Wichtiger aber noch ist uns, daß unser eigenes Leben in Not und Abhängigkeit seine Würde nur noch durch Wahrhaftigkeit uns selbst gegenüber haben kann. Die Schuldfrage ist mehr noch als eine Frage seitens der andern an uns eine Frage von uns an uns selbst. Wie wir ihr in unserem Innersten antworten, das begründet unser gegenwärtiges Seins- und Selbstbewusstsein. Sie ist eine Lebensfrage der deutschen Seele. Nur über sie kann eine Umkehrung stattfinden, die uns zu der Erneuerung aus dem Ursprung unseres Wesens bringt. Die Schuldigerklärungen seitens der Sieger haben zwar die größten Folgen für unser Dasein, sie haben politischen Charakter, aber sie helfen uns nicht im Entscheidenden: der inneren Umkehrung. Hier haben wir es allein mit uns selbst zu tun. Philosophie und Theologie sind berufen, die Tiefe der Schuldfrage zu erhellen. […] Es ist ein Unterschied zwischen den Aktiven und den Passiven. Die politisch Handelnden und Ausführenden, die Leitenden und die Propagandisten sind schuldig. Wenn sie nicht kriminell wurden, so haben sie doch durch Aktivität eine positiv bestimmbare Schuld. Jedoch jeder von uns hat schuld, sofern er untätig blieb. Die Schuld der Passivität ist anders. Die Ohnmacht entschuldigt; der wirkungsvolle Tod wird moralisch nicht verlangt. Schon Platon hielt es für selbstverständlich, in Unheilzeiten verzweifelter Zustände sich zu verbergen und zu überleben. Aber die Passivität weiß ihre moralische Schuld für jedes Ver-

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sagen, das in der Nachlässigkeit liegt, nicht jede irgend mögliche Aktivität zum Schutz Bedrohter, zur Erleichterung des Unrechts, zur Gegenwirkung ergriffen zu haben. Im Sichfügen der Ohnmacht blieb immer ein Spielraum zwar nicht gefahrloser, aber mit Vorsicht doch wirksamer Aktivität. Ihn ängstlich versäumt zu haben, wird der einzelne als seine moralische Schuld anerkennen: die Blindheit für das Unheil der anderen, diese Phantasielosigkeit des Herzens, und die innere Unbetroffenheit von dem gesehenen Unheil. Die moralische Schuld im äußeren Mitgehen, das Mitläufertum, ist in irgendeinem Maße sehr vielen von uns gemeinsam. Um sein Dasein zu behaupten, seine Stellung nicht zu verlieren, seine Chancen nicht zu vernichten, wurde man Parteimitglied und vollzog andere nominelle Zugehörigkeiten. Niemand wird dafür eine restlose Entschuldigung finden, zumal angesichts der vielen Deutschen, die solche Anpassung in der Tat nicht vollzogen und die Nachteile auf sich genommen haben. ➔

Die Schuldfrage (1946), München: Piper, 1987, S. 15–16 und 47.

KARL JASPERS (1883–1969) Philosoph und Psychiater, Vertreter der Existenzphilosophie. Professor an der Universität Heidelberg. 1937 wird ihm sein Lehrstuhl entzogen, 1938 erhält er Publikationsverbot. Mit seiner jüdischen Frau entkommt er nur knapp der Deportation. 1948 erhält er einen Ruf an die Universität Basel und emigriert in die Schweiz, wo er 1969 stirbt.

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nach der katastrophe den abgrund denken

Warum Gott schwieg In seinem 1979 erschienenen Buch Das Prinzip Verantwortung ent­wickelt Jonas die Idee, das Überleben der Menschheit sei durch das stetig wachsende technologische Wissen gefährdet. Das Buch ist ein Appell an die menschliche Verantwortlichkeit. Fünf Jahre später erscheint Der Gottesbegriff nach Auschwitz, in dem Hans Jonas sich zu dem Gedanken zwingt, Auschwitz sei von Gott geschaffen. Wenn „Gott schweigt“, so Jonas, dann sind die Menschen Herren über ihr eigenes Schicksal

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is hierher hat unser Argument um die Allmacht nicht mehr getan, als für jede in Kontinuität mit dem jüdischen Erbe stehende Theologie den Grundsatz aufzustellen, daß Gottes Macht als begrenzt anzusehen ist durch etwas, dessen Existenz aus eigenem Recht und dessen Macht, aus eigener Autorität zu wirken, er selbst anerkennt. Das ließe sich nun auch als lediglich ein Zugeständnis von Gottes Seite interpretieren, das er widerrufen kann, wann es ihm beliebt, das heißt also als Zurückhaltung einer Macht, die er unverkürzt besitzt, aber um des Eigenrechts der Schöpfung willen nur verkürzt gebraucht. Doch das würde nicht genügen, denn bei dem wahrhaft und ganz einseitig Ungeheuerlichen, das unter seinen Ebenbildern in der Schöpfung dann und wann die einen den schuldlos andern antun, dürfte man wohl erwarten, daß der gute Gott die eigene Regel selbst äußerster Zurückhaltung seiner Macht dann und wann bricht und mit dem rettenden Wunder eingreift. Doch kein rettendes Wunder geschah; durch die Jahre des Auschwitz-

Wütens schwieg Gott. Die Wunder, die geschahen, kamen von Menschen allein: die Taten jener einzelnen, oft unbekannten Gerechten unter den Völkern, die selbst das letzte Opfer nicht scheuten, um zu retten, zu lindern, ja, wenn es nicht anders ging, hierbei das Los Israels zu teilen. Von ihnen werde ich noch einmal sprechen. Aber Gott schwieg. Und da sage ich nun: nicht weil er nicht wollte, sondern weil er nicht konnte, griff er nicht ein. Aus Gründen, die entscheidend von der zeitgenössischen Erfahrung eingegeben sind, proponiere ich die Idee eines Gottes, der für eine Zeit – die Zeit des fortgehenden Weltprozesses – sich jeder Macht der Einmischung in den physischen Verlauf der Weltdinge begeben hat; der dem Aufprall des weltlichen Geschehens auf sein eigenes Sein antwortet nicht „mit starker Hand und ausgestrecktem Arm“, wie wir Juden alljährlich im Gedenken an den Auszug aus Ägypten rezitieren, sondern mit dem eindringlichstummen Werben seines unerfüllten Zieles. Hierin also entfernt sich mein Spekulieren weit von ältester jüdischer Lehre. Mehrere der Drei-

HANS JONAS (1903–1993) Deutscher Philosoph jüdischer Abstammung, emigriert 1935 nach Palästina. In Jerusalem arbeitet Jonas als Philosophieprofessor; im Zweiten Weltkrieg kämpft er bei den Streitkräften des Vereinigten Königreichs sowie bei der 1944 gegründeten Jüdischen Brigade. Nach dem Krieg übersiedelt er nach Nordamerika. Sein Hauptwerk Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation behandelt die ethischen Aspekte des technischen Fortschritts und setzt diese in Bezug zur natürlichen Umwelt, insbesondere zum menschlichen Leben und der Gesamtheit der Biosphäre.

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zehn Glaubenslehren des Maimonides, die im Gottesdienst gesungen werden, fallen mit der ,starken Hand‘ dahin: die Sätze von Gottes Herrschermacht über die Schöpfung, seiner Belohnung der Guten und Bestrafung der Bösen, selbst vom Kommen des verheißenen Messias. Nicht aber die vom Ruf an die Seelen, von der Inspiration der Propheten und der Thora, also auch nicht die Idee der Erwählung, denn nur aufs Physische bezieht sich die Ohnmacht Gottes. Vor allem bleibt es bei dem einen Gott und so bei dem ,Höre, Israel‘; kein manichäischer Dualismus wird bemüht zur Erklärung des Bösen, aus den Herzen der Menschen allein steigt es auf und gewinnt es Macht in der Welt. Im bloßen Zulassen menschlicher Freiheit liegt ein Verzicht der göttlichen Macht. Schon aus unserer Erörterung von Macht überhaupt folgte ja die Verneinung göttlicher Omnipotenz. Das läßt theoretisch die Wahl offen zwischen einem anfänglichen, theologischen oder ontologischen Dualismus und der Selbstbeschränkung des einzigen Gottes durch die Schöpfung aus dem Nichts. Der Dualismus wiederum kann die manichäische Gestalt einer aktiven Kraft des Bösen annehmen, die von Anfang an dem göttlichen Zweck in allen Dingen entgegenwirkt: eine Zwei-Gott-Theologie; oder die platonische Gestalt eines passiven Mediums, das – ebenso universal – die Verkörperung des Ideals in der Welt nur unvollkommen gestattet: eine Form-Stoff-Ontologie. Die erstere Wahl – die Zwei-Gott-Theologie – ist evident unannehmbar für das Judentum. Die platonische Wahl beantwortet bestenfalls das Problem der Unvollkommenheit und der Naturnotwendigkeit, aber nicht das des positiv-Bösen, das eine Freiheit mit eigener Ermächtigung selbst ihrem Schöpfer gegenüber impliziert; und es ist die Tatsache und das Gelingen des gewollt Bösen, viel mehr als die Heimsuchungen der blinden Naturkausalität – Auschwitz und nicht das Erdbeben von Lissabon –, womit jüdische Theologie heute zu ringen hat. Nur mit der Schöpfung aus dem Nichts haben wir die Einheit des göttlichen Prinzips zusammen mit seiner Selbstbeschränkung, die Raum gibt für die Existenz und Autonomie einer Welt. Die Schöpfung war der Akt der absoluten Souveränität, mit dem sie um des Daseins selbstbestimmender Endlichkeit willen einwilligte, nicht länger absolut zu sein – ein Akt also der göttlichen Selbstent­äußerung. ➔

Der Gottesbegriff nach Auschwitz. Eine jüdische Stimme (1984), Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1987, S. 40–45.

SONDERAUSGABE 03

Foto: Picture alliance/Effigie/Leemage

HANS JONAS


nach der katastrophe den abgrund denken

Rettung des Unaus­sprechlichen. jüdische Theologie nach der Schoah „Die Geschichte ist das Labor der jüdischen Theologie“, schreibt der Philosoph Eugene Borowitz. Diese Theologie ist in ihren Grundfesten erschüttert worden durch die Vernichtung der europäischen Juden. Wie kann man nach dem, was geschehen ist, Gott denken und seinen Glauben leben? Seit 1945 versuchen Philosophen und Theologen, Antworten auf diese Frage zu finden von Noémie Issan-Benchimol

Übersetzung: Till Bardoux; Foto: privat

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er Schriftsteller Elie Wiesel (*1928), der mehrere Konzen­trationslager überlebt hat, erzählt: „Im Reich der Nacht war ich Zeuge eines eigenartigen Prozesses: Drei gelehrte und gottesfürchtige Rabbiner hatten beschlossen, über Gott zu richten für das an seinen Kindern begangene Massaker. Ich erinnere mich: Ich war dort und wollte weinen. Nur weinte dort niemand.“ Gott zum Tribunal der Menschen vorzuladen, nicht um ihn zu verteidigen, sondern um ihn mit seinen nicht gehaltenen Versprechen, mit dem lächerlich gewordenen Bund zwischen ihm und den Menschen zu konfrontieren, damit er sich für sein Schweigen inmitten des Schreckens rechtfertige: Das ist die in ihr tragisches Gegenteil verkehrte Theodizee. Jegliche Theodizee ist ein Unterfangen, die göttlichen Attribute von Gerechtigkeit, Güte und Allmacht im Angesicht des Problems des Bösen zu retten. Dieser von Leibniz erfundene Begriff bezeichnet die „Gerechtigkeit Gottes“ oder gar „Rechtfertigung Gottes“. Die Theodizee ist also ganz grundsätzlich als Entlastung und Reinwaschung Gottes zu verstehen. Ganz gleich, wie die sie stützende Argumentationsstrategie sein mag, die Schlussfolgerung ist eindeutig: Er ist ohne Schuld. Von dort ist es nur ein Schritt bis zu dem Schluss, dass Er weder an der Schöpfung der Welt und der Menschen noch an der irdischen

Ordnung überhaupt irgendeinen Anteil hat – ein Schritt, den einige jüdische Theologen, Anhänger der sogenannten „Gott ist tot“-Theologie, zu tun gewagt haben, womit sie die Theodizee bis in ihre letzte Verschanzung trieben: Der Angeklagte ist unschuldig, weil es keinen Angeklagten gibt. So schreibt der Rabbiner und Philosoph Richard Rubenstein (*1924) im Jahr 1966 in After Auschwitz: „Wenn ich sage, dass wir zur Zeit des Gottestodes leben, so meine ich damit, dass das Band, welches Gott und den Menschen, Himmel und Erde miteinander verband, gerissen ist. Wir befinden uns in einem kalten, stummen und

Noémie Issan-Benchimol Die französisch-israelische Philosophin forscht zu mittel­ alterlicher und insbeson­dere jüdischer Philosophie.

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gefühllosen Kosmos, und keine größere Macht jenseits unserer eigenen steht uns bei. Was kann nach Auschwitz ein Jude anderes über Gott sagen?“ All diejenigen, denen diese atheistische Schlussfolgerung widerstrebte und die im Bereich des Glaubens und der Religionsausübung geblieben sind, mussten sich einen Weg bahnen zwischen dem seligen Optimismus – der moralisch falsch gewesen wäre, eine Verhöhnung der Opfer – und dem schuldigen Schweigen, auch wenn dies bedeutete, „auf der Schwelle zu einer zufriedenstellenden Antwort zu verharren“ und lieber „ohne Glauben als im Simulakrum eines gefühllosen Glaubens zu leben“ (Eliezer Berkovits). Doch indem man Gott den Prozess macht, ihn für schuldig, machtlos, verdunkelt und leidend erklärt, spricht man noch immer über Ihn und zu Ihm und hält seinem Schweigen sein eigenes Wort (die Thora) entgegen. Denn das, was man gemeinhin „HolocaustTheologie“ oder „Theologie nach Auschwitz“ nennt und was eigentlich jegliche Reflexion über Gott umfasst, die Auschwitz als Geschehnis zur Kenntnis nimmt, gleicht mitunter mehr einem „Stammeln“ (Hans Jonas), einem Trösten, einer Exegese oder gar der Poesie als der bloßen vernunftgeleiteten Spekulation – einen Prozess gegen Gott anzustrengen, ist zugleich Wahnsinn


Denkmal f端r die ermordeten Juden Europas in Berlin


nach der katastrophe Erinnerungskultur

»Erinnerung lässt sich nicht verordnen« Warum die Arbeit an der eigenen Geschichte eine notwendige Aufgabe bleibt

Bis in die 1980er-Jahre wurde die Zeit des Nationalsozialismus in der breiten Öffentlichkeit kaum aufgearbeitet. Seither hat sich in Deutschland eine lebendige und lebhafte Erinnerungskultur herausgebildet. Ein Gespräch mit der Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann über die historische Entwicklung der „Erinnerungsarbeit“ und die Herausforderungen, vor denen diese angesichts der aussterbenden Zeitzeugengeneration steht interview mit Aleida Assmann von Svenja FlaSSpöhler

Foto: Giribas Jose/SZ Photo/laif

PM: 1967 veröffentlichten Alexander und Margarete Mitscher­ lich ihr wirkmächtiges Buch Die Unfähigkeit zu trauern. Darin wird die Verdrängungsmentalität der Deutschen beklagt, ihr Unwille, sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen. Warum hat die Aufarbeitung der NS-Zeit so lange auf sich warten lassen? Aleida Assmann ❱ Für die Verzögerung der Erinnerung im Sinne einer Bereitschaft, sich dem Ausmaß des Schreckens des Krieges, der Verbrechen und der eigenen Verstrickungen zu stellen, gibt es mehrere Gründe. Für das eigene Leid gab es damals kein gesellschaftliches Interesse, denn alle hatten Schlimmes erlebt. Auch von Trauma und den psychischen Spätfolgen extremer Gewalt war damals nicht die Rede; diese Begriffe und Vorstellungen gab es nicht. Was es dagegen gab, war die Vorstellung, dass die Zeit Wunden heilt und sich die Menschen von der Zukunft Verbesserung und Fortschritt erwarten dürfen. Die gemeinsamen Investitionen in diese Zukunft betäubten den Schmerz ebenso wie Gefühle der Scham und Schuld. Zurückschauen war verboten, man musste in die Zukunft blicken. Aufbruch, Aufbau, Erneuerung hießen die Parolen im Westen wie im Osten: „Auferstanden aus Ruinen und der Zukunft zugewandt“ sang man in der DDR. Außerdem hatten die meisten nach 1945

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ein vitales Interesse an der Nicht-Thematisierung des „Dritten Reichs“ und des Vergessens ihrer früheren Geschichte.

Wann setzt das, was wir heute als deutsche „Erinnerungskultur“ bezeichnen, ein? Wo sehen Sie wichtige Wegmarken? ❱ Ein Wandel dieses Weltbilds und dieser Zeitvorstellung vollzog sich in den 1980er-Jahren. Damals gab es eine Serie von Gedenkveranstaltungen, die eine eigene Dynamik gewann – man kann fast von einer Kettenreaktion sprechen – und in den Medien eine neue Diskussion über die deutsche Vergangenheit einleitete. Im Mai 1985 zum Beispiel wollten Kohl und Reagan in Bitburg Versöhnung feiern und einen Schlussstrich unter den Krieg ziehen. Da auf dem Friedhof auch SS-Angehörige begraben waren, löste das einen Skandal aus, der in Berlin zu wilden Grabungen auf dem ehemaligen Gestapogelände führte, das heute als „Topographie des Terrors“ bekannt ist. Kurz darauf erklärte Weizsäcker in seiner berühmten Rede zum 8. Mai den Deutschen, dass sie sich nicht mehr als besiegt, sondern als befreit fühlen sollten. 1986 wurde dann im „Historikerstreit“ über den Ort des Holocaust in der Geschichte nachgedacht und eine neue Sprache für dem Umgang mit diesem Geschichtsereignis entwickelt. 1988 fand das 50‑jährige Gedenken an das Novemberpogrom statt. Die mit hoher

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