[Sonderausgabe] Der Koran

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DER Koran Wie ist er entstanden? Wie wird er interpretiert? Was sagt er zu Glauben und Freiheit? Zur Vernunft, zum Recht, zu Frauen, zum Paradies?

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Gedeutet von Averroës • Al-Ghazali • Nikolaus von Kues • Herder Goethe • Lessing • Hegel • Nietzsche • Muhammad Iqbal • Edward Said … Mit aktuellen Einschätzungen von Lamya Kaddor • Stefan Wild Navid Kermani • Hartmut Bobzin • Asma Barlas • Angelika Neuwirth …


Impressum

Denker

SONDERAUSGABE 04, JUNI 2015 Redaktion: Brunnenstraße 143, 10115 Berlin, Deutschland Tel.: +49 (0)30 / 60 98 58 215 E-Mail: redaktion@philomag.de Chefredakteurin der Sonderausgabe: Dr. Catherine Newmark (V.i.S.d.P.) Berater: Dr. Wolfram Eilenberger, Sven Ortoli Art-Direktion: Henrike Noetzold Bildredaktion: Tina Ahrens Schlussredaktion: Sebastian Guggolz Lektorat: Christiane Braun Internet: Cyril Druesne Layoutentwicklung: Jean-Patrice Wattinne / L’Éclaireur Übersetzer: Till Bardoux, Michael Ebmeyer, Victoria Paul Praktikanten: Anna Metz, Joseph Möller, Alexander Vajda

Angelika Neuwirth Die Professorin für Arabistik gilt als die beste Kennerin des Korans im deutschsprachigen Raum. Sie arbeitet an einer umfassenden Unter­ suchung und Kommentierung der koranischen Über­lieferung. In diesem Heft erklärt sie die Entstehungs­geschichte des Korans und die christli­ chen, jüdischen und heidnischen Einflüsse, die in die frühen Debatten der islamischen Gemeinde eingingen. Seite 14

Navid Kermani Der habilitierte Orientalist und Schriftsteller iranischer Herkunft ist einer der einflussreichsten öffentlichen Intellektuellen in Deutschland. In seinem Text „Gott ist schön“ beschreibt er, wie wichtig im arabischen Kulturraum die Bewunderung für die Schönheit des Korans immer auch war und ist. Der Koran mag sich selbst nicht als Poesie verstehen, aber er ist bis heute ein Vorbild für alle arabischen Dichter. Seite 21

Verlag: Philomagazin Verlag GmbH, Brunnenstraße 143, 10115 Berlin, Deutschland, Tel.: +49 (0)30 / 60 98 58 215 E-Mail: info@philomag.de Geschäftsführer und Verleger: Fabrice Gerschel Herausgeberin: Anne-Sophie Moreau

Hartmut Bobzin

Vertrieb: AS-Vertriebsservice GmbH, Süderstraße 77, 20097 Hamburg, Deutschland, www.as-vertriebsservice.de Litho: tiff.any GmbH, Paul-Lincke-Ufer 7, Aufgang 7c, 10999 Berlin Druck: pva, Druck und MedienDienstleistungen GmbH, Industriestraße 15, 76829 Landau in der Pfalz

Bis 2013 war Hartmut Bobzin Professor für Islamwissenschaften an der Universität Erlangen-Nürnberg. Seine Neuübersetzung des Korans von 2010 gilt im deutschen Sprachraum als maßgeblich. Im Interview schildert er die Geschichte der europäischen Auseinandersetzung mit dem Koran, die sich im Laufe der Jahrhunderte von theologischer Ablehnung zu kultureller Faszination wandelte. Seite 28

Anzeigen / Nielsen I, V, VI, VII: Jörn Schmieding-Dieck – MedienQuartier Hamburg, Tel.: +49 (0)40 / 60 94 41 401 E-Mail: schmieding-dieck@mqhh.de Anzeigen / Nielsen II, IIIa, A, CH: Andreas Hey – Verlagsbüro Andreas Hey Tel.: +49 (0)67  85 /  94  100 E-Mail: hey@verlagsbuero-hey.de Anzeigen / Nielsen IIIb, IV: Markus Piendl – MAV GmbH Tel.: +49 (0)89 / 74 50 83 13 E-Mail: piendl@mav-muenchen.com Anzeigen Buchverlage / Kultur / Seminare: Thomas Laschinski – PremiumContentMedia Tel.: +49 (0)30 / 60 98 59 30 E-Mail: advertisebooks@laschinski.com Presse- und Öffentlichkeitsarbeit: Sabine Schaub Tel.: +49 (0)30 / 31 99 83 40 E-Mail: s.schaub@schwindkommunikation.de www.schwindkommunikation.de

Jede heilige Schrift muss interpretiert werden, aber die Prinzipien der Exegese sind im Text selbst nicht festgelegt. So kennt auch die islamische Geschichte eine Fülle von Auslegungsarten des Korans. Welche Grund­ prinzipien dabei leitend sind und auf welche Probleme moderne Lesarten stoßen, erläutert der emeritierte Professor für Islamwissenschaften Stefan Wild im Gespräch. Seite 44

Thorsten Gerald Schneiders Ist „der Islam“ am politischen Extremismus der Gegenwart schuld? Wie verhalten sich der politische Islamismus und die fundamentalistischen Religionsauslegungen von heute zur islamischen Tradition? Und können sie aus der Religion heraus verstanden werden, oder müssen sie vielmehr historisch erklärt werden? Der Islam- und Politikwissenschaftler antwortet auf diese Fragen. Seite 88

Abo-Service: Philosophie Magazin, Leserservice, PressUp GmbH, Postfach 70 13 11, 22013 Hamburg Tel.: +49 (0)40 / 41 44 84 63 Fax: +49 (0)40 / 41 44 84 99 E-Mail: philomag@pressup.de Online-Bestellungen: www.philomag.de Das Philosophie Magazin ist erhältlich im Bahnhofs- und Flughafenbuchhandel in Deutschland.

Lamya Kaddor Die Vorsitzende des „Liberal-Islamischen Bundes e.V.“ ist Religions­ pädagogin und Publizistin und eine der profiliertesten öffentlichen Vertreterinnen des liberalen Islams in Deutschland. Wie liberale Muslime den Koran lesen, und warum der Islamunterricht an deutschen Schulen für junge deutsche Muslime so wichtig ist, verdeutlicht sie im abschließen­ den Interview dieses Heftes. Seite 94

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SONDERAUSGABE 04

Fotos: Privat; Arno Burgi; Vincent Leifer/Van Ryck; Privat; David Klammer/laif; Arne List

Stefan Wild


Inhalt Editorial Impressum / Denker

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6 GRUNDLAGEN Chronologie der Textentstehung

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Blütezeiten und Austausch 7 Kleines ABC des Islams

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Frühzeit des Islams

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Den Koran auslegen

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26 DER KORAN IM WESTEN

J. G. Herder

Erhaben, abstoßend, bewundernswürdig J. W. v. Goethe

Befreiung durch Allgemeinheit G. W. F. Hegel

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32

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Interview mit Angelika Neuwirth 14

Atemloses Ringen eines Aufrichtigen

STRUKTUR Dokument göttlicher Einmaligkeit

Ein raffiniertes Ja zum Leben

Jacques Berque

Zerstückelte Einheit

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Fazlur Rahman

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Navid Kermani

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POESIE Gott ist schön „Der Koran klingt wie moderne Poesie“

Interview mit Stefan Weidner 24

Thomas Carlyle

Friedrich Nietzsche

ORIENTALISMUS Was ist Orientalismus? Edward W. Said

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42 DEN KORAN

Das Wort Gottes Gott als Buch Theodor Nöldeke

DER KORAN

56

Paradies und Hölle 57 Leibesglück im Paradies? Nikolaus von Kues

Die Hölle im Innern Muhammad Iqbal

58 59

Freiheit 60 „Freiheit ist im Koran zweischneidig“ Interview mit Souleymane Bachir Diagne

Frömmigkeit als Leistung Franz Rosenzweig

61 64

Gegen die Menschenrechte? Yadh Ben Achour

65

Auszug aus der Unmündigkeit Nasr Hamid Abu Zaid

66

48 49

5

Asma Barlas

Amina Wadud

Abdou Filali-Ansary

Die Todesstrafe ist unzeit­gemäß Abdelmajid Charfi

Fazlur Rahman

Jenseits des Heiligen Abdou Filali-Ansary

85

Interview mit Thorsten Gerald Schneiders 88

„Der Islam braucht eine Aufklärung“

Wissenschaft als Gottesauftrag

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FUNDAMENTALISMUS „Islamismus ist ein politisches, kein religiöses Phänomen“

Wider die antike Philosophie

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86 HERAUSFORDERUNG KORAN

REFORM Religionen entmythologisieren

Interview mit Meryem Sebti 68

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Recht und Vergeltung 82 Ein politisches Laboratorium

Glauben und Vernunft 67 „Nur der Mensch kann göttliche Zeichen deuten“

Ibn Ruschd / Averroës

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75

Gegen männliche Herrschaft

Für den Gebrauch der Vernunft

EXEGESE „Der Koran ist offen für ­verschiedenste Auslegungen“

Muhammad Iqbal

Abraham 55 Von Abraham zu Ibrahim

53

Al-Ghazali 70

INTERPRETIEREN

Interview mit Stefan Wild

51

Vernunft in den Grenzen der Religion

Frauen 76 Im Koran die Befreiung lesen

Maurice-Ruben Hayoun

PHILOSOPHISCHE PERSPEKTIVEN Ein brennender Wüstenwind

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Kain und Abel 52 Im Anfang war der Streit Ali Schariati

Interview mit Hartmut Bobzin 28

G. E. Lessing

ENTSTEHUNG „Der Koran ist vielstimmig“

Muhammad Iqbal

CHRISTENTUM – ISLAM „Aus Abweisung wurde Faszination“

Wahrheiten, die jeder glauben kann

12 WAS IST DER KORAN

Adam und Eva Freiheit statt Schuld

Mohammed Arkoun

Interview mit Ibn Warraq

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93

LIBERALER ISLAM „Wir müssen Gottes Wort in heutige Kontexte einpassen“

Interview mit Lamya Kaddor 94

72

Literatur

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Was ist der

Koran Der Koran gilt als Gottes ewig gültiges Wort, empfangen und überbracht von dessen Propheten Mohammed. Doch wie entstand der arabische Urtext genau? Wer schrieb die Offenbarungen auf? Wer autorisierte die endgültige Gestalt der heiligen Schrift? Unter welchen politischen Bedingungen? Fragen, die ins Zentrum des islamischen Glaubens führen und die bis heute kontrovers diskutiert werden. Unstrittig scheint nur eines: Die Sprache des Korans ist von besonderer klanglicher Schönheit und rhythmischer Kraft. Ein Werk der Dichtung und des Gesangs also – und gerade kein Gesetzbuch?

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SONDERAUSGABE 04


Foto: Giona Bridler/Gallerystock

Rub al-Chali. Die größte Sandwüste der Erde bedeckt das südliche Drittel der Arabischen Halbinsel


WAS IST DER KORAN ENTSTEHUNG

„Der Koran ist ­vielstimmig“ Nach traditionellem muslimischen Verständnis ist der Koran zur Gänze Gottes Wort. Aber auch die klassische islamische Korankunde untersucht die einzelnen Teile auf ihre Entstehungszeit und unterscheidet zwischen früheren, mekkanischen, und späteren, medinischen Suren. Die große Koranforscherin Angelika Neuwirth erläutert, wie sich in der zeitlichen Abfolge der Suren eine theologische Diskussion nachverfolgen lässt, die christliche, jüdische und alte arabische Einflüsse aufnimmt und weiterentwickelt.

INTERVIEW MIT ANGELIKA NEUWIRTH VON CATHERINE NEWMARK

PM: Was ist der Koran? Ein Gebetbuch? Ein Gesetzestext?

ANGELIKA NEUWIRTH: › Man muss hier unterscheiden. Muslime kennen den Koran traditionellerweise als die Grundurkunde ihrer Religion und zugleich als die Grundlage ihrer gottesdienstlichen Übungen, ihre Gebete basieren auf Korantexten, die sie täglich auswendig mehrfach zur Verfügung haben müssen, um ihren Gebetspflichten nachzukommen. Für die Muslime ist der Koran zunächst also gar kein Buch, sondern ein Inventar von Texten, die man im Gottesdienst braucht. In neuerer Zeit ist der Koran freilich im islamischen Kontext auch zunehmend eine Richtschnur für das eigene Verhalten geworden. Früher hat man den Koran nur in gelehrten Kreisen auf seinen genauen Inhalt hin gelesen, ansonsten war er ein liturgischer Text, während man zur Orientierung im täglichen Leben juristische Texte zur Verfügung hatte oder sich auf Fatwas, also Rechtsgutachten, einfache Versionen der Scharia, stützte. Man wäre beispielsweise bei häuslichen Konflikten nie auf die Idee gekommen, im Koran nachzuschlagen, man konnte Entscheidungen auf Präzedenzfälle gründen, die in der Traditionsliteratur diskutiert wurden. Erst seit dem frühen 20. Jahrhundert, als die Tradition als nicht mehr zeitgemäß in Verruf geriet, gilt der Koran schlicht als die autoritative Schrift. Das ist etwas beeinflusst von der europäischen Sicht, dass Eindeutigkeit herrschen sollte: Die vielen Optionen, die die Rechtsliteratur anbot, erschienen unter diesem Aspekt gesehen nicht mehr attraktiv. Man ging also zurück „zu den Quellen“, deren älteste der Koran ist. Das erwies sich als eine fatale Umwertung des Korans. Seit dieser, man könnte sagen: „Protestantisierung“ des Islams um 1900 herum wird er missbraucht als Nachschlagewerk für Probleme, für deren Lösung ein 1400 Jahre alter Text nicht gut geeignet ist.

Als was fasst die westliche Koranforschung, zu deren maßgeblichen Exponentinnen Sie ja auch gehören, den Koran?

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› Es gibt eine lange europäische Tradition, den Koran eher abwertend als eine antichristliche Schrift zu lesen. In der Gegenwart sieht man ihn zwar weniger polemisch, ist jedoch vielfach von der Vorstellung, er sei von christlichen Traditionen abhängig, noch nicht losgekommen. Diese Grundhaltung schreckt Muslime oft ab, die westliche kritische Koranforschung als einen legitimen Zugang zum Koran ernst zu nehmen. Gerade die in Berlin betriebene Koranforschung bemüht sich seit einigen Jahren um ein differenziertes Bild, auch was die Echos früherer Traditionen im Koran betrifft. In dem an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften angesiedelten Corpus-Coranicum-Projekt etwa versuchen wir nachzuholen, was die Forschung für die Bibel längst geleistet hat. Hier werden zunächst die ältesten Handschriften und die in der islamischen Literatur verzeichneten Textvarianten ausgewertet. Vor allem aber werden die Koransuren als Gedichtformen genau gelesen, das heißt auf ihre Einheitlichkeit geprüft und eventuell ihre Zusammensetzung aus früheren und späteren Teilen festgestellt. Das geschieht nach den bekannten historisch-kritischen philologischen Methoden, die die Bibelwissenschaft entwickelt hat. Es wird dann die Komposition analysiert und gedeutet. So lässt sich der Korantext als eine Sequenz von prophetischen Mitteilungen erkennbar machen, die ganz bestimmte Einleitungen und Ausleitungen zeigen, zwischen denen Erzählungen und Debatten eingefügt sind. Es zeichnet sich deutlich ein ganz klarer Fortschritt in der theologische Schärfe ab, der die Konstruktion einer entstehenden Gemeinde und ihrer Identität spiegelt. Der Koran dokumentiert also einen theologischen Streit?

› Ja, wenn man den Koran so liest, dann wird klar, dass darin viele Stimmen zum Sprechen kommen, die miteinander streiten: Der Prophet wird immer angewiesen, seinen Gegnern Argumente zu liefern. Es handelt sich also ganz offenbar um eine anhaltende theologische Debatte zwi-

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SONDERAUSGABE 04


WAS IST DER KORAN ENTSTEHUNG

» Man kann den Koran nicht als Buch verstehen, sondern man muss ihn als eine Art Mitschrift einer Gemeindebildung lesen. Denn am Ende steht ja nicht nur ein Buch da, son­ dern eine Religions­ gemeinschaft. « Gemeindebildung lesen. Denn am Ende steht ja nicht nur ein Buch da, sondern eine Religionsgemeinschaft, die es vorher nicht gab und die sich in diesem Prozess herausgebildet hat. Das war vergleichbar der Entwicklung im Judentum und Christentum; auch hier entstehen mit den heiligen Büchern zusammen neue Identitätsgemeinschaften.

In welcher Ordnung ist der Koran in seiner kanonischen Form aufgeschrieben? Und wie verhält sich das zu der von Ihnen untersuchten zeitlichen Entwicklung der Suren?

ANGELIKA NEUWIRTH geboren 1943

› Die ältesten Handschriften, die es gibt, kann man um 650 herum ansetzen, das heißt 20 Jahre nach Beendigung der Verkündigung. Es ist dabei interessant, dass die – uns namentlich nicht bekannten – Redaktoren, die die Suren aufgeschrieben haben, sich offensichtlich nicht in den Text einmischen wollten und kein Urteil über die Bedeutung oder den Stellenwert einer einzelnen Sure fällen wollten. Darum wählten sie das mechanischste Prinzip, das möglich war: Sie ordneten die Suren nach ihrer Länge.

Angelika Neuwirth ist seit 1991 Professorin für Arabistik an der Freien Universität Berlin. Davor war sie u.a. Gastprofessorin an der University of Jordan in Amman und an der ‘Ayn Shams University in Kairo. Von 1994 bis 1999 war sie Direktorin am Orient-Institut der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft Beirut und Istanbul. 1996 Bundesverdienstkreuz 1. Klasse für ihre Verdienste um die kulturelle Zusammenarbeit zwischen Deutschland und dem Libanon. Veröffentlichungen u. a. „Der Koran als Text der Spätantike. Ein europä­ ischer Zugang“ (Verlag der Weltreligionen, 2010); „Koranforschung – eine politische Philologie?“ (De Gruyter, 2014).

Und wie rekonstruiert man daraus jetzt eine Chronologie?

Foto: Privat

Angelika Neuwirth arbeitet derzeit an einer auf fünf Bände angelegten kommentierten Neuübersetzung des Korans, der erste Band erschien 2011 („Der Koran. Handkommentar mit Übersetzung. Band 1: Poetische Prophetie. Frühmekkanische Suren“, Verlag der Welt­ religionen). Der Erforschung des Korans ist auch das von ihr geleitete Corpus-CoranicumProjekt der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften gewidmet.

schen verschiedenen Partnern, es streiten sich Leute über kontroverse Überzeugungen in verschiedenen Registern. Zunächst ist der Ton eher sanft, am Ende wird er immer schärfer. Wenn man den Koran als Verkündigungsprozess ernst nimmt, ist er ein Drama. Es sind viele Stimmen darin, die aufeinander Bezug nehmen. Man kann ihn deshalb nicht als Buch verstehen, sondern man muss ihn als eine Art Mitschrift einer

DER KORAN

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› Die islamische Tradition hat das ja selbst auch immer schon getan, es gibt eine eigene kleine Unterdisziplin der traditionellen Koranwissenschaft, die heißt „das Mekkanische und das Medinische“. Damit unterscheidet man zwischen den früheren – aus dem mekkanischen Verkündigungsprozess stammenden – und den späteren Suren, die während der politisch brisanten Zeit in Medina stammen. Die Zuordnung fußt auf bestimmten formalen und inhaltlichen Merkmalen, die in der modernen Wissenschaft aber verfeinert werden müssen, man hat auch rhetorische Textstrategien einzubeziehen. Und hält diese traditionelle Chronologie auch der modernen philologischen Prüfung stand?

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WAS IST DER KORAN STRUKTUR

FAZLUR RAHMAN

Zerstückelte Einheit In seinem kritischen Hauptwerk „Islam and Modernity“ von 1982 kritisiert der pakistanische Philosoph Fazlur Rahman den bruchstückhaften und willkürlichen Umgang mit dem Koran in Geschichte und Gegenwart und fordert die Entwicklung einer vernunftgeleiteten Hermeneutik.

Methodologische und hermeneutische Grundfragen wurden dabei nicht gezielt angegangen. So verdankt sich der Erfolg der mittelalterlichen islamischen Rechtssysteme zum Teil dem Pragmatismus der ganz frühen Generationen, die für die Gesetzgebung auf Bräuche und Institutionen der eroberten Länder zurückgriffen und diese, wo nötig, im Licht der Lehre des Korans modifizierten und sie mit ihr in Einklang brachten. Wo dagegen versucht wurde, Gesetze aus dem Koran in abstracto abzuleiten – etwa im Bereich des Strafrechts, Hadd genannt – gerieten die Ergebnisse nicht sehr überzeugend. Dies lag daran, dass das Instrumentarium für solche Ableitungen, Qiyās oder analogisches Denken genannt, nicht hinreichend ausgefeilt war. (…) Allgemein wurde die dem Koran zugrunde liegende Einheit nicht begriffen; hinzu kam eine Fixierung auf einzelne, aus dem Zusammenhang gerissene Verse. Infolge dieses „atomistischen“ Ansatzes wurden Gesetze oft aus Versen abgeleitet, die gar nicht für die Rechtsprechung bestimmt waren. Der bruchstückhafte und oft willkürliche, von Fremdeinwirkungen geprägte Umgang mit dem Koran hat auch in moderner Zeit nicht aufgehört, sondern sich in gewisser Weise noch verschlimmert. Der Druck moderner Ideen und die Kräfte des sozialen Wandels haben, in Verbindung mit den kolonialistischen Herrschaftsphasen in den muslimischen Ländern, eine

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Aus dem Englischen von Michael Ebmeyer

Fazlur Rahman: „Islam & Modernity“, Chicago: The University of Chicago Press, 1982, S. 1–4.

FAZLUR RAHMAN 1919 –1988

Der in Britisch-Indien geborene Rahman unterrichtete islamische Philosophie in Großbritannien und Kanada, 1961 kehrte er nach Pakistan ans Central Institute of Islamic Research zurück. 1969 – 1988 Professor in Chicago. Der pakistanische Philosoph gilt als maßgebliche Stimme des liberalen Islams im 20. Jahrhundert; er geriet immer wieder in Konflikt mit konservativen Muslimen in seiner Heimat.

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SONDERAUSGABE 04

Foto: Public Domain

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er Leser wird merken, wie sehr mir an der korrekten Methode zur Auslegung des Korans gelegen ist, und sich vielleicht im ersten Moment wundern, warum diese Frage im Mittelpunkt des islamischen Intellektualismus stehen soll. Die Antwort liegt darin, dass der Koran für Muslime das Wort Gottes ist, wie es dem Propheten Mohammed zwischen 610 und 632 westlicher Zeitrechnung buchstäblich offenbart wurde: in einer Weise, die wohl für kein anderes religiöses Dokument gilt. Zudem erklärt der Koran sich selbst zum umfassendsten Leitfaden für den Menschen, der frühere Offenbarungen einbezieht und zusammenfasst (12:111, 10:37, 6:114). Überdies erstreckten sich die Offenbarung des Korans und die prophetische Laufbahn Mohammeds über mehr als 22 Jahre, und in dieser Zeit wurden Entscheidungen aller Art zur Politik im Frieden wie im Krieg, zu rechtlichen und moralischen Fragen im privaten wie im öffentlichen Leben angesichts wirklicher Situationen getroffen. Mithin fand der Koran seit der Zeit seiner Offenbarung praktische und politische Anwendung; er war kein nur frommer oder persönlicher religiöser Text. Mohammeds prophetisches Wirken richtete sich nicht allein auf das Private und Metaphysische, sondern mehr noch auf die moralische Verbesserung des Menschen in einem konkreten und gemeinschaftlichen Sinn. Dies führte naturgemäß dazu, dass die muslimischen Juristen und Intellektuellen den Koran – und das Beispiel des Propheten – als einen unvergleichlichen Hort an Antworten auf Fragen jeglicher Art sahen. Dass diese Annahme sich in der Praxis bewährte, stärkte noch den Glauben der Muslime an die Macht der Offenbarung, für alle denkbaren Situationen die richtige Lösung anzubieten.

Situation geschaffen, in der manche Muslime energisch die Übernahme gewisser westlicher Konzepte und Institutionen verfechten und sie aus dem Koran heraus rechtfertigen, während andere, ebenso vehement, die Moderne in Bausch und Bogen verdammen. Unüberschaubar ist die Flut an „apologetischen“ Texten, die Selbstverherrlichung an die Stelle von Reformen setzen. Vor diesem Hintergrund scheint die Entwicklung einer angemessenen hermeneutischen Methode zwingend notwendig. Eine solche Methode sollte, wie ich meine, bestimmte Faktoren einbeziehen, andere aber von vornherein ausschließen. Sie befasst sich allein mit dem kognitiven Aspekt der Offenbarung, nicht mit ihren ästhetischen oder Machtfragen betreffenden Implikationen. Jede Offenbarung ist ein Kunstwerk und vermittelt ein Gefühl für das Schöne und einen Eindruck Ehrfurcht gebietender Majestät (Jamal und Jalal, in der sufistischen Terminologie). Vor allem aber ruft sie jene Grundhaltung des Geistes hervor, die wir Glauben nennen und die uns gleichermaßen beglückt wie fordert. Dies ist die herausragende Eigenschaft des Korans. Doch bei der Methode der koranischen Hermeneutik, von der ich spreche, geht es darum, seine Botschaft zu verstehen – sodass jene, die an ihn glauben, sich im privaten wie im gesellschaftlichen Leben kohärent und sinnvoll von ihm anleiten lassen können. Diese rein kognitive Anstrengung können auch Nichtmuslime in gewissem Ausmaß unternehmen, sofern sie genug Wohlwollen und Ernsthaftigkeit mitbringen. Doch den Glauben, der allein dazu bewegt, dem Koran gemäß zu leben, haben natürlich nur echte Muslime. Ich bestreite nicht, dass der Glaube aus dieser kognitiven Anstrengung selbst erwachsen kann, und erst recht nicht, dass der Glaube zu dieser Anstrengung führen kann und sollte. Doch der entscheidende Punkt ist, dass sich kognitives Erkennen und gefühlsmäßiger Glaube in der Praxis trennen lassen.


WAS IST DER KORAN POESIE

NAVID KERMANI

Gott ist schön Bereits in seiner umfangreichen Dissertationsschrift hat der bekannte Orientalist und Schriftsteller Navid Kermani sich mit der im Westen kaum bekannten Geschichte der ästhetischen Rezeption des Korans befasst. Kermani stellt heraus, wie wichtig die Schönheit des Korans für die muslimische Religiosität ist, und betont den bleibenden Einfluss der koranischen Sprache für die arabische Kultur.

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er größte unter den Dichtern Arabiens war Labīd ibn Rabī‘a. Die Blätter mit seinen Gedichten hingen, als Zeichen seines Triumphes, an den Türen der Kaaba. Keiner seiner Dichterkollegen wagte es, die Herausforderung anzunehmen und seine Verse neben die Labīds zu hängen. Eines Tages jedoch näherten sich einige Anhänger Mohammeds, der unter den heidnischen Arabern jener Zeit als obskurer Zaubermann und geistesgestörter Poet verschrien war. Sie befestigten ein Stück aus der zweiten Sure des Koran am Tor und forderten Labīd auf, es vorzutragen. Der Dichterkönig lachte ob dieser Anmaßung auf. Mehr aus Zeitvertreib oder vielleicht auch aus Spott ließ er sich darauf ein, die Verse zu rezitieren. Überwältigt von ihrer Schönheit bekannte er sich an Ort und Stelle zum Islam. In der islamischen Literatur sind unzählige solcher und ähnlicher Geschichten aufgezeichnet, Geschichten, die von der überwältigenden Wirkung der koranischen Rezitation auf die Zeitgenossen Mohammeds erzählen, von Menschen, die sich beim Hören eines Koranverses bekehren, die weinen, schreien, in Verzückung geraten oder ohnmächtig werden. Nimmt man sie zur Grundlage, hat der Koran Anhänger wie Gegner begeistert, beglückt, erschüttert oder entsetzt, jedenfalls bewegt, oft geradezu hypnotisiert, in Ekstase versetzt und im Extremfall getötet. Etwa soll der Prophetengefährte Zurāra al-Harašī einen Schrei ausgestoßen haben und dann tot umgefallen sein, da er während des öffentlichen Gebetes aus dem Koran rezitierte. Ebenso ging es zahlreichen

» Die Art der Wunder, die erzählt werden, ist aufschlußreich für den jeweiligen Glaubenshorizont. Und das größte, später zum Dogma erklärte Wunder des Islams ist die Schönheit des geoffenbarten Textes. « anderen Frommen seiner und späterer Zeit, so einem der bekanntesten tābi‘ūn (Nachfolger der Prophetengenossen), dem Abū Guhayr ad-Darīr (…). Als ihm der berühmte Koranrezitator Sālih al-Murri (…) einen Vers vortrug, gab er „ein lautes Stöhnen von sich und verließ die Welt“, wie es in einem besonders von Mystikern häufig erwähnten Bericht heißt. In der koranischen Rezeptionsgeschichte fast noch auffälliger als die qatlā l-Qur’ān, die „vom Koran Getöteten“, über die der schafi‘itische Theologe Abū Ishāq Muhammad at-Ta‘labī (…) immerhin ein ganzes Buch verfaßt hat, sind jedoch die Konversionen. (…) Gewiß ist die Authentizität solcher Bekehrungsgeschichten zweifelhaft oder, wie im

DER KORAN

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Falle der eingangs vorgestellten Episode des Dichters Labīd, ausgeschlossen; unverkennbar haben sie oft apologetischen Charakter. Darin unterscheiden sich die muslimischen Missionsberichte, Wundererzählungen und Propheten­ traditionen allenfalls graduell von denen aus anderen Religionen. Trotzdem sind sie für den Forscher nicht wertlos; über die Rolle, die der Koran im Bewußtsein der muslimischen Gemeinde spielt, über die Sicht der Gemeinde auf die Offenbarung und die eigene Heilsgeschichte sagen sie sehr wohl etwas aus. Die Art der Wunder, die erzählt werden, ist aufschlußreich für den jeweiligen Glaubenshorizont. Und das größte, später zum Dogma erklärte Wunder des Islams ist die Schönheit des geoffenbarten Textes. Würde man in westlichen Abhandlungen zur Geschichte des Islams eher weltanschauliche, politische, psychologische, soziale oder militärische Gründe für den Erfolg von Mohammeds prophetischer Mission finden, so erkennen muslimische Autoren aller Zeiten in der literarischen Qualität des Koran einen entscheidenden Faktor dafür, daß der Islam unter den Arabern des siebten Jahrhunderts Verbreitung gefunden hat. Berichte über die Verzückung, das Staunen, die Ekstase, die Mohammeds Rezitationen bei ihren ersten Hörern hervorgerufen haben sollen, zieren noch heute jede gute orthodoxe Abhandlung über den Koran und werden von muslimischen Autoren als der überzeugendste Beweis für seinen göttlichen Ursprung vorgebracht. Der Glaube an die Wortkunst der Araber und die stilistische Unübertroffenheit des Koran,

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Der Koran im

Westen Das Verhältnis des christlichen Europas zum heiligen Text des Islams war lange von theologischen und politischen Konflikten bestimmt. Vorurteile und mangelnde Kenntnisse beeinträchtigten das Verständnis, kulturelle Überlegenheitsgefühle verstellten den Blick für den Glauben des anderen. Doch übten gerade die vollkommene Andersartigkeit des Korans, die scheinbare Ungeordnetheit und Widersprüchlichkeit des Texts eine besondere Faszination auf die Denker des Westens aus. Ganz zu schweigen von der philosophischen Anziehungskraft einer Religion, die im Zeichen der Einheit und Reinheit steht.

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Foto: akg-images/Maurice Babey

Eugène Delacroix: „Frauen von Algier in ihrem Gemach“ (1834)


DER KORAN IM WESTEN CHRISTENTUM – ISLAM

„Aus Abweisung wurde Faszination“ Der Umgang mit dem Koran in Europa war lange Zeit von Abneigung geprägt: Der Prophet Mohammed wurde als Ketzer oder Betrüger verunglimpft, und die christliche Theologie bemühte sich um die theologische Widerlegung der islamischen heiligen Schrift. Erst ab dem 18. Jahrhundert schlug der Widerwille zunehmend in Faszination um, auch wenn die alten Vorurteile noch lange bestehen blieben.

INTERVIEW MIT HARTMUT BOBZIN VON CATHERINE NEWMARK

PM: Wann und wie kommt der Koran überhaupt zum ersten Mal nach Europa?

HARTMUT BOBZIN: › Die ersten Korane gibt es in Spanien, mitgebracht im 8. Jahrhundert von den muslimischen Eroberern der Iberischen Halbinsel, deren Kalifat bis 1492 dauerte. Aus dieser Epoche stammen zahlreiche Koranhandschriften in andalusischem Schriftduktus, so zum Beispiel in der Bayerischen Staatsbibliothek in München. Aber erst im 12. Jahrhundert wurde der Koran in einer europäischen Sprache zugänglich, indem der englische Gelehrte Robert von Ketton 1143 in Spanien eine Übersetzung ins Lateinische anfertigte. Angeregt wurde diese Übersetzung von Petrus Venerabilis (1092 – 1156), dem Abt von Cluny. Diese Unternehmung hatte sowohl einen theologischen als auch einen politischen Hintergrund: Petrus Venerabilis war unter dem Eindruck des 1. Kreuzzugs, der 1099 in der Eroberung Jerusalems gipfelte, zur Überzeugung gelangt, dass man den Islam zwar bekämpfen müsse, aber dass dies eben nicht mit Waffen, sondern mit Worten zu geschehen habe, dass man die Muslime also nicht bekriegen, sondern ihre heilige Schrift theologisch widerlegen müsse. Der Titel dieser Übersetzung ist da ganz sprechend, er heißt „Lex Mahumet pseudoprophetae“, zu deutsch: „Das Gesetz des Pseudo-Propheten Mohammed“.

Also keine wohlwollende Übersetzung?

› Nein, ganz und gar nicht. Dieser Ansatz blieb auch über die nächsten Jahrhunderte erhalten. Wenn man sich mit dem Koran beschäftigte, dann in der Absicht, ihn zu widerlegen und Mohammed als „falschen“ Propheten zu entlarven. Die Beschäftigung des christlichen Abendlandes mit dem Koran ist bis weit in die Neuzeit hinein davon geprägt, dass man den politischen Konflikt mit dem Islam – man denke an die Kämpfe um das maurische Spanien, die Kreuzzüge und später die Türkenkriege – sozusagen theologisch begleitete. Auch Martin Luther, der zwar kein Arabisch konnte, sich aber intensiv

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mit dem Islam beschäftigte, folgte dieser Linie. Er lehnte es entschieden ab, gegen die Türken mit Waffengewalt vorzugehen, und setzte sich ausdrücklich für eine theologische Widerlegung des Islams sein. Dazu war – als Voraussetzung – die Kenntnis des Korans nötig, doch gab es zu seiner Zeit noch keine zugängliche Koranübersetzung. Luther war deshalb auf vorhandene Streitschriften gegen den Islam angewiesen, wie etwa die im Jahre 1300 erschienene „Confutatio Alcorani“ („Widerlegung des Korans“) des Missionars Ricoldo da Monte di Croce (1243 – 1320), die Luther ins Deutsche übersetzte.

Wie kann man die theologische Kritik am Koran in Mittelalter und früher Neuzeit charakterisieren, was sind die Hauptpunkte?

› Was immer wieder auftaucht, sind Vorwürfe von der Art, wie sie Ricoldo da Monte di Croce in relativ systematischer Weise formuliert: Der Koran sei „ungenießbar“, er sei ein zusammengestückeltes Werk ohne innere Logik und Ordnung und voller Widersprüche. Mohammed galt also im Christentum lange als Betrüger, der – aufgrund mangelnder Bildung oder aber in häretischer Absicht – vorhandenes christliches Gedankengut in schlechter Form nachgeahmt und sich zu Unrecht „Prophet“ genannt habe. Aus dieser Perspektive galt der Koran schlicht als die schlechtere Bibel. Erst 1772 erschien dann die erste direkt aus dem Arabischen übersetzte deutsche Koranausgabe, und zwar unter dem Titel „Die türkische Bibel“. Dies war von ihrem Übersetzer, dem Privatgelehrten David Friedrich Megerlin (1699 – 1778) durchaus nicht positiv gemeint: Gleich auf dem Titelblatt findet man nämlich einen Kupferstich, der einen bärtigen Mann mit Turban zeigt, und darunter steht „Mahumed, der Falsche Prophet“. Ist das die erste Übersetzung ins Deutsche?

› Nein, es war nicht die erste, sondern nur die erste direkte Übersetzung ins Deutsche. Es gab nämlich seit Beginn des 17. Jahrhunderts schon deutsche Übersetzungen, allerdings auf dem Umweg über das Holländische, Französische, Englische, Lateinische und Italienische. Aus dem Arabischen ins Französische wurde der Koran 1647 von dem

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SONDERAUSGABE 04


DER KORAN IM WESTEN CHRISTENTUM – ISLAM

stammt. Mit anderen Worten: Mit du Ryers Koranübersetzung konnte man die in der islamischen Welt allgemein übliche Auslegung des Korans durchaus zuverlässig kennenlernen.

Und hat die Kenntnis des tatsächlichen Textes, wenn auch unter negativem Titel, irgendwann zu einer differenzierteren Betrachtung geführt?

› Das würde ich nicht so früh ansetzen, eine differenzierte, philologisch informierte und kritische Auseinandersetzung mit dem Koran (vergleichbar der historisch-kritischen Bibelkritik) setzt in Europa erst im 19. Jahrhundert ein, mit der Etablierung der arabischen Philologie und den Islamwissenschaften an den Universitäten. Was man aber spätestens seit dem 18. Jahrhundert sehr wohl in Europa beobachten kann, ist die Tatsache, wie aus Ablehnung allmählich eine Faszination für das „Morgenland“, das heißt den Orient und hier vorzugsweise alles „Türkische“ erwächst. Der bedrohlichen Präsenz des Osmanischen Reiches in den „Türkenkriegen“, deren letzter „Höhepunkt“ die Belagerung Wiens 1683 war, folgt ein Erstarken der Handelsbeziehungen, denken Sie an Kaffee und Tulpen. Die Kunstkammern sind voller orientalischer Exotika, und auch die Musik wird beeinflusst, wie man etwa an Mozarts „Entführung aus dem Serail“ oder seinem „Türkischen Marsch“ sehen kann. Auf dem Gebiet der Literatur werden die zu Beginn des 18. Jahrhunderts nach Europa gelangten und von Anfang an populären Erzählungen aus „Tausendundeiner Nacht“ begeistert aufgenommen. Diese Erzählungen beflügeln die Fantasie der gebildeten Europäer derart, dass ein exotisches Orientbild entsteht, wie es sich später in der Malerei, im sogenannten Orientalismus, niederschlägt, der sich zu Anfang des 19. Jahrhunderts in der Folge von Napoleons Expedition nach Ägypten herausbildet. Und kann man sagen, dass diese Faszination für den Orient die alte theologische Abneigung gegen den Islam und den Koran als Betrügerbuch übertrumpft?

HARTMUT BOBZIN geboren 1946

Foto: Vincent Leifer/Van Ryck

Hartmut Bobzin war von 1992 – 2013 Professor für Islamwissenschaft an der Universität Erlangen-Nürnberg. Veröffentlichungen u. a. „Der Koran im Zeitalter der Reformation. Studien zur Frühgeschichte der Arabistik und Islamkunde in Europa“ (1995, Steiner); „Der Koran. Eine Einführung“ (1999, C. H. Beck); „Mohammed“ (2000, C. H. Beck); „Der Koran. Die wichtigsten Texte“ (2015, C. H. Beck). Seine Neuübersetzung des Korans gilt im deutschen Sprachraum als maßgeblich (2010, C. H. Beck, unter Mitarbeit von Katharina Bobzin). Mitherausgeber der „Zeitschrift für arabische Linguistik“ und der Buchreihen „Diskurse der Arabistik“ und „Arabische Studien“.

sprachgewandten Diplomaten André du Ryer (1590/1600 – 1672) übersetzt. Während der Zeit des Absolutismus erfreute sich diese Ausgabe großer Beliebtheit und ist in zahlreichen Exemplaren vorhanden. Ryer benutzte zwei sehr bekannte und in der islamischen Welt weitverbreitete Kommentare; zum einen den von dem Perser al-Baidawi (gest. nach 1286), zum anderen den noch viel populäreren Kommentar „Tafsir al-Dschalalain“ („Erklärung der beiden ,Dschaláls‘“), das heißt zweier ägyptischer Korangelehrter, von denen Dschalál ad-Dín al-Suyúti (1445 – 1505) den größeren Teil geschrieben hat und von dem auch eine bis heute viel benutzte „Einleitung in die Koranwissenschaften“

DER KORAN

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› In gewisser Weise schon. Trotzdem bleibt immer eine gewisse Ambivalenz. Das kann man sehr gut bei Voltaire sehen, der die erwähnte französische Koranübersetzung von André du Ryer gelesen hat. Einerseits zeichnet er das klassische Bild von Mohammed als Betrüger, etwa in seinem Theaterstück „Mahomet der Prophet“ – das übrigens Goethe mit einem gewissen Widerwillen ins Deutsche übersetzt hat. Oder er schließt an das alte Bild vom schlecht geschriebenen, unverständlichen Buch an, wenn er an den preußischen König Friedrich II. über den Koran schreibt, der Koran sei „ein unverständliches Buch, das auf jeder Seite den gesunden Menschenverstand erschauern lässt“. Man findet bei ihm allerdings auch sehr viel positivere Aussagen über den Koran. So meint er zum Beispiel, dass der Koran in vielem den Psalmen ähnele, viele Suren seien in sich abgeschlossen und Gebeten zu vergleichen. Voltaire hat hier durchaus etwas Richtiges erkannt. Allgemein kann man sagen, dass er mit bewundernder Anerkennung vom Osmanischen Reich spricht. In seiner Toleranzschrift etwa nennt er den muslimischen Sultan als beispielhaft für religiöse Duldsamkeit und setzt ihn in starken Kontrast zu den katholischen Eiferern seiner französischen Heimat. Das klingt wie eine interessante Umkehrung heutiger Zuschreibungen!

› In der Tat. Bei Voltaire spielt die Kritik an der christlichen Kirche eine große Rolle – und dafür hat er sich des Umwegs über den Islam bedient.

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DER KORAN IM WESTEN PHILOSOPHISCHE PERSPEKTIVEN

GOTTHOLD EPHRAIM LESSING

Wahrheiten, die jeder glauben kann Im Geiste der Aufklärung fordert Lessing zu einer vorurteilsfreien Auseinander­ setzung mit der Botschaft Mohammeds auf – und bedient sich dafür eines eindrucksvollen Gedankenexperiments.

braucht Wunder zu thun, welcher unbegreifli­ che Dinge zu überreden hat, um das eine Unbe­ greifliche mit dem anderen wahrscheinlich zu machen. Der aber nicht, welcher nichts als Leh­ ren vorträgt, deren Probierstein ein jeder bei sich führet. Wenn einer aufstehet, und sagt: ich der Sohn Gottes; so ist es billig, daß man ihm zuruft: thue etwas, was ein solcher nur allein thun könnte! Aber wenn ein anderer sagt: es ist nur ein Gott, und ich bin sein Prophet; das ist, ich bin derjenige, der sich bestimmt zu sein fühlet, seine Einheit gegen euch, die ihr ihn verkennet, zu retten; was sind da für Wunder nötig? (…) Auch wirf uns nicht die Gewalt der Waffen vor, bei deren Unterstützung Mahomet predigte. Es ist wahr, er und seine Anhänger haben sehr viel, und Christus und seine Apostel haben gar kein Blut vergossen. Aber glaubst du wohl, daß das, was bei euch eine Grausamkeit gewesen wäre, es bei uns nicht ist? Gieb acht, es wird auf das vorige hinauskommen! Wenn der, welcher unbegreifliche Dinge vorträgt, die ich höchstens nur deswegen glauben kann, weil ich ihn für einen ehrlichen Mann halte, der mich nicht hintergehen wird; wenn der, sage ich, den Glauben mit dem Schwerte

GOTTHOLD EPHRAIM LESSING

1729 – 1781

Als Aufklärer tritt Lessing in seinem gesamten Werk für vernunftbasierte Toleranz und Dialog im Angesicht kultureller Differenzen ein, beispielhaft in seinem religionsphilosophischen Drama „Nathan der Weise“ (1779). Bereits in seiner Auseinandersetzung mit dem Humanisten Hieronymus Cardanus strebt Lessing danach, den rationalen Kern der Verkündigung Mohammeds freizulegen.

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Gotthold Ephraim Lessing: „Die Rettung des Hieronymus Cardanus“ (1754), in: „Werke 1754–1757“, hg. v. Conrad Wiedemann, Frankfurt am Main: Deutscher Klassiker Verlag, 2003, S. 198–223. * Der Humanist Hieronymus Cardanus (1501 – 1576), gegen dessen Ab­wer­tung von Judentum und Islam sich Lessing hier wendet. [Anm. d. Red.]

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as würde [Cardanus*] wohl haben erwidern können, wenn sich ein Muselmann, der eben der gelehrteste nicht zu sein braucht, folgendergestalt mit ihm eingelassen hätte: „Man sieht es wohl, mein guter Cardan, daß du ein Christ bist, und daß dein Vorsatz nicht sowohl gewesen ist, die Reli­ gionen zu vergleichen, als die christliche, so leicht als möglich, triumphieren zu lassen. Gleich Anfangs bin ich schlecht mit dir zufrie­ den, daß du die Lehren unseren Mahomets in eine Klasse setzest, in welche sie gar nicht gehören. Das, was der Heide, der Jude und der Christe seine Religion nennet, ist ein Wirrwar von Sätzen, die eine gesunde Vernunft nie für die ihrigen erkennen wird. Sie berufen sich alle auf höhere Offenbarungen, deren Möglichkeit noch nicht einmal erwiesen ist. Durch diese wollen sie Wahrheiten übernommen haben, die vielleicht in einer andern möglichen Welt, nur nicht in der unsrigen, Wahrheiten sein kön­ nen. (…) Schwatze nicht von Wundern, wenn du das Christentum über uns erheben willst. Mahomet hat niemals dergleichen thun wollen; und hat er es denn auch nötig gehabt? Nur der

erzwingen will, so ist er der verabscheuungs­ würdigste Tyrann, und ein Ungeheuer, das den Fluch der ganzen Welt verdienet. Wenn aber der, welcher die Ehre des Schöpfers rettet, hals­ starrige Verruchte findet, die nicht einmal das, wovon die ganze Natur zeuget, die nicht ein­ mal seine Einheit bekennen wollen, und diese von dem Erdboden vertilgt, den sie entheiligen, so ist er kein Tyrann; er ist, — — wann du ihn ja keinen Propheten, der Freude verkündiget, nennen willst, nichts als ein rächendes Werk­ zeug des Ewigen. Aber glaubst du in der That, daß Mahomet und seine Nachfolger ein ander Bekenntnis von den Menschen gefordert haben, als das Bekenntnis solcher Wahrheiten, ohne die sie sich nicht rühmen können, Men­ schen zu sein. Weißt du, was Abu Obeidach an die von Jerusalem schrieb, als er diesen heili­ gen Ort belagerte? ,Wir verlangen von euch, zu bezeugen, daß nur ein Gott und Mahomet sein Apostel ist, und daß ein Tag des Gerichts sein wird, da Gott die Toten aus ihren Gräbern erwecken will. Wenn ihr dieses Zeugnis ablegt, so ist es uns nicht erlaubt, euer Blut zu vergie­ ßen, oder uns an eurem Hab und Gut, oder Kindern zu vergreifen. Wollt ihr dieses aus­ schlagen, so bewilliget Tribut zu bezahlen, und uns unterwürfig zu sein: sonst will ich Leute wider euch bringen, welchen der Tod süßer ist, als euch der Wein und das Schweine­ fleisch.‘ — — Siehe, diese Aufforderung erging an alle! Nun sprich, verdienten die zu leben, welche nicht einmal die Einheit Gottes und die Zukunft des Gerichts bekennen wollen? Stoße dich nicht daran, daß man von ihnen auch ver­ langte, den Mahomet für einen Gesandten Got­ tes zu erklären. Diese Klausel mußte beigefügt werden, um zu ersehen, ob sie auch die Einheit Gottes recht eigentlich annehmen wollten; denn auch ihr behauptet sie anzunehmen, aber wir kennen euch! Ich will nicht weiter in dich dringen; aber lachen muß ich noch zuletzt über dich. Du glaubst, daß wir die sinnlichen Vorstellungen des Paradieses nach den Buch­ staben verstehen. Sage mir doch, wenn ich euren Koran recht gelesen habe, versteht ihr die Beschreibung eures himmlischen Jerusa­ lems auch nach den Buchstaben? (…)“


DER KORAN IM WESTEN PHILOSOPHISCHE PERSPEKTIVEN

GEORG WILHELM FRIEDRICH HEGEL 1770 – 1831

In Hegels Philosophie ist die Weltgeschichte von geistigen Widersprüchen geprägt, die nach einer Aufhebung auf einer höheren Abstraktionsstufe verlangen. In diesem Sinne bedeutet der Islam für den Autor der „Phänomenologie des Geistes“ (1807) einen wesentlichen Fortschritt.

GEORG WILHELM FRIEDRICH HEGEL

Befreiung durch Allgemeinheit Vom regionalen Stammesgott zum universalen Prinzip des einen Gottes, diesen Schritt sieht Hegel im Islam beispielhaft vollzogen. Doch Vorsicht, gerade der Wille zur Abstraktion neigt zum Fanatismus.

Foto: Akg-images

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ir haben schon früher die Natur des orientalischen Prinzips kennengelernt und gesehen, daß das Höchste desselben nur negativ ist und daß das Affirma­ tive das Herausfallen in die Natürlichkeit und die reale Knechtschaft des Geistes bedeutet. Nur bei den Juden haben wir bemerkt, daß sich das Prinzip der einfachen Einheit in den Gedanken erhoben hat, denn nur bei diesen ist der Eine, der für den Gedanken ist, verehrt worden. Diese Einheit ist nun in der Reinigung zum abstrakten Geiste geblieben, aber sie ist von der Partikularität, mit der der Jehova­ dienst behaftet war, befreit worden. Jehova war nur der Gott dieses einzelnen Volkes, der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs: nur mit den Juden hat dieser Gott einen Bund gemacht, nur diesem Volke hat er sich offenbart. Diese Parti­ kularität des Verhältnisses ist im Mohammeda­ nismus abgestreift worden. In dieser geistigen Allgemeinheit, in dieser Reinheit ohne Schran­ ken und ohne Bestimmung hat das Subjekt kei­ nen anderen Zweck als die Verwirklichung die­ ser Allgemeinheit und Reinheit. Allah hat den affirmativen beschränkten Zweck des jüdischen Gottes nicht mehr. Die Verehrung des Einen ist der einzige Endzweck des Mohammedanismus, und die Subjektivität hat nur diese Verehrung als Inhalt der Tätigkeit, sowie die Absicht, dem Einen die Weltlichkeit zu unterwerfen. Dieser Eine hat nun zwar die Bestimmung des Geistes, doch weil die Subjektivität sich in den Gegen­ stand aufgehen läßt, fällt aus diesem Einen alle konkrete Bestimmung fort, und sie selbst wird

weder für sich geistig frei, noch ist ihr Gegen­ stand selber konkret. Aber der Mohammeda­ nismus ist nicht die indische, nicht die mönchi­ sche Versenkung in das Absolute, sondern die Subjektivität ist hier lebendig und unendlich, eine Tätigkeit, welche ins Weltliche tretend dasselbe nur negiert und nur wirksam und ver­ mittelnd auf die Weise ist, daß die reine Vereh­ rung des Einen existieren soll. Der Gegenstand des Mohammedanismus ist rein intellektuell, kein Bild, keine Vorstellung von Allah wird geduldet: Mohammed ist Prophet, aber Mensch und über des Menschen Schwächen nicht erha­ ben. Die Grundzüge des Mohammedanismus enthalten dies, daß in der Wirklichkeit nichts fest werden kann, sondern daß alles tätig, lebendig in die unendliche Weite der Welt geht, so daß die Verehrung des Einen das einzige Band bleibt, welches alles verbinden soll. In dieser Weite, in dieser Macht verschwinden alle Schranken, aller National- und Kastenun­ terschied; kein Stamm, kein politisches Recht der Geburt und des Besitzes hat einen Wert, sondern der Mensch nur als Glaubender. Den Einen anzubeten, an ihn zu glauben, zu fasten, das leibliche Gefühl der Besonderheit abzutun,

» Der Gegenstand des Mohammedanismus ist rein intellektuell, kein Bild. «

DER KORAN

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Almosen zu geben, das heißt sich des partiku­ lären Besitzes zu entschlagen: das sind die ein­ fachen Gebote; das höchste Verdienst aber ist, für den Glauben zu sterben, und wer in der Schlacht dafür umkommt, ist des Paradieses gewiß. (…) Die Abstraktion beherrschte die Mohammeda­ ner: ihr Ziel war, den abstrakten Dienst geltend zu machen, und danach haben sie mit der größten Begeisterung gestrebt. Diese Begeiste­ rung war Fanatismus, d. i. eine Begeisterung für ein Abstraktes, für einen abstrakten Gedan­ ken, der negierend sich zum Bestehenden ver­ hält. Der Fanatismus ist wesentlich nur dadurch, daß er verwüstend, zerstörend gegen das Konkrete sich verhält; aber der mohamme­ danische war zugleich aller Erhabenheit fähig, und diese Erhabenheit ist frei von allen kleinli­ chen Interessen und mit allen Tugenden der Großmut und Tapferkeit verbunden. La religion et la terreur war hier das Prinzip, wie bei Robes­ pierre la liberte et la terreur. Aber das wirkliche Leben ist dennoch konkret und bringt beson­ dere Zwecke herbei; es kommt durch die Eroberung zu Herrschaft und Reichtum, zu Rechten der Herrscherfamilie, zu einem Bande der Individuen. Aber alles dieses ist nur akzi­ dentell und auf Sand gebaut, es ist heute, und morgen ist es nicht; der Mohammedaner ist bei aller Leidenschaft gleichgültig dagegen und bewegt sich im wilden Glückswechsel. Viele Reiche und Dynastien hat der Mohammedanis­ mus bei seiner Ausbreitung begründet. Auf die­ sem unendlichen Meere wird es immer weiter, nichts ist fest; was sich kräuselt zur Gestalt, bleibt durchsichtig und ist ebenso zerflossen. Jene Dynastien waren ohne Band einer organi­ schen Festigkeit, die Reiche sind darum nur ausgeartet, die Individuen darin nur ver­ schwunden. Wo aber eine edle Seele sich fixiert, wie die Welle in der Kräuselung des Meeres, da tritt sie in einer Freiheit auf, daß es nichts Edleres, Großmütigeres, Tapfereres, Resignierteres gibt. ➔

Georg Wilhelm Friedrich Hegel: „Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte“, zweites Kapitel „Der Mohammedanismus“, in: „Werke 12“, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1986, S. 429–432.

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Foto: Karim Ben Khelifa

Den

Koran interpretieren

Jeder Text bedarf der Auslegung, insbesondere ein heiliger. Doch wie soll sich der Mensch mit seinem endlichen Verstand dem geoffenbarten Wort Gottes nähern, es richtig ver­ stehen? Ganz dem reinen Wortlaut nach? Seinem heute plausibelsten Sinn gemäß? Oder im Zweifelsfall gar poetisch-metaphorisch? Eine Auswahl zentraler Koranpassagen – von der Vertreibung aus dem Paradies bis zur Gestalt des idealen Staates – samt bei­spielhafter Interpretationen.

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Das Amphitheater von El Djem, Tunesien


Freiheit Im Koran lassen sich Vorstellungen eines von Gott bestimmten Determinismus wie auch einer menschlichen Willensfreiheit finden. Insbesondere im Kontext der Diskussion darüber, ob der Glaube frei wählbar sei und ob eine Abkehr vom Islam (die sogenannte Apostasie) möglich ist, gewinnt die Frage nach der menschlichen Freiheit an Schärfe und Gewicht. Sure 6, Das Vieh, mekkanisch,

Sure 2, Die Kuh, medinensisch,

Vers 104

Vers 256–257

„Es sind doch augenfällige Beweise zu euch gekommen

Kein Zwang ist in der Religion.

von eurem Herrn.

Der rechte Weg ist klar geworden gegenüber dem Trug.

Wer sieht, tut es zu seinem Wohl,

Wer nicht an die Götzen glaubt, sondern an Gott,

und wer blind bleibt, tut es zu seinem Schaden.

der hat das stärkste Band ergriffen, das nicht reißt.

Ich bin nicht Hüter über euch.“

Gott ist hörend, wissend. Gott ist Freund derer, die glauben. Die führt er aus der Finsternis ins Licht.

Sure 18, Die Höhle, medinensisch,

Doch die nicht glauben, deren Freunde sind die Göt-

Vers 29

zen.

Sprich: „Die Wahrheit kommt von eurem Herrn.

Die führen sie aus dem Licht in die Finsternis.

Wer will, der glaube, und wer da will, der bleibe ohne

Die werden Bewohner des Höllenfeuers sein, darin sie

Glauben!“

ewig bleiben.

Siehe, für die Frevler halten wir ein Feuer bereit, das sie, wie eine Zeltbahn, ganz bedeckt.

Sure 10, Jona, mekkanisch,

Und wenn sie dann um Hilfe rufen, so hilft man ihnen

Vers 99, 100

mit Wasser, das, wie heißes Öl, die Gesichter sengt. Hätte dein Herr gewollt,

Welch schlimmer Trunk und welch grauenvolle Bleibe!

so würden alle auf der Erde gläubig werden, insgesamt. Sure 109, Die Ungläubigen, mekkanisch,

Willst du die Menschen etwa zwingen, dass sie gläubig

Vers 1–6

werden?

Sprich: „O ihr Ungläubigen!

Kein Mensch kann gläubig werden, es sei denn, mit Gottes Erlaubnis.

Ich verehre nicht, was ihr verehrt,

Unreinheit legt er auf jene, die nicht begreifen.

und ihr verehrt nicht, was ich verehre, und nicht verehre ich, was ihr verehrt habt, und ihr verehrt nicht, was ich verehre. Euch eure Religion und mir die meine!“

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DEN KORAN INTERPRETIEREN FREIHEIT

„Freiheit ist im Koran zweischneidig“ Die Doktrin der Vorherbestimmung hat der Vorstellung Vorschub geleistet, der Islam neige zum Fatalismus, zur passiven Unterwerfung unter Gottes Willen. Dem senegalesischen Philosophen Souleymane Bachir Diagne zufolge lässt sich aber aus dem Koran eine ganz andere, aktive Haltung ableiten.

INTERVIEW MIT SOULEYMANE BACHIR DIAGNE VON JEANNE BURGART GOUTAL

PM: Im Koran gibt es anscheinend widersprüchliche Verse zur Frage der menschlichen Freiheit. Mal erscheint der Mensch vollkommen durch Gottes Willen bestimmt, als eine Art Mario­ nette (10:99), mal scheint er frei und für seine Taten verantwortlich zu sein (6:104). Was hat es damit auf sich?

SOULEYMANE BACHIR DIAGNE: › Bereits mit dem Aufkommen der muslimischen Theologie haben sich die Gelehrten diese schwierige Frage gestellt. Damals stand bei dieser metaphysischen Fragestellung auch politisch viel auf dem Spiel. Die Umayyaden hatten die Macht ergriffen, indem sie die Familie der Aliden massakrierten. In diesen Zeiten großer Instabilität lag es sehr in ihrem Interesse zu behaupten, dass die Ereignisse in den von Gott vorhergesehenen natürlichen Lauf der Dinge eingeschrieben waren. So ist die Idee der Vorherbestimmung zur offiziellen Doktrin geworden, auch wenn manche Gelehrte die These der Freiheit unterstützten. Die Umayyaden haben zur Unterstützung ihrer Idee Hadithe herausgebracht, und lange war die Vorherbestimmung sogar Teil des Glaubensbekenntnisses. Noch heute sind in der (sowohl muslimischen als auch abendländischen) volkstümlichen Vorstellungswelt Islam und Fatalismus eng miteinander verbunden. Interessanterweise fällt der Koran keine Entscheidung zur Vorherbestimmtheit. Der Koran ist in Sachen metaphysischer Urteile ein offenes Buch. Er verweist uns auf unsere eigene philosophische Reflexion, und das ist auch gut so! Die Korankonzeption der menschlichen Freiheit kann man nicht definieren. Und demjenigen, der behauptet, das zu können, könnte man immer anderslautende Verse entgegenhalten. Im Gegensatz zur gerade erwähnten Doktrin der Vorherbestimmung insistiert zum Beispiel die Erzählung von der Schuld, die bereits in der zweiten Sure präsentiert wird, auf der menschlichen Freiheit. Dort erscheint die Sünde als quasi notwendig, denn sie ist das Zeichen dafür, dass der Mensch ein freies Wesen ist. Doch diese Freiheit ist zweischneidig. Einerseits bringt der Mensch, die einzige Kreatur, die zum Ungehorsam imstande ist, Negatives in Gottes Werk ein. Deshalb sagen in dieser Sure die Engel anfangs zu Gott: „Willst du jemanden auf ihr [als Nachfolger] einsetzen, der Unheil auf ihr

DER KORAN

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anrichtet und Blut vergießt – wo wir dir Lobpreis singen und dich heiligen?“ (2:30) – womit sie auch meinen: wir, die wir gar nicht anders können. Die Engel hatten recht: Was Gott soeben geschaffen hat, ist ein Ungeheuer, insofern es ein Wesen ist, das fähig ist, vom Weg abzukommen, aus den Gleisen zu springen. Andererseits ist diese gefährliche Freiheit auch die Bedingung dafür, dass diese Kreatur imstande ist zu lernen und Fortschritte zu machen. Als Gott Adam und Eva aus dem Paradies verjagt, vertraut er ihnen Worte an („da wurden Adam Worte von seinem Herrn zuteil“, 2:37), von denen aus die Menschheit später das Abenteuer ihrer eigenen Erkenntnis konstruieren kann. Wie dem auch sei – mit dem Sufismus existiert eine ganze mystische Tradition, die versucht hat, das Problem durch eine Versöhnung dieser beiden widersprüchlichen Thesen zu lösen. Für die Sufis ist aus Gottes Sicht alles determiniert und notwendig, während aus der Sicht der endlichen Kreatur alles offen und frei ist. In dieser Idee kann man beinahe eine Präfiguration der dritten Antinomie aus Kants „Kritik der reinen Vernunft“ sehen.

Kommen wir auf die angesprochene Verbindung zwischen Islam und Fatalismus zurück. Ist sie eine reine Fantasievorstellung, oder hat sie eine Grundlage im Koran?

› Ich möchte von einem Beispiel ausgehen: dem Ausdruck Inschallah. Im allgemeinen Bewusstsein bedeutet das, dass alles festgeschrieben sei. Es ist ein Argument dafür, nicht die Initiative zu übernehmen. Doch in Wirklichkeit bedeutet Inschallah „so Gott will“. Anders gesagt: Wenn wir handeln, interveniert der göttliche Wille als Adjuvans unserer eigenen Entscheidungen. Es ist also ein Satz für aktiv handelnde Männer und Frauen! Muhammad Iqbal, ein Autor, mit dem ich mich viel beschäftigt habe, hat sich eingehend mit dieser Frage befasst. Seiner Meinung nach kann man ausgehend vom Koran eine Unterscheidung treffen zwischen einem weit verbreiteten „passiven Fatalismus“ und einem recht paradoxen „aktiven Fatalismus“, wie er aktiv Handelnden zueigen ist. Den ersten nennt er qisma, „das Los“: Es handelt sich um den Glauben, dem zufolge jeder ein Schicksal zugeteilt bekommt und keine andere Wahl hat, als es zu befolgen. Dieser Typus von Fatalismus verbindet sich in

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DEN KORAN INTERPRETIEREN FREIHEIT

Hegel’schen Idee des „großen Menschen“: desjenigen, der Geschichte schafft und dessen Handeln, befreit von der Vergangenheit und vom Gewicht vermeintlicher Schicksalsfügungen, seinen Sinn aus der Zukunft bezieht. Das ist der Mensch, dem der Koran einen besonders hohen Wert beimisst.

Wie ist folgender, oft zitierter Vers zu verstehen: „Kein Zwang ist in der Religion“ (2:256)?

› Man kann ihn auf drei Ebenen lesen. Oberflächlich betrachtet bedeutet das: Niemand soll gezwungen werden, sich zu einer bestimmten Religion zu bekennen. Etwas tiefer betrachtet: Zwang widerspricht seiner Natur nach dem Glauben, weil der Glaube eine Angelegenheit des Einwilligens ist – eines Einwilligens in Gott. Letztlich gilt es heutzutage, diesem Vers eine noch stärkere Bedeutung zu geben. Wir entwickeln uns nämlich hin zu Gesellschaften, in denen es keinen Zwang mehr gibt. Was auch immer die Fundamentalisten davon halten, die Entwicklung der Welt macht den Pluralismus überall unumgänglich. Bald wird die Religion selbst nur mehr eine Möglichkeit unter anderen sein, und die Last der Konformismen wird leichter werden. Wenn man dem Vers in diesem Kontext seine ganze Bedeutung gibt, dann besagt er: Die Religion wird sich erst dann voll entfalten, wenn es bei ihr wirklich um ein Wählen gehen wird. Erst wenn alle Zwänge, von den offensichtlichsten (körperlichen, gesetzlichen, staatlichen) bis zu den hinterlistigsten, dem Konformismus geschuldeten, aufgehoben sind, wird die Wahl des Gottes ein authentisches Einwilligen in Gott sein.

Die Botschaft des Korans ist also mit der „modernen“ Forderung nach Pluralismus vollkommen vereinbar?

SOULEYMANE BACHIR DIAGNE geboren 1955

Der senegalesische Philosoph ist Professor an der Columbia University of New York und arbeitet zu einem breiten Themenspektrum, von Logik, Mathematik und Erkenntnistheorie bis hin zu islamischer Philosophie und afrikanischer Literatur. Er hat Bücher u. a. zum senegalesischen Dichter Léopold Sédar Senghor und zum pakistanischen Reformdenker Muhammad Iqbal verfasst.

der heutigen muslimischen Welt häufig mit einem „retrospektiven Starrsinn“, der darin besteht zu glauben, dass aller Sinn aus der Vergangenheit komme und dass man, um auf dem rechten Weg zu bleiben, die Tradition reproduzieren müsse: nachahmen, ohne zu erneuern. Doch im Grunde wird diese immobilistische Haltung, mit der sich die „Traditionisten“ brüsten, vom Koran unaufhörlich angeprangert: Sie reproduziert nur jene Haltung der Gemeinden, die sich im Namen der Traditionen ihrer Väter den Propheten verweigerten. Gegen diese Tendenz wertet Iqbal den zweiten Typus des Fatalismus auf, den Taqdir (gebildet aus der Wortwurzel qadra, der „Macht zum Handeln“). Er besteht in der Überzeugung bestimmter Menschen, Werkzeug des Schicksals zu sein. So fühlt der zum Handeln Berufene, dass er in seinen Taten und Gesten vollkommen frei ist und zugleich, dass diese sich in Richtung dessen bewegen werden, was Gott will. Darin liegt eine Entsprechung zur

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einzigen Gemeinde gemacht“ (5:48). Ich mag diesen Vers sehr gern, weil er unzweifelhaft eine pluralistische Botschaft transportiert. Hätte Gott gewollt … Das bedeutet, er wollte es nicht. Anders gesagt, die Pluralität ist nicht nur etwas Unvermeidliches (weil der Mensch ständig Differenz erschafft, so wie er auch ständig Freiheit erschafft), sie ist auch etwas Gutes. Gewiss, der Koran gibt uns zu verstehen, dass die Differenz für uns eine Prüfung darstellt: Wenn ich auf die Differenz treffe, stellt sie meine Identität auf die Probe. Doch gerade dieser Prüfung muss durch das Verständnis für die Notwendigkeit des Pluralismus standgehalten werden. Gott wollte nicht ein einziges Volk schaffen, er schuf stattdessen eine einzige Menschheit, was etwas ganz anderes ist. Er hat verschiedene Hautfarben und Sprachen erschaffen, damit wir diese Unterschiede übersetzen können. Im Gegensatz zu dem, was die Fundamentalisten behaupten (für die Gottes Wort unübersetzbar ist), haben wir es hier mit einer Hymne auf den Humanismus der Übersetzung zu tun. Am besten hat der Sufismus diese Positivität des Pluralismus verstanden. Für die Sufis bedeutet der Pluralismus nicht das Drama der Wahl des einzig guten, einzig Heil versprechenden Weges. Er ist im Gegenteil eine Art und Weise, auf die sich die Wahrheit in ihre verschiedenen Dimensionen bricht. In der Dichtung der Sufis besagen zahlreiche Verse, dass es zwischen Tempel, Synagoge, Moschee, Kirche und selbst den Götzenbildern letzten Endes keinen Unterschied gibt: Das menschliche Verlangen nach Gott ist ein und dasselbe, es ist immer dieselbe erotische Kraft. Deshalb ist der Sufismus intrinsisch tolerant; er ist nichts anderes als die Botschaft der Toleranz und des Pluralismus vonseiten des Islams. • Aus dem Französischen von Till Bardoux

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Fotos: Edouard Caupeil (Portrait); Pascal Deloche/Godong/Panos

› Im Koran steht geschrieben: „Hätte Gott gewollt, er hätte euch zu einer


Glauben und Vernunft Der Streit zwischen Glauben und Vernunft, zwischen Orthodoxen und Rationalisten, hat in der islamischen Geschichte eine lange Tradition. Der Koran stützt beide Haltungen: Die menschliche Vernunft wird ebenso betont wie die Unterwerfung unter Gott.

Sure 3, Das Haus ʿImran, medinensisch,

Sure 2, Die Kuh, medinensisch,

Vers 190

Vers 170

Siehe, in der Erschaffung der Himmel und der Erde

Wenn man zu ihnen sagt: „Folgt dem, was Gott herab-

und im Wechsel von Tag und Nacht

gesandt hat!“

sind wahrlich Zeichen für Einsichtsvolle (…)

Dann sagen sie: „Nein, wir folgen dem, was wir bei unseren Vätern fanden!“

Sure 13, Der Donner, mekkanisch,

Doch wenn es nun so wäre, dass ihre Väter nichts

Vers 4

begriffen hätten

Auf der Erde gibt es Ländereien, aneinandergrenzend,

und sich nicht rechtleiten ließen?

Weingärten und Getreidefelder, Palmen mit Einzel- und mit Doppelstämmen,

Sure 12, Joseph, mekkanisch,

getränkt aus einer Wasserquelle.

Vers 1, 2

In der Ernte geben wir den einen den Vorzug vor den

(…) Dies sind die Zeichen des klaren Buchs.

anderen.

Siehe, wir sandten es herab als Lesung auf Arabisch, Darin sind, wahrlich, Zeichen für Menschen, die begreifen. vielleicht begreift ihr ja. Sure 8, Die Beute, medinensisch, Vers 22

Siehe, die schlimmsten Tiere für Gott sind jene, die taub und stumm sind und die nicht begreifen. Sure 40, Der Vergebende, mekkanisch, Vers 67

Er ist es, der euch erschuf aus Staub, dann aus einem Tropfen, dann aus einem Klumpen; dann bringt er euch als Kind heraus, auf dass ihr dann erreicht euer reifes Alter, dann schließlich Greise werdet – doch gibt es manchen unter euch, der vorher abberufen wird –, bis ihr dann den festgelegten Zeitpunkt erreicht. Vielleicht begreift ihr ja.

DER KORAN

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DEN KORAN INTERPRETIEREN GLAUBEN UND VERNUNFT

AL-GHAZALI

Wider die antike Philosophie In seiner Schrift „Die Inkohärenz der Philosophen“ (1095) wendet sich Al-Ghazali gegen eine unkritische Übernahme antiker Philosophie in das islamische Denken. Er spricht sich nicht ­rundweg gegen die Vernunft und die Philosophie aus, stellt sie aber entschieden in den Dienst des Glaubens.

» Schlichtheit ist dem Heil gewiss näher, als ein nutzloser Genius es sein ­könnte. « nicht angezweifelt werden könnten; dass die mathematischen, logischen, physikalischen und metaphysischen Wissenschaften die hintergründigsten seien; dass ihre ausgezeichnete Intelligenz ihre dreisten Versuche rechtfertige, das Verborgene durch deduktive Methoden zu enthüllen; und dass sie mit der ganzen Raffinesse ihrer Intelligenz und der Originalität ihrer Leistung die Autorität religiöser Gesetze zurückwiesen, indem sie die Gültigkeit der sicheren Gehalte der historischen Religionen bestritten und überzeugt davon waren, dass all diese Dinge nur scheinheilige Lügen und Banalitäten seien. Als solches Zeug in ihre Ohren dröhnte und etwas in ihren Herzen zum Klingen brachte, meinten die Ketzer unserer Zeit, dass es eine Ehre sei, sich der Gemeinschaft der großen Denker anzuschließen, auf die sie die Abkehr von ihrem Glauben vorbereiten würde. Das Versprechen eines erhabenen Ranges weit über dem, den ein gewöhnlicher Mann üblicherweise erreichen könnte, ließ sie daran festhal-

PHILOSOPHIE MAGAZIN

ten, dem Beispiel der Gelehrten nachzueifern. Sie wollten sich nicht mehr mit der Religion ihrer Vorfahren zufriedengeben. Sie schmeichelten sich mit der Vorstellung, dass es ihnen Ehre brächte, selbst die Wahrheit nicht unkritisch anzunehmen. Doch eigentlich hatten sie begonnen, die Falschheit unkritisch gelten zu lassen. (…) Eine solch schändliche Haltung ist nie von den naiven Menschenmassen eingenommen worden; denn sie haben eine instinktive Abneigung, dem Beispiel des irregeleiteten Genius zu folgen. Ihre Schlichtheit ist dem Heil gewiss näher, als ein nutzloser Genius es sein könnte. Denn völlige Blindheit ist weniger gefährlich als eine unredliche Sicht. Als ich diese Ader der Narretei unter diesen Idioten pulsieren sah, beschloss ich, dieses Buch zu schreiben, um die antiken Philosophen zu widerlegen. (…) Mehr noch, dieses Buch wird die Doktrinen der antiken Philosophen als diejenigen Doktrinen darlegen, die sie wirklich sind. Das wird dazu dienen, es den engstirnigen Atheisten unserer Tage klarzumachen, dass jedes Stückchen Wissen, sei es antik oder modern, den Glauben an Gott und an den Jüngsten Tag wirklich noch weiter untermauert. Aus dem Englischen von Anna Metz ➔

Abū Hāmid Muhammad ibn Muhammad al-Ghazūlī: „Tahāfut Al-Falāsifah (Incoherence of the philosophers)“, ins Englische übers. v. Sabih Ahmad Kamali, Pakistan Philosophical Congress Publication Nr. 3, Lahore: Club Road, 1963, S. 1–3.

AL-GHAZALI 1058 – 1111

Bis heute berufen sich islamische Denker auf den einflussreichen und viel gelesenen persischen Theologen, Rechtsgelehrten, Philosophen und Philosophiekritiker. Al-Ghazali beschäftigte sich intensiv mit griechischer Philosophie, stand aber ihrer Aneignung in der arabischen falsafa kritisch gegenüber.

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SONDERAUSGABE 04

Foto: Public Domain

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ch habe bemerkt, dass es eine Kategorie von Menschen gibt, die aufgrund ihrer größeren Intelligenz und ihrer besonderen Einsicht von ihrer Überlegenheit anderen gegenüber überzeugt sind. Sie haben all die religiösen Pflichten aufgegeben, die der Islam vorschreibt. Sie machen sich lustig über die Gebote der Religion, die vorschreiben, fromm zu handeln und auf verbotene Dinge zu verzichten. Sie widersetzen sich den Anordnungen des Heiligen Gesetzes. Sie überschreiten nicht nur die vorgeschriebenen Grenzen, sondern haben den Glauben gänzlich aufgegeben und geben sich nun verschiedenen Mutmaßungen hin, worin sie den Leuten folgten, die „die Menschen vom Weg Gottes abbringen, und sie in Versuchung bringen, diesen auf Abwegen auszuführen; und sie glauben nicht an ein Leben nach dem Tod.“ Die Irrlehre dieser Leute hat ihre Grundlage allein in einer unkritischen Zustimmung – wie es auch die Juden und Christen tun – zu allem Möglichen, was man von anderen ringsumher hört und sieht. Sie konnten es nicht vermeiden; denn sie wurden in eine un-islamische Atmosphäre geboren, und ihre Vorfahren hatten sich nicht um Besseres bemüht. Außerdem ergibt sich solcher Irrglaube aus theoretischen Untersuchungen, die das Ergebnis von skeptischem, fehlgeleitetem und albernem Gestolper über abstruse Begriffe sind. (…) Die Ketzer unserer Zeit haben die ehrfurchtgebietenden Namen von Leuten wie Sokrates, Hippokrates, Plato, Aristoteles usw. gehört. Sie wurden getäuscht von den Übertreibungen, die die Schüler dieser Philosophen verlauten ließen – Übertreibungen, um den Zuhörern weiszumachen, die antiken Meisterphilosophen besäßen außerordentliche intellektuelle Kräfte, sodass die Prinzipien, die sie entdeckt hatten,


DEN KORAN INTERPRETIEREN GLAUBEN UND VERNUNFT

IBN RUSCHD / AVERROËS 1126 – 1198

Ibn Ruschd (lateinisch Averroës) übersetzte und kommentierte zahlreiche Werke von Aristoteles und Platon und verfasste Schriften über Heilkunde, Arithmetik und elementare Astronomie. Er war Richter in Cordoba und Sevilla und Leibarzt des Kalifen Abu Yaqub. Als philosophischer Rationalist stand er in scharfer Gegnerschaft zu Al-Ghazali.

IBN RUSCHD / AVERROËS

Für den Gebrauch der Vernunft In seiner „Maßgeblichen Abhandlung“ nimmt Ibn Ruschd Stellung gegen Al-Ghazalis Kritik an den Methoden der griechischen Philosophie und der arabischen falsafa. Er argumentiert, dass der Koran gerade das vernunftgemäße Nachdenken über alle Dinge vorschreibe.

Foto: Bridgeman Art Library

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ir sagen dazu: Wenn die Beschäftigung mit der Philosophie (falsafa) nichts anderes als eine Untersuchung der existierenden Dinge und das Nachdenken darüber ist, wie diese Dinge auf ihren kunstfertigen Gestalter hinweisen, ich meine von dem Blickwinkel, daß sie gestaltet sind – denn die existierenden Dinge weisen doch nur auf den kunstfertigen Gestalter hin, wenn man ihre kunstfertige Gestalt erkennt, und je perfekter die Erkenntnis ihrer kunstfertigen Gestalt ist, desto perfekter ist die Erkenntnis vom Gestalter –, dann hat das Religionsgesetz schon immer ein solches Nachdenken über die existierenden Dinge empfohlen und dazu angestachelt. Es wird daraufhin klar, daß das, was dieses Hauptwort [„Philosophie“] bezeichnet, entweder eine Verpflichtung ist, die das Religionsgesetz auferlegt, oder eine von ihr empfohlene Handlung. Was die Tatsache angeht, daß das Religionsgesetz zum Nachdenken über die existierenden Dinge durch die Vernunft aufruft und deren

vernunftgemäße Erkenntnis einfordert, so wird dies aus mehreren Versen im Buch des erhabenen und segensvollen Gottes deutlich, so zum Beispiel in Gottes Aufforderung: „So nehmt es euch zu Herzen, ihr Sehenden!“ (59:2) Dies ist eine bindende Textstelle, die zur Anwendung des rationalen Analogieschlusses [d. h. des syllogistischen Arguments] verpflichtet, oder aber [zumindest] zum rationalen Analogieschluß zusammen mit dem religionsrechtlichen Analogieschluß. Ein weiteres Beispiel ist: „Haben sie denn die Herrschaft [Gottes] über die Himmel und die Erde nicht betrachtet / und all die Dinge, die Gott erschaffen hat?“ (7:185). Dies ist eine bindende Textstelle, die zum Studium der Gesamtheit aller existierenden Dinge auffordert. (…) Über diese Beispiele hinaus gibt es noch eine unzählbar große Zahl anderer Verse im Koran [, die das gleiche ausdrücken]. Da nun feststeht, daß das Religionsgesetz die vernunftgemäße Betrachtung der existierenden Dinge und das Nachdenken darüber vorschreibt, und da „Nachdenken“ nichts anderes heißt als das Herleiten und Ableiten dessen,

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was bisher unbekannt ist, aus dem, was schon bekannt ist (…), dann wird es zu einer religionsrechtlichen Pflicht, unsere Betrachtung der existierenden Dinge mittels des vernunftmäßigen Analogieurteils [also des syllogistischen Arguments] auszuführen. (…) Es ist falsch, wenn jemand daherkommt und sagt, daß das Studium des rationalen Analogieurteils [d. h. des Syllogismus] eine unzulässige Neuerung sei, da es in der Frühzeit des Islams nicht existierte, denn das gilt auch für das religionsrechtliche Analogieurteil und seine verschiedenen Arten. Es wurde erst nach der Frühzeit des Islams hergeleitet, und dennoch hält man es nicht für eine unangemessene Neuerung. Man muß die gleiche Position gegenüber dem Studium des rationalen Analogieurteils einnehmen. (…) Die meisten Gelehrten dieser Religion befürworten [die Anwendung] des rationalen Analogieurteils, allein eine kleine Gruppe von „Schwätzern“, die gegenüber den bindenden Textstellen in der Offenbarung ignorant sind, bildet eine Ausnahme. Da nun feststeht, daß das Religionsgesetz das Studium des rationalen Analogieurteils und seiner verschiedenen Arten genauso vorschreibt wie das Studium des religionsrechtlichen Analogieurteils, so ist auch klar, daß, wenn niemand uns in der gründlichen Erforschung des rationalen Analogieurteils und seiner Arten vorangehen würde, wir damit beginnen müßten, es zu erforschen. Jeder nachfolgende Forscher muß seinen Vorgänger zu Hilfe nehmen, so lange, bis das Wissen über das rationale Analogieurteil vollständig ist. (…) Wenn nun jemand anderes dies schon gründlich erforscht hat, dann ist es klar, daß es uns als Pflicht obliegt, das, was jener uns vorangegangene über dieses Thema gelehrt hat, zur gründlicheren Erreichung unseres Ziels zu Hilfe zu nehmen, ganz gleich, ob dieser Vorgänger unsere Religion geteilt hat oder nicht. (…) Da nun diese Offenbarung wahr ist und zu einem Studium aufruft, das zur Erkenntnis des Wahren führt, wissen wir, die Gemeinschaft der Muslime, mit Bestimmtheit, daß das durch apodiktische Beweise geleitete Studium nicht zu etwas führt, das von dem abweicht, was durch den Vorgang der Offenbarung zu uns gekommen ist. Denn die Wirklichkeit widerspricht nicht der Wahrheit, sondern stimmt mit ihr überein und bezeugt sie. ➔

Ibn Rushd: „Maßgebliche Abhandlung“, hg. u. übers. v. Frank Griffel, Berlin: Verlag der Weltreligionen, 2010, S. 9–13, 18.

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Foto: Boushra Almutawakel

Boushra Almutawakel: „Mother, Daughter, Doll“ (2010)

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DEN KORAN INTERPRETIEREN FRAUEN

ASMA BARLAS

Im Koran die Befreiung lesen Wenn Frauen in der islamischen Welt unterdrückt werden, sagt uns die Politologin Asma Barlas, so ist dies eine von Männern gemachte Tatsache, keine religiöse Vorschrift. Der Koran enthält vielmehr eine radikal egalitäre Vision der Geschlechter, mithilfe derer der Kampf um Frauen­ rechte in islamischen Gesellschaften geführt werden muss.

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ie es zahlreiche Wissenschaftler gezeigt haben, sind die in muslimischen Staaten vorherrschenden patriarchalen und geschlechterspezifischen Modelle auch vom Wesen dieser Staaten abhängig, von der politischen Ökonomie, von kulturellen Praktiken, die manchmal nichts mit dem Islam zu tun haben, von der Geschichte einer bestimmten Gesellschaft, von der sozialen Klasse, der die Frauen angehören, von ihren eigenen Entscheidungsmöglichkeiten und so weiter. Wenn wir allerdings die sexuell-textuelle Unterdrückung ernsthaft berücksichtigen – und ich denke, das ist notwendig –, dann gewinnt die Frage, auf welche Weise Muslime den Koran lesen oder auf welche Weise sie ihn, wie ich zeigen werde, falsch lesen, entscheidende Bedeutung, vor allem für die Frauen. In diesem Zusammenhang muss ich zweitens bekennen, dass ich, obwohl ich gerne zugebe, was ich den westlichen Feminismen schuldig bin, das Projekt der Emanzipation der Frauen selbst nicht als abendländisch, ja nicht einmal als feministisch betrachte. Vielmehr glaube ich, dass ein solches Projekt den Lehren des Koran inhärent ist. Deshalb bleibe ich skeptisch, wenn es darum geht, auf westliche Feminismen zurückzugreifen, um die Frauenrechte in islamischen Gesellschaften zu theoretisieren. Somit ist dieser Aufsatz teilweise auch

eine implizite Kritik des säkularen westlichen Feminismus. (…) Vielsagend, und daher der Aufmerksamkeit würdig, erscheint mir (…) die Tendenz, Frauenfeindlichkeit und Diskriminierung aufgrund des Geschlechts dem Islam zuzuschreiben, und insbesondere dem Koran. Dies wird nicht nur anhand der patriarchalischen Lesarten des Koran bei angeblichen „Islamisten“ deutlich, sondern auch dadurch, dass muslimische Feministinnen „die besonders frauenfeindliche Tendenz des Islam“ und den Monotheismus an und für sich als patriarchal verurteilen. Ich hoffe zeigen zu können, dass solche Auffassungen nicht nur aus fehlerhaften Lesarten des Islam, sondern auch aus einer fehlerhaften Lektüre­ epistemologie hervorgehen. (…) Die Tatsache, dass der Koran als patriarchaler Text gelesen werden konnte – das heißt als ein Text, der die Männer privilegiert und die Prinzipien der Minderwertigkeit der Frauen und ihrer Unterordnung unter die Männer vertritt –, ist auf jene Lektüren zurückzuführen, deren Objekt er in patriarchalischen Gesellschaften gewesen ist, mittels einer konservativen Methode, die von einer Handvoll männlicher Gelehrter im Mittelalter gutgeheißen wur­de, mit Unterstützung des Staates, der sich von Anfang an in die Definition des religiösen Wissens eingemischt hat. Deshalb ist eine Analyse des außertextuellen Zusammenhangs, in dem

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Muslime den Koran gelesen haben, und der Methoden, die sie dabei angewandt haben, eine zugleich hermeneutische und historische Analyse, gleichwesentlich mit der Erklärung der konservativen Lektüren, die heute an ihm vollzogen werden. (…) Kurz gesagt bedeutet dies, dass mein Glaube an Gott, nicht ein androzentrischer Humanismus, meinen Erkenntnisansatz bestimmt. Tatsächlich stelle ich, insoweit das maskulinozentrische Wesen des Humanismus in der Absicht, beide Geschlechter von Gott zu befreien, zu einer „Alterisierung“ der Frau geführt hat, seine Angemessenheit als Rahmen für eine Theoretisierung der Frauenrechte auch in säkularen Kontexten infrage. Zweitens betrachte ich den Koran als göttliche Rede (das Wort Gottes), und, getreu einer alten Tradition der islamischen Theologie, unterscheide ich diese Rede von ihrer „irdischen Umsetzung“. Ich stelle also nicht den Koran infrage, sondern seine repressiven Interpretationen und die gotteslästerliche Idee, dass nur einige von uns, in diesem Fall Männer, seine wahre Bedeutung erkennen können, eine Behauptung, die implizit mit der Verwechslung zwischen dem Koran und seiner Auslegung einhergeht. (…) Das Attribut der Einheit Gottes (Tawhid) besagt, dass die Souveränität Gottes und seine Macht unteilbar sind, also nicht mit anderen geteilt werden können, und dass niemand irgendeine

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East London Mosque 2010

Mit mehr als 1,5 Milliarden Gläubigen ist der Islam die zweitgrößte Religion der Welt. Dies verleiht auch seiner heiligen Schrift eine enorme lebensweltliche, nicht zuletzt politische Bedeutung. Fundamentalisten beharren auf einer streng wörtlichen Lesart des Korans. Liberale Muslime und Reformdenker hingegen streben danach, seine Botschaft in die Gegenwart einzupassen und mit überkommenen Traditionen zu brechen. Ein höchst aktueller Widerstreit, der den Islam bereits seit seinen frühesten Anfängen begleitet.

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Koran

Herausforderung

Foto: Bharat Choudhary


HERAUSFORDERUNG KORAN LIBERALER ISLAM

„Wir müssen Gottes Wort in heutige Kontexte einpassen“ Vieles, was im Koran steht, ist auf die heutige Zeit nicht mehr anwendbar. Kann man gewisse Themen aussparen, ohne die Gültigkeit des heiligen Textes insgesamt infrage zu stellen? Und wo finden liberale Lesarten ihre vernünftigen Grenzen? INTERVIEW MIT LAMYA KADDOR VON CATHERINE NEWMARK

PM: Frau Kaddor, Sie gehören zu den Exponentinnen eines jungen, modernen, liberalen, europäischen Islams. Wie muss ein solcher Islam den Koran lesen?

LAMYA KADDOR: › Aus meiner Sicht gibt es keinen europäischen, geschweige denn einen deutschen Islam, sondern es gibt unter anderem einen liberalen Islam, der zeitgemäß ausgelegt und gelebt wird. Ein solcher Islam stellt sich ganz ähnliche Fragen, wie es beispielsweise das liberale Judentum tut: Wie hat sich Gott offenbart? Was sagt er im Koran? Aber unter der Maßgabe, dass wir Menschen natürlich nur darüber spekulieren können, wie Gott wohl was gemeint hat. Das unterscheidet einen liberalen Ansatz von einem fundamentalistischen – Fundamentalisten nehmen ja für sich in Anspruch, die absolute Wahrheit zu kennen. Liberale sind da sehr viel vorsichtiger und relativierender, weil unserer Auffassungsgabe und unserem Verstand Grenzen gesetzt sind. Wir können Gott nicht vollständig verstehen. Und neben die Frage, was Gott gemeint haben könnte, tritt auch eine zweite: Lässt sich das, was er sagt, eins zu eins in die heutige Zeit übertragen? Ist das überhaupt übertragbar? Oder spricht Gott in Kontexten, die wir heute gar nicht mehr haben? Und wenn dem so ist, wie können wir den islamischen Geist heute dennoch erfüllen?

Können Sie ein Beispiel nennen?

› Ein klassisches Beispiel wäre etwa die Tatsache, dass Gott im Koran von Sklaven und einer Sklavenhaltergesellschaft spricht. Und ich würde als liberale Religionspädagogin sagen, dass diese Verse für den heutigen, hiesigen Kontext nicht mehr anwendbar und somit obsolet sind. Damit stelle ich nicht die Gültigkeit oder den Wortlaut des Textes infrage, wohl aber seine Anwendbarkeit auf die heutige Zeit, weil die Menschheitsgeschichte ja auch historischen Entwicklungen unterliegt. Ein konservativer Theologe würde ganz ähnlich herangehen, allerdings würde er bei der Beurteilung vermutlich der Tradition einen höheren Wert beimessen, während für mich als liberale Muslimin das erste Kriterium der Bewertung und des Zugangs zum Glauben der Verstand ist. Ohne die Ewigkeit oder den Anspruch des Textes dabei

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infrage zu stellen. Der Konservative würde einen vernunftgeleiteten Zugang nicht ablehnen, und er würde beispielsweise sicherlich mit mir übereinstimmen, dass Sklaverei heute nicht mehr gegeben ist, aber möglicherweise dem Kopftuch einen traditionellen Wert beimessen und es beibehalten wollen. Der Fundamentalist schließlich würde das Kontextuelle beinahe vollständig ausblenden und sagen: Das steht so im Text und der wird immer so gültig bleiben, der Text ist kontext- und zeitlos zu verstehen.

Und warum würde der Konservative bei der Sklaverei eine historische Überholtheit zugeben, beim Kopftuch aber nicht?

› Der konservative Muslim – wobei es da natürlich auch Unterschiede gibt – würde wahrscheinlich sagen: Die Tradition sah schon immer so aus, dass es Kopftücher gab – oder auf jeden Fall eine Kopfbedeckung. Und er würde zurückfragen, warum man die traditionellen Werte, die damit verbunden sind – Demut vor Gott zum Beispiel – aufgeben sollte. Dem würde ich wiederum entgegnen: Wir geben diese Werte nicht auf, nur müssen diese Werte in der heutigen Welt, im Hier und Jetzt, nicht mehr mit dem Tragen eines Kopftuches ausgedrückt werden. Es gibt weder den typisch konservativen noch den typisch liberalen Muslim. Es gibt allerdings unterschiedliche Bewertungskriterien, die entsprechend gewichtet werden. Aber es gibt auch liberale Stimmen, die meinen, das Kopftuch erfülle noch immer seinen ursprünglichen Zweck. Im LiberalIslamischen Bund gibt es einige Kopftuchträgerinnen, die sagen: Wir haben ein liberales Glaubensverständnis, aber das Kopftuch gehört auch dazu als Ausdruck unserer individuellen Freiheit. Wenn wir bei diesen Unterscheidungen sind: Ist denn die Mehrheit der Muslime in Deutschland nicht doch eher konservativ, traditionell eingestellt?

› Nein, das würde ich so nicht sagen. Sicher gibt es eine Tendenz zum einen oder anderen hin, aber ich glaube, die meisten von uns deutschen Muslimen stehen irgendwo zwischen konservativem und liberalem Islamverständnis.

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HERAUSFORDERUNG KORAN LIBERALER ISLAM

Maïmouna Guerresi: „Minarets Hats“ (2011)

Foto: Maïmouna Guerresi

Und in der muslimischen Welt selbst, zumal in den arabischen Staaten: Gibt es da in signifikantem Umfang liberale Muslime?

› Nein, jedenfalls niemanden, der dort lange Zeit hörbar ist. Die jeweiligen Staaten haben auch gar kein Interesse daran, säkulare oder liberale Kräfte zu unterstützen. Das sind ja häufig Unrechtsregime oder Diktaturen, und die tun den Teufel, eine zeitgemäße Islaminterpretation zu fördern oder gar zuzulassen. Das würde ja bedeuten, dass die Unterdrückung freiheitlicher Werte, wie Freiheit, Gerechtigkeit, die Gleichberechtigung der Geschlechter, Freiheit der sexuellen Orientierung, also all das, was wir hier mit Demokratie verbinden, gar nicht mehr möglich wäre. Das hieße ja, dass ein Despot auch gestürzt werden könnte … Also es sind nicht nur die konservativ-religiös verfassten Staaten, sondern auch die säkular-diktatorischen, die kein Interesse an einer Reformation des Islams haben.

DER KORAN

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Sie selbst haben eine Koranausgabe „für Kinder und Erwachsene“ herausgegeben, zusammen mit Rabeya Müller. Und darin natürlich eine Auswahl getroffen. Könnten Sie kurz erläutern, wie diese zustande kam?

› Uns ging es darum zu fragen: Was sind die wichtigsten Themen, die der Koran behandelt? Und diese dann auch für ein besseres Verständnis thematisch zu ordnen. Der Koran ist ja nicht so einfach zu lesen, weil er eben von Thema zu Thema springt und auch die Zeitebenen und Offenbarungsorte wechseln. Wir wollten das in eine Reihenfolge bringen, die schlüssig klingt. Und wir haben die einzelnen Themen – also beispielsweise Gott, Schöpfung, Mitmenschen – nochmals kommentiert. Es ging uns natürlich auch darum, einen kindgerechten Zugang zu ermöglichen.

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HERAUSFORDERUNG KORAN LIBERALER ISLAM

diese Themen abgehandelt, und das natürlich auch aus liberaler Sicht. Grundsätzlich aber ist es uns wichtig gewesen zu zeigen: Der Koran besteht nicht vorwiegend aus problematischen oder antimodernen Motiven, sondern was die Religion eigentlich und vor allem für Muslime ausmacht, das sind ganz andere Dinge. Das sind Motive und Werte, die wir in jeder anderen Weltreligion ebenso vorfinden.

Das Unbehagen an der Moderne, das man heute in vielen zeitgenössischen islamischen Strömungen und Staaten sieht, das wollen Sie nicht als Kern der Religion sehen?

› Genau. Weil das einfach in der gelebten Religiosität von Muslimen nicht der Kern der Religion ist. Das heißt nicht, dass man mit diesen Dingen nicht kritisch umgehen sollte. Aber theologische Nebenaspekte in den Vordergrund stellen und alles andere zur Seite schieben, das ist weder theologisch noch pädagogisch gerechtfertigt. Genau das scheinen aber immer größere Teile der deutschen Mehrheitsgesellschaft im Moment zu tun: Man hat „Angst“ vor dem Islam und nimmt ihn vor allem negativ wahr.

› Ja, man hat sich auf dieses Feindbild regelrecht eingeschossen. Man sieht den Islam vor allem im Kontext der fanatischen Strömungen und ausschließlich als politische Ideologie, und dann als Bedrohung für diese Gesellschaft. Da spielen natürlich auch Entfremdungsängste mit. Und Teile der Medien haben munter mitgemischt. Das nennt sich „Islamkritik“, hat aber mit einem Verständnis des Islams in seiner Breite, ja nur schon einer Kenntnis seiner, kaum etwas zu tun. Manchmal scheint es fast so, als wollten sich Teile der Mehrheitsgesellschaft die eigenen Missstände schönreden, indem alles, was schwierig ist, auf ein großes, böses Anderes ausgelagert wird. Aber um beispielsweise Sexismus zu erleben, muss ich ja nicht erst zu den Muslimen gehen! Der findet sich in allen Kulturen, auch in der deutschen, in der abendländischen Tradition. Sie beschreiben das Misstrauen gegenüber dem Islam auch immer wieder als sehr schwierig für die hier lebenden Muslime.

geboren 1978

Die Islamwissenschaftlerin und Publizistin Lamya Kaddor war 2004 – 2008 an der Uni­ ver­sität Münster mit der Ausbildung islamischer Religionswissenschaftler und dem Aufbau des Studiengangs „Islamische Religionspädagogik“ betraut; sie lehrt seit 2003 in Dinslaken Islamkunde und seit zwei Jahren regulären Islamischen Religionsunterricht. Sie ist Gründungsmitglied und Vorsitzende des „Liberal-Islamischen Bundes e.V.“ Veröffentlichungen u. a.: „Der Koran für Kinder und Erwachsene“ (mit Rabeya Müller, C. H. Beck, 2008), „Muslimisch, weiblich, deutsch! Mein Weg zu einem zeitgemäßen Is­lam“ (C. H. Beck, 2010); „Der Islam für Kinder und Erwachsene“ (mit Rabeya Müller, C. H. Beck, 2012); „So fremd und doch so nah. Juden und Muslime in Deutschland“ (mit Michael Rubinstein, Patmos, 2013); „Zum Töten bereit. Warum deutsche Jugendliche in den Dschihad ziehen“ (Piper, 2015).

Also haben Sie keine spezifische inhaltliche, exegetische Ausrichtung vorgelegt?

› Nein. Uns wurde zwar vorgeworfen, dass wir die schwierigen Themen des Korans ausklammern – also beispielsweise Apostasie oder Homosexualität. Aber das haben wir bewusst gemacht, denn das sind ja nun wirklich nicht die Hauptthemen des Korans! Wir haben aber auch noch ein Buch geschrieben, das viel mehr unsere spezifische Handschrift trägt: „Der Islam für Kinder und Erwachsene“. Dort haben wir auch

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› Ja, im Moment werden wir zerrieben zwischen zwei Polen: Da sind einerseits Fundamentalisten wie die Salafisten, und auf der anderen Seite Islamkritiker oder Islamhasser. Für einen normal konservativen, liberalen oder sonst wie gemäßigten Muslim wird es extrem schwierig, sich zu positionieren. Entweder werden wir von den Salafisten vereinnahmt, als großes Kollektiv der Muslime, die alle Opfer von Islamfeindlichkeit sind, oder wir werden vereinnahmt von sogenannten Islamkritikern, die den Islam an und für sich ganz schlimm finden und uns allenfalls als löbliche Ausnahme sehen wollen. Hier spielt vielleicht auch der Vorwurf eine Rolle, dass dem Islam eine Aufklärung gefehlt habe?

› Nun, man könnte auch sagen: Wir hatten unsere Aufklärung schon längst. Als sich Europa noch im finstersten Mittelalter befand, da blühten in der muslimischen Welt Wissenschaft und Philosophie. Aber mit Blick auf die gegenwärtige islamische Welt hat da dann doch ein Rückschritt stattgefunden. Zumindest hat diese mittelalterliche islamische Aufklärung nicht zu einer liberalen Gesellschaft geführt.

› Doch, durchaus – es gab Zeiten, da galt die islamische Welt als aufge-

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Foto: Arne List

LAMYA KADDOR


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