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MAGAZIN ERSONDA BE G S U A
Die
BIBEL und die
4 198673 809900
0 7
PHILOSOPHEN
Die zentralen Passagen des ALTEN TESTAMENTS interpretiert von IMMANUEL KANT • HANS BLUMENBERG • HANNAH ARENDT • SPINOZA • UMBERTO ECO • WALTER BENJAMIN • KIERKEGAARD und SASKIA WENDEL • CHRISTOPH MARKSCHIES • SUSAN NEIMAN
IMPRESSUM
Denker
SONDERAUSGABE 07, NOVEMBER 2016 Redaktion: Brunnenstraße 143, 10115 Berlin, Deutschland Tel.: +49 (0)30 / 47 37 71 18 E-Mail: redaktion@philomag.de Chefredakteurin der Sonderausgabe: Dr. Catherine Newmark (V.i.S.d.P.) Berater: Dr. Wolfram Eilenberger, Sven Ortoli Art-Direktion: Henrike Noetzold Bildredaktion: Tina Ahrens Schlussredaktion: Sebastian Guggolz Lektorat: Christiane Braun IT: Cyril Druesne Layoutentwicklung: Jean-Patrice Wattinne / L’Éclaireur Redaktionsassistenz: Inna Barinberg Praktikanten: Dominik Erhard, Niclas Irrgang
SUSAN NEIMAN In ihrem maßgeblichen Buch „Das Böse denken“ ging sie der Faszination des Bösen in der Geschichte der Philosophie nach, in „Moralische Klarheit“ nahm sie grundlegende moralische Parabeln der Bibel zum Ausgangspunkt für eine zeitgenössische ethische Reflexion. Warum das auch heute noch lohnend ist, erklärt die amerikanische Philosophin und Direktorin des Potsdamer Einstein Forums im Gespräch. Seite 6
SASKIA WENDEL Die promovierte Philosophin ist Inhaberin des Lehrstuhls für Systematische Theologie an der Universität Bonn. Schwerpunkte ihrer Forschung sind, neben der Fundamentaltheologie, die christliche Mystik sowie gendertheoretische Fragestellungen im Kontext des Glaubens. Im Interview erläutert sie das komplizierte Verhältnis des alttestamentarischen Gottes zu einer Welt, die er auch nicht hätte schaffen können. Seite 12
Titelbild: Lucas Cranach d. Ä., „Eva“, um 1528, akg-images / Rabatti & Domingie Illustration: „Book of Ester“ von Gilad Sotil, thenounproject.com Verlag: Philomagazin Verlag GmbH, Brunnenstraße 143, 10115 Berlin, Deutschland, Tel.: +49 (0)30 / 47 37 71 18 E-Mail: info@philomag.de Geschäftsführer und Verleger: Fabrice Gerschel Herausgeberin: Anne-Sophie Moreau
OMRI BOEHM Wie kann Gott zugleich Gott aller Menschen und Gott eines auserwählten Volkes sein? Der Monotheismus des Alten Testaments schwankt zwischen universalem Anspruch und sehr konkreter Bezogenheit auf eine bestimmte historische Situation. Wie diese Spannung in der Bibel zu verstehen ist und wie die jüdische Tradition damit umgeht, fragen wir in dieser Ausgabe den israelischen Philosophen, Professor an der New School for Social Research in New York. Seite 46
Vertrieb: DPV Vertriebsservice GmbH Süderstraße 77, 20097 Hamburg www.dpv-vertriebsservice.de Litho: tiff.any GmbH, Paul-Lincke-Ufer 7, Aufgang 7c, 10999 Berlin Druck: pva, Druck und MedienDienstleistungen GmbH, Industriestraße 15, 76829 Landau in der Pfalz
Im Zentrum der Forschung des Philosophiehistorikers und Professors an der Freien Universität Berlin steht neben der Religionsphilosophie die geschichtsphilosophische Reflexion selbst. In diesem Heft zeigt er, wie im Alten Testament ein Geschichtsbild entwickelt wird, welches das abendländische Verständnis von Geschichte nachhaltig prägt und wie jedes Fortschrittsdenken letztlich vom biblischen Endzeitgedanken abhängt. Seite 64
Anzeigen: Jörn Schmieding-Dieck – MedienQuartier Hamburg, Tel.: +49 (0)40 / 60 94 41 401 E-Mail: schmieding-dieck@mqhh.de Anzeigen / Nielsen IIIb, IV: Markus Piendl – MAV GmbH Tel.: +49 (0)89 / 74 50 83 13 E-Mail: piendl@mav-muenchen.com Anzeigen Buchverlage / Kultur / Seminare: Thomas Laschinski – PremiumContentMedia Tel.: +49 (0)30 / 60 98 59 30 E-Mail: advertisebooks@laschinski.com Presse- und Öffentlichkeitsarbeit: Sabine Schaub Tel.: +49 (0)30 / 31 99 83 40 E-Mail: s.schaub@schwindkommunikation.de www.schwindkommunikation.de
CHRISTOPH MARKSCHIES In der Bibel finden sich vielerlei Anspielungen auf körperliche Eigenschaften Gottes. Dass dies nicht nur Spuren eines älteren Gottesbildes sind, sondern dass das Alte Testament gerade nicht von einer reinen Geistigkeit Gottes ausgeht, sondern ihn durchaus auch als in gewisser Weise materiell denkt, betont der renommierte Theologe und Kirchenhistoriker, Autor der monumentalen Studie „Gottes Körper: jüdische, christliche und pagane Gottesvorstellungen in der Antike“. Seite 78
CHRISTOPH LEVIN
Abo-Service: Philosophie Magazin, Leserservice, PressUp GmbH, Postfach 70 13 11, 22013 Hamburg Tel.: +49 (0)40 / 38 6666 309 Fax: +49 (0)40 / 38 6666 299 E-Mail: philomag@pressup.de Online-Bestellungen: www.philomag.de Das Philosophie Magazin ist erhältlich im Bahnhofs- und Flughafenbuchhandel in Deutschland.
Als Koordinator für das Alte Testament trug der emeritierte Professor für Alttestamentliche Theologie maßgeblich zur neusten Revision der Lutherbibel bei, die zum 500. Jubiläum der Reformation 2017 erscheint. Wie Luther das Alte Testament verstand und wie stilprägend für das Deutsche insgesamt die sprachschöpferische Leistung seiner Bibelübersetzung war, stellt er im abschließenden Interview dieses Heftes dar. Seite 95
PHILOSOPHIE MAGAZIN
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SONDERAUSGABE 07
Fotos: Daniel Hofer/laif; Albrecht Fuchs; Stefan Falke; Monika Czosnowska; Marcus Hoehn/laif; Jens Schwarz
WILHELM SCHMIDT-BIGGEMANN
Inhalt Editorial Impressum / Denker
3 4
„Warum sollten Philosophen die Bibel lesen?“ Interview mit Susan Neiman 6 Chronologien 8
GENESIS – ERZÄHLUNGEN VOM ANFANG
Allzu genau datiert Hans Blumenberg Unbedingte Kreativität Gershom Scholem
31
Regionale Flut oder globale Vernichtung? Johann Gottfried Herder
32
DIE ZEHN GEBOTE
DER TURMBAU ZU BABEL 33 Der Verlust der göttlichen Sprache Walter Benjamin 34
„Gott hätte die Welt auch nicht schaffen können“ Interview mit Saskia Wendel 12 DIE SCHÖPFUNG
Der Regenbogen als göttliche Gedächtnisstütze Rémi Brague
14 15
16
Lob der Vielheit Umberto Eco
36
DAS OPFER ABRAHAMS
37
Alles aufgeben für Gott Georg Wilhelm Friedrich Hegel Paradox des Glaubens Søren Kierkegaard
38
39
Bedeutsames Schweigen Erich Auerbach
40 42
PARADIES UND SÜNDENFALL
20
JOSEF IN ÄGYPTEN
Befreiung vom Instinkt Immanuel Kant
21
Geniales orientalisches Märchen Voltaire 43
22
DAS VOLK ISRAEL UND SEINE GESETZE
22
„Die Idee des auserwählten Volkes bleibt problematisch“ Interview mit Omri Boehm
46
DER BRENNENDE DORNBUSCH
48
Denkt nicht, gehorcht! Thomas Hobbes Die Angst des Unschuldigen Søren Kierkegaard etaphysischer Masochismus M Peter Sloterdijk
24
Wir erben die Strafe, nicht die Schuld Elie Wiesel
25
KAIN UND ABEL
26
Tödlicher Bruderhass Aurelius Augustinus Am Anfang steht Gewalt Hannah Arendt DIE SINTFLUT
27
28 30
Ewig und wandelbar Stéphane Mosès
49
Gott ist alles, was er sein kann Friedrich Joseph Wilhelm Schelling 50 DIE TEILUNG DES ROTEN MEERES Die Mutter aller Freiheitsbewegungen Michael Walzer
DIE BIBEL
52
JONA
74
Politische, nicht ethische Normen Immanuel Kant 55
Jenseits der Prognose Gershom Scholem
75
Religion als Quelle des Rechts Martin Buber
56
WEISHEITSBÜCHER – LEIB, SCHMERZ, ENDLICHKEIT
Bilderverbot ist Triebverzicht Sigmund Freud
58
Die Urdifferenz von wahr und falsch Jan Assmann
58
Moses hat Israel erschaffen Heinrich Heine
59
AUGE UM AUGE
60
54
„Gott hat einen Körper, aber kein Geschlecht“ Interview mit Christoph Markschies
78
HIOB
82
Überdosis Zweifel Heinrich Heine
83
Das grenzenlose Leiden der Schuldlosen Margarete Susman
84
PROPHETEN – ERFINDER DER GESCHICHTE
Frühe Sozialkritik Ernst Bloch
85
„Ohne Apokalypse kein Fortschritt“ Interview mit Wilhelm SchmidtBiggemann 64
Der Allmächtige nach Auschwitz Hans Jonas 86 DER PREDIGER
88
BAAL GEGEN JAHWE 66
Bejahung unserer Endlichkeit Franz Rosenzweig
89
Ein innerjüdischer Kampf Martin Buber
67
DAS LIED DER LIEDER 90
DIE AUSERWÄHLTEN 68
Zwiegespräch mit dem Höchsten Meister Eckhart 91
Die Geburt der Gerechtigkeit Emmanuel Lévinas
Nichts als Einbildungen Baruch de Spinoza
61
69
Prophetie liegt in der Natur des Menschen Leo Strauss 70 Alles andere als unvernünftig Maimonides 71 Vermittelte Unmittelbarkeit Franz Rosenzweig
72
Ganz Ohr Max Weber
72
Deute nicht, fühle! Johann Gottfried Herder
Liebe weist über den Menschen hinaus Franz Rosenzweig 94 „Der Luther-Sound ist zum Inbegriff religiöser Sprache geworden“ Interview mit Christoph Levin
95
Literatur
98
53
5
92
DAS ALTE TESTAMENT
Eine klare und durchgängige Datierung der biblischen Ereignisse wurde zuerst circa 160 n. Chr. im Buch „Seder Olam“ („Ordnung der Welt“) etabliert. Ab dem 11. Jahrhundert n. Chr. wurde die Zählung der Jahre „seit der Erschaffung der Welt“ allgemein üblich im
Judentum und erhielt 1178 mittels einiger Kor rekturen durch Maimonides ihre kodifizierte Form, die bis heute gilt und derzufolge wir uns im Jahr 5777 A.M. (anno mundi) befinden. Auch christliche Gelehrte rechnen bis weit in die Neuzeit genau nach und erstellen eigene
Ge bu rt Ab ra ha Tu m s rm ba u zu Ba be Ge l bu rt Is aa ks O pf er un g Is aa Ge ks bu rt Ja ko bs un To d d Es Ab au ra s ha m Ge s bu rt Jo se fs
Er Ad sch Ge am aff bu u un rt nd g d vo E er n va Ka , We lt, in un d Ab Ge el bu rt vo n Se t To d Ad am s Ge bu rt N oa hs Ge b Se u m rt , H de am r S , J öh af ne Si et nt N flu oa t hs
0 (3760 v. Chr.) 130 930
1056
1556
1656
1948
1996
1 (4004 v. Chr.) 130
1056
1556
1656
2008
2048
2085
2108
2123
2199
2108
2133
2168
2183
2259
Chronologien ca. 1750 v. Chr.
ca. 1250 – 1000 v. Chr.
10. – 8. Jh. v. Chr.
Mitte des 8. Jh. – ca. 600 v. Chr.
Babylonisches Reich
„Richterzeit“ in Israel
Königreiche Israel und Juda
Assyrische Vorherrschaft
Erste Dynastie
Lose Stammesorganisation (laut Bibel: zwölf Stämme)
• Kodex Hammurabi: Älteste vollständige Rechtssammlung
• Mündliche Überlieferungen
in Palästina
ca. 1010 – 926 v. Chr.
722/720 v. Chr.
Vereinigung Israels zum Königreich. Herrschaft Sauls, Davids, Salomos. Bau des Tempels
Fall des Nordreichs an die Assyrer
926 v. Chr. Reichsteilung in ein Nordreich Israel mit wechselnden Hauptstädten (meist Samaria) und ein Südreich Juda mit der Hauptstadt Jerusalem
Textgeschichte Die Textgeschichte des Alten Testaments ist in der Forschung nach wie vor sehr umstritten und wird es voraussichtlich auch bleiben. Wie und wann genau die einzelnen biblischen Bücher geschrieben oder kompiliert wurden, kann in den seltensten Fällen als vollständig gesichert gelten. Die vorliegende Darstellung folgt im Wesentlichen:
gegen 700 v. Chr. Das Südreich zahlt Tribut an Assyrien
• Erste Psalmen • Beginn der geschichtsschreibenden biblischen Bücher Samuel, Könige, Richter, Exodus • Erste prophetische Überlieferungen • Frühe Rechtsüberlieferungen
• Anfänge biblischen Schrifttums • Hofannalen der Königreiche • Erste weisheitliche Überlieferungen
➔ Konrad Schmid: „Literaturgeschichte des Alten Testa ments. Eine Einführung“, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2008
8
Foto: akg-images / Erich Lessing
NEUZEITLICHE CHRISTLICHE VERSION (JAMES USSHER, 1658)
TRADITIONELLE JÜDISCHE ZÄHLUNG
Biblische Jahreszählung
➔ Seder Olam: „The Rabbinic View of Biblical Chronology“, übersetzt und kommentiert von Heinrich W. Guggen heimer, Lanham: Rowman & Littlefield, 2005 James Ussher: „The Annals of the World“, London, 1658
Ge bu rt M os es Au D sz ie ug Ze d hn es Ge Vol bo ke To te s Is d ra M el os au es ,A sÄ Ge nk gy bu un pt rt en ft D in av Ka id s na D av an id w ird Kö D ni av g id sS oh n Sa Be lo gi m nn o w de ird sT Kö em ni pe g Ze lb rs a u tö su ru nt ng er de Sa sT lo em m o pe ls, Ba by lo ni sc he Ge sE g 20 e xi 16 nw l /1 ar 7 t n. Ch r.
Jo se fw ird
na ch Jo Äg se yp fd te eu n te ve td rk ie An au Tr ft ku ä um nf tJ e ak de ob sP s To ha in d ra Äg Ja os yp ko te bs n To d Jo se fs
Varianten der biblischen Chronologie. Beson ders einflussreich war der „ U ssher-Lightfoot-Kalender“, der auf die Berechnungen des irischen Bischofs James Ussher aus dem 17. Jahrhundert zurückgeht.
2216
2229
2238
2255
2309
2368
2448
2488
2885
2925
2928
3338 (422 v. Chr.)
2276
2289
2298
2315
2369
2433
2513
2553
2957
2990
2992
3409 (595 v. Chr.)
2919
Die oft uneindeutigen Chronologien und Genealogien des Alten Testaments wurden bis in die Frühe Neuzeit als Grundlage für die Berechnung des Alters der Welt genommen, das demzufolge mehr oder weniger 6000 Jahre beträgt. Nicht nur für christliche Kreationisten noch immer eine relevante Zahl, sondern bis auf den heutigen Tag Grundlage des jüdischen Kalenders. Die tatsächliche Geschichte Israels und damit der Entstehungszeitraum des biblischen Textes ist nicht ganz einfach zu rekonstruieren und lässt sich erst ab einer relativ späten Zeit klar datieren
ca. 600 – 539 v. Chr.
539 – 333 v. Chr.
333 – 64 v. Chr.
Hegemonie Babyloniens
Perserzeit
Hellenistische Zeit
Fotos: akg-images/Bernard Bonnefon; Berthold Werner, CC BY-SA 3.0
587 v. Chr.
539 v. Chr.
333 v. Chr.
Eroberung und Zerstörung Jerusalems durch den babylonischen König Nebukadnezar, Deportation gewisser Bevölkerungsgruppen (Beginn des babylonischen Exils)
Eroberung Babylons durch die Perser unter Kyros; Ende des babylonischen Exils
Eroberung Kleinasiens durch Alexander den Großen
• Klagelieder • Fortschreibung der Königsgeschichten • Anfänge von Jeremia • Anfänge von Ezechiel • Abrahams-Geschichte • Josefs-Geschichte • Deuterojesaja (2. Teil des Jesajabuchs) • Dekalog
Bibli sche Jahre sanga ben sind nicht wisse schaf n tlich : Bei Zählw de eisen lande punkt n nic genau ht auf d histo em risch verbü Jahr rgten 587 v . Chr die Z . für erstö rung des Tempe ls
167 – 164 v. Chr. Makkabäeraufstand, Entweihung des Tempels
64 v. Chr. Beginn der
im Vorderen Orient
520 – 515 v. Chr. Wiederaufbau des Tempels in Jerusalem
• Redaktion und Fortschreibung der früheren Texte • Formierung der Thora als einheitliches Werk • Psalmen • Hiob • Daniel • Esra • Nehemia
323 v. Chr. Tod Alexanders des Großen. Aufteilung seines Reiches unter seinen Nachfolgern, den Diadochen; Ptolemaios übernimmt Ägypten
3. Jh. v. Chr. Syrien-Palästina gerät unter die Herrschaft des Ptolemäerreichs. Im ägyptischen Alexandrien entsteht eine große jüdische Diasporagemeinde
198 v. Chr. Syrien-Palästina kommt unter die Oberherrschaft eines anderen Diadochenstaats, des Seleukidenreichs
9
5777
römischen Herrschaft in Syrien und Palästina
• Abschließende Redaktion der hebräischen Bibel • Sprüche • Prediger • Chronik • Ester • Einfluss griechischen Denkens auf das Judentum • Beginn der Übersetzung ins Griechische, der Septuaginta (ca. 250 v. Chr.)
Von der Schöpfung zum Sündenfall, vom ersten Mord der Menschheit bis zur maximalen Strafe der Sintflut, von der Hybris beim Turmbau zu Babel bis zur entsetzlichen Forderung nach einem Menschenopfer – das erste Buch Mose erzählt in rascher Abfolge eine Reihe von hochdramatischen Geschichten, die fundamentale Fragen der Ethik und der Metaphysik berühren PHILOSOPHIE MAGAZIN
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SONDERAUSGABE 07
Foto: Vania Bucan
GENESIS – Erzählungen VOM ANFANG
GENESIS – ERZÄHLUNGEN VOM ANFANG
PARADIES UND SÜNDENFALL Das erste Buch Mose (Genesis) 2,15 – 3,24
nd Gott der HERR nahm den Menschen und setzte
sprach: Wer hat dir gesagt, dass du nackt bist? Hast du gegessen
ihn in den Garten Eden, dass er ihn bebaute und
von dem Baum, von dem ich dir gebot, du solltest nicht davon
bewahrte. 16 Und Gott der HERR gebot dem Men-
essen? 12 Da sprach Adam: Die Frau, die du mir zugesellt hast, gab
schen und sprach: Du darfst essen von allen
mir von dem Baum und ich aß. 13 Da sprach Gott der HERR zur
Bäumen im Garten, aber von dem Baum
Frau: Warum hast du das getan? Die Frau sprach: Die Schlange
17
der Erkenntnis des Guten und Bösen sollst du nicht essen; denn an dem Tage, da du von
betrog mich, sodass ich aß. 14
Da sprach Gott der HERR zu der Schlange: Weil du das getan
hast, seist du verflucht vor allem Vieh und allen Tieren auf dem
ihm isst, musst du des Todes sterben. Und Gott der HERR sprach: Es ist nicht gut, dass der Mensch
Felde. Auf deinem Bauche sollst du kriechen und Staub fressen
allein sei; ich will ihm eine Hilfe machen, die ihm entspricht. (…)
dein Leben lang. 15 Und ich will Feindschaft setzen zwischen dir
Und sie waren beide nackt, der Mensch und seine Frau, und
und der Frau und zwischen deinem Samen und ihrem Samen; er
18
25
schämten sich nicht.
wird dir den Kopf zertreten, und du wirst ihn in die Ferse stechen.
3.1 Und die Schlange war listiger als alle Tiere auf dem Felde, die
16
Gott der HERR gemacht hatte, und sprach zu der Frau: Ja, sollte
du schwanger wirst; unter Mühen sollst du Kinder gebären. Und
Gott gesagt haben: Ihr sollt nicht essen von allen Bäumen im Gar-
dein Verlangen soll nach deinem Mann sein, aber er soll dein Herr
Und zur Frau sprach er: Ich will dir viel Mühsal schaffen, wenn
ten? Da sprach die Frau zu der Schlange: Wir essen von den Früch-
sein.
ten der Bäume im Garten; 3 aber von den Früchten des Baumes
17
mitten im Garten hat Gott gesagt: Esset nicht davon, rühret sie auch
ner Frau und gegessen von dem Baum, von dem ich dir gebot und
nicht an, dass ihr nicht sterbet! 4 Da sprach die Schlange zur Frau:
sprach: Du sollst nicht davon essen –, verflucht sei der Acker um
Ihr werdet keineswegs des Todes sterben, sondern Gott weiß: an
deinetwillen! Mit Mühsal sollst du dich von ihm nähren dein Leben
dem Tage, da ihr davon esst, werden eure Augen aufgetan, und ihr
lang. 18 Dornen und Disteln soll er dir tragen, und du sollst das Kraut
werdet sein wie Gott und wissen, was gut und böse ist.
auf dem Felde essen. 19 Im Schweiße deines Angesichts sollst du
2
5
Und die Frau sah, dass von dem Baum gut zu essen wäre und
6
Und zum Mann sprach er: Weil du gehorcht hast der Stimme dei-
dein Brot essen, bis du wieder zu Erde wirst, davon du genommen
dass er eine Lust für die Augen wäre und verlockend, weil er klug
bist. Denn Staub bist du und zum Staub kehrst du zurück.
machte. Und sie nahm von seiner Frucht und aß und gab ihrem
20
Mann, der bei ihr war, auch davon und er aß. Da wurden ihnen
aller, die da leben. 21 Und Gott der HERR machte Adam und seiner
beiden die Augen aufgetan und sie wurden gewahr, dass sie nackt
Frau Röcke von Fellen und zog sie ihnen an. 22 Und Gott der HERR
waren, und flochten Feigenblätter zusammen und machten sich
sprach: Siehe, der Mensch ist geworden wie unsereiner und weiß,
Schurze.
was gut und böse ist. Nun aber, dass er nur nicht ausstrecke seine
7
Und Adam nannte seine Frau Eva; denn sie wurde die Mutter
8
Und sie hörten Gott den HERRN, wie er im Garten ging, als der
Hand und nehme auch von dem Baum des Lebens und esse und
Tag kühl geworden war. Und Adam versteckte sich mit seiner Frau
lebe ewiglich! 23 Da wies ihn Gott der HERR aus dem Garten Eden,
vor dem Angesicht Gottes des HERRN zwischen den Bäumen im
dass er die Erde bebaute, von der er genommen war. 24 Und er
Garten. Und Gott der HERR rief Adam und sprach zu ihm: Wo
trieb den Menschen hinaus und ließ lagern vor dem Garten Eden
bist du? Und er sprach: Ich hörte dich im Garten und fürchtete
die Cherubim mit dem flammenden, blitzenden Schwert, zu bewa-
mich; denn ich bin nackt, darum versteckte ich mich. 11 Und er
chen den Weg zu dem Baum des Lebens.
9
10
PHILOSOPHIE MAGAZIN
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SONDERAUSGABE 07
GENESIS – ERZÄHLUNGEN VOM ANFANG PARADIES UND SÜNDENFALL
Das Erwachen der Vernunft Zwei Bäume im Paradies sind besonders ausgezeichnet: der Baum des Lebens und der Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen. Nur von Letzterem verbietet Gott Adam zu essen. Bekanntlich verstoßen Adam und Eva gegen dieses Verbot. Ein tragischer Moment, der das Erwachen der menschlichen Vernunft anzeigt, in dem zugleich auch die Sehnsucht nach Unsterblichkeit angelegt ist. Die Sterblichkeit ist dann auch die Strafe, die Gott dem Menschen für seinen Ungehorsam auferlegt. Während die Philosophen den Erwerb der Vernunft betonen, wird der Sündenfall in der christlichen Tradition zur Erbsünde, die die Menschheit stets zu wiederholen verdammt ist. Die jüdische Tradition sieht uns zwar als Erben der Strafe Adams, sie nimmt aber kein Vererben der Sünde selbst an.
IMMANUEL KANT
Befreiung vom Instinkt Im Paradies, also im Naturzustand, „gleichsam in einem Garten, unter einem jederzeit milden Himmelsstriche“, ist der Mensch ganz Instinktwesen. Bis die Vernunft sich rührt und ihn auf die Bahn einer höheren sittlichen Entwicklung führt. Für Kant ist mithin der Sündenfall keine Straftat, sondern ein notwendiger Schritt zur geistigen und moralischen Entfaltung des Menschen
Foto: akg-images
D
er Instinkt, diese Stimme Gottes, der alle Tiere gehorchen, mußte den Neuling anfänglich allein leiten. Dieser erlaubte ihm einige Dinge zur Nahrung, andere verbot er ihm. (…) So lange der unerfahrne Mensch diesem Rufe der Natur gehorchte, so befand er sich gut dabei. Allein die Vernunft fing bald an sich zu regen und suchte durch Vergleichung des Genossenen mit dem, was ihm ein anderer Sinn, als der, woran der Instinkt gebunden war, etwa der Sinn des Gesichts, als dem sonst Genossenen ähnlich vorstellte, seine Kenntnis der Nahrungsmittel über die Schranken des Instinkts zu erweitern. (…) Dieser Versuch hätte zufälligerweise noch gut genug ausfallen können, obgleich der Instinkt nicht anriet, wenn er nur nicht widersprach. Allein, es ist eine Eigenschaft der Vernunft, daß sie Begierden mit Beihülfe der Einbildungskraft nicht allein ohne einen darauf gerichteten Naturtrieb, sondern sogar wider denselben erkünsteln
kann (…). Die Veranlassung, von dem Naturtrieb abtrünnig zu werden, durfte nur eine Kleinigkeit sein; allein der Erfolg des ersten Versuchs, nämlich sich seiner Vernunft als eines Vermögens bewußt zu werden, das sich über die Schranken, worin alle Tiere gehalten werden, erweitern kann, war sehr wichtig und für die Lebensart entscheidend. (…) Er entdeckte in sich ein Vermögen, sich selbst eine Lebensweise auszuwählen und nicht gleich anderen Tieren an eine einzige gebunden zu sein. (…) Das Feigenblatt war
DIE BIBEL
also das Produkt einer weit größeren Äußerung der Vernunft, als sie in der ersteren Stufe ihrer Entwicklung bewiesen hatte. Denn eine Neigung dadurch inniglicher und dauerhafter zu machen, daß man ihren Gegenstand den Sinnen entzieht, zeigt schon das Bewußtsein einiger Herrschaft der Vernunft über Antriebe; und nicht bloß, wie der erste Schritt ein Vermögen ihnen im kleineren oder größeren Umfange Dienste zu leisten. Weigerung war das Kunststück, um von bloß empfundenen zu idealischen Reizen, von der bloß tierischen Begierde allmählich zur Liebe und mit dieser vom Gefühl des bloß Angenehmen zum Geschmack für Schönheit anfänglich nur an Menschen, dann aber auch an der Natur überzuführen. Die Sittsamkeit, eine Neigung durch guten Anstand (Verhehlung dessen, was Geringschätzung erregen könnte) andern Achtung gegen uns einzuflößen, als die eigentliche Grundlage aller wahren Geselligkeit, gab überdem den ersten Wink zur Ausbildung des Menschen als eines sittlichen Geschöpfs. ➔
Immanuel Kant: „Mutmaßlicher Anfang der Menschen geschichte“ in: „Schriften zur Anthropologie, Geschichts philosophie, Politik und Pädagogik 1“, Werkausgabe Band 11, hrsg. v. Wilhelm Weischedel, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1968, S. 87–90
IMMANUEL KANT 1724 – 1804 Der zurückgezogene Gelehrte, der seine Heimatstadt Königsberg (damals Preußen) sein Leben lang kaum verließ, gilt als einer der einflussreichsten Philosophen der Neuzeit schlechthin. In „Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte“ (1786) unternimmt Kant eine spekulative naturphilosophische Erklärung der Entwicklung des Menschen seit seinem „Naturzustand“ im Paradies
21
DAS ALTE TESTAMENT
GENESIS – ERZÄHLUNGEN VOM ANFANG KAIN UND ABEL
HANNAH ARENDT
Am Anfang steht Gewalt In ihrem Doppelporträt der Französischen und der Amerikanischen Revolution setzt sich Arendt, für die Politik eng an einen vernünftigen öffentlichen Diskurs gebunden ist, mit dem diesen Rahmen sprengenden Phänomen des gewalttätigen Umsturzes auseinander – und mit dem biblischen Urmodell dieser Szene
„ Das Gute teilt mit dem Bösen die elementare Gewalttätigkeit, zu der alle Stärke neigt und die allen Formen politischer Organisation zum Unheil ausschlägt “
PHILOSOPHIE MAGAZIN
selbst, welche Frage den Kern der Geschichte bildet: Wie war es möglich, so fragt er, daß gleich nach „Abstellung uralten Unrechts in der Alten Welt … die Revolution größeres Unrecht und schlimmere Unterdrückung beging als die Könige“? Und er gab die im Rahmen unserer Tradition und der Gleichstellung von Gutsein mit Demut und Schwäche höchst verblüffende Antwort: Das Gute ist stark, stärker als das „elementar Böse“, darum teilt es mit diesem Bösen auch die elementare Gewalttätigkeit, zu der alle Stärke neigt und die allen Formen politischer Organisation zum Unheil ausschlägt. Es ist, als sagte er: Laßt uns doch einmal annehmen, daß von nun an der Grundstein aller politischen Organisation sein soll: Und Abel erschlug Kain, das Gute wurde gewalttätig mit dem Bösen fertig. Seht Ihr denn nicht, daß dieser Gewaltakt die gleiche Kette des Unrechts zur Folge haben wird, die wir aus der Geschichte kennen, nur daß nun die Menschen sich nicht einmal damit werden trösten können, daß die Gewalt, die das Unheil in die Welt bringt und daher von den Menschen verbrecherisch genannt und verfolgt wird, wirklich nur das Kennzeichen des Bösewichts ist? ➔
Hannah Arendt: „Über die Revolution“ (1963), München: Piper, 1994, S. 21 und S. 111
HANNAH ARENDT 1906 – 1975 Deutsch-amerikanische Philosophin, Schülerin von Husserl, Jaspers und Heidegger. Als Jüdin musste sie 1933 aus Deutschland fliehen, ab 1941 Aufbau einer neuen Existenz in den USA. Zu ihren Hauptwerken zählen „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ (1951) und „Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen“ (1963). Ab 1963 Professorin in Chicago, ab 1967 an der New School of Social Research in New York. Die Frage der Verbindung von Politik, Öffentlichkeit, Macht und Gewalt steht im Zentrum ihres nach wie vor äußerst wirkungsvollen politischen Denkens
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SONDERAUSGABE 07
Foto: akg-images / picture-alliance / Fred Stein
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aß das Problem des Anfangs oder Ursprungs für das Phänomen der Revolution von ausschlaggebender Bedeutung ist, ist offenbar. Daß ein enger Zusammenhang zwischen einem solchen Anfang und der Gewalt besteht, scheint durch die Ursprungslegenden der biblischen wie der klassischen Tradition bezeugt: Kain erschlug Abel, Romulus erschlug Remus; Gewalt stand am Anfang, woraus zu folgen scheint, daß kein Anfang ohne Gewaltsamkeit möglich ist, daß jeder Neubeginn etwas vergewaltigt. Diese ersten Taten unserer Geschichte, die mit Legenden anhebt, haben unzählige Jahrhunderte im Gedächtnis der Menschen überlebt mit jener Kraft, die dem menschlichen Denken in den seltenen Augenblicken eignet, wenn es ihm gelingt, in zwingend überzeugenden Metaphern zu sprechen oder in weithin anwendbaren Geschichten. Die Legende sprach es klar aus: Am Anfang aller Brüderlichkeit steht der Brudermord, am Anfang aller politischen Ordnung steht das Verbrechen. Für diese uralte, durch die Jahrhunderte getragene Überzeugung von dem Beginn aller menschlichen Angelegenheiten ist die Annahme eines Naturzustandes nur eine letzte, theoretisch gereinigte Paraphrase, und sie klingt noch deutlich nach in Marx’ berühmtem Ausspruch von der Gewalt als der mächtigen Geburtshelferin der Geschichte. (…) Offenbar hat Melville das für die Tradition unseres politischen Denkens so außerordentlich entscheidende legendäre Urverbrechen: Kain erschlug Abel, umgekehrt, und diese Umkehrung war weder willkürlich noch zufällig. Sie ergab sich in der Tat aus der Umkehrung, mit der die Männer der Französischen Revolution auf das Dogma der Erbsünde geantwortet hatten – nicht die Sünde, das Gute ist dem Menschen angeboren. Melville sagt im Vorwort zu „Billy Budd“
Foto: Installation Christiane Möbus: Auf dem Rücken der Tiere; VG Bild-Kunst, Bonn 2016 fotografiert von Helge Mundt
„ Ebenso bezweckt die Erzählung von der Sintflut und von der Zer störung Sodoms und Gomorrhas, aus ihnen den Beweis für die wahre Glaubenslehre abzuleiten, daß es ,in der Tat einen Lohn für den Gerechten gebe und daß es einen Richter gebe, der des Rechtes auf Erden waltet‘ (Psalm 58,12) “ Maimonides: „Führer der Unschlüssigen“
DIE BIBEL
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PHILOSOPHIE MAGAZIN
Das Volk ISRAEL und seine Gesetze
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SONDERAUSGABE 07
Foto: © The Glue Society www.gluesociety.com
Von Mose aus der Sklaverei in Ägypten befreit, wird das Volk Israel zu einer Nation und stellt sich unter das Gesetz des einen, einzigen Gottes. Immer mehr Gesetze empfängt Mose während der 40 Jahre in der Wüste, fern und nah zugleich bleibt die Hoffnung auf das versprochene Gelobte Land. Die Geschichten über den Bund Israels mit dem einen Gott erzählen von der politischen Befreiung ebenso wie von der Mühsal ihrer Erlangung. Und von dem innigen Verhältnis von Freiheit und Transzendenz
DAS VOLK ISRAEL UND SEINE GESETZE DIE ZEHN GEBOTE
MARTIN BUBER
Religion als Quelle des Rechts In einer ursprünglich 1929 in der „Literarischen Welt“ veröffentlichten „Antwort auf eine Rundfrage“ analysiert Buber, wie die Zehn Gebote von Glaubensgrundsätzen zu moralischen Geboten und schließlich zu Gesetzen werden
die jeweils lebende Gesamtheit, soweit sie in den von ihr getragenen Einrichtungen einen Gesamtwillen erkennen lässt – von je daran interessiert, daß von den Zehn Geboten, wenn auch nicht die ersten, auf das Verhältnis zu Gott bezüglichen, so doch die übrigen gehalten werden, da es ihrem, der Gesellschaft, Bestande nicht zuträglich wäre, wenn zum Beispiel das Morden aus einem Verbrechen zu einem Laster würde. Das gilt in einem gewissen Maße sogar für das Verbot des Ehebrechens, solange die Gesellschaft nicht etwa ohne die Ehe auskommen zu können meint, was sie bekanntlich noch nie, auch nicht in polyandrer oder polygyner „Primitivität“ gekonnt hat, und für das Gebot der Elternehrung, solange der Gesellschaft an einem Zusammenhang zwischen ihren Generationen und an einer geordneten Übernahme der jeweils zu übergebenden Formen und Gehalte gelegen ist, woran, wie wir an Moskau sehen, auch einer von einer „kommunistischen“ Zielsetzung her sich aufbauenden Gesellschaft gelegen sein muß. Und da die Gesellschaft eine ihr so lebenswichtige Angelegenheit begreiflicherweise nicht auf eine so unsichere Grundlage wie die der Glaubensfrage – Hörenwollen oder Gehörverweigern – stellen mag, ist sie von je bestrebt, die ihr erforderlich erscheinenden Gebote und Verbote aus dem Bereich der „Religion“ in den der „Moral“ zu überführen, das heißt aus der Sprache der persönlichen Imperativ-Rede in die der unpersönli-
PHILOSOPHIE MAGAZIN
chen Soll-Satzung zu übertragen, und sie, statt von dem in seiner Wirksamkeit so problematischen Willen Gottes, von der einigermaßen kontrollierbaren öffentlichen Meinung schützen zu lassen. Da aber auch diese Sicherung noch recht unvollkommen ist, werden die Gebote und Verbote weiter in die Sphäre des „Rechtes“ geleitet, das heißt, in die Sprache der Wenn-Festsetzung übertragen: „Wenn einer das und das tut, wird ihm solches und solches getan“, wobei als der Zweck des „solchen und solchen“ nicht die Beschränkung der Handlungsfreiheit des Rechtbrechers, sondern seine „Bestrafung“ bezeichnet wird, – die Gesellschaft will also das mathematisch-übersichtlich regeln, was Gott so zu regeln verschmäht hat, die Relation zwischen dem, was einer anstellt, und dem, was ihm widerfährt. Und nun gibt es endlich auch Vollzugsorgane, die – wenigstens grundsätzlich – präzise Arbeit leisten, Tribunal und Polizei, Kerkerwärter und Henker. Eigentümlicherweise läßt das Ergebnis immer noch zu wünschen übrig, wenn man etwa nach dem statistisch belegten Ausbleiben eines mindernden Einflusses der Todesstrafe auf die Zahl der Morde urteilen darf. ➔
Martin Buber: „Was soll mit den zehn Geboten gesche hen? Antwort auf eine Rundfrage“ (1929), in: „Werke. Zweiter Band, Schriften zur Bibel“, München u. Heidel berg: Kösel-Verlag u. Verlag Lambert Schneider, 1964, S. 897–898
MARTIN BUBER 1878 – 1965 Jüdischer Religionsphilosoph österreichischer Herkunft, 1938 vor den Nazis nach Jerusalem geflohen. Verfasser bedeutender Untersuchungen zur mystischorthodoxen jüdischen Strömung des Chassidismus sowie philosophischer und religionswissenschaftlicher Arbeiten und zahlreicher Übersetzungen. Darunter die in den 1920er und 1930er Jahren gemeinsam mit Franz Rosenzweig erarbeitete Neuübersetzung der hebräischen Bibel („Die Schrift“)
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SONDERAUSGABE 07
Foto: akg-images
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ch meine, daß die geschichtliche und gegenwärtige Lage der Zehn Gebote sich aus einer doppelten (…) Tatsache erklärt: 1. Die Zehn Gebote stehen nicht in dem personenfreien Kodex eines Menschenverbandes, sondern werden von einem Ich zu einem Du gesprochen – mit dem Ich beginnen sie, und das Du wird in jedem persönlich angeredet: ein Ich also „gebietet“, und einem Du, nämlich jedem, der dieses „Du“ hört, „wird geboten“. 2. Das Wort des hier Gebietenden ist mit keiner auf der Ebene der zuverlässigen Kausalität sich auswirkenden Vollstreckungskraft ausgestattet. Es erzwingt sich kein Gehör; wer sich mit diesem Du nicht anreden lassen will, kann anscheinend unbehelligt seinen Geschäften nachgehn. Wenn der Sprecher des Wortes Macht hat (und die Zehn Gebote setzen voraus, daß er Macht genug hatte, um Himmel und Erde zu erschaffen), hat er sich dieser Macht hinreichend begeben, um jeder Menschenperson faktisch freizustellen, sich seiner Stimme aufzutun oder zu verschließen, also ihn selber, das Ich dieses „Ich bin“, zu erwählen oder zu verwerfen. Wer ihn verworfen hat, den trifft kein Blitzschlag; wer ihn erwählt hat, der findet keinen verborgenen Schatz; alles bleibt anscheinend, wie es war. Gott hat offenbar seinem Willen nach keine Orden und keine Zuchthauszellen zu vergeben. Das ist die Situation des „Glaubens“. Das Hören dessen, was er zu hören gibt, ist nach allen Kriterien der zuverlässigen Kausalität nicht lohnend. Der Glaube ist nicht eine bloße Unternehmung mit einem Risiko, dem die Chance des unermeßlichen Gewinns gegenüberstünde, sondern das Wagnis schlechthin, jenseits der Wahrscheinlichkeitsrechnung. Zumal für jenen ausgepichten Gläubigen, der es mit dem Tod und dessen Danach so hält, daß dies zu seiner Zeit zu erfahren, aber nicht in der Vorstellung – auch nicht in der „religiösen“ – vorwegzunehmen sei. Nun ist die „menschliche Gesellschaft“ – das heißt
VOLK ISRAEList UND von SEINE GESETZE „ Aber die Beziehung zumDAS Antlitz vornherein ethischer Art. Das Antlitz ist das, was man nicht töten kann oder dessen Sinn zumindest darin besteht, zu sagen: ,Du darfst nicht töten.‘ Es stimmt, der Mord ist ein banales Faktum: Man kann den Anderen töten; die ethische Forderung ist keine ontologische Notwendigkeit. Das Verbot zu töten macht den Mord nicht unmöglich, selbst wenn die Autorität des Verbotenen im schlechten Gewissen über das vollbrachte Böse erhalten bleibt – die Bösartigkeit des Bösen “
Foto: Tytia Habing
Emmanuel Lévinas: „Ethik und Unendliches“
DIE BIBEL
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PHILOSOPHIE MAGAZIN
PROPHETEN –
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SONDERAUSGABE 07
Foto: ©Viktoria Sorochinski. «Ready to Fly» 2015, from the series BROTHER & SISTER / Untold Tales of Halsnoy Kloster
Erfinder der GESCHICHTE
Gott gebietet den Menschen in Gestalt seiner Gesetze – und mithilfe der Propheten. Sprachrohre Gottes, Warner und Mahner, sind sie die Erfinder nicht nur einer Geschichtsschreibung in die Zukunft hin, sondern auch der Heilsgeschichte, die von Beginn und Ende der Welt spricht. Sie repräsentieren das Imaginäre, sind zugleich Hüter der göttlichen Ordnung und diejenigen, die von dem jederzeit möglichen und bedrohlichen Eingreifen Gottes in die Welt Kunde geben
PROPHETEN – ERFINDER DER GESCHICHTE
BAAL GEGEN JAHWE Das erste Buch der Könige 18,17 – 40
nd als Ahab Elia sah, sprach Ahab zu ihm: Bist
aber da war keine Stimme noch Antwort noch einer, der auf-
du es, der Israel ins Unglück stürzt?
merkte.
18
Er aber sprach: Nicht ich stürze Israel ins
30
Da sprach Elia zu allem Volk: Kommt her zu mir! Und als alles
Unglück, sondern du und deines Vaters Haus
Volk zu ihm trat, baute er den Altar des HERRN wieder auf, der
dadurch, dass ihr des HERRN Gebote verlassen
zerbrochen war. 31 Und Elia nahm zwölf Steine nach der Zahl der
habt, und du den Baalen nachgelaufen bist.
Stämme der Söhne Jakobs – zu dem das Wort des HERRN ergan-
Wohlan, so sende nun hin und versammle zu
gen war: Du sollst Israel heißen – 32 und baute von den Steinen
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mir ganz Israel auf den Berg Karmel und die vier-
einen Altar im Namen des HERRN und machte um den Altar her
hundertfünfzig Propheten Baals, auch die vierhundert Propheten
einen Graben, so breit wie für zwei Maß Aussaat, 33 und richtete
der Aschera, die vom Tisch Isebels essen. 20 So sandte Ahab hin zu
das Holz zu und zerstückte den Stier und legte ihn aufs Holz.
allen Israeliten und versammelte die Propheten auf den Berg Kar-
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mel.
das Brandopfer und aufs Holz! Und er sprach: Tut’s noch einmal!
Und Elia sprach: Holt vier Eimer voll Wasser und gießt es auf
Da trat Elia zu allem Volk und sprach: Wie lange hinkt ihr auf
Und sie taten’s noch einmal. Und er sprach: Tut’s zum dritten Mal!
beiden Seiten? Ist der HERR Gott, so wandelt ihm nach, ist’s aber
Und sie taten’s zum dritten Mal. 35 Und das Wasser lief um den
Baal, so wandelt ihm nach. Und das Volk antwortete ihm nichts.
Altar her, und der Graben wurde auch voll Wasser.
21
22
Da sprach Elia zum Volk: Ich bin allein übrig geblieben als Pro-
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Und als es Zeit war, das Speisopfer zu opfern, trat der Prophet
phet des HERRN, aber die Propheten Baals sind vierhundertfünf-
Elia herzu und sprach: HERR, Gott Abrahams, Isaaks und Israels,
zig Mann. 23 So gebt uns nun zwei junge Stiere und lasst sie wäh-
lass heute kundwerden, dass du Gott in Israel bist und ich dein
len einen Stier und ihn zerstücken und aufs Holz legen, aber kein
Knecht und dass ich all das nach deinem Wort getan habe!
Feuer daran legen; dann will ich den andern Stier herrichten und
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aufs Holz legen und auch kein Feuer daran legen. Und ruft ihr
du, HERR, Gott bist und ihr Herz wieder zu dir kehrst!
den Namen eures Gottes an, ich aber will den Namen des HERRN
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anrufen. Welcher Gott nun mit Feuer antworten wird, der ist Gott.
Steine und Erde und leckte das Wasser auf im Graben. 39 Als das
Und das ganze Volk antwortete und sprach: Das ist recht.
alles Volk sah, fielen sie auf ihr Angesicht und sprachen: Der HERR
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Erhöre mich, HERR, erhöre mich, dass dies Volk erkenne, dass Da fiel das Feuer des HERRN herab und fraß Brandopfer, Holz,
25
Und Elia sprach zu den Propheten Baals: Wählt ihr einen Stier
ist Gott, der HERR ist Gott! 40 Elia aber sprach zu ihnen: Greift die
und richtet zuerst zu, denn ihr seid viele, und ruft den Namen
Propheten Baals, dass keiner von ihnen entrinne! Und sie ergriffen
eures Gottes an, aber legt kein Feuer daran. 26 Und sie nahmen
sie. Und Elia führte sie hinab an den Bach Kischon und schlachtete
den Stier, den man ihnen gab, und richteten zu und riefen den
sie daselbst.
Namen Baals an vom Morgen bis zum Mittag und sprachen: Baal, erhöre uns! Aber es war da keine Stimme noch Antwort. Und sie hinkten um den Altar, den sie gemacht hatten. 27 Als es nun Mittag wurde, verspottete sie Elia und sprach: Ruft laut! Denn er ist ja ein Gott; er ist in Gedanken oder hat zu schaffen oder ist über Land oder schläft vielleicht, dass er aufwache. 28 Und sie riefen laut und ritzten sich mit Messern und Spießen nach ihrer Weise, bis ihr Blut herabfloss. 29 Als aber der Mittag vergangen war, waren sie in Verzückung bis um die Zeit, zu der man das Speisopfer darbringt;
PHILOSOPHIE MAGAZIN
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SONDERAUSGABE 07
PROPHETEN – ERFINDER DER GESCHICHTE BAAL GEGEN JAHWE
Mein Gott ist stärker als dein Gott Der Gott des Volkes Israel ist in der Bibel keineswegs allein, er ist umgeben von rivalisierenden Göttern anderer Völker der Region. Besonders bedrohlich wird für den Gott Israels dabei immer wieder Baal, der Hauptgott der ursprünglich im Land Israel ansässigen Kanaanäer – also ein bereits etablierter Gott, gegen den sich der Gott der Neuankömmlinge durchsetzen muss. Das erste Königsbuch erzählt die Geschichte einer Machtprobe zwischen dem Propheten Elia und den Propheten des Baal, dem sich das Volk unter König Ahab wieder zugewandt hat. Elia entlarvt die „falschen“ Propheten des Baal, indem er zeigt, dass deren Gott keine Wirkmacht hat. Und lässt sie dann umbringen. Eine theatralisch inszenierte Szene, in der Gott seine Macht robust unter Beweis stellt.
MARTIN BUBER
Ein innerjüdischer Kampf Martin Buber beschreibt die Auseinandersetzung zwischen den Anhängern Baals und denen Jahwes nicht nur als den Konflikt zwischen unterschiedlichen Stämmen und ihren Göttern, sondern als einen geistigen Kampf im Inneren des Judentums, der zutiefst fruchtbar war
Foto: akg-images
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as geistige Leben der orientalischen Völker, in dem die Gefahren des motorischen Menschen mit seinen sublimsten Möglichkeiten verknüpft sind und die Preisgabe des Selbst an den Taumel der Welt sich von den gleichen Wurzeln nährt wie die Besinnung des Selbst auf seine und der Welt unwandelbare Innerlichkeit, entwickelt sich oft in der Form eines Kampfes: des Kampfes der schöpferischen Geister, der Führer und Erlöser, gegen die Richtungslosigkeit der Volkstriebe. Eine besondere Intensität und Fruchtbarkeit hat dieser Kampf im alten Judentum. Aus dem Erlebnis der inneren Entzweiung und aus der immanenten Forderung der Entscheidung, das heißt des Einswerdens der Seele, ergab sich das Auseinanderfallen des Volkes in zwei geistige Klassen, die der Wählenden, der sich Entscheidenden, der zur Unbedingtheit Durchdringenden, der ans Ziel Hingegebenen, und die der Gesche-
henlassenden, der Entscheidungslosen, der träge in der Bedingtheit Verharrenden, der zweckhaft Selbstsüchtigen und Selbstzufriedenen; biblisch gesprochen, die der Diener Jahwes und die der Diener Baals, wobei zu beachten ist, daß diese sich keineswegs etwa für Baal und gegen Jahwe entschieden, sondern nach dem Wort Elijas „auf beiden Seiten hinkten“. Im Kampf gegen sie entzündet sich allezeit die spezifische Genialität, und die jüdische Fruchtbarkeit ist eine kämpfe-
DIE BIBEL
rische Fruchtbarkeit. Im Gegensatz zu der des Abendlandes, die auf das Werk geht und an ihm ihre Grenze hat, hat die jüdische Produktivität Form, aber keine Grenze; sie hat, darf man wohl sagen, die Form des Unendlichen, denn sie hat die Form des Geisteskampfes. Mit der Zerstörung des jüdischen Gemeinwesens wurde die Fruchtbarkeit des Geisteskampfes geschwächt. Die geistige Kraft sammelte sich nunmehr auf die Erhaltung des Volkstums gegen die äußeren Einflüsse, auf die strenge Umzäu nung des eigenen Bereiches, um das Eindringen fremder Tendenzen zu verhüten, auf die Kodifizierung der Werte, um aller Verschiebung vorzubeugen, auf die unmißverständliche, unumdeutbare, also konsequent rationale Formulierung der Religion. An die Stelle des gotterfüllten, fordernden, schöpferischen Elements trat immer mehr das starre, nur erhaltende, nur fortsetzende, nur abwehrende Element des offiziellen Judentums.
➔
Martin Buber: „Der Geist des Orients und das Judentum“ (1912), in: „Mythos und Mystik. Frühe religionswissen schaftliche Schriften“, Werkausgabe 2.1, hrsg. v. David Groiser, München: Gütersloher Verlagshaus, 2013, S. 199–200
MARTIN BUBER 1878 – 1965 Jüdischer Religionsphilosoph österreichischer Herkunft, Verfasser bedeutender Untersuchungen zur mystisch-orthodoxen jüdischen Strömung des Chassidis mus sowie philosophischer und religionswissenschaftlicher Arbeiten und zahlreicher Übersetzungen. Darunter die in den 1920er- und 1930er-Jahren gemeinsam mit Franz Rosenzweig erarbeitete Neuübersetzung der hebräischen Bibel („Die Schrift“)
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DAS ALTE TESTAMENT
DER KÖRPER XXX
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SONDERAUSGABE 07
Foto: Alessandro Burato 2016–2017
Weisheitsbücher – LEIB, SCHMERZ, Endlichkeit
In den poetischen Schriften und Weisheitsbüchern finden sich inten sive philosophische Reflexionen über die Conditio humana, über die Endlichkeit des Menschen, über den Zustand der Welt und ihr Verhältnis zu Gott. Vom leidenden Menschen, Hiob, der Gottes Gerechtigkeit infrage stellt, bis zur unübertrefflich sinnlichen Liebes lyrik des Hohelieds
WEISHEITSBÜCHER – LEIB, SCHMERZ, ENDLICHKEIT
„ Gott hat einen Körper, aber kein Geschlecht “ Der Mensch ist Gottes Ebenbild, nach seinem Bild geschaffen. Hat Gott also einen Körper? Vielleicht sogar ein Geschlecht? Warum zürnt er gelegentlich, wird aber nie müde? Und warum geht er erst nachmittags spazieren, wenn es nicht mehr so heiß ist? Fragen, die der Kirchenhistoriker Christoph Markschies, Autor der monumentalen Studie „Gottes Körper“, beantworten kann INTERVIEW MIT CHRISTOPH MARKSCHIES
Von Catherine Newmark
PM: Es gibt eine ganz alte Kinderfrage, die wahrscheinlich die meisten Eltern kennen, nämlich: Hat Gott eigentlich auch einen Körper? Wie beantwortet sie das Alte Testament? CHRISTOPH MARKSCHIES: › Es kann eigentlich gar keinen Zweifel daran geben, dass die hebräische Bibel davon ausgeht, dass Gott einen Körper hat. Er hat Ohren, Augen, eine Nase – er hört und sieht die Menschen, er riecht den Wohlgeruch des Opfers … Aber man muss sofort hinzufügen: Es ist ein ganz besonderer Körper, nicht einfach bloß der idealisierte menschliche Körper. Gottes Körper mag zwar das Modell für sein Ebenbild, den Menschen, abgeben. Aber er ist gewissermaßen kategorial von der menschlichen Körperlichkeit getrennt. Diese kategoriale Trennung wird in der Bibel natürlich nicht philosophisch benannt, aber in den Versuchen der Beschreibung doch sehr deutlich gemacht.
Wie? › Indem Gottes Körper Dinge zugeschrieben werden, die man keinem irdischen Körper zuschreiben könnte. Beispielsweise das Attribut „nimmermüde“. Das ist keine philosophische Ausdrucksweise, aber hier wird durch die Beschreibung von Eigenschaften, die dezidiert nicht irdisch sind, eine Kategorialdifferenz markiert. Es ist geradezu einer der zentralen Wesenszüge der hebräischen Bibel, die kategoriale Andersartigkeit Gottes zu betonen. Der Mensch ist zwar nach seinem Bild geschaffen, aber Gott steht der Welt und dem Menschen sehr bewusst gegenüber, und alle Versuche, diese Differenz zu überspielen, werden im Text mit unerbittlicher Härte kritisiert.
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Gottes Körper ist also kategorial anders – aber ist er trotzdem materiell? › Ja. Die hebräische Bibel versteht die Körperlichkeit nicht metaphorisch, wie es die griechische Bibel tun wird. Der Schöpfer und Erhalter der Welt ist kein rein geistiges Prinzip, sondern hat Materialität. Die hebräische Bibel kennt nicht die Vorstellung einer reinen Geistigkeit und schon gar nicht die Vorstellung, dass reine Geistigkeit besser oder reiner wäre als Körperlichkeit. Es gibt nicht so etwas wie eine platonische Hierarchisierung von Geist und Materie. Da ist vielmehr die Vorstellung, dass alles, was ist, auch Materie ist. Das ist näher an den Stoikern, die ja auch dem Geist selbst, dem „Pneuma“, eine „Feinstofflichkeit“ zuschrieben.
Ein weiteres Indiz für Körperlichkeit wären ja auch Emotionen. Und der biblische Gott scheint solche ebenfalls zu kennen, beispielsweise wenn er zürnt. › Ja, Gott werden Emotionen zugeschrieben, aber nicht die volle menschliche Emotionalität. Dieses Lust-Unlust-Paradigma, auf dem die menschliche Emotionalität beruht, findet man bei ihm nicht. Es ist nicht so, dass Gott müde wird oder sagt, ich hab jetzt keine Lust mehr …
… außer am siebten Tage, wenn er ruht? › Am siebten Tag ruht er, aber nicht, weil er nicht mehr kann, sondern weil er uns lehren will, dass man auch mal eine Pause einlegen soll. Das ist der Sinn der Geschichte. Und auch das Zürnen darf man nicht mit menschlicher Wut verwechseln. Es ist nicht so, dass Gott unkontrolliert „ausrastet“. Was wir bei ihm finden, ist vielmehr ein heiliger Zorn. Gott ist nicht gleichgültig.
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CHRISTOPH MARKSCHIES * 1962 Professor für Ältere Kirchengeschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin, deren Präsident er von 2006 bis 2010 auch war. Seit 2012 ist der evangelische Theologe Vizepräsident der Berlin-Brandenburgischen Aka demie der Wissenschaften. Ver öffentlichungen u. a. „Zwischen den Welten wandern. Strukturen des antiken Christentums“ (S. Fischer, 1997), „Die Gnosis“ (C.H. Beck, 2001), „Das antike Christentum. Frömmigkeit, Lebensformen, Insti tutionen“ (C.H. Beck, 2006), „Gottes Körper. Jüdische, christliche und pagane Gottesvorstellungen in der Antike“ (C.H. Beck, 2016)
Er ist nicht wie der stoische Weise – den man auch gelegentlich als „gottähnlich“ beschrieben hat –, der stets mit einem freundlichen Lächeln gleichmäßig ruhig bleibt. Der biblische Gott ist nicht in dieser Weise vergeistigt. Er ist auch Materialität, und die bleibt nicht gleichgültig, wenn man sie nicht achtet. Also wird Gott auch zornig, wenn er nicht als Gott geachtet wird. Das lässt er nicht ungestraft. Damit demonstriert er im Grunde seine Macht. Das muss man sich immer wieder klarmachen: Vor seiner Begegnung mit dem griechischen Denken ist das hebräische Denken ganz weit entfernt von späteren Gottesvorstellungen eines vollkommen transzendenten Wesens, in dem es keinerlei Veränderung gibt, das ein „unbewegter Beweger“ ist, wie es bei Aristoteles heißt. Der biblische Gott ist auf gar keinen Fall ein rein geistiges und entemotionalisiertes Prinzip.
Foto: Marcus Hoehn/laif
Kann sich Gott auch inkarnieren, also menschliche Körperlichkeit annehmen? Das ist ja für die christliche Vorstellung von Jesus zentral. Ist so etwas in der jüdischen Tradition gar nicht denkbar? › Lustigerweise doch. Natürlich erst ab dem Moment, wenn die
„ Die hebräische Bibel kennt nicht die Vorstellung einer reinen Geistigkeit und schon gar nicht, dass reine Geistigkeit besser oder reiner wäre als Körperlichkeit “ DIE BIBEL
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auch für das Judentum revolutionäre Begegnung mit dem griechischen Denken stattfindet. Vor allem in Ägypten, aber auch in Rom und in Palästina. Und ab da fangen auch die jüdischen Gelehrten an, über Vermittlungsinstanzen nachzudenken. Etwa der jüdische Autor Philon von Alexandria, ein Zeitgenosse des Paulus, selber ganz und gar unverdächtig, Christ zu sein, der aber plötzlich anfängt, wie die Platoniker über einen „zweiten Gott“ zu reden. Die Vorstellung, dass die göttliche Vernunft in dieser Welt inkarniert wird und in Menschenform auftritt, ist nicht spezifisch christlich. Das spezifisch Christliche ist die Identifikation mit einem einzigen, am Kreuz gescheiterten Messias-Prätendenten, also mit diesem in den Augen gebildeter Griechen eher obskuren Jesus aus Nazareth im hinterletzten Winkel des Römischen Reiches.
Aber die Grundidee, dass sich Gott inkarnieren könnte, gibt es auch in der jüdischen Tradition. › Ja, sie entsteht in der Synthese zwischen hebräischer Bibel, ihrer
DAS ALTE TESTAMENT
WEISHEITSBÜCHER – LEIB, SCHMERZ, ENDLICHKEIT
HIOB Das Buch Hiob (Ijob) 1,1 – 3,25
s war ein Mann im Lande Uz, der hieß Hiob.
da kam ein großer Wind von der Wüste her und stieß an die vier
Der war fromm und rechtschaffen, gottes-
Ecken des Hauses; da fiel es auf die jungen Leute, dass sie starben,
fürchtig und mied das Böse. 2 Und er zeugte
und ich allein bin entronnen, dass ich dir’s ansagte.
sieben Söhne und drei Töchter, und er besaß
20
siebentausend Schafe, dreitausend Kamele,
und fiel auf die Erde und neigte sich tief 21 und sprach: Ich bin
fünfhundert Joch Rinder und fünfhundert Eselinnen und sehr viel
nackt von meiner Mutter Leibe gekommen, nackt werde ich wie-
Gesinde, und er war reicher als alle, die im Osten wohnten. (…)
der dahinfahren. Der HERR hat’s gegeben, der HERR hat’s genom-
Der HERR sprach zum Satan: Hast du achtgehabt auf meinen
men; der Name des HERRN sei gelobt! – 22 In diesem allen sündigte
3
8
Da stand Hiob auf und zerriss sein Kleid und schor sein Haupt
Knecht Hiob? Denn es ist seinesgleichen nicht auf Erden, fromm
Hiob nicht und tat nichts Törichtes wider Gott. (…)
und rechtschaffen, gottesfürchtig und meidet das Böse.
2.7 Da ging der Satan hinaus vom Angesicht des HERRN und
Der Satan antwortete dem HERRN und sprach: Meinst du, dass
schlug Hiob mit bösen Geschwüren von der Fußsohle an bis auf
Hiob Gott umsonst fürchtet? Hast du doch ihn, sein Haus und
seinen Scheitel. 8 Und er nahm eine Scherbe und schabte sich und
alles, was er hat, ringsumher bewahrt. Du hast das Werk seiner
saß in der Asche. 9 Und seine Frau sprach zu ihm: Hältst du noch
Hände gesegnet, und sein Besitz hat sich ausgebreitet im Lande.
fest an deiner Frömmigkeit? Fluche Gott und stirb! 10 Er aber
Aber strecke deine Hand aus und taste alles an, was er hat: Was
sprach zu ihr: Du redest, wie die törichten Frauen reden. Haben
9
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gilt’s, er wird dir ins Angesicht fluchen! Der HERR sprach zum
wir Gutes empfangen von Gott und sollten das Böse nicht auch
Satan: Siehe, alles, was er hat, sei in deiner Hand; nur an ihn
annehmen? In diesem allen versündigte sich Hiob nicht mit seinen
selbst lege deine Hand nicht. Da ging der Satan hinaus von dem
Lippen.
HERRN.
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13
Als aber die drei Freunde Hiobs all das Unglück hörten, das über
Eines Tages aber, da seine Söhne und Töchter aßen und Wein
ihn gekommen war, kamen sie, ein jeder aus seinem Ort (…).
tranken im Hause ihres Bruders, des Erstgeborenen, 14 kam ein
12
Bote zu Hiob und sprach: Die Rinder pflügten und die Eselinnen
nicht und erhoben ihre Stimme und weinten, und ein jeder zerriss
gingen neben ihnen auf der Weide, 15 da fielen die aus Saba ein
sein Kleid, und sie warfen Staub gen Himmel auf ihr Haupt 13 und
und nahmen sie weg und erschlugen die Knechte mit der Schärfe
saßen mit ihm auf der Erde sieben Tage und sieben Nächte und
des Schwerts, und ich allein bin entronnen, dass ich dir’s ansagte.
redeten nichts mit ihm; denn sie sahen, dass der Schmerz sehr
Als der noch redete, kam ein anderer und sprach: Feuer Gottes
Und als sie ihre Augen aufhoben von ferne, erkannten sie ihn
16
groß war.
fiel vom Himmel und verbrannte Schafe und Knechte und ver-
3.1 Danach tat Hiob seinen Mund auf und verfluchte seinen Tag. Und Hiob sprach:
zehrte sie, und ich allein bin entronnen, dass ich dir’s ansagte.
2
17
Als der noch redete, kam einer und sprach: Die Chaldäer mach-
3
ten drei Abteilungen und fielen über die Kamele her und nahmen
da man sprach: Ein Knabe kam zur Welt! 4 Jener Tag sei Finsternis,
sie weg und erschlugen die Knechte mit der Schärfe des Schwerts,
und Gott droben frage nicht nach ihm! Kein Glanz soll über ihm
Ausgelöscht sei der Tag, an dem ich geboren bin, und die Nacht,
und ich allein bin entronnen, dass ich dir’s ansagte. Als der noch
scheinen! (…)
redete, kam einer und sprach: Deine Söhne und Töchter aßen und
25
tranken im Hause ihres Bruders, des Erstgeborenen, und siehe,
wovor mir graute, hat mich getroffen.
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PHILOSOPHIE MAGAZIN
82
Denn was ich gefürchtet habe, ist über mich gekommen, und
SONDERAUSGABE 07
WEISHEITSBÜCHER – LEIB, SCHMERZ, ENDLICHKEIT HIOB
Gerechtigkeit ist Menschensache Die Frage, wie ein gütiger Gott das Leiden unschuldiger Menschen zulassen kann, ist so alt wie der monotheistische Glaube. Das Buch Hiob gibt darauf eine radikale Antwort: Hiobs Leiden ist das Resultat einer Wette Gottes mit dem Satan (der einzig an dieser Stelle in der hebräischen Bibel auftaucht). Hiob ist keine historische Figur, kein Israelit, er wird vielmehr als Archetyp des gläubigen Menschen gezeichnet. Während traditionelle christliche wie auch jüdische Auslegungen den Gehorsam Hiobs selbst angesichts schrecklichster Umstände betonen, lässt sich Hiob philosophisch auch als eine Kritik an der Ungerechtigkeit Gottes lesen. Aus der folgt, dass Gerechtigkeit kein Teil von Gott und seiner Schöpfung ist, sondern Aufgabe des Menschen sein muss.
HEINRICH HEINE
Überdosis Zweifel Die alte Frage des Buches Hiob, warum der Gerechte leiden muss auf Erden, stellt Heinrich Heine in seinem Nachruf auf den Privatgelehrten Ludwig Marcus, mit dem er in Paris bekannt war. Eine Frage und ein Zweifel, die sich möglicherweise nur durch höchste Steigerung ausräumen lassen
Foto: akg-images / Blanc Kunstverlag
A
ber warum muß der Gerechte so viel leiden auf Erden? Warum muß Talent und Ehrlichkeit zu Grunde gehen, während der schwadronirende Hanswurst, der gewiß seine Augen niemals durch arabische Manuskripte trüben mochte, sich räkelt auf den Pfühlen des Glücks und fast stinkt vor Wohlbehagen? Das Buch Hiob löst nicht diese böse Frage. Im Gegentheil, dieses Buch ist das Hohelied der Skepsis, und es zischen und pfeifen darin die entsetzlichen Schlangen ihr ewiges: Warum? Wie kommt es, daß bey der Rückkehr aus Babylon die fromme Tempelarchiv-Commission, deren Präsident Esra war, jenes Buch in den Canon der heiligen Schriften aufgenommen? Ich habe mir oft diese Frage gestellt. Nach meinem Vermuthen thaten solches jene gotterleuchteten Männer nicht aus Unverstand, sondern weil sie in ihrer hohen Weisheit wohl wußten, daß der Zweifel in der menschlichen Natur tief begründet und berechtigt ist, und daß man ihn also nicht täppisch ganz unterdrücken, sondern nur heilen muß. Sie verfuhren bey dieser Cur ganz homöopathisch, durch das Gleiche auf das Gleiche wirkend, aber
„ Wie der Mensch, wenn er leidet, sich ausweinen muß, so muß er sich auch auszweifeln, wenn er sich grausam gekränkt fühlt “
DIE BIBEL
sie gaben keine homöopathisch kleine Dosis, sie steigerten vielmehr dieselbe aufs ungeheuerste, und eine solche überstarke Dosis von Zweifel ist das Buch Hiob; dieses Gift durfte nicht fehlen in der Bibel, in der großen Haus-Apotheke der Menschheit. Ja, wie der Mensch, wenn er leidet, sich ausweinen muß, so muß er sich auch auszweifeln, wenn er sich grausam gekränkt fühlt in seinen Ansprüchen auf Lebensglück; und wie durch das heftigste Weinen, so entsteht auch durch den höchsten Grad des Zweifels, den die Deutschen so richtig die Verzweiflung nennen, die Crisis der moralischen Heilung. – Aber wohl demjenigen, der gesund ist und keiner Medizin bedarf! ➔
Heinrich Heine: „Zu Ludwig Marcus. Denkworte“ (1844/1854), in: Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke (DHA), Band 14/1, m. d. Heinrich-Heine-Institut hrsg. v. Manfred Windfuhr, Hamburg: Hoffmann und Campe, 1973–1997, S. 274–275
HEINRICH HEINE 1797 – 1856 Der bedeutende jüdischstämmige Außenseiter gilt als „letzter Dichter der Deutschen Romantik“. Für seine Lieder und Gedichte und für seine scharfen journalistischen und satirischen Texte wurde er geliebt wie gefürchtet. 1825 konvertierte er vom Judentum zum Christentum, was seiner ironischen Auseinandersetzung mit religiösen Traditionen und biblischen Texten keinen Abbruch tat
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WEISHEITSBÜCHER – LEIB, SCHMERZ, ENDLICHKEIT HIOB
HANS JONAS
Der Allmächtige nach Auschwitz Angesichts des Holocausts scheint die Frage nach der Vereinbarkeit eines allmächtigen und zugleich gütigen Gottes mit dem offensichtlichen Übel in der Welt schlechthin nicht mehr zu beantworten. Hans Jonas erläutert, warum das Problem der Theodizee im Judentum schwerer wiegt als im Christentum, und skizziert als Lösung die Idee einer Machtentsagung Gottes
stellt die Welt in jedem Augenblick und jedem Zustand seine Fülle dar, und Gott kann weder verlieren noch auch gewinnen. Vielmehr, damit Welt sei, und für sich selbst sei, entsagte Gott seinem eigenen Sein; er entkleidete sich seiner Gottheit, um sie zurückzuempfangen von der Odyssee der Zeit, beladen mit der Zufallsernte unvorhersehbarer zeitlicher Erfahrung, verklärt oder vielleicht auch entstellt durch sie. In solcher Selbstpreisgabe göttlicher Integrität um des vorbehaltlosen Werdens willen kann kein anderes Vorwissen zugestanden werden als das der Möglichkeiten, die kosmisches Sein durch seine eigenen Bedingungen gewährt: Eben diesen Bedingungen lieferte Gott seine Sache aus, da er sich entäußerte zugunsten der Welt. (…) Mit dem Erscheinen des Menschen erwachte die Transzendenz zu sich selbst und begleitet hinfort sein Tun mit angehaltenem Atem, hoffend und werbend, mit Freude und mit Trauer, mit Befriedigung und Enttäuschung – und wie ich glauben möchte, sich ihm fühlbar machend, ohne doch in die Dynamik des weltlichen Schauplatzes einzugreifen: Denn könnte es nicht sein, daß das Transzendente durch den Widerschein seines Zustandes, wie er flackert mit der schwankenden
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Bilanz menschlichen Tuns, Licht und Schatten über die menschliche Landschaft wirft? (…) Meine Damen und Herren! All dies ist Gestammel. Selbst die Worte der großen Seher und Beter, der Propheten und Psalmisten, die außer Vergleich stehen, waren ein Stammeln vor dem ewigen Geheimnis. Auch jede Antwort auf die Hiobsfrage kann nicht mehr als das sein. Die meine ist der des Buches Hiob entgegengesetzt: Die beruft die Machtfülle des Schöpfergottes; meine seine Machtentsagung. Und doch – seltsam zu sagen – beide zum Lobe: Denn der Verzicht geschah, daß wir sein könnten. Auch das, so scheint mir, ist eine Antwort an Hiob: daß in ihm Gott selbst leidet. Ob sie wahr ist, können wir von keiner Antwort wissen. Von meinem armen Wort kann ich nur hoffen, daß es nicht ganz ausgeschlossen sei von dem, was Goethe im „Vermächtnis altpersischen Glaubens“ in die Worte faßte: „Und was nur am Lob des Höchsten stammelt, / Ist in Kreis’ um Kreise dort versammelt.“
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Hans Jonas: „Der Gottesbegriff nach Auschwitz. Eine jüdische Stimme“, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1987, S. 10, S. 13–17, S. 23–24, S. 48–49
HANS JONAS 1903 – 1993 Seine Dissertation über die Gnosis schrieb Jonas bei Martin Heidegger, von dem er sich später distanzierte. 1933 emigrierte Jonas zunächst nach London, anschließend nach Israel. Von 1955 bis 1976 war er Professor an der New Yorker New School. Mit seinem Hauptwerk „Das Prinzip Verantwortung“ (1979), in dem ein kategorischer Imperativ für den Erhalt der Menschheit formuliert wird, gilt Jonas als Vordenker der ökologischen Bewegung
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as hat Auschwitz dem hinzugefügt, was man schon immer wissen konnte vom Ausmaß des Schrecklichen und Entsetzlichen, was Menschen anderen Menschen antun können und seit je getan haben? Und was im besonderen hat es dem hinzugefügt, was uns Juden aus tausendjähriger Leidensgeschichte bekannt ist und einen so wesentlichen Teil unserer kollektiven Erinnerung ausmacht? Die Hiobsfrage war seit je die Hauptfrage der Theodizee – der allgemeinen wegen der Existenz des Übels in der Welt überhaupt, der besonderen in der Verschärfung durch das Rätsel der Erwählung, des angeblichen Bundes zwischen Israel und seinem Gott. (…) Hier ist nun einzuschalten, daß bei dieser Frage der Jude theologisch in einer schwierigeren Lage ist als der Christ: Denn für den Christen, der das wahre Heil vom Jenseits erwartet, ist diese Welt ohnehin weitgehend des Teufels und immer Gegenstand des Mißtrauens, besonders die Menschenwelt wegen der Erbsünde. Aber für den Juden, der im Diesseits den Ort der göttlichen Schöpfung, Gerechtigkeit und Erlösung sieht, ist Gott eminent der Herr der Geschichte, und da stellt Auschwitz selbst für den Gläubigen den ganzen überlieferten Gottesbegriff in Frage. Es fügt in der Tat, wie ich soeben zu zeigen versuchte, der jüdischen Geschichtserfahrung ein Niedagewesenes hinzu, das mit den alten theologischen Kategorien nicht zu meistern ist. Wer aber vom Gottesbegriff nicht einfach lassen will – und dazu hat selbst der Philosoph ein Recht –, der muß, um ihn nicht aufgeben zu müssen, ihn neu überdenken und auf die alte Hiobsfrage eine neue Antwort suchen. Den „Herrn der Geschichte“ wird er dabei wohl fahren lassen müssen. Also: Was für ein Gott konnte es geschehen lassen? (…) Wenn Gott und Welt einfach identisch sind, dann
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– LEIB, SCHMERZ, die ENDLICHKEIT „ Es ist der Irrtum dererWEISHEITSBÜCHER auszuschließen, aus den Übeln der Welt HIOB folgern, daß Gott nicht ist. (…) Sie fragen: Wenn Gott ist, woher dann das Übel? Aber man muß sagen: Wenn es das Übel gibt, dann gibt es Gott. Denn das Übel wäre nicht, wenn die Ordnung des Guten nicht bestünde, dessen Beraubung das Übel ist. Diese Ordnung wäre aber nicht, wenn Gott nicht wäre “ Thomas von Aquin: „Summa contra gentiles“
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DAS ALTE TESTAMENT
Die Welt mit philosophischen Augen betrachten DAS VOLK ISRAEL UND SEINE GESETZE
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