[Sonderausgabe] Also sprach Nietzsche

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MAGAZIN

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ALSO SPRACH

NIETZSCHE

0 6 4 198673 809900

Seine wichtigsten Texte. Mit Beiträgen von  Sigmund Freud • Theodor W. Adorno • Michel Foucault und  Rüdiger Safranski • Annemarie Pieper • Kerstin Decker • Andreas Urs Sommer • Volker Gerhardt u. v. m.

Deutschland 9,90 €; Österreich 9,90 €; Schweiz: 16,50 CHF; Benelux: 10,40 €; Italien & Spanien: auf Nachfrage

Wille zu welcher Macht?  Wer hat Gott getötet? Warum Denken durch den Magen geht  Unterwegs zum Übermenschen?  Jenseits des Postfaktischen …


Denker im Heft Was macht Nietzsche für viele nach wie vor so faszinierend? Vielleicht, dass es nicht nur einen Nietzsche gab? Darüber spricht der vielfach preisgekrönte Philosoph, Schriftsteller und Verfasser einer äußerst lesenswerten Nietzsche­-Biografie in diesem Heft. Und auch darüber, wie Nietzsches Fundamentalkritik der Demokratie eine gute Gelegenheit ist, unseren Glauben an sie infrage zu stellen und wieder zu erneuern.  Seite 16

Andreas Urs Sommer Der Schweizer Philosoph und Publizist ist u. a. Direktor der Friedrich-Nietzsche-Stiftung in Naumburg. Im Interview beleuchtet er Nietzsches fundamentale Kritik an christlichen Moralvorstellungen, in welchen dieser eine verhängnisvolle Umkehrung „ursprünglicher“ Werte und eine „fatale“ Tendenz zur Gleichheit erblickte. Und er beantwortet die Frage, was Nietzsches Wertekritik noch zur heutigen Diskussion beitragen kann.  Seite 26

Renate Reschke Die emeritierte Professorin für Geschichte des ästhetischen Denkens an der Humboldt-Universität zu Berlin hat sich jahrelang intensiv mit Nietzsche und seiner Beziehung zur Kunst auseinandergesetzt. Im Gespräch erläutert sie Nietzsches Kunsterfahrungen, seine theoretische Auseinandersetzung mit Musik und Literatur – und die philosophischen Impulse, die von seiner sprachschöpferischen Leistung ausgingen.  Seite 46

IMPRESSUM SONDERAUSGABE 08, JUNI 2017 Philomagazin Verlag GmbH, Brunnenstraße 143, D-10115 Berlin Kontakt Redaktion: Tel.: +49 (0)30 / 47 37 71 18 E-Mail: redaktion@philomag.de Chefredakteurin Sonderausgabe: Dr. Catherine Newmark (V.i.S.d.P.) Herausgeberin: Anne-Sophie Moreau Berater: Dr. Wolfram Eilenberger, Sven Ortoli, Cécile Vazeille-Kay (Bild) Art-Direktion: Henrike Noetzold Layoutentwicklung: Jean-Patrice Wattinne / L’Éclaireur Bildredaktion: Tina Ahrens Schlussredaktion: Sebastian Guggolz Lektorat: Christiane Braun Redaktionsassistent: Dominik Erhard Praktikanten: Dolly Constanza Rodriguez, Holm-Uwe Burgemann

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Rüdiger Safranski

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Das Philosophie Magazin ist erhältlich im Bahnhofsund Flug­hafen­ buchhandel in Deutschland


Kerstin Decker Die Journalistin und promovierte Philosophin ist Autorin mehrerer lesenswerter Bücher über Nietzsche und sein persönliches Umfeld. In diesem Heft beschreibt sie zunächst die Geschichte der prägenden Beziehung zu Richard Wagner; in einem zweiten Text widmet sie sich der umstrittenen Schwester des Philosophen, Elisabeth Förster-Nietzsche, und nimmt dabei einige festgefahrene Klischees auseinander.  Seite 54 und Seite 92

Annemarie Pieper 2013 wurde die Philosophin für ihre Arbeit über das Thema „Lebenskunst“ mit dem Preis der Dr. Margrit Egnér-Stiftung ausgezeichnet. Die Herausgeberin von Nietzsches Briefen erklärt in diesem Heft Nietzsches Aufwertung der Leiblichkeit und erläutert, wie diese über die Postmoderne für die feministische Philosophie anschlussfähig wurde, auch wenn Nietzsche selbst natürlich kein Feminist war.  Seite 70

Martin Saar Welche Wirkung hatten Nietzsches Ideen auf die verschiedenen Manifestationen der Postmoderne? Darüber gibt Martin Saar, Professor für Politische Theorie an der Universität Leipzig, Auskunft. Er klärt in diesem Heft falsche Annahmen zum Poststrukturalismus und die Frage, wie Wissenschaft überhaupt Zugang zur Wirklichkeit bekommt. Und er stellt klar: Weder Nietzsche noch die Postmoderne waren „postfaktisch“.  Seite 126

Volker Gerhardt Der Seniorprofessor für Praktische Philosophie an der Humboldt-Universität zu Berlin und Mitherausgeber der Kritischen Gesamtausgabe von Nietzsches Werken hat sich zeit seines akademischen Lebens immer wieder dem Denken Nietzsches gewidmet. Im Interview legt er den Stellenwert der „ewigen Wiederkunft“ in Nietzsches Verständnis des Lebens dar und gibt Auskunft über sehr unterschiedliche Interpretationen dieses Gedankens im 20. Jahrhundert.  Seite 142

Denken hat Folgen – für Literatur, Politik, Musik, Geschichte … Nietzsche stellt alles in Frage. Sein Denken gehört zu den einschneidenden intellektuellen Erfahrungen der Moderne. Entsprechend vielgestaltig fielen und fallen die Versuche aus, auf dieses Denken und auf die Person dahinter zu reagieren. Was kann von den eigenen Überzeugungen noch bleiben angesichts von Nietzsches Einsicht, dass alle Überzeugungen Gefängnisse sind? Eine pointierte Darstellung von Person, Werk und Folgen, die mehr Orientierung ermöglicht als konventionelle Einführungen, geschrieben von einem renommierten Autor. Andreas Urs Sommer Nietzsche und die Folgen

Juni 2017, ca. 140 Seiten, Hardcover, 16,95 €. ISBN: 978-3-476-02654-5

www.metzlerverlag.de


Inhalt ***

EDITORIAL

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Kultur ist schlechtes Gewissen Sigmund Freud 34

3

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DENKER / IMPRESSUM

4

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Jeder Mensch ist ein Künstler Holm-Uwe Burgemann 58

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Eine Welt voller Metaphern Friedrich Nietzsche 60

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Schuld sind die anderen Friedrich Nietzsche 36

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LITERATUR

146

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Das Ressentiment ist Gift für die Politik Fritz Breithaupt 38

Philosophie als Poesie Sarah Kofman 62

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Das Leben eines freien Geistes

62

CHRONOLOGIE

8

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„Ein wenig Übermenschentum schadet nicht“ Gespräch mit Rüdiger Safranski 16

APOLL & DIONYSOS

LEIB

Oberflächlich aus Tiefe Friedrich Nietzsche 44

Wider die Verächter des Leibes Friedrich Nietzsche 64

„Die Kunst ordnet das Chaos“ Gespräch mit Renate Reschke 46

Die Wurstigkeit der Wahrheit Harald Lemke 66

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Zur Lehre vom Stil Friedrich Nietzsche 50

„Ein Vorläufer des Feminismus“ Gespräch mit Annemarie Pieper 70

„Das Christentum selbst hat Gott abgeschafft“ Gespräch mit Andreas Urs Sommer 26

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Das Leben ist Kultur Thomas Mann 51

Das Räthsel Friedrich Nietzsche 73

Von der Eitelkeit der Künstler Friedrich Nietzsche 53

Die Fortdenkerin Eva Weber-Guskar 74

Der Bauer Luther Friedrich Nietzsche 32

Wagner als Vater und Feind Kerstin Decker 54

Der tolle Mensch Friedrich Nietzsche 80

MORAL Woher Gut & Böse kommen Friedrich Nietzsche 24

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Philosophie Magazin

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Sonderausgabe 08

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„Von der Vernunft in den Wahn getrieben“ Gespräch mit Christoph Türcke 81

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„Nietzsche ist Protofaschist“ Gespräch mit Bernhard H. F. Taureck 104

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„Die Postmoderne ist nicht postfaktisch“ Gespräch mit Martin Saar 126

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Dämonische Lust zur Erkenntnis Stefan Zweig 86

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Wir sind nichts als kluge Tiere Friedrich Nietzsche 88

Also das hat Nietzsche so nie gesagt Dominik Erhard 130

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ÜBERMENSCH

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Neue Philosophen Friedrich Nietzsche 132

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Wahrheit als Irrtum Michel Foucault 133

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Eine Frage der Perspektive Friedrich Nietzsche 135

Unterwegs zur perfekten Art Friedrich Nietzsche 110

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Eine gefährliche Idee Karl Jaspers 112

WILLE ZUR MACHT

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Zum Herrschen geboren Friedrich Nietzsche 90

„Alles muss sterben oder sich entwickeln“ Gespräch mit Stefan Lorenz Sorgner 114 Nietzsche als Erzieher Nils Markwardt 118

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Der Sinn der Erde Friedrich Nietzsche 120

Das Prinzip Kampf Alfred Baeumler 97

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Masken durchstoßen Gilles Deleuze 136

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Das Überlieschen Kerstin Decker 92

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EWIGE WIEDERKEHR

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Ja zum Leben Friedrich Nietzsche 138

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Fortschritt zum Nichts Karl Löwith 140

Nietzsches Entmannung Georges Bataille 99 Vom Kriege Friedrich Nietzsche 100

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Eine imperialistische Ideologie Georg Lukács 102

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POSTMODERNE

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Alles ist Interpretation Friedrich Nietzsche 122

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Jenseits der Aufklärung Max Horkheimer / Theodor W. Adorno 124

Nietzsche

7

***

„Die Endlichkeit hat nicht das letzte Wort“ Gespräch mit Volker Gerhardt 142

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FRIEDRICH NIETZSCHE

Vom frommen Pfarrerssohn zum heftigen Kritiker der christlichen Religion, vom Wunderkind, das ohne Studienabschluss Professor wurde, zum chronisch kranken Einzelgänger: Nietzsches unstetes und widersprüchliches Leben, stets auf der Suche nach Sonne

Das Leben eines FREIEN GEISTES 1844 Friedrich Nietzsche wird am 15. Oktober als Sohn des Pfarrers Carl Ludwig Nietzsche und der Pfarrerstochter Franziska Nietzsche, geborene Oehler, in Röcken, einem kleinen Dorf in Sachsen geboren.

1846 Geburt von Friedrichs Schwester Elisabeth am 10. Juli.

1849 Friedrichs Vater verstirbt im Alter von 35 Jahren an einer

Gehirnerkrankung. Friedrich, für den der musikalische Vater ein wichtiger Bezugspunkt war, wird von da an von seiner Mutter sowie seiner Großmutter und zwei Tanten großgezogen.

1850 Umzug der Familie nach Naumburg.

1858 Mit 14 Jahren kommt Friedrich auf die Landesschule Schulpforta, eine elitäre Bildungseinrichtung, an der eiserne Disziplin gefordert und

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durchgesetzt wird. Der literarisch und musikalisch ausgesprochen begabte junge Nietzsche, der bereits Gedichte geschrieben, kleinere Stücke komponiert und sich zunächst vor allem der Musik gewid­ met hat, entscheidet sich dann aber für die Philologie, um seiner ande­ ren Neigung – der „kühlen Logik“ des wissenschaftlichen Denkens – nachzugehen. Schon früh stehen sich in Friedrich Nietzsche die zwei Gegensätze gegenüber, die sein gan­ zes Werk bestimmen werden: auf der einen Seite die Bemühung, sich


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mit eiserner Selbstbeherrschung der rationalen Wissenschaft zu widmen, auf der anderen Seite die musischen und künstlerischen Leidenschaften. Friedrich vertieft sich intensiv in die Lyrik Schillers, Novalis’ und Byrons.

1864 Mit 20 Jahren geht Nietzsche an die Universität Bonn und nimmt ein Studium der Theologie und der klas­ sischen Philologie auf. „Hier schei­ den sich nun die Wege der Menschen; willst Du Seelenruhe und Glück erstreben, nun so glaube, willst Du ein Jünger der Wahrheit sein, so forsche“, schreibt er 1865 an seine Schwester Elisabeth. Nietzsche gibt die Theologie auf und folgt seinem Philologieprofessor Friedrich Ritschl, der Nietzsches Talent erkannt hat und fördert, an die Universität Leipzig. Er entdeckt das Denken Arthur Schopenhauers, dessen Werk „Die Welt als Wille und Vorstellung“ ihn stark beeinflusst und sein Interesse an der Philosophie weckt.

1868 Im November trifft Nietzsche das erste Mal auf Richard Wagner, des­ sen Musik er bereits verehrt, und ist „verzaubert“ von dem Komponisten.

Fotos: akg-images (2)

1869 Auf Empfehlung Ritschls erhält der 24-jährige Nietzsche noch vor Beendigung seiner Studien in Leipzig eine Berufung als außeror­ dentlicher Professor für klassische Philologie an die Universität Basel, der er trotz einer gewissen Abnei­ gung gegen das Lehren folgt. Da er

aus diesem Grund jedoch auch auf seine preußische Staats­ange­ hörigkeit verzichten muss, ist er ab diesem Zeitpunkt für den Rest sei­ nes Lebens staatenlos. In Basel lernt er den „geistvollen Sonderling“ Jacob Burckhardt ken­ nen, den berühmten Kunsthis­to­ riker, der Nietzsches Bild von der

Nietzsche

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Nietzsche als Kanonier bei der Feld­artillerie während seines Militär­dienstes 1867 bis 1868 (Naumburg, August 1868). Seine geschwellte Brust ist weniger dem Stolz als vielmehr einem Verband geschuldet, den er nach einem Reitunfall im März des Jahres tragen musste


FRIEDRICH NIETZSCHE

„Ein wenig

Übermenschentum schadet nicht“

Was ist das bestimmende Drama von Nietzsches Denken – und seinem Leben? Was macht den bis heute ungebrochenen Reiz seiner Schriften aus? Welche unterschiedlichen Nietzsches gibt es? Und wie sollen wir mit politisch problematischen Teilen seines Werkes umgehen? Fragen an den Ideenhistoriker und Nietzsche-Biografen Rüdiger Safranski

GESPRÄCH MIT RÜDIGER SAFRANSKI von Catherine Newmark

Können Sie dieses Drama näher beschreiben? /  Ja, das lässt sich sogar sehr gut beschreiben, weil es in seiner Grundstruktur ziemlich einfach ist. Die beiden Grundelemente hat Nietzsche selbst sehr früh in „Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik“ heraus­ gearbeitet. Da ist zum einen das Dionysische, also das Ekstatische, Rauschhafte, Musikalische, und zum anderen das Apollinische, das ist die Vernunft, die Ordnung, die Disziplin. Mit anderen Worten auf der einen Seite eine dynamische Kraft, auf der anderen eine ordnende. Nietz­

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sche führt diese beiden Elemente als grundlegend für die Kultur- und Denkgeschichte des Abendlandes ein. Sie kennzeichnen aber genauso gut Nietzsches eigenes Lebens- und Denkdrama, das ein Hin-und-Her-Pendeln zwischen diesen beiden Polen ist, zwischen einer ekstati­ schen, künstlerischen Ebene und dem ordnenden, ver­ nünftigen Denken. Dieses Pendeln lässt sich am deutlichs­ ten vielleicht in seiner Beziehung zu Richard Wagner aufzeigen: zunächst die Begeisterung für Wagner, für das Dionysische in dessen Musik – und dann die Distanzie­ rung, der Versuch, Wagner mit kaltem, vernünftigem Blick zu fassen.

Vielleicht wäre es gut, Nietzsches Vorstellung des „Dionysischen“ noch ein bisschen näher erläutern. /  Wir haben heute andere Begriffe dafür, für diesen Gegenpart der Vernunft. Wir sprechen vom Irrationalen, vom Vitalen, vom Emotionalen. Im Grunde lässt sich das am Beispiel der Musik und wie sie uns bewegt am besten erklären. Es geht um diese lustvolle Art, wie wir in Musik

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Foto: Martin Lengemann/laif

›  Herr Safranski – warum lesen Sie immer noch gerne Nietzsche? Was macht den anhaltenden Reiz dieses rand- und auch widerständigen Philosophen aus? RÜDIGER SAFRANSKI / Gerade weil Nietzsche kein pro­ fessioneller Denker, kein Universitätsphilosoph im heuti­ gen Sinne war! Er hat vielmehr Denken mit existenziellem Einsatz vollzogen. Ich würde sagen, er war ein Künstler des Denkens. Mit seinem Denken hat er geradezu ein Drama aufgeführt …


FRIEDRICH NIETZSCHE

aufgehen können. Nietzsche sagt, „ohne Musik wäre das Leben ein Irrtum“. Die Musik versetzt uns in einen anderen Zustand. Und je schöner und hinreißender sie ist, umso intensiver ist dieser andere Zustand. Und wenn man die­ sen anderen Zustand selber noch mal theoretisiert, dann ist man früher auf Religion gekommen. Dann hat man das Transzendenzerfahrung genannt. Heute würden wir das nicht mehr so nennen, wir sprechen nüchterner von gestei­ gerter Intensität. Aber im Grunde ist es das Gleiche: eine große Sehnsucht nach einem vitalen Leben, das solche Zustände zu erreichen vermag. Die bloße Vernunft ist zu langweilig auf die Dauer. Und eindrucksvoll ist, wie Nietz­ sche möglichst viel von dieser Vitalität, von dieser Inten­ sität mit ins Denken hinübernehmen will. Das Denken, das soll seiner Vorstellung nach ein reiches, vitales Denken sein, ein musikalisches Denken auch. Nietzsche will gewis­ sermaßen mit dem Denken selbst musizieren. Was dabei herauskommt, ist neben vielen blitzenden Gedanken ein unnachahmlicher Stil. Das ist dieser Nietzsche-Sound, man erkennt ihn gleich wieder und er lässt einen nicht los, er ist bisweilen von einer überwältigenden Wucht und Schönheit. Nietzsche mobilisiert sozusagen alle seine Metaphern. Man lese nur mal das Stück 125 in der „Fröh­ lichen Wissenschaft“, diese berühmte Passage über den Tod Gottes. Es ist ein Text, der ganz von den Metaphern lebt, von einprägsamen Bildern. Wenn er beispielsweise den Nihilismus beschreibt als einen Akt, der den ganzen Horizont auswischt. Das sind zupackende, treffende und zugleich schöne Metaphern, die das ganze Drama der Säkularisierung anschaulich werden lassen. Das ist schlicht großartig.

Philosophiehistorisch gesprochen: An welche Tradi­ tionen, an welche Denker knüpft Nietzsche an? /  Der größte Einfluss ist natürlich Schopenhauer und dessen Gedanken des Willens als Grund der Welt. Nietz­ sche war elektrisiert davon. Der deutsche Idealismus hat ja, zwischen Fichte, Hegel und Schelling, das Wesen der Welt als etwas Geistartiges erfasst und auf die Frage, was die Wirklichkeit im Innersten ist, geantwortet: der Geist. Schopenhauer hat dann eine epochale Wende vollzogen, indem er auf diese bleibende metaphysische Frage, was das Wesen der Welt sei, nicht mehr geantwortet hat: der Geist. Sondern vielmehr: der dunkle, opake, vitale Wille.

Nietzsche

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RÜDIGER SAFRANSKI Der 1945 geborene, vielfach preisgekrönte Philosoph und Schriftsteller ist Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, lehrt als Honorarprofessor am Fachbereich Philosophie und Geistes­wissenschaften an der Freien Universität Berlin und moderierte 2002 bis 2012 zusammen mit Peter Sloterdijk das „Philosophische Quartett“ im ZDF. Er ist Verfasser zahlreicher Biografien, u. a. „Schopenhauer und die wilden Jahre der Philosophie“ (Hanser, 1987), „Ein Meister aus Deutschland. Heidegger und seine Zeit“ (Hanser, 1994), „Friedrich Nietzsche. Biographie seines Denkens“ (Hanser, 2000), „Goethe. Kunstwerk des Lebens“ (Hanser, 2013) sowie zuletzt „Zeit. Was sie mit uns macht und was wir aus ihr machen“ (Hanser, 2015)

Der Wille ist das Wesen der Welt – und er will sich entfal­ ten. Das ist auch für Nietzsche der Ausgangspunkt. Man fragt nach dem Wesen der Welt und blickt in einen Tumult aus Vitalkräften, die selbst gar nichts Geistartiges an sich haben, dafür aber höchst dynamisch sind. Dieses willens­ artige Wesen der Welt, das nennt er nun dionysisch. Das ist einerseits eine Umbenennung, andererseits eine Umbe­ wertung, weil Schopenhauer noch meint, ach, es wäre ja erlösend, damit aufzuhören, mit diesem vom Willen getriebenen Sein. Nietzsche findet dagegen, man muss das Beste daraus machen, ja, es lässt sich daraus etwas höchst Bedeutsames machen, nämlich das Dionysische.

Das heißt, der alles bestimmende Wille ist nicht mehr etwas Blindes, das man pessimistisch als das Dysfunktionale dieser Welt sehen kann, sondern etwas Gutes und Lustvolles? /  Er kann etwas Lustvolles sein unter der Voraussetzung, und da deutet sich seine ganze Übermenschtheorie an,

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MORAL

Sich seiner Unmoralität schämen: das ist eine Stufe auf der Treppe, an deren Ende man sich auch seiner Moralität schämt. „Jenseits von Gut und Böse“, Viertes Hauptstück: Sprüche und Zwischenspiel (KSA 5, S. 90)

Woher

Gut & Böse

kommen

Den Ursprung von Gut und Böse zu ergründen – und dann alle christlichen Werte und europäischen politischen Ideale zu zertrümmern –, nichts weniger nimmt sich Nietzsche, der ewig Unbescheidene, vor

M o r a l i s t h e u t e i n E u r o p a H e e r d e n t h i e r- M o r a l : — also nur, wie wir die Dinge verstehn, Eine Art von menschlicher Moral, neben der, vor der, nach der viele andere, vor Allem h ö h e r e Moralen möglich sind oder sein sollten. Gegen eine solche „Möglichkeit“, gegen ein solches „Sollte“ wehrt sich aber diese Moral mit allen Kräften: sie sagt hartnäckig und unerbittlich „ich bin die Moral selbst, und Nichts ausserdem ist Moral!“ — ja mit Hülfe einer Religion, welche den sublimsten Heerdenthier-Begierden zu Willen war und schmeichelte, ist es dahin gekommen, dass wir selbst in den politischen und gesellschaftlichen Einrichtungen einen immer sichtbareren Ausdruck dieser Moral finden: die d e m o k r a t i s c h e Bewegung macht die Erbschaft der christlichen. „Jenseits von Gut und Böse“, Fünftes Hauptstück: zur Naturgeschichte der Moral (KSA 5, S. 124 – 125)

Die grossen Epochen unsres Lebens liegen dort, wo wir den Muth gewinnen, unser Böses als unser Bestes umzutaufen. „Jenseits von Gut und Böse“, Viertes Hauptstück: Sprüche und Zwischenspiel (KSA 5, S. 93)

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MORAL

B

ei einer mir eignen Bedenklichkeit, die ich ungern eingestehe — sie bezieht sich nämlich auf die M o r a l , auf Alles, was bisher auf Erden als Moral gefeiert worden ist —, einer Bedenklichkeit, welche in meinem Leben so früh, so unauf­ gefordert, so unaufhaltsam, so in Widerspruch gegen Umgebung, Alter, Bei­ spiel, Herkunft auftrat, dass ich beinahe das Recht hätte, sie mein „A priori“ zu nennen, — musste meine Neugierde ebenso wie mein Verdacht bei Zeiten an der Frage Halt machen, w e l c h e n U r s p r u n g eigentlich unser Gut und Böse habe. In der That gieng mir bereits als dreizehnjährigem Knaben das Problem vom Ursprung des Bösen nach: ihm widmete ich, in einem Alter, wo man „halb Kinderspiele, halb Gott im Herzen“ hat, mein erstes litterarisches Kinderspiel, meine erste philosophische Schreibübung — und was meine damalige „Lösung“ des Problems anbetrifft, nun, so gab ich, wie es billig ist, Gott die Ehre und machte ihn zum V a t e r des Bösen. Wollte es gerade s o mein „A priori“ von mir? jenes neue, unmoralische, mindestens immoralistische „A priori“ und der aus ihm redende ach! so anti-Kantische, so räthselhafte „kategorische Imperativ“, dem ich inzwischen immer mehr Gehör und nicht nur Gehör geschenkt habe? … Glücklicher Weise lernte ich bei Zeiten das theologische Vorurtheil von dem moralischen abscheiden und suchte nicht mehr den Ursprung des Bösen h i n t e r der Welt. Etwas historische und philologische Schulung, eingerechnet ein angeborner wählerischer Sinn in Hinsicht auf psychologische Fragen überhaupt, verwandelte in Kürze mein Problem in das andre: unter welchen Bedingungen erfand sich der Mensch jene Werthurtheile gut und böse? u n d w e l c h e n W e r t h h a b e n s i e s e l b s t ? Hemmten oder förderten sie bisher das menschliche Gedeihen? Sind sie ein Zeichen von Nothstand, von Verarmung, von Entartung des Lebens? Oder umgekehrt, verräth sich in ihnen die Fülle, die Kraft, der Wille des Lebens, sein Muth, seine Zuversicht, seine Zukunft? — Darauf fand und wagte ich bei mir mancherlei Antworten, ich unter­ schied Zeiten, Völker, Ranggrade der Individuen, ich spezialisirte mein Problem, aus den Antworten wurden neue Fragen, Forschungen, Vermuthungen, Wahrscheinlichkeiten: bis ich endlich ein eignes Land, einen eignen Boden hatte, eine ganze verschwiegene wach­ sende blühende Welt, heimliche Gärten gleichsam, von denen Niemand Etwas ahnen durfte … Oh wie wir g l ü c k l i c h sind, wir Erkennenden, vorausgesetzt, dass wir nur lange genug zu schweigen wissen! …

„Zur Genealogie der Moral“, Vorrede 3 (KSA 5, S. 249 – 250)

Der christliche Glaube ist von Anbeginn Opferung: Opferung aller Freiheit, alles Stolzes, aller Selbstgewissheit des Geistes; zugleich Verknechtung und Selbst-Verhöhnung, Selbst-Verstümmelung. Es ist Grausamkeit und religiöser Phönicismus in diesem Glauben, der einem mürben, vielfachen und viel ver­wöhnten Gewissen zugemuthet wird: seine Voraussetzung ist, dass die Unterwerfung des Geistes unbeschreiblich w e h e t h u t , dass die ganze Vergangenheit und Gewohnheit eines solchen Geistes sich gegen das Absurdissimum wehrt, als welches ihm der „Glaube“ entgegentritt. „Jenseits von Gut und Böse“, Drittes Hauptstück: das religiöse Wesen (KSA 5, S. 66 – 67)

Nietzsche

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MORAL

Schuld

sind die anderen

Das Ressentiment ist das Gefühl der Schwachen, mit dem sie die Starken für ihre eigene Schwäche verantwortlich machen. Nietzsches polemische Ausfälle gegen die christliche Werteordnung gehen mit feinen psychologischen Beobachtungen einher

„Zur Genealogie der Moral“, Dritte Abhandlung: was bedeuten asketische Ideale? (KSA 5, S. 373 – 375)

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Foto: „Inbetween Memories“ by Gabriel Isak

J

eder Leidende nämlich sucht instinktiv zu seinem Leid eine Ursache; genauer noch, einen Thäter, noch bestimmter, einen für Leid empfänglichen s c h u l d i g e n Thä­ ter, — kurz, irgend etwas Lebendiges, an dem er seine Affekte thätlich oder in effigie auf irgend einen Vorwand hin entladen kann: denn die Affekt-Entladung ist der grösste Erleichterungs- nämlich B e t ä u b u n g s - Versuch des Leidenden, sein unwillkürlich begehrtes Narcoticum gegen Qual irgend welcher Art. Hierin allein ist, meiner Vermuthung nach, die wirkliche physiologische Ursächlichkeit des Ressentiment, der Rache und ihrer Verwandten, zu finden, in einem Verlangen also nach B e t ä u b u n g v o n S c h m e r z d u r c h A f f e k t : — man sucht dieselbe gemeinhin, sehr irrthümlich, wie mich dünkt, in dem Defensiv-Gegenschlag, einer blossen Schutzmaassregel der Reak­ tion, einer „Reflexbewegung“ im Falle irgend einer plötzlichen Schädigung und Gefähr­ dung, von der Art, wie sie ein Frosch ohne Kopf noch vollzieht, um eine ätzende Säure loszuwerden. Aber die Verschiedenheit ist fundamental: im Einen Falle will man weiteres Beschädigtwerden hindern, im anderen Falle will man einen quälenden, heimlichen, uner­ träglich-werdenden Schmerz durch eine heftigere Emotion irgend welcher Art b e t ä u b e n und für den Augenblick wenigstens aus dem Bewusstsein schaffen, — dazu braucht man einen Affekt, einen möglichst wilden Affekt und, zu dessen Erregung, den ersten besten Vorwand. „Irgend Jemand muss schuld daran sein, dass ich mich schlecht befinde“ — diese Art zu schliessen ist allen Krankhaften eigen, und zwar je mehr ihnen die wahre Ursache ihres Sich-Schlecht-Befindens, die physiologische, verborgen bleibt (…). Die Leidenden sind allesammt von einer entsetzlichen Bereitwilligkeit und Erfindsamkeit in Vorwänden zu schmerzhaften Affekten; sie geniessen ihren Argwohn schon, das Grübeln über Schlech­ tigkeiten und scheinbare Beeinträchtigungen, sie durchwühlen die Eingeweide ihrer Ver­ gangenheit und Gegenwart nach dunklen fragwürdigen Geschichten, wo es ihnen freisteht, in einem quälerischen Verdachte zu schwelgen und am eignen Gifte der Bosheit sich zu berauschen — sie reissen die ältesten Wunden auf, sie verbluten sich an längst ausgeheil­ ten Narben, sie machen Übelthäter aus Freund, Weib, Kind und was sonst ihnen am nächs­ ten steht. „Ich leide: daran muss irgend Jemand schuld sein“ — also denkt jedes krankhafte Schaf. Aber sein Hirt, der asketische Priester, sagt zu ihm: „Recht so, mein Schaf! irgend wer muss daran schuld sein: aber du selbst bist dieser Irgend-Wer, du selbst bist daran allein schuld, — d u s e l b s t b i s t a n d i r a l l e i n s c h u l d !“ … Das ist kühn genug, falsch genug: aber Eins ist damit wenigstens erreicht, damit ist, wie gesagt, die Richtung des Ressentiment — v e r ä n d e r t .


„Das habe ich gethan“ sagt mein Gedächtniss. Das kann ich nicht gethan haben — sagt mein Stolz und bleibt unerbittlich. Endlich — giebt das Gedächtniss nach. „Jenseits von Gut und Böse“, Viertes Hauptstück: Sprüche und Zwischenspiele 68 (KSA 5, S. 86)


APOLL & DIONYSOS

Wagner als Vater und Feind Richard Wagner war für Nietzsche sowohl ein väterlicher Freund als auch der große Erneuerer der Musik. Das Zerwürfnis mit dem Komponisten traf ihn hart. Aber ohne Wagner versteht man weder sein frühes noch sein spätes Werk, auch nach dem Bruch blieb Nietzsches Schaffen immer ein Dialog mit Wagner

A

Inkognito in seiner Heimatstadt, aber als er von seiner Schwester hörte, ihre Freundin kenne das Meisterlied aus den Meistersingern bereits, ein Student habe es ihr vor­ gespielt, wollte er den Pianisten sehen. Er gefiel ihm. Falls ihn sein Weg irgendwann einmal am Vierwaldstätter See vorbeiführe, sei er willkommen, sprach der Komponist. Was man so sagt, schon an der Tür. Und dann, nur Monate später, stand der Student als Pro­ fessor vor seinem Haus. Und kommt gleich wieder, dies­ mal bleibt er über Nacht. Es wird eine jener Nächte, in denen das vermeintlich Privateste ins beinahe Welthisto­ rische reicht. Bald nach dem Zubettgehen erhebt sich ein über Stunden währender eigentümlicher Tumult im Haus; die Baronin von Bülow bekommt ihr drittes un­eheliches Kind: Siegfried. Diese Nacht entscheidet alles. Ab sofort gehört Friedrich Nietzsche zur Familie. Richard Wagner ist im selben Jahr geboren wie Nietzsches so früh verstorbener Vater, 1813; andererseits befindet sich Wagner streng genommen bereits im Großväteralter: Sollten sie da dem kleinen Siegfried nicht gemeinsam Vater sein und Wagner adop­ tiert gleich noch den Professor? Friedrich Nietzsche bekommt sein eigenes „Denkzimmer“ in Tribschen. Mit freiem Blick auf den Pilatus sinnt er über die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen nach, während der Hausherr nebenan den Siegfried beendet und die Götterdämmerung beginnt. Friedrich Nietzsche hat eine Familie, zum ersten Mal, wenn Familie etwas ist, dem man nicht nur körperlich angehört, sondern mit allen

m Pfingstmontag 1869 nahm der soeben berufene 24-jährige Baseler Professor Fried­ rich Nietzsche das Morgenschiff nach Trib­ schen nahe Luzern und fand sich bald in Gesellschaft einer im höchsten Grade schwangeren jun­ gen Frau wieder, der Baronin von Bülow, deren Zustand mit ihrem Ehemann, wie er annehmen durfte, nicht das Geringste zu tun hatte, dafür umso mehr mit dem Gast­ geber, mit Richard Wagner. Möglicherweise irritierte den Gast noch mehr als die Zusammensetzung dieser Familie das Bild, unter dem sie schließlich Platz nehmen. Es ist ein Aquarell des klassi­ zistischen Malers Bonaventura Genelli, auf dem sich Dionysos, der griechische Gott der Ausschweifung, inmit­ ten der Musen Apolls wiederfindet. Nie ist es den Vereh­ rern der Griechen bisher eingefallen, die Namen beider Götter zugleich zu nennen, sie gar auf demselben Bild zu zeigen. Fand der leicht benommene Professor hier nicht den Inhalt seiner ersten großen Schrift in nuce abgebildet? „Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik“. Er brauchte sie also nur noch zu schreiben, was jedoch fast drei Jahre in Anspruch nehmen würde. Das Bild gehörte zu Richard Wagners Kindheit, er hatte es schon als Junge mit Faszination betrachtet, er nannte es das Weltur­ sprungsbild. Im vergangenen Herbst erst hatten sich der Komponist und der Student der Altphilologie Friedrich Nietzsche in Leipzig kennengelernt. Zwar weilte Wagner in strengstem

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von KERSTIN DECKER


APOLL & DIONYSOS

Sinnen, mit Herz und Ver­ stand. Und wer wollte das trennen bei diesem Herz­ denker? Die Kinder nennen ihn, den Neuen, Herrn Nüüüt­ sche; Herr Nüüütsche wird Augen- und Ohrenzeuge der Vollendung des Ring. Und worum geht es im Ring? Der Nibelunge Albe­ rich, von den Rheintöch­ tern erotisch ge­m obbt, raubt den Ring und ver­ Richard Wagner 1860 in Paris und Friedrich Nietzsche um 1869 flucht die Liebe: „Das Licht lösch’ ich euch aus;/ das Gold entreiß’ ich dem Riff,/ schmiede den rächenden Ring:/ denn hör’ es die Flut – / Ursprung in Wirklichkeit Notwehr war. Ludwig II., König so verfluch’ ich die Liebe!“ Und wozu das alles? „… um zu aller Bayern, begann das Werk seinem Urheber stück­ gewinnen maßlose Macht“. Die Macht als Verhängnis. weise zu entreißen, man nennt das auch feindliche Auf­ Würden Philosophen Musiker ernster nehmen, hätten sie führungspraxis. Wagner aber will seinen eigenen Ring. es längst bemerkt: Nietzsches Spätphilosophie des Wil­ Die Grundsteinlegung von Bayreuth 1872 wird für Nietz­ lens zur Macht ist zuerst und zuletzt die Gegenreaktion sche zum höchsten Augenblick. Wenn es um Musik geht, auf Wagners Denunziation der Macht im Ring. Wenn er geht es für den Chefpropagandisten Bayreuths um alles: die Trennung von Wagner und seiner Familie überleben „Wenn ich mir aber denke, daß nur einige hunderte Men­ sollte, dann muss das irgendeinen Sinn haben, es muss schen aus der nächsten Generation das von der Musik ein Erkenntnisgewinn darin liegen. Denn man darf wohl haben, was ich von ihr habe, so erwarte ich eine völlig fragen: Was geht ausgerechnet Nietzsche, diese macht­ neue Kultur!“ Dieser Satz ist ganz ernst zu nehmen. „Auf­ fernste Existenzform, die Macht an? gabe unserer Zeit: die Kultur zu unserer Musik zu finden.“ „Unsere Musik“ ist dabei immer die Wagners, das Jahr „DAS DEUTSCHE BIER“ der ersten Festspiele nennt er „das Jahr des Heils“. Bayreuth mutet vielen an wie die steingewordene Selbst­ Und dann folgt die unmäßige Enttäuschung: „Fortwäh­ vergottung eines Künstlers, der eigentlich zum Gegen­ render Kopfschmerz. … Gestern habe ich die Walküre nur typus des Anarchisten gehörte. Wenige wissen, dass sein in einem dunklen Raume mit anhören können; alles

„ Nietzsches Spätphilosophie des Willens zur Macht ist zuerst und zuletzt die Gegenreaktion auf Wagners Denunziation der Macht im Ring“ Nietzsche

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APOLL & DIONYSOS

SARAH KOFMAN

Philosophie als Poesie

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jeden Begriff konstitutiven Metaphern zu demaskieren. Der Philosoph „spielt“ nicht einfach mit den Metaphern: Sein Spiel ist von einer „fürchterlichen Ernsthaftigkeit“, denn er ist dazu ausersehen, sich dem Hass der modernen Epoche auf die Kunst entgegenzustellen, um gerade die Opposition von Spiel und Ernst, von Traum und Realität zu beseitigen. (…) Die „Einbildungskraft“ spielt in der Philosophie eine ge­nauso große Rolle wie in der Poesie. Der Philosoph – „Er erkennt, indem er dichtet, und dichtet, indem er erkennt.“ Sie erlaubt es, Analogien zu erfassen; die Reflexion kommt nur im Nachhinein in die Quere, um sie durch Äquivalente zu ersetzen, die Abfolgen durch die Verhältnisse der Kau­ salität und um das Maß des Begriffs heranzutragen. Die Philosophie ist „eine Verlängerung des mythischen Triebs“.

rotz allem was die ersten Werke Nietzsches noch an die Tradition zurückbindet, ist die Neu­ heit, die sie hinsichtlich der Metapher aufbrin­ gen, die Eröffnung einer eigentümlichen Auf­ fassung der Philosophie und des philosophischen „Stils“. Sie führen neue Verhältnisse zwischen Philosophie, Kunst und Wissenschaft ein. Philosophie und Wissenschaft – die „eigentlich“ (propre) sprechen wollten und demonstrie­ ren, ohne durch Bilder oder Vergleiche zu überzeugen –, sie verdrängten die Metapher in den Bereich der poeti­ schen Sprache. Der Philosoph kam nur aus didaktischen Gründen oder als Notbehelf auf die Metapher zurück und das mit großen Vorbehalten. Indem er dem Metaphori­ schen wohlgezogene Grenzen vorschrieb, verdunkelte er damit zugleich, dass der Begriff selbst metaphorisch ist. Indem er die natürliche Opposition zwischen Metapher und Begriff verwischt, um an ihre Stelle nur einen Rang­ unterschied zwischen beiden zu setzen (wobei die Meta­ pher am wenigsten metaphorisch ist), inauguriert Nietz­ sche eine Art der Philosophie, die einen freien Gebrauch von Metaphern macht, auf die Gefahr hin, mit der Poesie verwechselt zu werden. Eine Verwechslung, die für Nietz­ sche nicht bedauerlich wäre: die Opposition von Philoso­ phie und Poesie entstammt dem metaphysischen Denken. Sie beruht auf der fiktiven Trennung des Realen vom Ima­ ginären und – nicht weniger fiktiv – der „Fakultäten“. Die Philosophie ist eine Art Poesie. Durch Metaphern zu spre­ chen, bedeutet, die Sprache ihren natürlichen Ausdruck wiederfinden zu lassen, den „richtigsten, einfachsten, direktesten“ bildreichen Ausdruck. Eine Art der Poesie ist sie allein deswegen, weil der neue Philosoph keinen rhetorischen Gebrauch von der Meta­ pher macht, sondern sie dem Ziel einer richtigen Sprache oder einer strategischen Finalität unterordnet: Nichtste­ reotype, unverbrauchte Bilder verwenden, um die für

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Sarah Kofman: „Nietzsche und die Metapher“, Wolff, 2014, S. 32 – 33

SARAH KOFMAN (1934 – 1994) Die französische Philosophin und Essayistin war Professorin an der Sorbonne in Paris. In ihrem Werk, in dem sie sich u. a. mit Freud und der Psychoanalyse, dem Feminismus, aber auch dem Holo­caust auseinandersetzte, spielte auch Nietz­ sche eine wichtige Rolle; Kofman widmete ihm mehrere Werke, zuletzt 1994 „Die Verachtung der Juden“

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Die grundlegende Funktion der Metapher für die Philosophie zeigt Kofman 1972 in ihrer für die französische Postmoderne wegweisenden Nietzsche-Lektüre


LEIB u Gegen die „Missachtung“ des Leibes in der abendländischen Philosophie geht Nietzsche polemisch an. Alle Vorgänge des Körpers, seine Lust und sein Schmerz, bis hin zum Essen und zur Verdauung gehören für ihn mit zum Denken. Die Geschlechtlichkeit des Leibes allerdings bleibt für Nietzsche problematisch, sein Verhältnis zu Frauen ist zwiespältig, seine Misogynie pointiert. Und gerade seine körperliche Sensibilität, seine Überempfindlichkeit, sein nachgerade physisches Leiden an der Vernunft, führt ihn letztlich in den Wahnsinn

Nietzsche

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LEIB

Die Fortdenkerin Nietzsches Beziehungen zu Frauen waren gelinde gesagt kompliziert. Der Denker des Dionysischen hat selbst keine erfüllte Liebesbeziehung gekannt. Nur eine Frau kam ihm zeitweise nahe, zumindest geistig: die Schriftstellerin, spätere Psychoanalytikerin und Verfasserin einer der frühesten Gesamtdarstellungen von Nietzsches Werk Lou von Salomé

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tellektuellen Mentors und verheirateten Familienvaters wenige Jahre später war der Anlass, der sie bewog, das Land zu verlassen und in Zürich ein Philosophiestudi­ um aufzunehmen. Nietzsches Idee mit den Sternen mag ihren poetischen Wert haben – notwendig aber war es nicht, eine kosmi­ sche Geschichte zu erfinden, da diese beiden Menschen offenbar auch in der Realität schon ähnliche Erfahrungen und Gedanken gehabt hatten, die sie füreinander bestimmt erscheinen ließen. Malwida von Meysenbug, deren Salon in Rom der eigentliche Ursprung dieser wie vieler anderer intellektueller Begegnungen der Zeit war, hatte es als Erste erkannt: dass dieses „merkwürdige Mäd­ chen (…) ungefähr im philosophischen Denken zu den­ selben Resultaten gelangt zu sein“ schien wie Nietzsche, „d. h. zum praktischen Idealismus, mit Beiseitelassung jeder metaphysischen Voraussetzung und Sorge um die Erklärung metaphysischer Probleme“. Und tatsächlich beschreibt Nietzsche bald selbst, dass „ihre Intelligenzen und Geschmäcker (…) im Tiefsten verwandt“ seien, wobei es zugleich „der Gegensätze so viele“ gebe, dass man „füreinander die lehrreichsten Beobachtungs-Ob­ jekte und -Subjekte“ sei. Nietzsche war zeit seines Lebens hauptsächlich ein Ein­ zelgänger gewesen, abgesehen von einigen intensiven Männerfreundschaften (seinen offenbar ausschließlich „männlichen Umgang“ in den Abendstunden in Basel hielt Richard Wagner für verdächtig – eines der Dinge, welche

er „Psychologe unter den Philosophen“, wie Friedrich Nietzsche manchmal ge­n annt wird, wusste, wie vorzugehen war: Der erste Satz musste sitzen. Auf den ersten Blick konnte er sich nicht verlassen, denn als er 1882 zum ersten Treffen mit Lou von Salomé ging, war er schon zu „sieben Achtel erblindet“. Von der Begegnung versprach er sich viel, sein Freund Paul Rée hatte ihm ausgiebig von dieser 20-jährigen, intellektuell hochbegabten Generalstochter aus Russland vorgeschwärmt. Der Ort war für seine Ambitionen gerade großartig genug: der Pe­ters­dom in Rom. Hier pflegte Rée in einem Beichtstuhl an seinen Manuskripten zu arbeiten und Salomé sich dazuzugesellen. Also Vorhang auf und: „Von welchen Sternen sind wir einander zugefallen?“ Wenn man noch keine gemeinsame Geschichte hat, jede tiefe Liebe aber eine Geschichte braucht, dann erfinde eine! Das scheint Nietzsches Idee gewesen zu sein, um die Verheißungs­ volle auf Anhieb zu beeindrucken, zu berühren, in seinen Bann zu ziehen. Ihre Antwort ist nicht überliefert, doch man darf sie sich nüchtern vorstellen. Salomé war kein schüchternes Mädchen, sondern eine junge Frau auf Welteroberung: Im streng gläubigen Sankt Petersburg hatte sie die Konfirmation verweigert und im Pfarrer Hendrik Gillot ihren ersten großen Leh­ rer gefunden, mit dem sie sich von Leibniz über Kant bis Schopenhauer durchlas und alle Weltreligionen ken­ nenlernte. Der Schock über den Heiratsantrag dieses in­

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von EVA WEBER-GUSKAR


LEIB

Lou von Salomé, Paul Rée und Friedrich Nietzsche, Luzern 1882

Nietzsche ihm später nie verzieh). Außer einem über­ stürzten und mit groteskem Ultimatum (morgen früh 11 Uhr) versehenen Heiratsantrag an eine Klavierspiele­ rin, die verstört ablehnte, sind keine amourösen Ambi­ tionen von Nietzsche bekannt – bis Lou von Salomé in sein Leben trat. Nietzsche versuchte es auch hier mit einem frühen Hei­ ratsantrag, ausgerechnet über Paul Rée, der es selbst schon, ohne Nietzsches Wissen, versucht hatte. Nichts jedoch lag Salomé ferner. Sie war überzeugt, dass Ehe und Kinderkriegen Frauen nur unselbstständig machten und von einem intellektuellen Leben fernhielten. Freund­ schaft und intellektueller Austausch waren ihr hingegen hochwillkommen, so auch bei einem langen gemeinsa­ men Spaziergang auf dem Monte Sacro am Orta-See. Was dabei genau zwischen Nietzsche und Salomé geschah, bleibt Geheimnis der beiden. Salomé erklärte später einem Freund, sie wisse nicht mehr, ob sie Nietzsche dort geküsst habe oder nicht. Auf irgendeine Art muss Nietz­ sche zumindest neu Hoffnung geschöpft haben, denn er versuchte es mit einem erneuten Heiratsantrag, diesmal in Luzern am Löwenbrunnen und in persona, aber genauso erfolglos. Salomé wollte mit beiden Männern zusammenleben – aber nicht in einer Ehe- oder Liebesgemeinschaft, sondern in einer Arbeitsgemeinschaft: in der Mitte der Wohnung ein gemeinsames Zimmer voll von Büchern und Blumen, an den Rändern die getrennten Schlafzimmer. Das war

FRIEDRICH NIETZSCHE

„Seltsam ist’s, Zarathustra kennt wenig die Weiber, und doch hat er über sie Recht! Geschieht diess desshalb, weil beim Weibe kein Ding unmöglich ist? „Und nun nimm zum Danke eine kleine Wahrheit! Bin ich doch alt genug für sie! „Wickle sie ein und halte ihr den Mund: sonst schreit sie überlaut, diese kleine Wahrheit.“ „Gieb mir, Weib, deine kleine Wahrheit!“ sagte ich. Und also sprach das alte Weiblein: „Du gehst zu Frauen? Vergiss die Peitsche nicht!“ — „Also sprach Zarathustra. Ein Buch für Alle und Keinen“, Erster Teil, Von alten und jungen Weiblein (KSA 4, S. 86)

Nietzsche

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WILLE ZUR MACHT

Was ist gut? — Alles, was das Gefühl der Macht, den Willen zur Macht, die Macht selbst im Menschen steigert. „Nachgelassene Fragmente“, November 1887 – März 1888 11[414] (KSA 13, S. 192)

Zum

Herrschen

geboren

Nietzsches Ideen eines Willens zur Macht, seine Polemik gegen die Gleichmacherei der Demokratie und sein Ideal einer von keiner Moral gebändigten Herrschaft der Starken – alles Motive, welche die faschistische Nietzsche-Interpretation dankbar aufgriff

Gäbe es eine a b s o l u t e M o r a l , so würde sie verlangen, daß u n b e d i n g t der Wahrheit gefolgt werde: folglich, daß i c h u n d d i e M e n s c h e n a n i h r z u G r u n d e g e h e n . — Dies mein Interesse an der Ve r n i c h t u n g d e r M o ­ r a l . Um leben und höher werden zu können — um den W i l l e n z u r M a c h t z u b e f r i e d i g e n , müßte jedes a b s o l u t e G e b o t b e s e i t i g t werden. Für den m ä c h t i g s t e n Menschen ist auch die L ü g e e i n e r l a u b t e s M i t t e l , beim Schaffen: ganz so verfährt die Natur. „Nachgelassene Fragmente“, Frühjahr – Sommer 1883 7[37] (KSA 10, S. 254)

Es giebt nichts am Leben, was Werth hat, außer dem Grade der Macht — gesetzt eben, daß Leben selbst der Wille zur Macht ist. Die Moral behütete die S c h l e c h t w e g g e k o m m e n e n vor Nihilismus, indem sie J e d e m einen unendlichen Werth, einen metaphysischen Werth beimaß und in eine Ord­ nung einreihte, die mit der der weltlichen Macht und Rangordnung nicht stimmt: sie lehrte Ergebung, Demuth usw. G e s e t z t , d a ß d e r G l a u b e a n d i e s e M o r a l z u G r u n d e g e h t , so würden die Schlechtweggekommenen ihren Trost nicht mehr haben — und z u G r u n d e g e h e n . „Nachgelassene Fragmente“, Sommer 1886 – Herbst 1887 5[71] (KSA 12, S. 215)

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WILLE ZUR MACHT

S

ich gegenseitig der Verletzung, der Gewalt, der Ausbeutung enthalten, seinen Willen dem des Andern gleich setzen: dies kann in einem gewissen groben Sinne zwischen Individuen zur guten Sitte werden, wenn die Bedingungen dazu gege­ ben sind (nämlich deren thatsächliche Ähnlichkeit in Kraftmengen und Werth­ maassen und ihre Zusammengehörigkeit innerhalb Eines Körpers). Sobald man aber dies Princip weiter nehmen wollte und womöglich gar als G r u n d p r i n c i p d e r G e s e l l ­ s c h a f t , so würde es sich sofort erweisen als Das, was es ist: als Wille zur V e r n e i n u n g des Lebens, als Auflösungs- und Verfalls-Princip. Hier muss man gründlich auf den Grund denken und sich aller empfindsamen Schwächlichkeit erwehren: Leben selbst ist w e s e n t ­ l i c h Aneignung, Verletzung, Überwältigung des Fremden und Schwächeren, Unterdrü­ ckung, Härte, Aufzwängung eigner Formen, Einverleibung und mindestens, mildestens, Ausbeutung, — aber wozu sollte man immer gerade solche Worte gebrauchen, denen von Alters her eine verleumderische Absicht eingeprägt ist? Auch jener Körper, innerhalb des­ sen, wie vorher angenommen wurde, die Einzelnen sich als gleich behandeln — es geschieht in jeder gesunden Aristokratie —, muss selber, falls er ein lebendiger und nicht ein absterbender Körper ist, alles Das gegen andre Körper thun, wessen sich die Einzelnen in ihm gegen einander enthalten: er wird der leibhafte Wille zur Macht sein müssen, er wird wachsen, um sich greifen, an sich ziehn, Übergewicht gewinnen wollen, — nicht aus irgend einer Moralität oder Immoralität heraus, sondern weil er l e b t , und weil Leben eben Wille zur Macht i s t . In keinem Punkte ist aber das gemeine Bewusstsein der Europäer widerwilliger gegen Belehrung, als hier; man schwärmt jetzt überall, unter wissenschaft­ lichen Verkleidungen sogar, von kommenden Zuständen der Gesellschaft, denen „der ausbeuterische Charakter“ abgehn soll: — das klingt in meinen Ohren, als ob man ein Leben zu erfinden verspräche, welches sich aller organischen Funktionen enthielte. Die „Ausbeutung“ gehört nicht einer verderbten oder unvollkommnen und primitiven Gesell­ schaft an: sie gehört in’s W e s e n des Lebendigen, als organische Grundfunktion, sie ist eine Folge des eigentlichen Willens zur Macht, der eben der Wille des Lebens ist. — Gesetzt, dies ist als Theorie eine Neuerung, — als Realität ist es das U r - F a k t u m aller Geschichte: man sei doch so weit gegen sich ehrlich! —

„Jenseits von Gut und Böse“, Neuntes Hauptstück: was ist vornehm? 259 (KSA 5, S. 207 – 208)

Die Moral hat die Gewalthaber, die Gewaltthätigen, die „Herren“ überhaupt als die Feinde behandelt, gegen welche der gemeine Mann geschützt, d . h . z u n ä c h s t e r m u t h i g t , g e s t ä r k t werden muß. Die Moral hat folglich am tiefsten h a s s e n u n d v e r a c h t e n gelehrt, was der Grundcharakterzug der Herrschen­ den ist: i h r e n W i l l e n z u r M a c h t . „Nachgelassene Fragmente“, Sommer 1886 – Herbst 1887 5[71] (KSA 12, S. 214)

Nietzsche

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WILLE ZUR MACHT

GEORG LUKÁCS

Eine imperialistische Ideologie Schon 1943 kritisiert Lukács Nietzsche als wesentlich reaktionären, rechtsradikalen Ideologen. Nicht zuletzt aufgrund dieses vernichtenden Urteils blieb Nietzsche in der DDR auf Jahrzehnte hinaus Unperson

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Darum ist die Polemik Nietzsches in ihrem Zentralpunkt gegen die Forderung der Gleichheit gerichtet. In ihr sieht er das böse Prinzip, das Prinzip der Naturwidrigkeit und Lebensfeindlichkeit. (…) Rosenberg [hat] Nietzsche mit Recht zum Ahnen des deutschen Faschismus proklamiert. Denn er hat in die deutsche Philosophie die Verherrlichung der Barbarei getragen und je gerechter man die geistigen Fähigkeiten Nietzsches, seine kulturkritische Arbeit einschätzt, um so klarer muß man sehen, daß die von ihm vollzogene Wen­ dung die Grundlage zu jener reaktionären Entwicklung der deutschen Ideologie geschaffen hat, aus der dann der Faschismus sein geistiges Rüstzeug bezog. ➔

Georg Lukács: „Der Deutsche Faschismus und Nietzsche“ (1943), S. 55, 61, 64

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GEORG (GYÖRGY) LUKÁCS (1885 – 1971) Der ungarische Literaturhistoriker und Kulturphilosoph trat 1918 in die Kommunistische Partei Ungarns ein und erlangte mit „Geschichte und Klassenbewusstsein. Studien über marxistische Dialektik“ großen internationalen Einfluss auf links­ intellektuelle Kreise. Sein Werk steht insgesamt im Zeichen einer Erneuerung der marxistischen Philosophie. Zum Thema Nietzsche veröffentlichte er u. a.: „Von Nietzsche zu Hitler oder der Irrationalismus und die deutsche Politik“ (1962)

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Foto: Ullstein Bild – MTI; Simon Brann Thorpe. Toy Soldiers, Lem Tailene 2012

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ietzsche ist der führende Philosoph der Reaktion für die ganze imperialistische Periode und zwar nicht nur in Deutschland. Wie der Einfluß seines Lehrers Schopen­ hauer gilt auch die Wirkung Nietzsches überall über den engen Kreis der Universitätsphilosophie hinaus, beein­ flußt viele Schichten der Intelligenz und durch deren Vermittlung weite Kreise des Volkes in vielen Ländern. Von Mereschkowski und Gide bis Spengler, Bäumler und Rosenberg gibt es keine reaktionäre ideologische Strömung in der imperialistischen Periode, die nicht einiges Wichtige aus der Lehre Nietzsches aufgenom­ men hätte. (…) Die Weltwirkung Nietzsches beruht darauf, daß er für die ausschlaggebenden reaktionären Tendenzen in der Innen- und Außenpolitik der imperialistischen Peri­ ode eine passende Psychologie, Ethik und Ästhetik gefun­ den hat, daß er auf diesem Umweg breite Kreise der Intelligenz ins Lager der Reaktion führte, die einer gro­ ben und direkten Propaganda der Reaktion nicht erlegen wären. Diese Wirkung steigert sich immer mehr im Laufe der Entfaltung der unmenschlichen Tendenzen unserer Zeit. Sie erreicht ihren Gipfelpunkt unter der Hitlerherr­ schaft, die Nietzsche offiziell zum Klassiker, zum Ahnen der faschistischen Ideologie ernennt. (…) Der Grundgedanke von Nietzsches Kulturkritik, die auf Generationen der Intelligenz faszinierend wirkte, daß für alle Kulturlosigkeiten der kapitalistischen Gesell­ schaft nicht deren ökonomische Gestaltung, sondern die Demokratie verantwortlich sei, daß ein Zerbrechen der Demokratie, das Zerstören der demokratischen Ideologie der einzige Weg sei, um aus der kulturellen Dekadenz herauszukommen.


Der Krieg ist der Vater aller guten Dinge, der Krieg ist auch der Vater der guten Prosa! „Die fröhliche Wissenschaft“, Zweites Buch 92 (KSA 3, S. 448)


WILLE ZUR MACHT

„Nietzsche ist

Protofaschist“

Die Verehrung Nietzsches durch führende Nationalsozialisten bis hin zum Führer selbst irritiert und befremdet moderne Nietzsche-Leser noch immer. Wie es zur politischen Instrumentalisierung von Nietzsche bei nationalsozialistischen Denkern und im NS-Staat kam und welche Wertvorstellungen Nietzsches dabei die wichtigste Rolle spielten GESPRÄCH MIT BERNHARD H. F. TAURECK von Catherine Newmark

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von Energie, Kraft und Macht, nahmen aber auch das Motiv der Über- und Unterordnung sehr ernst. Eliten der Kraft befehlen Schwächeren, und das ist gut so. Eine sol­ che rechte Auslegung von Nietzsche steht allerdings vor dem Problem, nach welchen Kriterien denn wer als stark und wer als schwach zu gelten hat.

Das haben aber dann die faschistischen Regimes in Europa, insbesondere die Nazis, doch für sich recht schnell recht klar entschieden, oder? / Ja, sowohl die italienischen als auch die deutschen Faschisten haben sich dafür Nietzsche ziemlich stark zurechtgestutzt. Aus einer „neutralen“ akademischen Per­ spektive heraus sieht man ja bei Nietzsche immer das Sowohl-als-auch – sowohl den gesunden als auch den später geistig umnachteten Nietzsche, sowohl den proeu­ ropäischen Nietzsche, der für die Gestaltung einer gemein­ samen Lebenswelt plädiert, als auch den extremistischen, der die Ausrottung von missratenen Menschen fordert, sowohl den pazifistischen als auch den Kriegsbefürworter Nietzsche. Was letztlich in eine gewisse Hilflosigkeit mün­ det. Die faschistischen Nietzsche-Leser haben sich über solche Zweifel beherzt hinweggesetzt und ausgerufen: Nehmen wir uns als politische Entscheider und Gestalter bei Nietzsche, was wir benötigen! Setzen wir in Handlun­ gen um, was sich theoretisch nicht klären lässt! Die faschis­ tische Aneignung spiegelt daher die hermeneutische Hilf­ losigkeit und sucht einen Ausweg in der Aktion, flankiert

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Foto: Natalie Siemens

›  Es gibt ein mittlerweile ikonisches Bild, das Hitler 1934 neben Nietzsches Büste in Weimar zeigt. Ab einem gewissen Zeitpunkt gilt Nietzsche bei den Nationalsozialisten als Referenzphilosoph. Wie kommt es zu dieser nationalsozialistischen Vereinnahmung? Was ist es an Nietzsche, das die Nazis so faszinierte? BERNHARD H. F. TAURECK / Um das Verhältnis des Faschismus und des Nationalsozialismus zu Nietzsche aus heutiger Sicht zu verstehen, ist eine etwas größere Landkarte nötig. Es gibt bei Nietzsche eigentlich seit Beginn des 20. Jahrhunderts eine linke und eine rechte Auslegungstradition – die man beide wiederum von dem unterscheiden muss, was ich die heutige akademische „Neutralposition“ nennen möchte. Die Links-Nietzschea­ ner setzten auf die Motive der Lebensenergie, den Elan, auf Stärke und Schwäche und auf eine Anarchie der ver­ schieden starken vitalen Energien. Nietzsche wirkte auf diese Gruppe als Erlebnis der Befreiung: Metaphysik erschien nicht mehr möglich, Nihilismus war nicht mehr nötig. Dieses Lebensgefühl spricht sich etwa in Richard Strauss’ neuromantischer Symphonie „Also sprach Zara­ thustra“ von 1896 aus. Eine ungeheure Vitalisierung, das Gefühl eines Neuaufbruchs. Das Problem, das die Links-Nietzscheaner allerdings nicht lösen können, ist, wie mit diesen entfesselten Energien umzugehen ist. Soll der Stärkere privilegiert werden, nur weil er stärker ist? Die Rechts-Nietzscheaner setzten ebenfalls auf die Ideen


WILLE ZUR MACHT

von Ideologisierung. Faschistische Nietzsche-Aneignung ist Einspeisung von Nietzsches politischem Ex­tremismus in Praxis und Ideologie eines Führerstaates. Dieser Schritt war freilich weder originell, noch erfolgte er unvorberei­ tet. Er muss in einem historischen Kontext betrachtet wer­ den, der im frühen 19. Jahrhundert mit der Einführung biologischer Rassenvorstellungen in die Historie beginnt, sich in kulturwissenschaftlicher Erste-Weltkrieg-Rechtfer­ tigung auf deutscher Seite fortsetzt und mit proelitären Voten im frühen 20. Jahrhundert weitergeführt wird. Der antifeministische und kriegsbegeisterte Futurismus und der Ruf nach einer politischen Führergestalt in konserva­ tiven Kreisen kommen hinzu. Politische Rassenideologie, Kriegsbegeisterung der Intellektuellen, Futurismus und politischer Konservativismus konnten sich mühelos mit Ideen Nietzsches verbinden.

Haben denn die Faschisten der früheren rechtsnationalen politischen Lesart Nietzsches etwas Spezifisches, Eigenes hinzugefügt? /  Nicht so sehr im interpretatorischen Sinn. Es ist eher eine Verschiebung der Funktion von Nietzsche. Eine bereits existierende politische Rhetorik mutierte zur Rechtfertigungsrhetorik einer Gruppe, die sich zur Herr­ schaft über die Gesamtbevölkerung ermächtigte. Einmal im Sattel, konnten die Faschisten Nietzsche in ihre Rhe­ torik einspeisen, wie ihnen beliebte. Was manchen dabei irritieren mag, ist die Tatsache, dass es keineswegs eine dogmatische Ideologie gab, in welcher Nietzsche auf wenig öffentlich zu rezitierende Leitsätze politisch redu­ ziert wurde. Im Gegenteil. Es gab Abweichungen und gar geduldeten Protest gegen Nietzsche im Faschismus. Also kann man gar nicht von einer einhelligen Nietzsche-Verehrung im Faschismus sprechen? /  Auf gewisse Kreise der Nationalsozialisten wirkte Nietzsche riskant und überflüssig. Dies war allerdings die Minderheit. Für sie stehen Namen wie Christoph Ste­ ding oder Curt von Westernhagen. Beide verstanden Nietzsche als kontraproduktiven Befürworter der jüdisch-deutschen Bevölkerung. Nietzsche galt ihnen als Exponent des Kaiserreichs und der Weimarer Republik und insofern als „Staats- und Reichsfeind“ gegen den Aufbau des Führerstaates. Aber solche Abweichler wur­

Nietzsche

BERNHARD H. F. TAURECK Der Philosophieprofessor im Ruhestand legte 1989 die wegweisende Studie „Nietzsche und der Faschismus. Eine Studie über Nietzsches politische Philosophie und ihre Folgen“ vor. Er ist Autor zahlreicher Bücher zur französischen Philosophie, zur Metaphorik und zur politischen Philosophie, u. a. „Metaphern und Gleichnisse in der Philosophie“ (Suhrkamp, 2004), „Überwachungsdemokratie. Die NSA als Religion“ (Fink, 2014), „Manifest des veganen Humanismus“ (Fink, 2015). 2017 erscheint „Hamlet: Widerstand gegen den Über­wachungs­staat. Eine intertextuelle Deutung“ (Velbrück)

den wie gesagt innerhalb des NS geduldet. Die Mehrheit der Italo- und Germanofaschisten stand dagegen eindeu­ tig auf der Seite Nietzsches. Nietzsche war für den Faschismus auch weitaus wichtiger als die berühmte politische Stimme Machiavellis. Machiavelli hatte sich fast 500 Jahre vor Nietzsche in seiner Fürstenschrift durchaus antidemokratisch und kriegsbefürwortend geäußert. Doch seine Argumentation war primär auf Florenz und Italien bezogen. Es fehlte ihm jene verallge­ meinernde Entgrenzung, die Nietzsche mit seiner Ver­ achtung für Demokratie und seiner Leidenschaft für unvorstellbar große Kriege bot.

Nietzsche ist also für die Faschisten vor allem aufgrund dieses extremen Elementes in seinem Denken interessant? /  Nietzsches Nein zur Demokratie, seine Verachtung der Frauen, sein Ja zum Krieg und sein Votum für die Überschreitung des bisher bekannten Menschentypus und seiner Moralvorstellungen faszinierte nicht nur die

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ÜBERMENSCH

Das neue Problem: ob nicht ein Theil der Menschen auf Kosten des anderen zu einer höheren Rasse zu erziehen ist. Züchtung — — — — „Nachgelassene Fragmente“, Herbst 1881 12[10] (KSA 9, S. 577)

Unterwegs zur

perfekten Art Nietzsches Idee einer Weiterentwicklung des Menschen drückt ein Ideal aus, umfasst aber auch problematische Vorstellungen von Züchtung

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s ist nicht meine Frage, was den Menschen ablöst: sondern welche Art Mensch als höherwerthige gewählt, gewollt, gezüchtet werden soll … Die Menschheit stellt nicht eine Entwicklung zum Besseren; oder Stärkeren; oder Höheren dar; in dem Sinne, in dem es heute geglaubt wird: der Europäer des 19. Jahrhunderts ist, in seinem Werthe, bei weitem unter dem Europäer der Renais­ sance; Fortentwicklung ist schlechterdings nicht mit irgend welcher Nothwendigkeit Erhöhung, Steigerung, Verstärkung … in einem andrem Sinne giebt es ein fortwährendes Gelingen einzelner Fälle an den ver­ schiedensten Stellen der Erde und aus den verschiedensten Culturen heraus, in denen in der That sich ein höherer Typus darstellt: etwas, das im Verhältniß zur Gesammt-Mensch­ heit eine Art „Übermensch“ ist. Solche Glücksfälle des großen Gelingens waren immer möglich und werden vielleicht immer möglich sein. Und selbst ganze Stämme, Geschlech­ ter, Völker können unter Umständen einen solchen Treffer darstellen … Von den ältesten uns errathbaren Zeiten der indischen, ägyptischen und chinesischen Cultur bis heute ist der höhere Typus Mensch viel gleichartiger als man denkt … Man vergißt, wie wenig die Menschheit in eine einzige Bewegung hineingehört, wie Jugend, Alter, Untergang durchaus keine Begriffe sind, die ihr als Ganzem zukommen Man vergißt, um ein Beispiel zu geben, wie unsere europäische Cultur erst heute sich wieder jenem Zustand von philosophischer Mürbigkeit und Spätcultur annähert, aus dem die Entstehung eines Buddhism begreiflich wird. „Nachgelassene Fragmente“, November 1887 – März 1888 11[413] (KSA 13, S. 191)

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ÜBERMENSCH

Das Wort „Übermensch“ zur Bezeichnung eines Typus höchster Wohlgerathenheit, im Gegensatz zu „modernen“ Menschen, zu „guten“ Menschen, zu Christen und andren Nihilisten — ein Wort, das im Munde eines Zarathustra, des Vernichters der Moral, ein sehr nachdenkliches Wort wird, ist fast überall mit voller Unschuld im Sinn derjenigen Werthe verstanden worden, deren Gegensatz in der Figur Zarathustra’s zur Erscheinung gebracht worden ist, will sagen als „idealistischer“ Typus einer höheren Art Mensch, halb „Heiliger“, halb „Genie“… Andres gelehrtes Hornvieh hat mich seinethalben des Darwinismus verdächtigt; selbst der von mir so boshaft abgelehnte „Heroen-Cultus“ jenes grossen Falschmünzers wider Wissen und Willen, Carlyle’s, ist darin wiedererkannt worden. Wem ich ins Ohr flüsterte, er solle sich eher noch nach einem Cesare Borgia als nach einem Parsifal umsehn, der traute seinen Ohren nicht. „Ecce homo“, Warum ich so gute Bücher schreibe 1 (KSA 6, S. 300)

Seht, welche Fülle ist um uns! Und aus dem Überflusse heraus ist es schön hinaus zu blicken auf ferne Meere. Einst sagte man Gott, wenn man auf ferne Meere blickte; nun aber lehrte ich euch sagen: Übermensch. Gott ist eine Muthmaassung; aber ich will, dass euer Muthmaassen nicht weiter reiche, als euer schaffender Wille. Könntet ihr einen Gott schaffen? — So schweigt mir doch von allen Göttern! Wohl aber könntet ihr den Übermenschen schaffen. Nicht ihr vielleicht selber, meine Brüder! Aber zu Vätern und Vorfahren könntet ihr euch umschaffen des Übermenschen: und Diess sei euer bestes Schaffen! — „Also sprach Zarathustra“, II, Auf den glückseligen Inseln (KSA 4, S. 109)

Nietzsche

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ÜBERMENSCH

„Alles muss sterben oder sich

entwickeln“

Was verbindet Nietzsche mit heutigen Transhumanisten? Also denjenigen Philosophen und Ethikern, die an eine Weiterentwicklung des Menschen durch Gentechnik und andere technologische Fortschritte glauben – und dies auch für wünschenswert halten? Wir haben den einflussreichsten deutschen Vertreter dieser philosophischen Strömung gefragt GESPRÄCH MIT STEFAN LORENZ SORGNER von Sven Ortoli

manismus wurde 1951 von Julian Huxley geprägt, der sowohl Gründungsdirektor der UNESCO als auch Bruder des Schriftstellers Aldous Huxley war, dem Autor des technikkritischen Romans „Brave New World“. Die theo­ retischen Wurzeln dieser Denkströmung liegen in der Evolutionstheorie, der analytischen Bioethik und im Utili­ tarismus. Kennzeichnend für den Transhumanismus ist die Zielsetzung, mittels Techniken über die Grenzen des bisherigen Menschseins hinauszugehen, also die Wahr­ scheinlichkeit der Entstehung des Posthumanen zu erhö­ hen. Der Posthumane ist dabei ein ziemlich offenes Kon­ zept, das für eine Weiterentwicklung des Menschen steht, also für ein Wesen jenseits der bisherigen Grenzen des Menschseins. Es geht da um die Verbindung von Mensch und Maschine, beispielsweise in der Idee des mind uploa­ ding (dem Übermitteln mentaler Inhalte auf externe Me­ dien), oder um das Weiterentwickeln des Menschen durch genetische Modifikation.

Was verbindet denn Nietzsches Übermenschen mit dem Post- oder Transhumanen?

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/  Nietzsches naturalistische Wille-zur-Macht-Ontologie stimmt in ihrem Grundgedanken mit dem transhumanis­ tischen Denken überein: Alles, was zu existieren beginnt, muss letztlich entweder sterben oder sich weiterentwi­ ckeln. Und für Nietzsche gibt es gute Gründe, dass sich der Mensch zu einem höheren Menschen entwickeln kann und sollte – letztlich sogar zu einem Übermenschen, der nicht länger der menschlichen Spezies angehört.

Gehört der Übermensch für Nietzsche tatsächlich nicht mehr zur menschlichen Spezies? /  Wenn Nietzsche sagt, der Mensch sei das Seil zwi­ schen Tier und Übermensch, dann suggeriert er, dass der Übermensch einer neuen Spezies angehört. Es gibt zudem in Nietzsches Notizbüchern Stellen, wo er in Abgrenzung zu Darwins Überlegungen alternative evo­ lutionäre Prinzipien zu entwickeln versucht. Einige Tran­ shumanisten verwenden die Konzepte des „Transhuma­ nen“ und des „Posthumanen“ strukturell analog zu Nietz­ sches höherem Menschen und Übermenschen. Transhu­ mane gehören zwar immer noch der menschlichen Spe­ zies an, sind aber auf dem besten Weg, diese zu überwin­ den, während Posthumane eine neue Spezies darstellen.

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Foto: Privat

›  Was ist Transhumanismus? STEFAN LORENZ SORGNER /  Der Begriff des Transhu­


ÜBERMENSCH

Nietzsches Augenmerk lag auf Erziehungsmaßnahmen, um diese Entwicklung voranzutreiben, während sich Transhumanisten insbesondere für die genetische Modi­ fikation aussprechen. Aus meiner Sicht sind genetische Modifikation und traditionelle Erziehung strukturell analoge Prozesse. Konsequenterweise muss die geneti­ sche Modifikation als eine erweiterte Form elterlicher Erziehungsmaßnahmen verstanden werden.

Können Sie das näher erläutern? /  Die neueste epigenetische Forschung, zum Beispiel von Eva Jablonka, zeigt, dass Erziehungsmaßnahmen im wei­ testen Sinne immer schon zu genetischen Veränderungen geführt haben. Jablonkas Forschung weist nach, dass epi­ genetische Veränderungen durch Stress, Bildung, Drogen, Medikamente oder Diäten möglich sind, weil sie für die Aktivierung und Hemmung von Genen oder den Wandel von Zellstrukturen verantwortlich sind. Letztlich sind gene­ tische Modifikationen keine kategorial neuen Verfahren, sondern stehen in einer Linie mit früheren Bemühungen, Leben besser, gesünder und damit letztlich erfüllter zu machen. Solche Bemühungen werden sowohl von Nietz­ sche als auch von den Transhumanisten gutgeheißen. Was wären umgekehrt wichtige Unterschiede zwischen Nietzsches Übermensch-Idee und dem Trans­ humanismus? /  Die zentrale Differenz zwischen Nietzsches Philoso­ phie und dem Transhumanismus liegt in der Letztbegrün­ dung beider Ansätze. Nietzsche schreibt: „Der Über­ mensch ist der Sinn der Erde“. Eine etwas rätselhafte Formulierung, die im Zusammenhang mit der Idee der ewigen Wiederkehr steht. Nietzsche versteht das Chris­ tentum als „Platonismus fürs Volk“, seine eigene Philoso­ phie aber als „umgedrehten Platonismus“. Er gibt mit anderen Worten traditionellen Konzepten wie Sinn oder Erlösung eine weltliche Bedeutung. Das Konzept des Über­ menschen kann nun Nietzsche zufolge Menschen ein Ziel und einen Lebenssinn geben, und eine wesentliche Eigen­ schaft der Übermenschen ist ihre Fähigkeit, die Idee der ewigen Wiederkehr zu ertragen, die wiederum mit der Vorstellung von Erlösung verbunden ist. Hier können wir auf jeden Fall festhalten, dass Transhumanisten eine sol­ che Letztbegründung ihres Denkens fehlt.

Nietzsche

STEFAN LORENZ SORGNER unterrichtet Philosophie an der John Cabot University in Rom und ist nicht nur Nietzsche-Kenner, sondern auch der wichtigste deutschsprachige Vertreter des transhumanistischen Denkens. Er ist Mitbegründer und Direktor des „Beyond Humanism“-Netzwerkes. Veröffentlichungen u. a. „Menschenwürde nach Nietzsche“ (WBG, 2010), „Transhumanismus: ,Die gefährlichste Idee der Welt‘!?“ (Herder, 2016)

Wenn wir die Vorstellung einer Verbesserung der menschlichen Spezies akzeptieren, stellt sich noch immer die Frage, wer darüber entscheidet und nach welchen Wertmaßstäben. Begeben wir – wie auch Nietzsches Philosophie – uns hier nicht in Gefahr, in Konflikt mit demokratischen, egalitären Werten zu geraten? /  Alle ernst zu nehmenden Transhumanisten bejahen den Liberalismus und die Vorstellung negativer Freiheiten. Es wäre falsch, allen Transhumanisten eine anarcholiber­ täre Einstellung zu unterstellen oder davon auszugehen, dass hier für totalitäre Gemeinschaften überlegene Wesen gezüchtet werden sollten. Im Transhumanismus geht es um einen liberalen Umgang mit Technologie in der Hoff­ nung, durch den Schritt zum Trans- oder vielleicht Posthu­ manen die Wahrscheinlichkeit guten Lebens zu erhöhen. Obschon eine große Spannweite an politischen Agenden existiert, verbleiben alle ernst zu nehmenden Transhuma­ nisten auf liberaldemokratischem Boden. Ich persönlich schätze negative Freiheit und Gleichheit ungemein und betone die Relevanz radikaler Pluralität. Diese Einsichten sind nicht ohne Bezug zur Wahrschein­ lichkeit evolutionärer Veränderungen. Wir sollten nicht

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POSTMODERNE

„Die

Postmoderne

ist nicht postfaktisch“

Mit seiner Kritik an der Rationalität und den Wissenschaften und seiner Betonung des Leibes und der Sprache wurde Nietzsche schon früh für die Kritische Theorie ein wichtiger Ideengeber und ab den 1960er-Jahren zu einer zentralen Inspirationsquelle für die Postmoderne. Geschichte eines Langzeiteinflusses

›  Nach der NS-Zeit galt Nietzsche ja vielen als eindeu-

tig faschistisch kompromittierter Denker. Trotzdem kommt es schon bald nach dem Krieg wieder zu einer richtigen Nietzsche-Hochphase. Wie kommt es dazu? MARTIN SAAR /  Adorno und Horkheimer sind hier abso­ lut entscheidend als Vermittler einer Lesart Nietzsches, die tatsächlich schon während der Zeit der nationalsozialisti­ schen Vereinnahmung eine komplett andere Bedeutungs­ alternative anbietet. Schon in der „Dialektik der Aufklä­ rung“, in den frühen 1940-Jahren, gibt es ein Ernstnehmen und eine Würdigung Nietzsches als einem der „dunklen Denker des Bürgertums“, wie Horkheimer und Adorno es ausdrücken, der bestimmte Paradoxien der Moderne oder des Modernisierungsprozesses versteht. In ihren Augen war ja die verhängnisvolle Dynamik der Vernunftentwick­ lung, dass sie sich in der Moderne isoliert von ihren eige­ nen Grundlagen und irgendwann umschlägt in rein tech­ nische, instrumentelle Rationalität. Und die These ist: Nietzsche hat dies gesehen und deswegen verstanden, dass die Moderne, die sich ja als das Zeitalter der Vernunft und des Fortschritts der Vernunft begreift, in eine Sackgasse läuft, aus der sie von alleine nicht herauskommt.

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Besonders viele explizite Bezüge auf Nietzsche gibt es aber bei Adorno und Horkheimer gar nicht, oder? Der Anschluss an Nietzsche ist eher methodischer Art? /  Nein, er ist sogar noch fundamentaler. Vielleicht wird ja das zentrale Motiv des Buchs, nämlich die Idee einer Dialektik der Aufklärung oder eines Umschlagens von Vernunft in Unvernunft, von Nietzsche übernom­ men, ohne dass es als Nietzsche-Interpretation ausge­ wiesen wird. Natürlich ist es auch ein hegelianisches, dialektisches Motiv … Aber Nietzsche hatte die Idee, dass die Kulturentwicklung zu einer höheren Entwick­ lung des Menschen führt, aber ihn gleichzeitig, an ent­ scheidender Stelle, am Ende auch wieder unterwirft… Dieses Denkmotiv übernehmen Horkheimer und Adorno 100-prozentig. Natürlich ist ihre Vorstellung von Ver­ söhnung dann wiederum nicht mit Nietzsche zu haben, darum wenden sie sich am Ende der „Dialektik der Auf­ klärung“ auch wieder von ihm ab, aber das halbe Unter­ nehmen, die Kritik an der fortschreitenden Modernisie­ rung oder Rationalitätsgeschichte, steht auf geteiltem Boden mit Nietzsche.

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Foto: Laurin Schmid

GESPRÄCH MIT MARTIN SAAR von Catherine Newmark


POSTMODERNE

Welche Versöhnung gibt es bei Adorno und Hork­ heimer? /  Adorno und Horkheimer glauben ja trotz allem, dass es eine andere Art von Vernunftgebrauch geben kann. An diesem Punkt sind sie bei aller Düsternis und auch bei allem geschichtsphilosophischen Pessimismus weiterhin Hegelianer. Die moderne Vereinseitigung der Vernunft ist für sie kein Schicksal, sondern es gibt die Möglichkeit einer anderen Praxis der Vernunft. Es ließe sich jetzt viel darü­ ber sagen, ob Nietzsche auch eine Vorstellung von einer anderen, alternativen, vielleicht sogar integralen Vernunft gehabt hat – das Wort von der „großen Vernunft des Lei­ bes“ führt ja in diese Richtung. Diese Vernunft des Leibes war ja dann für die postmoderne Rezeption von Nietzsche ganz zentral, oder? /  Zum Teil sogar schon für die Vorläufer dieser Inter­ pretation. Georges Bataille und Pierre Klossowski hatten das ja auch schon am Wickel. Auch Maurice Blanchot, in einer Zeit, als man von Postmoderne noch gar nicht reden konnte. In der französischen Tradition, das hängt auch mit der Vorgeschichte im Surrealismus zusammen, war die Idee einer Leibvermitteltheit des Denkens schon früh ein wichtiges Thema. Und Nietzsche war dann aus der klassischen philosophischen Tradition derjenige Autor, der hier am meisten zu bieten hatte, weil er wirklich ver­ sucht, den Menschen integral zu verstehen, als Einheits­ wesen mit somatischen oder physiologischen, psycholo­ gischen und kognitiven Triebkräften und Kapazitäten. Und die rationalistische Verkürzung, die man, glaube ich, dem Mainstream der klassischen philosophischen Tradi­ tion der Neuzeit und der Moderne vorwerfen kann, diesen Rationalismus hat er selbst gesehen und angeprangert und zu überwinden versucht. Wie kommt es dann aber zu dieser unglaublichen Nietzsche-Konjunktur in Frankreich in den 1960erund 1970er-Jahren? /  In den 1960er-Jahren wird Nietzsche für verschiedene Diskussionen zentral. Es ist die Neuthematisierung der Leib- und Körpergebundenheit menschlicher Existenz, es ist die Metaphysikkritik als eine Abkehr von bestimmten idealistischen Konstruktionen, die vielleicht am ehesten in das geführt hat, was wir später als Postmoderne und

Nietzsche

MARTIN SAAR ist seit 2014 Professor für Politische Theorie an der Universität Leipzig und wird ab dem kommenden Wintersemester als Nachfolger von Axel Honneth den Lehrstuhl für Sozialphilosophie an der Goethe-Universität Frankfurt am Main übernehmen. Veröffentlichungen u. a. „Genealogie als Kritik. Geschichte und Theorie des Subjekts nach Nietzsche und Foucault“ (Campus, 2007), „Die Immanenz der Macht. Politische Theorie nach Spinoza“ (Suhrkamp, 2013)

Abschiednehmen von den großen Erzählungen kennen, als Epochenwandel in der Philosophie. Aber es ist auch die Wiederentdeckung der Sprachlichkeit und Metapho­ rizität, ein Motiv, das bei Jacques Derrida und Sarah Kof­ man eine entscheidende Rolle gespielt hat. Nietzsche hat offensichtlich in einer Zeit, in der andere Schulphiloso­ phien noch dominant waren – entweder der Marxismus oder eine bestimmte Lesart der Hermeneutik oder bestimmte Orientierungen am Kantianismus oder an der hegelschen Tradition –, eine Art Fluchtlinie geboten, die für viele Denkerinnen und Denker ein Werkzeug war, um sich aus diesen Traditionen herauszuarbeiten. Man müsste auch noch die Machttheorie von Michel Foucault nennen, also den Versuch, anders über Macht, Herrschaft, Politik und Institutionen nachzudenken.

Inwiefern ist denn Foucaults Machttheorie von Nietzsche inspiriert? /  Foucault reagiert, vor allem seit Ende der 1960er-­ Jahre, auf eine in seinen Augen ungünstige Diskussions­ lage, was die Analyse politischer Probleme angeht, und er behauptet, dass uns bestimmte Theorien, von denen

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Der Einfluss Friedrich Nietzsches auf die Popkultur ist enorm. Egal, ob es sich um T-Shirts, Comics oder Sticker handelt, in den verschiedensten Formen taucht die charakteristische Silhouette des Denkers auf. Auch in Film und Musik sind die Verweise auf den Übermenschen, den Willen zur Macht und Zitate aus „Zarathustra“ allgegenwärtig. Was also angebracht wäre? Nichts weniger als eine ewige Wiederkehr von Grammy-Nominierungen und ein Stern auf der Walk of Fame für den stets aktuellen, ewig unzeitgemäßen Denker DOMINIK ERHARD

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Foto: Mateus Lopes; www.zazzle.de

Also das hat Nietzsche so nie gesagt


POSTMODERNE

SUPERMAN STATT ÜBERMENSCH?

Der „Übermensch“ ist eines der bekanntesten Konzepte Nietzsches und wird doch zugleich fast immer missver­ standen. Noch schwieriger wird es da, den Term und seine Implikationen zu verstehen, wenn eine Übersetzung ins Englische nötig wird. Neben „Overman“ und „Beyond­ man“ war über lange Zeit auch „Superman“ als Übertra­ gung gebräuchlich. Seit dem unaufhaltsamen Aufstieg des bereits in den 1930er-Jahren erfundenen überirdi­ schen Comic-Helden Superman versucht man zumindest von philosophischer Seite, den Begriff zu meiden. Schade, trifft „Superman“ doch im Grunde genau das, was Nietzsche unter dem Übermenschen versteht. Das lateinische Wort „super“ lässt sich mit „darüber hinaus“ oder auch „höher als“ übersetzen. Auch zusätzliche Sinn­ ebenen wie „bedeutsam“, „riesig“ und „beeindruckend“, die „super“ in den letzten Jahren durch Werbung und andere Faktoren erhalten hat, fügen sich gut in das Gesamtbild ein. Und ist nicht Kal-El von Krypton genau das Wesen, das als Mensch aufwächst, aber das Mensch­ liche nicht nur kräftemäßig, sondern auch in seiner mora­ lischen Super-Gutheit transzendiert? Nimmt man also Nietzsches Schriften ernst und versteht den Übermen­ schen als höhergeordnetes Wesen, kann man sich SÜper­ man wohl in etwa wie abgebildet vorstellen. HIESS DER NICHT NIETZCHE?

Dass Nietzsche in popkulturellen Zusammenhängen oft für etwas herhalten muss, das er nie geschrieben hat, ist ein Verdacht, den die Queen of Pop Madonna unlängst nachdrücklich bestätigt hat. Im Februar 2015 veröffent­ lichte die Sängerin das Musikvideo zu ihrem damals aktu­ ellen Song „Living For Love“, in dem sie als eine vor Selbstbewusstsein strotzende Stierkämpferin tanzt, singt und wirbelt. Am Ende des knapp vierminütigen Clips er­ scheint dann folgendes Zitat in englischer Übersetzung: „Der Mensch nämlich ist das grausamste Tier. Bei Trau­ erspielen, Stierkämpfen und Kreuzigungen ist es ihm bisher am wohlsten geworden auf Erden; und als er sich die Hölle erfand, siehe, da war das sein Himmel auf Erden.“ Vermutlich wäre auch dieses Video nach einiger Zeit ein­ fach wieder in der Versenkung verschwunden, wäre das Zitat seinem Urheber Friedrich Nietzsche korrekt zuge­ schrieben worden. Da jedoch am Ende „Nietzche“ ohne „S“ über den Bildschirm flackerte, war die Weltöffentlich­

keit weniger mit der Bewunderung für Madonnas philo­ sophische Seite als mit der Frage befasst, ob sie und ihr Team wirklich nicht wüssten, wie der Philosoph geschrie­ ben wird. Kann das sein? Eigentlich nicht. Näher liegt natürlich der Verdacht purer Absicht: postmodernes Spiel mit der Sprache, subversive Verschiebung der Zeichen … Denn wofür steht das nun fehlende S? Eben. Psychoanalytisch dürfen wir getrost über Kastration nachdenken. Und darüber, ob die Über­ setzung des Übermenschen als Superman tatsächlich so treffend war. ANYTHING GOES!

Einige Denker sind sexyer als andere. Wenn diese Behaup­ tung stimmt, ist der Mann mit dem Oberlippenbart der absolute Playboy unter den Philosophen. Wer ihn liest, will es seinen Mitmenschen zeigen und sich den Lesestoff nicht nur sprichwörtlich einverleiben. Das mag mitunter daran liegen, dass die Überlegungen Nietzsches grundle­ gend deutungsoffen sind. Sowohl der popkulturelle Main­ stream, der weitestgehend US-amerikanisch geprägt ist und in Nietzsche den prototypischen Vertreter der Ger­ man Angst und des Atheismus sieht, als auch der jugend­ liche Außenseiter oder tendenziell rechtsgesinnte Web­ seiten, die Tassen und T-Shirts mit Sprüchen des Denkers verbreiten: Nietzsche gibt für jeden etwas her, ohne sich je von einer Seite definitiv be­an­spruch­en zu lassen.


EWIGE WIEDERKEHR

KARL LÖWITH

Fortschritt zum Nichts

N

ietzsche bezeichnet sich als den Lehrer der ewigen Wiederkehr, und diese seine eigent­ liche „Lehre“ wußte er als sein „Schicksal“. Für die Beantwortung der Frage nach dem philosophischen Sinn dieser Lehre ist entscheidend, in welchen Zusammenhang man sie stellt. Soweit überhaupt ein ernsthafter Versuch zu ihrer Auslegung gemacht wurde, geschah es mit Beziehung auf den „Übermenschen“ oder auf den „Willen zur Macht“ – sei es, daß man ihre Vereinbarkeit oder Unvereinbarkeit mit dem einen oder andern erweisen wollte. Die Lehre vom Übermenschen ist die Voraussetzung für die Lehre von der ewigen Wie­ derkehr, weil nur der Mensch, der sich selbst überwunden hat, auch die ewige Wiederkehr alles Seienden wollen kann, und die Entwürfe zum „Willen zur Macht“ setzen ihrerseits die Lehre des Zarathustra voraus. Gerade die letzten Pläne zum „Willen zur Macht“ beweisen, daß auch für dieses Werk die Lehre von der ewigen Wiederkehr die abschließende Antwort geblieben wäre, nämlich für die Frage des Nihilismus, der seinerseits aus dem Tod Gottes entspringt. Die Überwindung des Nihilismus durch den sich selbst überwindenden Menschen ist die Vorausset­ zung für die Wahrsagung der ewigen Wiederkehr, und

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über sie geht Nietzsches Philosophie im Prinzip nicht hin­ aus. Der Wille zum Übermenschen und zur ewigen Wie­ derkehr ist Nietzsches „letzter Wille“ und sein „letzter Gedanke“, in dem sich das Ganze seines Experiments systematisch zusammenfaßt. Auf Grund dieses wesentlichen Zusammenhangs von ewi­ ger Wiederkehr und Nihilismus hat Nietzsches Lehre ein Doppelgesicht: sie ist die „Selbstüberwindung des Nihi­ lismus“, in welcher „Überwinder“ und „Überwundenes“ eins sind. Zarathustra überwindet „sich“, das heißt den frei gewordenen Willen zum Nichts und den Ekel am bis­ herigen Menschen, zum Wollen eines ewig wiederkeh­ renden Daseins im Ganzen alles dessen, was ist. Die „Wahrsagung“ der ewigen Wiederkehr ist eins mit der ganz anderen des Nihilismus, nämlich so, wie der „dop­ pelte Wille“ des Zarathustra, der dionysische „Doppel­ blick“ in die Welt und die dionysische „Doppelwelt“ selber ein Wille, ein Blick und eine Welt sind. Als eine Bewegung ist aber der Wille zur ewigen Wieder­ kehr dadurch doppelt, daß er seinen Fortschritt zum Nichts in einen Rückschritt zum ewig wiederkehrenden Sein verkehrt, indem er auf der Spitze der antichristlichen Modernität die antike Ansicht der Welt wiederholt. (...)

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Karl Löwith stellt Nietzsches ganze Philosophie unter den Titel der ewigen Wiederkehr und zeigt, dass alle Werkmotive in diesem einen großen, letzten Gedanken zusammenlaufen


EWIGE WIEDERKEHR

Nietzsche bezeichnet seine Lehre als die „extremste Form des Nihilismus“ und zugleich als dessen „Selbstüberwin­ dung“, weil sie gerade die Sinnlosigkeit eines ziellos wie­ derkehrenden Daseins wahrhaben will. „Denken wir diesen Gedanken in seiner furchtbarsten Form: das Dasein, so wie es ist, ohne Sinn und Ziel, aber unvermeid­ lich wiederkehrend, ohne ein Finale ins Nichts: ,die ewige Wiederkehr‘. Das ist die extremste Form des Nihilismus: das Nichts (das ,Sinnlose‘) ewig!“. Als die extremste Form des Nihilismus ist sie aber auch schon dessen „Krisis“, und auf der Spitze seiner Voll-endung schlägt der Nihilismus um in die umgekehrte Lehre von der ewigen Wiederkehr. Die „Umgekehrten“ lehren die ewige Wiederkehr. Der Glaube an sie gibt dem Dasein des Menschen „das neue Schwergewicht“, nachdem er das alte, im christlichen Glauben, verloren hat; sie ist wie dieser ein „Gegenge­ wicht“ gegen den Willen zum Nichts. Der „erlösende Mensch der Zukunft“ ist deshalb nicht nur der Besieger Gottes, sondern auch der Besieger des Nichts, denn dieses Nichts ist selbst der folgerichtige Ausdruck für den Erfolg der Gottlosigkeit. (…) Als das „psychologische“ Problem, welches dem Typus des Zarathustra zu Grunde liegt, wird im Ecce homo eben­ falls die Umkehr bezeichnet: die Hervorbringung eines äußersten Ja aus einem äußersten Nein und eines höchs­ ten Leichtsinns aus einer tiefsten Schwermut. Durch das dionysische Ja-sagen wird alles leicht, was vorher schwer war, weil es von der Last des zugefallenen Daseins befreit. Zu dieser Umkehr bedarf es aber zunächst der Weiterent­ wicklung der verschiedenen Arten des verbreiteten „Pes­ simismus“: der Sucht zum „Anders, zum halben Nein und zum bloßen Nichts“. Dem entgegen versucht der radikale Nihilist, „nichts anders haben zu wollen“ als es ist, schon war und auch wieder sein wird. Zarathustra wird schrittweise unglücklicher und glückli­ cher, und erst als ihn die höchste Not erreicht, gewinnt er auch sein höchstes Glück: die Not-wendigkeit. Er lernt zuletzt „seinen Abgrund lieben“. „Gipfel und Abgrund“ werden ihm eins. Denn: „woher kommen die höchsten

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Berge? So fragte ich einst. Da lernte ich, daß sie aus dem Meere kommen. Dies Zeugnis ist in ihr Gestein geschrie­ ben und in die Wände ihrer Gipfel. Aus dem Tiefsten muß das Höchste zu seiner Höhe kommen“. (...) Ebenso wie die ewige Wiederkehr im Gleichnis des Zara­ thustra ein umgekehrter Nihilismus ist, ist auch in Nietz­ sches eigener Existenz die Sucht nach Selbstverewigung auf verkehrte Weise eins mit der Versuchung zur Selbstvernichtung. Der Wille zur Verewigung ist daher selber zweideutig: er kann aus Dankbarkeit für das Dasein kom­ men, er kann aber auch der tyrannische und rachsüchtige Wille eines am Dasein Verzweifelnden sein.

Karl Löwith: „Nietzsches Philosophie der ewigen Wiederkehr des Gleichen“, Metzler, 1987, S. 169 – 173

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KARL LÖWITH (1897 – 1973) Deutscher Philosoph jüdischer Herkunft, Schüler unter anderem von Heidegger, zu dem er später ein kritisches Verhältnis entwickelte. 1934 emigriert er zunächst nach Italien, dann nach Japan, schließlich 1941 in die USA, 1952 kehrte er nach Deutschland an die Universität Heidelberg zurück. Autor bedeutender Werke zur Geschichtsphilosophie und zur Geschichte der Philosophie, u. a. „Weltgeschichte und Heilsgeschehen: Die theologischen Voraussetzungen der Geschichtsphilosophie“ (1953), „Gott, Mensch und Welt in der Metaphysik von Descartes bis zu Nietzsche“ (1967) sowie zahlreicher Studien zu Nietzsche

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